Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Vierter Abschnitt
Die Zeit des Gleichgewichts der Klassenkräfte

§ 13. Wirtschaftliche Umwälzung und soziale Umschichtung


Literatur:

Trotzki, Die neue Etappe, Berlin 1921.

Steiner, Die Währungsgesetzgebung der Sukzessionsstaaten Österreich-Ungarns, Wien 1921. – Dub, Katastrophenhausse und Geldentwertung, Stuttgart 1920. – Hamp, Die Goldsucher, Basel 1920. – Statistische Übersichten über den auswärtigen Handel, Wien 1920-22. – Statistik der Arbeitslosigkeit in den Amtlichen Nachrichten des Bundesministeriums für soziale Verwaltung. – Sterblichkeitsstatistik im Statistischen Wochenbericht des Wiener Magistrats. – Lebzelter, Größe und Gewicht der Wiener Arbeiterjugend, Mitteilungen des Volksgesundheitsamtes, Wien 1922. – Engels, Der Anfang des Endes in Österreich, Der Kampf, VI. Band. – Madie, Die Besoldungsverhältnisse der österreichischen Staatsbeamten 1914 bis 1920, Statistische Monatsschrift, 1920.

Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Wien 1921. – Die Botschaft, Neue Gedichte aus Österreich, Gesammelt von E. A. Rheinhardt. Wien 1920. – Strobl, Gespenster im Sumpf, Leipzig 1920. – Bartsch, Ein Landstreicher, Wien 1921. – Rittner, Geisler in der Stadt, Wien 1921. – Werfel, Bocksgesang, München 1922. – Spann, Der wahre Staat, Leipzig 1921. – Mises, Die Gemeinwirtschaft, Jena 1922.

Schäfer, Sozialdemokratie und Landvolk, Wien 1920.



In den ersten Monaten nach der Beendigung des Krieges erschien der internationale Kapitalismus schwer erschüttert. Die russische Sowjetrepublik wies in blutigem Bürgerkrieg die Angriffe der Generale der Konterrevolution siegreich zurück. Im Deutschen Reiche herrschten die Arbeiter- und Soldatenräte; in einer Reihe von Aufständen suchte Spartakus die deutsche Revolution über die Schranken der bürgerlichen Demokratie hinauszutreiben. In München und in Budapest ward die Diktatur des Proletariats aufgerichtet. Aber auch die Siegerländer waren von der revolutionären Welle nicht unberührt geblieben. Als die Ententemächte während der Friedensverhandlungen die Demobilisierung hinauszogen, führte die Gärung in ihren Heerlagern zu einer Reihe von Meutereien, und auch in den Siegerländern zogen die Arbeiter, aus dem Feld heimgekehrt, arbeitslos und erbittert durch die Straßen. Der Krieg schien unmittelbar in die Weltrevolution umschlagen zu sollen.

Aber schon nach wenigen Monaten fluteten die Wellen der Revolution zurück. Schon im Frühling 1919 trat in den Ländern der Siegermächte eine Periode wirtschaftlichen Aufschwungs ein. Die Industrie sog die Arbeitslosen schnell auf. Die demobilisierten Soldaten fanden in den Fabriken bei schnell steigendem Lohn Beschäftigung. Die Prosperitätsperiode, die dem Kriege folgte, überwand die Demobilisierungskrise. In den Staaten, die durch ihren Sieg zu Herren der Welt geworden waren, hatte der Kapitalismus die soziale Krise, die die Periode der Rückführung der Massen aus der Armee in die Produktion überall hervorrief, schnell und ohne ernste Erschütterung überwunden. Aber auch dem besiegten Mitteleuropa befestigte sich der Kapitalismus wieder. In Deutschland hatten die kommunistischen Aufstände im Dezember, Jänner und März mit schweren Niederlagen geendet; ihr einziges Ergebnis war die Aufstellung der konterrevolutionären Reichswehr, die fortan das Proletariat niederhielt. In Bayern war die kommunistische Diktatur im Mai, in Ungarn im Juli zusammengebrochen; die Konterrevolution triumphierte. Im Osten blieben die Kräfte der Sowjetrepublik durch die bewaffnete Intervention der Entente gebunden. Im Spätsommer 1919 war es bereits offenbar, daß der Kapitalismus die schwerste Erschütterung überwunden hatte.

Aber noch fühlte sich das Proletariat nicht besiegt. Das Jahr 1920 brachte eine ganze Reibe von Erhebungen des Proletariats. Aber alle diese Erhebungen endeten mit schweren Niederlagen. Im März forderte der Kapp Putsch das deutsche Proletariat zu gewaltiger Erhebung heraus. Der Generalstreik des Proletariats rettete die Republik; aber wo das Proletariat über die bürgerliche Republik hinaus zu stürmen versuchte, ward es blutig niedergeworfen. Im Mai erhoben sich die französischen Arbeiter; aber ihr Massenstreik endete mit schwerer Niederlage. In den Sommermonaten entflammte der sieghafte Einbruch der Roten Armee in Polen die Hoffnungen des Proletariats; breite Massen hofften, die Rote Armee werde Polen überrennen, die Brücke zwischen der russischen und der deutschen Revolution schlagen, den Sozialismus auf den Spitzen ihrer Bajonette nach Mitteleuropa tragen. Die schwere Niederlage der Russen vor Warschau bereitete im August allen diesen Hoffnungen ein jähes Ende. Im September erlebte Italien den Höhepunkt der sozialen Krise; die italienischen Arbeiter bemächtigten sich der Fabriken, die Staatsgewalt wagte es nicht, das Eigentum des Kapitals zu schützen, ein paar Tage lang waren die Produktionsmittel in den Händen des Proletariats. Aber nach wenigen Tagen mußten die Arbeiter die besetzten Fabriken wieder räumen. Im Dezember wurde die Tschechoslowakei durch einen Massenstreik erschüttert: auch er brach ergebnislos zusammen. Am Ende des Jahres 1920 hatte der Kapitalismus die Offensivstöße des Proletariats überall abgewehrt.

Indessen war die Periode der wirtschaftlichen Hochkonjunktur, die im Frühling 1919 eingesetzt hatte, jäh zu Ende gegangen. Schon im Frühjahr 1920 war in Japan und in Amerika, im Sommer auch in den Siegerländern und den neutralen Ländern Europas die industrielle Krise hereingebrochen. In allen Ländern mit stabilem und mit steigendem Geldwert schwoll die Arbeitslosigkeit an und sanken die Arbeitslöhne. Die Arbeiter setzten sich gegen den Lohndruck zur Wehr. Das Jahr 1921 brachte eine Reihe gewerkschaftlicher Riesenkämpfe, unter denen die Aussperrung der britischen Bergarbeiter die gewaltigste war. In einer Zeit schwerer industrieller Depression unternommen, endeten diese Lohnkämpfe mit Niederlagen. In allen von der Krise erfaßten Ländern leerten die Anforderungen für die Arbeitslosenunterstützung und die Streikunterstützung die Kassen der Gewerkschaften und brach die Furcht vor der Arbeitslosigkeit die Kampfesenergien der Arbeiterschaft. Die Arbeiter mußten immer wieder Lohnreduktionen ohne Widerstand hinnehmen. Ihre Machtstellung in den Betrieben wurde empfindlich geschwächt. War so im Westen der Kapitalismus in sieghafter Offensive, so brach zugleich im Osten die Offensivkraft des Kommunismus zusammen. In Bußland lehnten sich die Massen gegen den Kommunismus auf. Der Kronstädter Aufstand und Massenausstände der Arbeiter zwangen die Sowjetregierung zur Umkehr. Der „neue Kurs“ stellte den Kapitalismus in Rußland wieder her. Nach dem Zusammenbruch des Märzputsches in Deutschland mußte der Kommunismus auch in, Mitteleuropa seine Putschtaktik liquidieren. Das Proletariat war nun überall in die Defensive gedrängt.

So ist die Geschichte der Jahre 1919 bis 1921 die Geschichte der schrittweisen Wiederbefestigung des durch den Krieg erschütterten internationalen Kapitalismus. Unter dem Drucke dieser internationalen Entwicklung mußten sich auch in Deutschösterreich die Machtverhältnisse zwischen den Klassen verändern.

In den ersten Monaten nach dem Umsturz hatte sich die deutschösterreichische Bourgeoisie der Vorherrschaft der Arbeiterklasse beinahe widerstandslos unterworfen. Die soziale Revolution schien ja damals in Deutschösterreich viel weniger weit zu gehen als in den anderen besiegten Ländern. Im November 1918 hatten in Deutschland die Arbeiter- und Soldatenräte die Regierungsgewalt übernommen; in Deutschösterreich war die Revolution in den Formen parlamentarischer Demokratie geblieben. Im Winter tobte immer wieder blutiger Bürgerkrieg in den Straßen der deutschen Großstädte; Deutschösterreich blieb blutiger Straßenkampf erspart. Im Frühjahr 1919 ward die Diktatur des Proletariats in Ungarn und in Bayern proklamiert; in Deutschösterreich wehrte die Sozialdemokratie den Ansturm des Kommunismus ab. Damals war die deutschösterreichische Bourgeoisie glücklich, daß sie von dem Schlimmeren verschont blieb, das die Bourgeoisie der anderen besiegten Länder betroffen hatte. Damals unterwarf sie sich widerstandslos der Vorherrschaft der Sozialdemokratie.

Aber schon die ersten Siege der internationalen Reaktion im Jahre 1919 veränderten die Stimmung der deutschösterreichischen Bourgeoisie. In Deutschland war die Reichswehr entstanden, die das Proletariat niederwarf und niederhielt; in Österreich hielt immer noch die sozialistische Volkswehr die Reaktion im Banne. In Deutschland wehrte die Technische Nothilfe jede Stillegung lebenswichtiger Betriebe ab; in Österreich konnte der Staat. die öffentlichen Betriebe immer noch nur im Einvernehmen mit den proletarischen Organisationen führen, weil er ohne sie den Fortgang der lebenswichtigen Betriebe nicht sicherstellen konnte. In Deutschland war der Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte sehr schnell ihre Auflösung gefolgt; in Österreich hatten Arbeiter- und Soldatenräte nie die Herrschaft geübt, aber sie blieben eine stark wirkende Macht, als in Deutschland keine Arbeiter- und Soldatenräte mehr existierten. In Ungarn und in Bayern war der kommunistischen Diktatur die blutige Niederwerfung des Proletariats gefolgt; in Österreich hatte die Mäßigung der sozialdemokratischen Führung dem Proletariat die Niederlage erspart, seine Machtmittel unversehrt erhalten. Im Sommer 1919, nach den Siegen der Konterrevolution in Deutschland und in Ungarn, erkannte die österreichische Bourgeoisie, daß der bolschewistische Schrecken in Deutschland und in Ungarn, dem das konterrevolutionäre Ende so bald gefolgt war, für die Bourgeoisie viel vorteilhafter gewesen war als der Schrecken ohne Ende der sozialdemokratischen Führung, der das österreichische Proletariat vor Niederlagen bewahrt hatte. Als seit dem Herbst 1919 die flüchtigen Revolutionäre aus Ungarn und aus Bayern, aus Jugoslawien und aus Polen in Österreich ihr Asyl fanden, sah die Bourgeoisie, daß in Österreich allein noch die Macht des Proletariats ungebrochen war, während rings um uns das Proletariat schon schwere Niederlagen erlitten hatte. In einer Zeit, in der die österreichische Bourgeoisie schon die weiße Armee in Ungarn und die Orgesch in Bayern als ihre Reservearmeen betrachten konnte, die sie notfalls gegen das österreichische Proletariat zu Hilfe rufen könnte, erschien ihr die ungebrochene Machtstellung des österreichischen Proletariats als ein unerträglicher Anachronismus; nun gilt es, meinte sie, nach dem offenen Bolschewismus in Ungarn und in Bayern auch den „schleichenden Bolschewismus“ in Österreich niederzuwerfen.

In dem Maße, wie sich im Verlauf der Jahre 1919 bis 1921 der internationale Kapitalismus wieder befestigte, erstarkte auch in Österreich das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie. Sie wagte wieder den Widerstand gegen das Proletariat, nachdem 1919 die deutsche und die ungarische Revolution schwere Niederlagen erlitten hatten. Sie faßte wieder Mut, allein zu regieren, nachdem 1920 die internationale Reaktion die Angriffe des Proletariats abgewehrt hatte. Sie ging zur Offensive über, nachdem 1921 das Proletariat in ganz Europa in die Defensive gedrängt war. Auch in Österreich ist die Geschichte der Jahre 1919 bis 1922 eine Geschichte fortschreitenden Erstarkens des Selbstbewußtseins, der Widerstandskraft, der Offensivkraft der Bourgeoisie und fortschreitender Ralliierung aller besitzenden Klassen gegen das Proletariat.

Und dieser Prozeß des Erstarkens des bourgeoisen Klassenbewußtseins wurde beschleunigt und verstärkt durch die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die der Zerfall des alten großen Wirtschaftsgebietes herbeiführte.

Die folgenschwerste Wirkung der Auflösung des österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes war die Revolution des Geldwesens. Der Zertrümmerung der alten Reichsgemeinschaft folgte die Auflösung der alten Währungsgemeinschaft. Am 8. Jänner 1919 ordnete die südslawische Regierung die Abstempelung der in den ehemals österreichisch-ungarischen Gebieten Jugoslawiens umlaufenden Kronennoten an. Am 25. Februar wurde die Abstempelung der Kronennoten in der Tschechoslowakei beschlossen. Deutschösterreich beantwortete diese Maßregeln mit der Verordnung vom 27. Februar, die auch hier die Abstempelung der Kronennoten verfügte. Damit war die alte österreichisch-ungarische Währungsgemeinschaft aufgelöst; an die Stelle der österreichisch-ungarischen Krone trat die deutschösterreichische. Der Wert der österreichischien Krone war nun nicht mehr bestimmt durch ihre Kaufkraft in der Tschcchoslowalvci^ in Jugoslawien, in Polen, sondern nur noch durch ihre weit niedrigere Kaufkraft in dem von allen Nachbarstaaten blockierten, an empfindlichstem Warenmangel leidenden Deutschösterreich. Wer im Ausland tschechische Kohle oder tschechischen Zucker, galizisches Petroleum oder siebenbürgisches Holz, ungarisches Vieh oder jugoslawisches Getreide kaufen wollte, brauchte nun nicht mehr österreichische Kronennoten, sondern tschechische oder jugoslawische Kronen oder die in Polen, Ungarn und Rumänien vorläufig noch weiter verwendeten ungestempelten Kronennoten. österreichische Kronen brauchte der Ausländer nur noch, wenn er deutschösterreichische Waren kaufen wollte; aber die infolge der Kohlen- und Rohstoffnot zerrüttete deutschösterreichische Industrie hatte dem Ausland wenig zu verkaufen. So mußte die Nachfrage nach österreichischen Kronen, mußte daher auch ihr Kurs bedeutend sinken. Der Kurssturz der österreichischen Krone war also damals unvermeidliche Wirkung der Auflösung des österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes; unvermeidliche Wirkung der Tatsache, daß der Wert der österreichischen Krone nicht mehr auf die fruchtbaren Ebenen, die Kohlen- und Rohöllager, die Industrie- und Hafenanlagen des alten großen Wirtschaftsgebiets, sondern nur noch auf die Armut des deutschösterreichischen Berglandes basiert war.

Der Kronensturz wurde durch andere Umstände beschleunigt. Hatte schon in der Kriegszeit die Kapitalsflucht in das Ausland großen Umfang erreicht, so hatte die Revolution die Kapitalsflucht noch vergrößert. Die Kapitalisten, vor der Enteignung zitternd, brachten ihre Vermögen in die Schweiz; die strengen Verbote, die die beiden ersten Regierungen der Republik erließen, wurden umgangen oder durchbrochen. Insbesondere in derzeit des Ansturms des ungarischen Bolschewismus nahm die Kapitalsflucht große Dimensionen an. Damit wuchs natürlich das Angebot österreichischer Kronenwerte im Ausland; wurde also der Druck auf den Kronenkurs verschärft. In derselben Zeit hob die Entente die Blockade über Deutschösterreich auf. Viereinhalb Jahre lang war Deutschösterreich vom Ausland abgeschnitten gewesen. Jetzt stürzte sich der viereinhalb Jahre lang ausgehungerte Konsum gierig auf die ausländischen Waren, die mit einem Male wieder erreichbar wurden. Jetzt beeilten sich die Kaufleute, ihre längst geleerten Vorratslager wieder aufzufüllen. Das stürmische Verlangen nach ausländischen Waren vergrößerte sprunghaft die Nachfrage nach ausländischen Zahlungsmitteln und verstärkte daher abermals den Druck auf den Kronenkurs. Wenige Wochen später wurde der erste Entwurf der Friedensbedingungen bekannt. Die furchtbar harten Bedingungen, zerstörten alles Vertrauen zu Deutschösterreichs wirtschaftlicher Zukunft. Nun schlugen die ausländischen Spekulanten ihre Vorräte an Kronennoten los. Nun verkauften die österreichischen Kapitalisten ihre Kronenwerte, um mit dem Erlös ausländische Devisen und Effekten zu kaufen. Der Kronenkurs bekam damit einen, weiteren mächtigen Stoß.

So verknüpften sich in dieser ersten Phase der Geldentwertung alle Wirkungen der großen Katastrophe, den Kurs der Krone zu drücken. In dem ersten Jahre der Republik, in der Periode der Vorherrschaft der Arbeiterklasse war die Geldentwertung unmittelbare, durch keinerlei finanzpolitische Maßregeln zu verhindernde Wirkung der großen historischen Katastrophe selbst: des Zerfalls des alten großen Wirtschaftsgebiets, der revolutionären Umwälzung ganz Mitteleuropas, des vom Ententeimperialismus diktierten Gewaltfriedens. Das Ergebnis dieser Umwälzungen war, daß die Krone binnen einem Jahr neun Zehntel ihres Wertes verlor. Der Kurs der Krone in Zürich, der sich noch in den ersten Wochen nach dem Umsturz über 30 Centimes gehalten hatte, sank bis zum Ende des Jahres 1919 auf 3 Centimes.

Aber damit war die Geldentwertung nicht beendet. Die stürmische Entwertung des Geldes im ersten Jahre der Republik hatte den Staatshaushalt schwer zerrüttet. Während die Staatsausgaben mit der Geldentwertung stiegen, konnten die Staatseinnahmen in der Zeit des vollständigen Stockens der Produktion und der schwersten sozialen Krise nur langsam erhöht werden. Das Defizit im Staatshaushalt mußte daher durch Ausgabe von Papiergeld gedeckt werden. In gleichem Maße, wie die Masse der umlaufenden Banknoten anschwoll, sank ihr Wert. Der Kurs der Krone sank daher immer weiter. Er sank in Zürich bis Ende 1920 auf 1,05, bis Ende 1921 auf 0,11 Centimes. War die Geldentwertung im ersten Jahre der Republik unmittelbare Wirkung der Auflösung des alten Wirtschaftsgebiets, so war sie in der Folgezeit Wirkung der Zerrüttung des Staatshaushalts, die zu fortwährender Vermehrung des Papiergeldes zwang.

Aber die Geldentwertung war nicht nur die Folge der großen historischen Katastrophe, die 1918 Österreich befallen hat, sie war damals zugleich auch ein unentbehrliches Mittel, das durch diese Katastrophe völlig zerrüttete Wirtschaftsleben wiederherzustellen. Der elementare Prozeß der Geldentwertung setzte den kapitalistischen Warenaustausch und die kapitalistische Warenproduktion wieder in Gang.

Im Sommer 1919 setzte an der Wiener Börse die große Hausseperiode ein. Die Effektenkurse begannen sich dem von Tag zu Tag sinkenden Geldwert anzupassen. Die Kapitalisten suchten ihr Kapital der Entwertung zu entziehen, indem sie es in Effekten und Devisen anlegten. Die Kurse der Börsenpapiere stiegen überaus schnell. Die großen Spekulationsgewinne verlockten immer breitere Schichten des Bürgertums, der Beamtenschaft, der Angestelltenschaft zum Börsenspiel. Was gestern an der Börse gewonnen wurde, wurde heute in wildem Luxuskonsum verjubelt.

Von der Börse griff die Bewegung auf den Handel über. Die Börse spekulierte auf immer weiteres Sinken der Krone; der Kurs der Krone eilte daher in schnellem Sturz dem Niedergang ihres inneren Wertes, ihrer Kaufkraft voraus. Die Spannung zwischen dem Kurs und der Kaufkraft der Krone drückte sich darin aus, daß die Inlandpreise der österreichischen Waren tief unter den Weltmarktpreisen standen. Wer österreichische Waren in das Ausland bringen konnte, konnte große Gewinne erzielen. Dem standen freilich die mannigfachen Verkehrsbeschränkungen, die Aus- und Einfuhrverbote gegenüber, mittels deren die Staaten in der Zeit der schwersten Not ihre Volkswirtschaft zu schützen versuchten. Ein skrupelloses Schiebertum, das es verstand, die Verbote auf tausenderlei Schleichwegen zu umgehen und sich die Bürokratie, die diese Verbote zu handhaben hatte, dienstbar zu machen, durchbrach diese Hindernisse. Und zu dem inländischen Schieber gesellte sich der ausländische. Infolge des krassen Mißverhältnisses zwischen dem Binnenwert und dem Außenwert der Krone konnte jeder Kommis aus den valutastarken Ländern in Wien als reicher Mann auftreten und jeder, der mit ausländischem Geld in Wien Waren aufkaufte, die größten Exportprofite erlangen. Die Zeit des großen „Ausverkaufs“ kam, in der ausländische Händler die Rohstoffvorräte, die die Heeresverwaltung der Republik hinterlassen hatte, und den Hausrat und Schmuck der durch die Geldentwertung verelendeten Wiener Patrizier um einen Bettel an sich rissen und in das Ausland schafften. Pierre Hamp hat es in grotesken Bildern geschildert, wie sich die „Goldsucher“ aller Länder auf das verelendete Land stürzten. Aber diese Periode des Schiebertums bereitete, so parasitisch sie auch erschien, in Wirklichkeit doch die Wiederherstellung des Wiener Handels vor. Die Anziehungskraft, die Wien dank der großen Spannung zwischen der Kaufkraft und dem Kurs der Krone, zwischen ihrem Binnen- und ihrem Außenwert, zwischen Inland- und Weltmarktpreisen auf die ausländischen Händler übte, stellte Wien als großen Handelsplatz wieder her. Nun kamen wieder jugoslawische und rumänische, polnische und ungarische Händler nach Wien, um hier die Erzeugnisse nicht nur der österreichischen, sondern auch der tschechoslowakischen Industrie zu kaufen. Wien erlangte seine alte Funktion der Handelsvermittlung zwischen den Industriegebieten der Sudetenländer und den Agrargebieten des Donaubeckens wieder zurück. Und mit dem Handel begannen schließlich auch Gewerbe und Industrie wiederzuerstehen.

Zuerst wurden die Luxusgewerbe wiederbelebt; ihnen brachte die Periode der großen Börsen- und Schiebergewinne und des Zustroms der ausländischen Händler eine Periode der Hochkonjunktur. Die große Industrie dagegen erstand langsamer wieder. Zwar wirkte auch für sie die Spannung zwischen dem Binnen- und dem Außenwert der Krone einer hohen Exportprämie gleich. Aber sie konnte die große Exportkonjunktur nicht ausnützen, solange Kohlen- und Rohstoffnot ihre Produktion drosselten. Erst allmählich, mit der Wiederherstellung der Produktion in den Nachbarländern strömten auch Österreich Kohle und Rohstoffe wieder etwas reichlicher zu. Und als im Sommer 1920 die industrielle Krise in den valutastarken Ländern hereinbrach, als dort der Absatz von Kohle und Rohstoffen stockte, konnte die österreichische Industrie so viel Kohle- und Rohstoffe beziehen, als sie brauchte. Wir haben im zweiten Halbjahr 1919 12 Millionen Meterzentner Kohle und Koks importiert, im Jahre 1920 40 Millionen, im Jahre 1921 58,4 Millionen Meterzentner. Unsere Einfuhr an Baumwolle betrug im zweiten Halbjahr 1919 26.511 Zentner, im Jahre 1920 126.464, im Jahre 1921 260.511 Zentner. In ähnlichem Verhältnis stieg die Einfuhr aller wichtigen industriellen Rohstoffe. Vor dem Übergreifen der internationalen Absatzstockung auf Österreich bewahrte uns die Geldentwertung, die die Produktionskosten unserer Industrie tief unter dem internationalen Niveau erhielt; die Kohlen- und Rohstoffnot aber die uns die Ausnützung der internationalen Hochkonjunktur von 1919/20 unmöglich gemacht hatte, wurde gerade durch die internationale Industriekrise überwunden. Darum kam für die österreichische Industrie die Zeit der Hochkonjunktur erst, als sie auf dem Weltmarkt schon vorüber war.

Nun erst konnte unsere Industrie die Exportprämie, die in der Spannung zwischen Inland- und Weltmarktpreisen lag, voll ausnützen. In einer Zeit, in der der Weltmarkt bereits unter dem Drucke der internationalen Depression stand, konnte unsere Industrie ihren Absatz auf dem Weltmarkt bedeutend ausdehnen. Unser Export betrug:

 

im zweiten
Halbjahr 1919

im Jahre 1920

im Jahre 1921

Meterzentner

Papier und Papierwaren

310.688

   957.056

1.144.300

Leder und Lederwaren

  12.232

     40.443

     59.280

Möbel und Möbelteile

  24.052

     91.914

     90.966

Eisen und Eisenwaren

755.557

1,918.523

1,951.928

Maschinen und Apparate

  15.441

   411.642

   538.015

Elektrische Maschinen und Apparate

  25.366

     81.488

   111.757

Fahrzeuge

  43.611

   144.379

   178.477

Stück

    2.081

     12.491

     13.411

Tonnen

         13

            40

            38

 

Meterzentner

Edelmetalle und Waren daraus

       937

       1.878

       4.920

Chemische Hilfsstoffe und Produkte

155.624

   471.086

   510.540

Kleider und Putzwaren

    4.043

     12.189

       5.121

Wäsche

       263

       3.273

       4.814

Durch dieses Anschwellen des Exports belebt, sog die Industrie nun die Massen der Arbeitslosen auf. Die Zahl der Arbeitslosen hätte im Mai 1919 mit 186.000 den höchsten Stand erreicht. Nun sank sie schnell. Anfang 1920 standen noch 62.427, im. Juli 23.970, am Ende des Jahres 16.637 Arbeitslose im Bezüge der Arbeitslosenunterstützung; in dem ganzen Jahre 1921 blieb die Arbeitslosigkeit sehr klein. Die Geldentwertung war das Mittel gewesen, durch die Belebung der Industrie die Arbeitermassen, die der Krieg aus den Produktionsstätten gerissen hatte, in die Produktionsstätten zurückzuführen, sie wieder an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen.

Die industrielle Prosperität ermöglichte es der Arbeiterschaft, sich höhere Löhne zu erringen. Die Exportindustrien, die ihre Erzeugnisse gegen ausländisches Geld austauschten, konnten die Kronenlöhne in dem Maße erhöhen, als der Wert der Lohnkrone sank. Das Steigen der Arbeitslöhne in den Exportindustrien trieb, wenn auch nicht im gleichen Verhältnis, auch die Löhne in den anderen Industriezweigen empor. Das schnelle Tempo der Geldentwertung erforderte schnelle Anpassung der Lohnsätze an die Veränderungen des Geldwertes. Eine Lohnbewegung folgte schnell der anderen. Die fortwährende Beschäftigung der gesamten Arbeiter- und Angestelltenschaft mit den Lohnbewegungen stärkte die Anziehungskraft der Gewerkschaften. Im Jahre 1922 waren bereits mehr als eine Million Arbeiter und Angestellte, beinahe ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des Landes, in den freien Gewerkschaften vereinigt. Auf ihre starken Gewerkschaften gestützt, konnte die Arbeiterschaft die industrielle Hochkonjunktur voll ausnützen. In der Bemessung der Teuerungszulagen nach dem amtlich erhobenen Teuerungsindex wurde das Mittel gefunden, die Arbeitslöhne allmonatlich den Veränderungen der Kaufkraft der Krone automatisch anzupassen, um schwere Kämpfe um die Besserung der Arbeitslöhne zu verhüten. Diese Entlohnungsmethode wurde im November 1919 von Renner einer von der Regierung einberufenen gemeinsamen Konferenz der Unternehmerverbände und der Gewerkschaften vorgeschlagen, im folgenden Monat, wenn auch zunächst noch in sehr unvollkommener Gestalt, in den Kollektivvertrag der Metallindustrie eingeführt, in der Folgezeit dann allmählich ausgebaut und auf fast alle großen Industriezweige ausgedehnt.

So wurde die Lebenshaltung der Arbeitermassen allmählich verbessert. Die Einfuhrstatistik zeigt das Ansteigen des Massenkonsums. Die Einfuhr nach Osterreich betrug:

 

im zweiten
Halbjahr 1919

im Jahre 1920

im Jahre 1921

Meterzentner

Getreide und Mehl

2.359.571

6.131.404

7.560.558

 

Stück

Schlacht- und Zugvieh

     18.487

     37.141

   130.928

 

Meterzentner

Speisefett

   122.036

   432.396

   402.867

Tabak

       7.845

     60.074

   113.777

Die Gesundheitsverhältnisse der Arbeitermassen besserten sich schnell. In Wien betrug die Zahl der Sterbefälle:

im Jahre

 

Sterbefälle
überhaupt

 

Sterbefälle
an Tuberkulose

1918

51.497

11.531

1919

40.932

10.606

1920

34.197

  7.464

1921

28.297

  5.265

Die Verbesserung des Ernährungszustandes der Arbeiterjugend zeigen die Messungen in den Lehrlingserholungsheimen des Volksgesundheitsamtes. Das durchschnittliche Körpergewicht der Lehrlinge betrug:

im Alter
von
Jahren

 

im Jahre

1919

 

1920

Kilogramm

14 bis 15

40,93

 

44,35

15 bis 16

42,66

45,45

16 bis 17

47,48

50,13

In dem Maße, als sich die arbeitslosen „Heimkehrer“ in regelmäßig beschäftigte Industriearbeiter rückverwandelten, als die Arbeitsunterbrechungen infolge Kohlen- und Rohstoffnot aufhörten, als sich der Ernährungszustand der Arbeitermassen besserte, beruhigte sich auch die Stimmung der Arbeiterschaft. Die stürmischen Zwischenfälle in den Betrieben und auf den Straßen, die in den ersten Monaten nach dem Umsturz die Bourgeoisie in Furcht erhalten hatten, wurden seltener. In den Betrieben stiegen Arbeitsintensität und Arbeitsdisziplin. Im Staat wurde wieder ein Regieren möglich, das nicht mehr täglich Erhebungen der Arbeiterschaft zu fürchten hatte, nicht mehr täglich des Einvernehmens mit den Arbeiterorganisationen bedurfte. Der revolutionäre Spannungszustand wurde durch die industrielle Hochkonjunktur überwunden.

Damit erstarkte das Selbstbewußtsein des industriellen Unternehmertums. Es war eingeschüchtert, solange seine Betriebe in Auflösung waren; es wurde wieder selbstbewußt, sobald seine Betriebe wieder in vollem Gange waren. Es hatte sich in der Zeit der schweren Krise, in der Kohlen- und Rohstoffnot die volle Produktion unmöglich machten, gegen die Einführung des Achtstundentages nicht gewehrt; jetzt, da der Achtstundentag es in der Ausnützung der Hochkonjunktur beschränkte, klagte es über die „sozialpolitischen Experimente“. Es hatte in der Zeit der schweren revolutionären Erschütterung die neue sozialpolitische Gesetzgebung ohne Widerstand hingenommen; jetzt begann es wieder, sich gegen die „sozialpolitischen Lasten“ aufzulehnen. Das industrielle Unternehmertum begann nun, alle besitzenden Klassen gegen die Machtstellung der Arbeiterklasse im Staat zu organisieren.

Aber die Geldentwertung stellte nicht nur den Handel, das Gewerbe, die Industrie wieder her. Sie rief auch eine folgenschwere Umschichtung innerhalb der ganzen Bourgeoisie hervor. Unter den Wirkungen der Geldentwertung ist eine neue Bourgeoisie entstanden, ist das alte Bürgertum zugrunde gegangen.

Zunächst wurden durch die Geldentwertung diejenigen Schichten der alten Unternehmerklasse begünstigt, deren Unternehmungen in Wien ihre Büros, aber außerhalb Deutschösterreichs, zumeist in der Tschechoslowakei, ihre Fabriken haben. Diese Unternehmer bezogen ihr Einkommen in tschechischen, sie verausgabten es in österreichischen Kronen. Sie vor allem waren daher die Nutznießer der großen Differenz zwischen dem inneren und dem äußeren Wert der Krone. Neben ihnen zog eine neue Schicht der Bourgeoisie aus dieser Differenz große Gewinne. Aus Valutenspekulation und Schiebertum entstanden neue große Vermögen. Die schweren Hindernisse, die die staatliche Gesetzgebung der Valutenspekulation und dem Schiebertum entgegenzustellen versucht hatte, konnten nur von besonders gerissenen, besonders bedenkenlosen Händlern überwunden werden. Es waren Methoden der „ursprünglichen Akkumulation“ in Marxens Sinne, aus deren Anwendung die neuen großen Vermögen entstanden. Den an die normalen Formen kapitalistischer Betätigung in hochindustriellem Milieu gewohnten Kapitalisten waren diese Methoden nicht vertraut. Desto besser vertraut waren sie dem Händlertum aus den agrarischen Ländern des Ostens, wo das Kapital, noch gleichsam in den Poren einer noch vorkapitalistischen Gesellschaft lebend, noch die brutaleren und korrupteren Methoden der „ursprünglichen Akkumulation’ anzuwenden gewohnt war. Die galizischen Juden, die der Krieg in großen Massen nach Wien geworfen hatte, die ungarischen Händler, die vor der Revolution in Österreich Zuflucht gesucht hatten, stellten zu den Nutznießern der Geldentwertungskonjunktur ein starkes Kontingent. Und zu ihnen gesellten sich noch die zahlreichen „Goldsucher“ aus den valutastarken Ländern, die nach Österreich kamen, um die Konjunktur des „Ausverkaufs“ auszunützen. So entwickelte sich aus der Geldentwertungskonjunktur eine neue Bourgeoisie, die zum großen Teil aus landfremden, kulturell tiefstehenden Elementen, die ihren Erfolg ihrer geschäftlichen Findigkeit und ihrer moralischen Skrupellosigkeit verdanken, zusammengesetzt ist. Es war wahr geworden, was der junge Friedrich Engels im Jahre 1848, wenige Wochen vor der österreichischen Märzrevolution, vorausgesagt hatte: „daß es recht gemeine, recht schmutzige, recht jüdische Bourgeois sein werden, die dies altehrwürdige Reich ankaufen“. Der kulturlose Luxus der an der Not des Landes bereicherten neuen Bourgeoisie erbitterte die Volksmasse. Eine Welle des Antisemitismus ergoß sich über das Land.

Derselbe Prozeß der Geldentwertung, der die neue Bourgeoisie emporgetragen hat, hat breite Schichten der alten Bourgeoisie pauperisiert. Zunächst traf dieses Schicksal die Rentner. Während des Krieges hatte der weitaus größte Teil des mobilen Kapitals der Bourgeoisie die Gestalt der Kriegsanleihetitres angenommen. Die Republik bezahlte die Zinsen der Kriegsanleihen, aber sie bezahlte sie in Papierkronen. In dem Maße, als der Wert der Papierkrone sank, wurde die Rentnerklasse expropriiert. Die Zinsen, die der Staat den Rentnern bezahlte, stellten 1920 nur noch ein Hundertstel, 1922 nur noch ein Zehntausendstel des versprochenen Wertes dar. Der Millionär, der sein Vermögen in Kriegsanleihe angelegt hatte, war zum Bettler geworden.

Mit den Rentnern wurden auch die Hausbesitzer expropriiert. Die während des Krieges erlassene Mieterschutzverordnung wurde aufrechterhalten. Die Mietzinse, in Papierkronen ausgedrückt, stiegen nur sehr langsam, während der Wert der Papierkrone schnell sank. Die Aufrechterhaltung des Mieterschutzes war eines der wirksamsten Mittel, die Lebenshaltung der Volksmassen zu heben. Der Wohnungsaufwand verschlang bald nur noch einen sehr geringen Teil des Lohneinkommens. Die Volksmassen konnten ihr Wohnungsbedürfnis viel besser befriedigen als vor dem Kriege. Aus den Wohnungen der Arbeiter verschwanden die Bettgeher und Aftermieter. Die Tatsache, daß in Wien Wohnungsnot herrscht, obwohl die Bevölkerung infolge der Kriegsverluste, infolge der Abnahme der Geburtenhäufigkeit und infolge der starken Abwanderung nach der Revolution beträchtlich abgenommen hat, beweist, daß die Volksmassen in den Arbeitervierteln nicht mehr so dicht gedrängt wohnen wie vor dem Kriege. Aber diese Hebung der Wohnkultur, eines der erfreulichsten Ergebnisse der sozialen Umwälzung, erfolgte auf Kosten der Hauseigentümer. Die Hausrente wurde zugunsten der Mieter konfisziert. Damit wurde eine der zahlreichsten Schichten des Bürgertums wirtschaftlich expropriiert.

Auch die höhere Beamtenschaft wurde von der Geldentwertung niedergedrückt. Staat, Länder und Gemeinden, infolge der Geldentwertung mit den größten finanziellen Schwierigkeiten kämpfend, konnten die Bezüge ihrer Angestellten nur viel langsamer erhöhen als die für den Export arbeitende Industrie und als die durch die Geldentwertungskonjunktur begünstigten Banken und Handelsunternehmungen. Die Bezüge der untersten Kategorien der öffentlichen Angestellten, die auch vordem nur gerade das nackte Leben ermöglichten, mußten freilich in dem Maße erhöht werden, als die Kaufkraft des Geldes sank; desto mehr mußten die notleidenden öffentlichen Haushalte an den Bezügen der höheren Angestellten sparen. Ihre Bezüge stiegen viel langsamer, als der Geldwert sank. So wurden von Ende 1915 bis zum März 1920 die Bezüge der ledigen Staatsbeamten in der XI. Rangsklasse immerhin um 718 Prozent, in der IV. Rangsklasse nur um 215 Prozent erhöht. Ein Hofrat hatte im Jahre 1915 noch 8,6mal, im Jahre 1920 nur noch 3,3mal höhere Bezüge als ein Beamter der untersten Rangsklasse.

Endlich wurden auch die freien Berufe von. der Bewegung erfaßt. Das verarmte Volk mußte sein ganzes Einkommen für die Bestreitung der allerunentbehrlichsten, unaufschiebbarsten Lebensbedürfnisse verwenden. An allen Entbehrlicheren mußte es sparen. Mit der Verelendung der zahlreichsten Schichten des Bürgertums verloren der Arzt, der Schriftsteller, der Künstler ihre Klientel. Auch sie gerieten nun in bittere Not.

Während eine neue landfremde Bourgeoisie aus der Not des Landes neue große Vermögen schöpfte, wurde der alte Reichtum des altösterreichischen Bürgertums durch die Geldentwertung vernichtet. Das altösterreichische Bürgertum wurde aus seiner gewohnten bürgerlichen Lebenshaltung tief hinabgestürzt. Tausende, die vor dem Kriege reich gewesen, konnten ihr Leben nur noch fristen, indem sie alten Hausrat und Schmuck verkauften und ihre Stuben an Fremde vermieteten. Sie konnten keine Hausgehilfinnen mehr halten. Buch, Theater, Konzert wurden ihnen zu unerschwinglichem Luxus.

Es war das Altwiener Patriziat, es waren die führenden Schichten der österreichischen Intelligenz, es waren große Teile des mittleren und kleinen Bürgertums, die durch die Geldentwertung verelendet wurden. Sie waren die eigentlich herrschende Klasse der Habsburgermonarchie gewesen. Sie hatten der Habsburgermonarchie ihre Beamten, ihre Offiziere gestellt. Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Traditionen gewesen. Sie waren seit einem Jahrhundert die Träger der spezifisch österreichischen Kultur, der Wiener Literatur, der Wiener Musik, des Wiener Theaters gewesen. Sie waren die eigentlich Besiegten des Krieges. Es war ihr Reich, das im Oktober 1918 zusammengebrochen war. Und mit ihrem Reich hatten sie auch ihren Reichtum verloren.

Ihr wirtschaftliches Schicksal bestimmte ihre soziale und politische Ideologie. Im letzten Kriegsjahr waren sie voll Sehnsucht nach dem Frieden gewesen. Damals haßten sie den deutschen Imperialismus, der den Krieg in die Länge zog. Damals hofften viele von ihnen durch die Trennung von Deutschland ihr Reich zu retten; durch Demokratie und nationale Autonomie innerhalb des Reiches dem Sonderfrieden den Weg zu bahnen. Ihr Pazifismus näherte sie damals der Sozialdemokratie. Und als im Oktober 1918 die Demokratie siegte, wurden auch von ihnen viele völlig von dem Geist der neuen Zeit erfaßt. Bereit, sich der aufsteigenden Macht der Arbeiterklasse zu gesellen, nannten sie sich nun „geistige Arbeiter“. Aber nach wenigen Wochen schon schlug ihre Stimmung um. Die neue Zeit hatte sie pauperisiert. Ihre Verelendung erbitterte sie! Ihre Erbitterung wandte sich gegen die beiden Klassen, die aus der Katastrophe, die das alte Bürgertum zugrunde gerichtet hatte, aufgestiegen waren: gegen die neue Bourgeoisie, die wirtschaftlich die Katastrophe genützt, und gegen die Arbeiterklasse, die die Katastrophe zu politischer Vorherrschaft gehoben hatte. Sie sahen viele Juden unter den reich gewordenen Schiebern. Sie sahen Juden unter den Führern der Arbeiter. Ihr zwiefacher Haß fand im Antisemitismus seine Vereinigung.

Sehr bald wurde ihre Erbitterung gegen die Arbeiter stärker als ihre Erbitterung gegen die Schieber. Am Ende war der Schieber nichts als ein erfolgreicher Kaufmann; daß aus Kauf und Verkauf Gewinne und Reichtümer entstehen, erschien ihrem bürgerlichen Denken am Ende natürlich. An der neuen Machtstellung, dem neuen Selbstbewußtsein der Arbeiter dagegen stieß sich täglich ihr bürgerliches Vorurteil. Dem Arzt erschien es als der Welten Ende, daß auch Pflegerinnen und Spitaldiener im Krankenhaus mitentscheiden wollten. Der Bürovorstand ärgerte sich über die veränderte Haltung seines Dieners, die Hausfrau über das plötzlich erwachte Selbstbewußtsein ihrer Köchin. Sie alle aber erbitterte vor allem die Bewegung der Arbeitslöhne. Das Kroneneinkommen des Rentners und des Hausherrn blieb trotz der Entwertung der Krone unverändert, das Kroneneinkommen des hohen Beamten, des Künstlers, des Arztes stieg weit langsamer, als die Krone sank; die Arbeiter der von der Geldentwertung begünstigten Exportindustrie aber konnten ihr Einkommen viel schneller erhöhen. Die Intellektuellen sahen nicht, daß die Lohnerhöhungen doch nur Anpassungen des Geldlohnes an den sinkenden Geldwert waren; sie sahen nur, daß die Löhne der Arbeiter schnell stiegen, während ihr Einkommen gar nicht oder viel langsamer stieg. Die Intellektuellen sahen nicht, daß die Arbeiterschaft trotz aller Lohnerhöhungen auf weit niedrigerem Niveau der Lebenshaltung als vor dem Kriege blieb; sie sahen nur, daß sich die Lebenshaltung der Arbeiter doch allmählich immerhin besserte, während ihre Lebenshaltung mit dem Fortschritt der Geldentwertung immer tiefer sank. Die Intellektuellen verstanden nicht, daß die Umwälzung der Einkommensverteilung Ergebnis eines elementaren ökonomischen Prozesses war, unentrinnbare Wirkung der Geldentwertung, die selbst wieder unentrinnbare Wirkung der großen historischen Katastrophe, des Krieges, der Auflösung des alten Wirtschaftsgebietes, des Gewaltfriedens war. Sie hielten die Lohnerhöhungen, die die Folge der Geldentwertung waren, für die Ursache der Geldentwertung und damit auch für die Ursache der Verelendung des „Mittelstandes“. Daß da und dort die Löhne von Handarbeitern über die Einkommen akademisch Gebildeter stiegen, hielten sie für willkürliche Wirkung der neuen politischen Machtstellung der Arbeiterklasse. Daß die Waschfrau besser entlohnt werde als der Universitätsassistent, wurde zum Schlagwort der Agitation. Der Klassenneid gegen die Arbeiterschaft wurde zur stärksten Leidenschaft der untergehenden Schichten des Bürgertums. Er erfüllte die breiten Schichten des mittleren und kleinen Bürgertums mit Haß gegen die Revolution, gegen die Arbeiterklasse, gegen die Sozialdemokratie.

Es ist nicht ohne Reiz, den Niederschlag dieser schnellen Entwicklung der Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz in der österreichischen Literatur zu verfolgen. Die Auflehnung eines nicht geringen Teiles der deutschösterreichischen Intelligenz gegen die Schrecken und den Schmutz des Krieges hatte in den letzten Kriegsjahren und in der Zeit des Umsturzes in einer Reihe von Dichtungen ihren Ausdruck gefunden. Hoch Tagt aus ihnen Karl Kraus’ Dichtung Die letzten Tage der Menschheit hervor, in ihrer grauenvollen Wahrheit und Fülle das gewaltigste Denkmal des Krieges. Diese Auflehnung gegen den Krieg erfüllte nicht wenige junge Intellektuelle mit revolutionärer Stimmung. Da saß so mancher von ihnen als Reserveoffizier mitten in dem lärmenden Treiben der Offiziersmesse, wie es Ernst Angel geschildert:

Draußen verreckte der Heiland eiternd in Stacheldrähten,
Drinnen reicht Judas den Braten, die schleichende Ordonnanz.

Und mitten unter den Kameraden harrte der junge Dichter hoffend der drohenden, rächenden Revolution:

Aber schon könnt ihr es hören, Türen sprengt das Empören.
Kamst du uns endlich zu stören, Sohn des Verzichts?
Speiest Revolte und Fusel uns schäumenden Mundes.
Lüstern und drohend. Zerrbild des künftigen Bundes.
Henker von morgen. Richter des Jüngsten Gerichts.

Und als die Revolution gekommen war, als

Denker in Stahl mit Denkern im Geiste verschworen
Schlossen der opferfeisten Maschine den Schlund,

da grüßte der Dichter die Revolution in überschwenglichster Erwartung:

Zukunft dichtet dein Zorn; und Eden entsprießt unsern Sünden,
Menschheit heil und blühend von Gärten umsäumt.
Freundschaft friedet die Zwiste, bindet zu Bünden,
Traum der Propheten wird in die Tat geträumt.

Aber nur allzubald kam die furchtbare Enttäuschung: statt der Volksbefreiung in romantischem, heroischem Kampf der durch Wirtschaftsnot und Ohnmacht in Form und Inhalt bestimmte harte Klassenkampf; statt des Zwistes friedenden Menschheitsbundes wehrlose Ohnmacht der Besiegten, brutale Gewalt der Sieger; statt des ersehnten Eden die wirtschaftliche Katastrophe des Landes, der wirtschaftliche Untergang der Klasse, die ein Jahrhundert lang die Trägerin seines geistigen Lebens gewesen war. Daß diese Umwälzung die anderen, die Nachbarvölker von alten Fesseln befreit hat, die Deutschösterreicher, Opfer dieser Umwälzung, die ihnen neue Fesseln auferlegte, konnten es nicht mitfühlen. Daß diese Revolution in den Arbeitermassen Deutschösterreichs selbst schlafende Seelen geweckt, breiten Massen neuen, höheren Lebensinhalt gegeben, hat von den Dichtern und Künstlern unseres Bürgertums auch nicht einer bemerkt; die Kunde von der seelischen Umwälzung, die sich in den Fabriken, in den Arbeitervierteln vollzog, ist bis zu ihren Schreibtischen, in ihre Kaffeehäuser nicht gedrungen. So erlebten sie nur den Niedergang ihrer eigenen Klasse. Sie flüchteten in die Bilder der Vergangenheit. In der Zeit des Zusammenbruchs des alten Österreich malten sie die Bilder seiner vergangenen Größe; die Zeiten des Barock, die Zeiten des Biedermeiertums erstanden ihnen wieder. Und ihr Erinnern an Zeiten, die ihrer Klasse reicher, glücklicher w-aren, endete dann immer wieder in Worten der Klage, wie sie Felix Gräfe gedichtet:

Wo ging dies hin? Wer hat den Traum zertreten?
Ihn bringt kein Weinen, ihn erweckt kein Beten,
Verschwendet liegt uns Tag und Überfluß.
Und wo wir einst im Rausch des Schauens lagen,
Entatmend überschwenglich Wort und Kuß:
Hat schrecklich uns die Faust der Tat erschlagen.

In dem furchtbaren Elendsjahre, das dem Kriege folgte, glaubte die Intelligenz, ihr Wien, das alte, große Wien völlig untergehen zu sehen. In dieser Stimmung schrieb Karl Hans Strobl seinen phantastischen Roman Gespenster im Sumpf. Da ist Wien in Hungersnot und Bürgerkrieg zugrunde gegangen. Die Bevölkerung ist ausgestorben, die Häuser sind zerfallen, Ratten hausen in den Trümmern. Im Trümmermeer treiben sich noch ein paar Menschen herum; sie nennen sich Staatssekretäre und ein Mann namens – Laufer, der sich Staatskanzler nennt, ist der Führer der Bande. Zuweilen gelingt es ihnen, eine reiche Amerikanerin, die neugierig die Trümmer der zerfallenen Stadt besichtigt, zu fangen und Lösegeld für ihre Befreiung zu fordern; das nennen sie Vermögensabgahe. Am Rande der Stadl aber hausen in Erdhöhlen noch vertierte Menschen; unter ihnen geht die Sage, daß einst in ihrer Mitte mächtige Dämonen gelebt haben die man Betriebsräte genannt hat ...

Dann, als sich Wiens Wirtschaftsleben wiederherzustellen begann, sah die Intelligenz zwar nicht mehr den Untergang ihrer Stadt, aber doch noch den Untergang ihrer Klasse. Für sie, für den verelendeten Mittelstand gibt es keine Zukunft in der Stadt mehr. Es ist die Stimmung, in der Rudolf Hans Bartsch seinen Landstreicher geschrieben hat. Zur Scholle müssen wir zurück, wenn wir noch leben wollen. Bauern müssen wir werden; aber freilich „sublimierte Bauern, Bücher lesende Bauern, Musik hörende Bauern“. Und der Dichter, von allem anderen Geschehen der Revolutionszeit angewidert, feiert überschwenglich die Kleingarten- und Siedlerbewegung als den Beginn der Rückkehr zur Scholle.

Gegen das emporsteigende Schiebertum auf der einen, gegen die erstarkte Arbeiterklasse auf der anderen Seite richtete sich der Haß der wirtschaftlich verelendeten Intelligenz. Es war bürgerliche Durchschnittsauffassung des Geschehens, was Thaddäus Rittner in seinem Roman Geister in der Stadt zu einer von feiner Ironie durchzogenen Erzählung gestaltete. Da herrschen in der Stadt „die Muskeln und die Finanzen“. Ihre Dienerschaft aber setzt sich aus Künstlern und Gelehrten zusammen; sie bilden nun die „niederste Schicht der Gesellschaft“. Sie bemühen sich, möglichst unmanierlich zu essen und möglichst ungebildet zu reden, um nur ihren neuen Herren zu gleichen. Sie verbeugen sich tief vor jedem „Straßenkehrer und Tramwayschaffner“. Es ist der „Sieg der Materie über den Geist“. Aber plötzlich entsteht in der Stadt ein Gespenstertheater, das bald alle vergiftet. Da spricht man mit einem Male wieder von anderen Dingen als vom Gelde. Das Bedürfnis nach Kunst und Wissenschaft entsteht wieder. Und nun können es plötzlich die Unterdrücken, die Künstler und Gelehrten, wieder wagen, Forderungen zu stellen. Nun bekommen mählich sie wieder die Oberhand. Die Zeit kommt, wo sich wieder die manuellen Arbeiter geknechtet fühlen, wieder sie sich gegen die herrschenden Intellektuellen verschwören werden ...

Das gebildete Bürgertum sieht seine Zeit wieder kommen. Freilich, die alte Herrschaft in dem weiten Reiche ist zerstört. Alter Reichtum ist vernichtet. Aber man kann sich auch im engeren Räume ein neues Haus bauen. Franz Werfet gestaltet dieser Hoffnung den Mythos in seinem Bocksgesang. Da hat sich der „Ungetaufte“, das Halbtier, das der Gospodar Milić in seinem Stalle gehalten hat, von seinen Fesseln gerissen; und sein Anblick hat die Revolte der „Landlosen“ entfesselt. Es ist das Ungetaufte, Ungezügelte, das Tierisch-Dämonische im Menschen, Was die Revolution entfesselt hat; und die satanische Messe, der Kult des Tierisch-Dämonischen ist ihr Inhalt. Aber die Janitscharen kommen und werfen die „Landlosen“ nieder. Wohl ist der Besitz des Gospodars zerstört; aber von der ewigen Furcht vor dem Ungetauften befreit, der Last der Herrschaft und des Besitzes ledig, geht er daran, sich ein neues Haus zu bauen, um mit seinem Weibe ärmer zwar, aber glücklicher zu wohnen.

Dieselbe Entwicklung der Stimmungen, die sich so deutlich in der Poesie spiegelt, können wir auch in unserer wissenschaftlichen Literatur beobachten. Am deutlichsten natürlich im Bereich der Nationalökonomie. In den ersten Monaten nach der Revolution entstand die umfangreiche akademische Sozialisierungsliteratur. Nach wenigen Monaten schon schlug die Stimmung um. Nun entstand eine Literatur ganz anderen Schlages. Bücher wie Othmar Spanns Wahrer Staat und Ludwig Mises’ Gemeinwirtschaft sind die Repräsentanten der Gattung. Jener will uns zu Adam Müller zurückführen, dieser zu Bentham. Jener zur romantischen Staatsphilosophie, dieser zum liberalen Manchestertum. Jener verficht das Recht der „Arbeit edleren Stammes“, der Arbeit des Künstlers und Gelehrten; dieser verficht weit nüchterner die Freiheit der „Eigentümer der Produktionsmittel“. Spann repräsentiert die Flucht der durch die Geldentwertung verelendeten bürgerlichen Intelligenz zum romantischen Ideal ständischer Staatsordnung; Mises repräsentiert das wiedererwachte Selbstbewußtsein des durch die Geldentwertungskonjunktur emporgetragenen Unternehmertums, das die Befreiung seiner Unternehmertätigkeit von allen staatlichen und gewerkschaftlichen Fesseln heischt. Aber beiden gemein ist die leidenschaftliche Ablehnung des Sozialismus, der leidenschaftliche Haß gegen die Arbeiterbewegung.

So gering die bürgerliche Intelligenz an Zahl ist, so groß ist ihr Einfluß auf die Gesellschaft. Immer ist es sie vor allem, die die „öffentliche Meinung“ formt. Die „öffentliche Meinung“ begann sich gegen die Machtstellung der Arbeiterklasse, gegen den Sozialismus zu wenden. Breite Schichten der Intelligenz, der Beamtenschaft, der Angestelltenschaft, des Kleinbürgertums, die im Herbst 1918 von der roten Flut mitgerissen worden waren, standen im Sommer 1919 der Sozialdemokratie todfeind gegenüber. Die Herrschaft des Bürgertums in Staat und Gesellschaft wiederherzustellen, alle der Arbeiterklasse feindlichen Kräfte zu diesem Zwecke zu vereinigen, erschien ihnen nun als die höchste Aufgabe.

Zugleich aber hatte sich auch die Stimmung der Bauernschaft wesentlich verändert. In sein Dorf zurückgekehrt, war der „Heimkehrer“ gar bald wieder zum Bauern geworden. In seinem Dorfe litt er keine Not. Ihm fehlte es nicht an Nahrungsmitteln. Die Geldentwertung erlaubte es ihm, seine Hypothekenschulden zurückzuzahlen. Die Grundsteuer war infolge der Geldentwertung bedeutungslos geworden. In behaglichem Besitz vergaß der Bauer schnell, was er in der Kaserne, was er an der Front erlebt, wie das Requisitionssystem der Kriegswirtschaft in seinem Dorfe gehaust hatte; die mächtige demokratische, dem Militarismus, der Bürokratie, dem Kriegsgewinnertum feindliche Bewegung, die in den ersten Monaten nach dem Umsturz durch die Dörfer gegangen war, war kurzer Dauer. Damals hatte auch der Bauer an eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse gedacht. Die Bewegung war nicht ganz ohne Ergebnis geblieben. Nach dem Wiederbesiedlungsgesetz vom Mai 1919 sollten die Bauerngüter, die seit den siebziger Jahren in die Hände des Großgrundbesitzes gefallen waren, enteignet, zur Begründung neuer Bauerngüter und Häusleranwesen verwendet werden. Durch einige Landesgesetze wurden die Servituten- und die Jagdgesetzgebung revidiert. Aber sehr bald erkannten die Herrenbauern, daß die Revision der Grundeigentumsverhältnisse ihnen selbst gefährlich zu werden drohte. Die Revolution halte die kleinen Leute im Dorfe geweckt. Das allgemeine Wahlrecht stärkte ihre Macht in den Gemeinden. Der Kampf zwischen den Gemeinden und den Agrargemeinschaften, zwischen den Häuslern und den Rustikalisten um das Eigentum an den alten Gemeindeländereien, um das Nutzungsrecht am Gemeindewald und an der Gemeindeweide lebte wieder auf. Die Pächterschutzverordnung vom 5. August 1919, die die Anpassung der Pachtzinse an die Geldentwertung hemmte und dadurch einen Teil der Grundrente vom Grundeigentümer auf den Pächter übertrug, war ein Sieg der Kleinen über die Großen im Dorfe. Die Großbauern begannen sich gegen die Revision der überlieferten Eigentumsverhältnisse zu wehren. Nun war es der Bourgeoisie leicht, sie gegen die „Sozialisierung“ aufzubieten.

Die Bewegung, die seit dem Umsturz durch die Dörfer ging, war vom Anfang an zwieschlächtigen Charakters gewesen. Aber ihr demokratischer Charakter schwand schnell; desto stärker trat ihr der Arbeiterklasse feindlicher Klassencharakter hervor. Die Revolution hatte ja das Dorfproletariat erweckt. Die überaus schnelle Entwicklung und die überaus großen Erfolge der jungen gewerkschaftlichen Organisation der Land- und Forstarbeiter schreckte den Bauern. Zugleich erkannte der Bauer den engen Zusammenhang zwischen der Bewegung der Landarbeiter und der Bewegung des Industrieproletariats. Wenn nach acht Stunden die Fabrikpfeife ertönte, legte auch der Bauernknecht die Hände in den Schoß. Im Dorfwirtshaus hänselte der Eisenbahnarbeiter den Bauernknecht, der mehr als acht Stunden arbeitete. Im Dorf fehlte es an Arbeitskräften, während der Staat den Arbeitslosen in der Stadt Unterstützungen bezahlte. Überall sah der Herrnbauer seine Interessen denen der Arbeiterklasse entgegengesetzt: im Kampfe um die Übernahmspreise der staatlichen Getreideverkehrsanstalt, um die Wiederherstellung des freien Handels, um den Ausbau der Besitzsteuern. War nicht der städtische Unternehmer sein natürlicher Bundesgenosse im Kampfe gegen Achtstundentag und Arbeitslosenunterstützung, der städtische Kaufmann sein natürlicher Bundesgenosse im Kampfe um den freien Handel, der städtische Kapitalist sein natürlicher Verbündeter im Kampfe gegen die Vermögensabgabe und die Besitzsteuern? Auch im Bauernwirtshaus hieß es nun: die Sozialdemokratie ist der Feind!

So entwickelte sich allmählich die Einheitsfront der besitzenden Klassen gegen die Arbeiterklasse. Das Bankkapital, das den freien Devisenhandel forderte; das industrielle und gewerbliche Unternehmertum, das sich gegen die „sozialpolitischen Lasten“ zur Wehr setzte; das Handelskapital, das um den freien Handel kämpfte; die neuen Reichen, die vor der Vermögensabgabe zitterten; die untergehenden Schichten des Bürgertums und der Intelligenz, die sich über die „hohen Löhne“ entrüsteten; die Bauern, die die Bewegung der Landarbeiter schreckte – sie alle vereinigten sich gegen die Arbeiterklasse. Alle inneren Gegensätze innerhalb der Stadt- und Dorfbourgeoisie erschienen bedeutungslos gegenüber dem gemeinsamen Gegensatz gegen das Proletariat. Der jüdische Schieber spendete gern für den Wahlfonds der bürgerlichen Parteien, deren Sieg allein ihn vor hohen Besitzsteuern und vor der Anforderung seiner Devisen, vor schweren „sozialpolitischen Lasten“ und vor der staatlichen Reglementierung seines Handels schützen konnte; was verschlug es ihm, daß sie die Sozialdemokratie mit antisemitischen Argumenten bekämpften? Was gilt die Waffe, mit der den Feind man schlägt? Die Waffe, die ihn schlägt, sie ist die beste! Der Antisemitismus, aus der Erbitterung des untergehenden Bürgertums gegen die aufsteigende neue Bourgeoisie entstanden, wurde, als volkstümliches Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie verwendet, zum Instrument dieser neuen Bourgeoisie selbst.

Das Erstarken der besitzenden Klassen war ein allmählich fortschreitender Prozeß. Er begann im Sommer 1919 mit dem Siege der Konterrevolution in Ungarn. Er wurde beschleunigt, als seit Mitte 1920 die industrielle Prosperitätsperiode den revolutionären Erregungszustand der Arbeitermassen überwand und das Selbstvertrauen der Unternehmerklassen wieder herstellte. Er schritt weiter fort, als die Oktoberwahlen 1920 den Abfall breiter Mittelschichten von der Sozialdemokratie offenbarten und als die Niederlagen des internationalen Proletariats in den Jahren 1920 und 1921 das Proletariat überall in die Defensive drängten. So flutete nun auch in Österreich die Welle der Revolution zurück.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008