Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Vierter Abschnitt
Die Zeit des Gleichgewichts der Klassenkräfte

§ 15. Der Kampf gegen die Konterrevolution


Literatur:

Österreichisches Jahrbuch 1921, Wien 1922. – Berichte der sozialdemokratischen Parteivertretung an die Parteitage 1921 und 1922. – Deutsch, Die Fascistengefahr, Wien 1923.

Bauer, Die Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie in der tschechoslowakischen Republik, Teplitz 1920. – Documents diplomatiques concernant las tentatives de restauration des Habsbourg, Prague 1922. – Werkmann, Der Tote auf Madeira, München 1923. – Miltschinsky, Das Verbrechen von Ödenburg, Wien 1922.



Am 20. November 1920 wurde die erste bürgerliche Regierung der Republik gewählt. An ihre Spitze trat als Bundeskanzler der Tiroler christlichsoziale Abgeordnete Dr. Michael Mayr. Zu Ministern wurden christlichsoziale Abgeordnete und parteilose Bürokraten gewählt. Die Großdeutschen unterstützten zwar die christlichsoziale Regierung, entsendeten aber keinen Vertreter in sie.

Im ersten Jahre der Republik hätte die Arbeiterklasse keine Woche lang eine bürgerliche Regierung geduldet. Das war nun anders geworden. Die einsetzende industrielle Prosperität, die den Arbeitern regelmäßige Beschäftigung und auskömmlichere Ernährung gab, hatte die revolutionäre Spannung in den Massen aufgelöst. Nach den Niederlagen der Arbeiterklasse in Ungarn und in Deutschland drängten die Massen nicht mehr nach der Diktatur des Proletariats. Nach den Erfahrungen der zweiten Koalitionsregierung, unter dem Einfluß der Agitation der „neuen Linken“ gegen die Koalition hielt die Arbeiterklasse eine rein bürgerliche Regierung für ein kleineres Übel als eine neue Koalition. So überließ die Arbeiterklasse die Regierung der Republik dem Bürgertum und der Bauernschaft.

Aber war die neue Regierung eine bürgerliche Regierung, so war sie doch die Regierung eines noch sehr schwächlichen, sehr ängstlichen Bürgertums, eines Bürgertums, dessen Selbstvertrauen erst allmählich wiedererstarkte. Die Regierung suchte jedem ernsteren Konflikt mit der sozialdemokratischen Opposition im Nationalrat um so mehr auszuweichen, da sie der Unterstützung der Großdeutschen nie ganz sicher war. Die Beziehungen zwischen der Regierung und den proletarischen Organisationen wurden zwar lockerer, seitdem nicht mehr Vertreter des Proletariats der Regierung angehörten, aber sie wurden keineswegs vollständig zerrissen. Auch die bürgerliche Regierung konnte die Eisenbahnen, die Staatsbetriebe nicht anders als im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und Personalvertretungen verwalten; der Einfluß der Gewerkschaften auf die Verwaltung blieb daher sehr groß. An die Spitze des Bundesheeres war ein bürgerlicher Heeresminister getreten; aber als vom Nationalrat gewählte, dem Heeresminister beigegebene Zivilkommissäre konnten die Sozialdemokraten Deutsch und Smilka immer noch die Heeresverwaltung stark beeinflussen. Die Arbeiterklasse hatte es in der Zeit der zweiten Koalitionsregierung erfahren, wie begrenzt unsere Macht nun schon war, auch wenn unsere Vertreter in der Regierung saßen; die Arbeiterklasse sah nun, daß sie nicht machtlos wurde, auch wenn sie die Regierung dem Bürgertum überließ. So fand sich die Arbeiterklasse mit diesem bürgerlichen Regierungssystem unschwer ab.

In der Zeit der Koalitionsregierung hatte die Initiative der Regierung die Gesetzgebung in Gang erhalten. Das hörte nun auf. Die bürgerliche Regierung wollte und konnte nicht in proletarischer, sie wagte es nicht, in bürgerlicher Richtung zu führen. Also führte sie überhaupt nicht mehr. Sie regierte nicht, sie verwaltete nur die Staatsgeschäfte.

Nur auf einem Gebiet war die bürgerliche Regierung zielbewußt tätig: sie hat die Kriegswirtschaft, die staatliche Regelung des Wirtschaftslebens zwar nur allmählich, aber planmäßig abgebaut. Hatte schon in den letzten Kriegsjahren der Schleichhandel immer weitere Ausdehnung erlangt, so war nach dem Zusammenbruch der Militärgewalt die bei weitem schwächere Regierung der Republik nicht mehr imstande gewesen, die kriegswirtschaftlichen Bewirtschaftungsmaßnahmen gegen die passive Resistenz des Händlertums und der Bauernschaft, gegen die Anarchie der Landesregierungen, gegen die Korrumpierung eines nicht geringen Teiles der schlecht entlohnten Bürokratie durch das Schiebertum wirksam durchzusetzen. War schon dadurch das ganze System der staatlichen Lebensmittel- und Rohstoffbewirtschaftung untergraben worden, so erwuchsen ihm seit 1920 noch größere Schwierigkeiten aus der allmählichen Wiederbelebung des Warenaustausches mit dem Ausland; die Ein- und Ausfuhrverbote, ohne die die zentrale Bewirtschaftung unmöglich ist, erschienen nun als Fesseln des sich wieder entwickelnden Handelsverkehrs. Hatte schon das Gesetz vom 6. Juli die staatliche Getreidebewirtschaftung durchbrochen, so hat nun die bürgerliche Regierung, dem Drängen des Handelskapitals und der Bauernschaft nachgebend, eine der kriegswirtschaftlichen Verordnungen nach der anderen aufgehoben und so den „freien Handel“ allmählich wiederhergestellt. Dadurch verlor der Staat jede Macht über die Preisbewegung, der Verfall der Kaufkraft der Krone wurde beschleunigt, die Staatsausgaben stiegen in beschleunigtem Tempo.

Das war um so verhängnisvoller, da seit dem Übergang der Regierungsmacht in die Hände des Bürgertums alle Bemühungen, die Steuereinnahmen des Staates zu erhöhen, aufgehört hatten. Das Bürgertum war über die neuen Besitzsteuern, die die zweite Koalitionsregierung im Staat, die sozialdemokratische Gemeinderatsmehrheit in der Gemeinde Wien eingeführt hatte, sehr erbost gewesen. Die bürgerlichen Parteien hatten den Wahlkampf im Herbst 1920 unter der Parole „gegen die Übersteuerung“ geführt. Als sie die Regierung übernahmen, konnten sie die Besitzsteuern nicht weiter erhöhen, aber sie wagten es zunächst auch nicht, den Massen erhöhte Verbrauchsabgaben aufzuerlegen. Es geschah also nichts, das Defizit im Staatshaushalt zu verkleinern, die Vermehrung des Papiergeldes einzuschränken. Die ganze Finanzpolitik des Finanzministers Grimm erschöpfte sich in den Bemühungen, Auslandskredite zu erlangen. Und da die Kredite nicht kamen, sank der Geldwert immer tiefer.

Sehr bald wurde im. Lager des Bürgertums selbst wachsende Unzufriedenheit mit diesem Regierungssystem bemerkbar. Das Bürgertum war enttäuscht, weil trotz seinem Wahlsieg, trotzdem die Regierungsmacht in die Hände der bürgerlichen Parteien übergegangen war, die Macht der Arbeiterklasse sehr stark geblieben war. In breiten Schichten des Bürgertums erstarkte die Überzeugung, nur eine konterrevolutionäre Gewalt könne die starke Machtstellung des österreichischen Proletariats brechen. In breiten Schichten des Bürgertums wurde der Glaube an die Lebensfähigkeit der österreichischen Republik im Herbst 1920 und im Jänner 1921 durch die schnell fortschreitende Geldentwertung erschüttert. Die österreichischen: Konterrevolutionäre, allein dem Proletariat gegenüber zu schwach, eine Tat zu wagen, begannen ihre Hoffnungen auf die beiden Nachbarstaaten zu setzen, in denen der rote Terror des Kommunismus dem weißen Terror der Konterrevolution den Weg gebahnt hatte – auf Ungarn und auf Bayern.

Seit der Konterrevolution in Ungarn hatte sich dort eine starke Bewegung für die Restauration des Hauses Habsburg entwickelt. Eine doppelte Gefahr drohte uns seither von Ungarn aus. Erstens die Gefahr für unsere republikanische Verfassung: die Restauration der Habsburger in Ungarn hätte die Konterrevolutionäre in Österreich ermutigt und ihnen Ungarns Waffenhilfe für die Restauration Habsburgs in Österreich gesichert. Zweitens die Gefahr für unsere Grenzen: es war vorauszusehen, daß die konterrevolutionäre Offiziersdiktatur in Ungarn das Burgenland, das uns der Friedensvertrag von Saint-Germain zugesprochen hatte, nicht friedlich räumen, sich seiner Übergabe gewaltsam widersetzen werde. Aus beiden Gründen mußten wir seither mit der Möglichkeit eines gefährlichen Konflikts mit Ungarn rechnen. Schon in der Zeit der zweiten Koalitionsregierung hatten wir es unternommen, uns gegen diese Gefahr zu schützen. Die ungarische Gefahr hatte uns bewogen, durch das Wehr- und das Disziplinargesetz die Kampffähigkeit unserer Wehrmacht zu stärken. Die ungarische Gefahr hatte uns zugleich bewogen, unsere Beziehungen zu der Tschechoslowakei zu verbessern.

Von ihrer Entstehungszeit, von den Kämpfen der tschechischen Legionen an der Wolga und in Sibirien an trug die tschechische Revolution zwieschlächtigen Charakter: sie war revolutionär gegen Habsburg, sie war konterrevolutionär gegen die proletarische Revolution. In der Zeit der Revolution gegen Habsburg war in Österreich die tschechische Bewegung die stärkste revolutionäre Macht. Damals sind wir der tschechischen Bewegung nicht entgegengetreten, wir sind damals für das Selbstbestimmungsrecht der Tschechen eingetreten, um auch für das deutschösterreichische Volk das Selbstbestimmungsrecht zu erobern. Nach dem Umsturz trat der konterrevolutionäre Charakter der tschechischen Republik hervor. Nunmehr standen wir im heftigsten Gegensatz zu ihr; wir mußten das proletarische Deutschböhmen gegen die tschechische Annexion verteidigen und mußten uns des Zwanges, dem tschechischen Heere gegen das proletarische Ungarn Waffen zu liefern, erwehren. Nachdem aber die Proletarierdiktatur in Ungarn gestürzt war und nachdem der Friedensvertrag Deutschböhmens Schicksal entschieden hatte, veränderten sich abermals unsere Beziehungen zu der tschechischen Republik. Der nunmehr von Ungarn aus drohenden Gefahr der Konterrevolution gegenüber war die tschechische Republik die stärkste Beschützerin der Ergebnisse der Revolution von 1918. Sie war nunmehr unser natürlicher Bundesgenosse gegen die drohende Restauration Habsburgs in Ungarn und gegen den drohenden Angriff Ungarns auf Österreich.

In der Zeit der zweiten Koalitionsregierung, am 9. Jänner 1920, war Renner nach Prag gereist, um engere Beziehungen Österreichs zur Tschechoslowakei zu begründen. Das Ergebnis dieser Reise war nicht nur eine Reihe von Verträgen, die unsere wirtschaftlichen Beziehungen zur Tschechoslowakei verdichteten und die Durchführung des Friedensvertrages erleichterten, sondern auch eine politische Vereinbarung zwischen Renner und Beneš, in der sich die beiden Minister verpflichteten, einander in der Abwehr konterrevolutionärer Bestrebungen zu unterstützen. Renner sicherte der tschechischen Republik für den Fall eines tschechisch-ungarischen Krieges die „wohlwollende Neutralität“ Österreichs, Beneš sicherte Österreich für den Fall eines ungarischen Angriffs Unterstützung zu. Diese Vereinbarungen erregten leidenschaftliche Entrüstung nicht nur des Wiener monarchistischen Flügels der christlichsozialen Partei, sondern auch der regierenden Mächte in Ungarn. Die ungarischen und die österreichischen Konterrevolutionäre gingen nun gegen uns, vor allem gegen Renners Außenpolitik im engsten Einvernehmen miteinander vor, die Wiener ungarische Gesandtschaft organisierte und finanzierte den christlichsozialen Preßfeldzug gegen Renner.

In der Zeit der Proporzregierung verschärften sich die Gegensätze zwischen Österreich und Ungarn. Am 20. Juni 1920 hatte der Amsterdamer Internationale Gewerkschaftsbund den Boykott über das konterrevolutionäre, die Arbeiterschaft knebelnde und mordende Ungarn verhängt. Die österreichischen Eisenbahner, Postler, Telegraphen- und Telephonangestellten haben den Boykott restlos durchgeführt; sieben Wochen lang blieb jeder Verkehr zwischen Österreich und Ungarn vollständig gesperrt. Aber was in Österreich gelang, gelang nicht in den anderen Nachfolgestaaten; über die Slowakei und über Jugoslawien konnte Ungarn seinen Verkehr mit dem Ausland aufrechterhalten. Daher blieb der Boykott wirkungslos; er mußte am 8. August aufgehoben werden, ohne daß er Horthy-Ungarn hätte beugen können. Der Boykott hat aber nicht nur neue Konflikte zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung herbeigeführt, er hat, da er Österreich einige Wochen lang die Lebensmittelzufuhr aus Ungarn sperrte, auch zu heftigen Auseinandersetzungen in den Volksmassen für und wider eine gegen Horthy-Ungarn gerichtete Außenpolitik geführt. Diese Auseinandersetzungen nahmen in dem Wahlkampf im Oktober 1920 große Heftigkeit an.

Als nun nach den Wahlen die christlichsoziale Partei die Regierung übernahm, versuchte sie in der Tat zuerst freundschaftliche Beziehungen zu dem „christlichen Ungarn“ herzustellen. Aber alle diese Bemühungen scheiterten daran, daß Ungarn als Preis jeder Annäherung den Verzicht Österreichs auf das Burgenland oder wenigstens auf den größeren Teil des Burgenlandes forderte. Darauf konnte auch die christlichsoziale Regierung nicht eingehen, ohne auf den heftigsten Widerstand nicht nur der Sozialdemokraten und der Großdeutschen, sondern auch eines Teiles ihrer eigenen Anhänger zu stoßen. So endeten die Verhandlungen nur mit neuen kriegerischen Drohungen Ungarns, die schließlich die Regierung Mayr zwangen, auf den Weg zurückzukehren, den Renner eingeschlagen hatte. Mayr hielt die politischen Vereinbarungen, die Renner mit Beneš abgeschlossen hatte, ausdrücklich aufrecht.

Diese Vereinbarungen erlangten praktische Bedeutung, als am 26. März 1921 Karl Habsburg plötzlich in Steinamanger auftauchte. Nun standen wir unmittelbar vor der lange vorausgesehenen Gefahr der Wiederherstellung des habsburgischen Königtums in Ungarn. Wieder, wie in den Tagen des Kapp-Putsches, ging eine starke Bewegung durch die österreichischen Arbeitermassen. Der Bundeskanzler Mayr war nicht nur persönlich ein Anhänger des Anschlusses an Deutschland und aus diesem Beweggrund Republikaner, er kannte auch die drohende Kraft der Bewegung, die die proletarischen Massen in Österreich erfaßt hatte. Er ließ sich in den kritischen Tagen nicht von dem monarchistischen Flügel seiner Partei beeinflussen, sondern war darauf bedacht, im Einvernehmen mit der Sozialdemokratie zu handeln. In der Sitzung des Nationalrates am 1. April, die zu einer mächtigen Kundgebung für die Republik wurde, erklärte Mayr, die Regierung werde den Großmächten und den Nachfolgestaaten mitteilen, daß sie die Restauration eines Habsburgers in Ungarn als eine Bedrohung der friedlichen Entwicklung der österreichischen Republik ansehen müsse. Damit hatte sich Österreich an die Seite der Tschechoslowakei, Jugoslawiens und Rumäniens gestellt, die die habsburgische Restauration in Ungarn für eine Bedrohung des europäischen Friedens erklärt hatten und, mit Blockade und militärischen Maßregeln drohend, die Entfernung Karl Habsburgs aus Ungarn forderten. Als Karl Habsburg, dem Drucke der Großen und der Kleinen Entente weichend, am 4. April von Steinamanger in die Schweiz zurückreiste, erlaubte ihm die Regierung Mayr die Durchreise durch Österreich nur unter den von der sozialdemokratischen Partei formulierten, von Mayr angenommenen Bedingungen. Als Gefangener einer Abteilung des republikanischen Bundesheeres, die von einem sozialdemokratischen Offizier kommandiert wurde, von den sozialdemokratischen Abgeordneten Sever und Adolf Müller eskortiert, mußte Karl Habsburg durch Österreich reisen. In Brück an der Mur bedurfte es der größten Anstrengungen der sozialdemokratischen Abgeordneten, um den Zug des Habsburgers ungefährdet durch die demonstrierenden Arbeitermassen zu führen.

Diese Ereignisse riefen die größte Erbitterung in den reaktionären Schichten des Bürgertums hervor. Seine monarchistischen Traditionen„ seine monarchistischen Gefühle waren tief vorletzt worden. Seine Erbitterung kehrte sich gegen die Regierung Mayr; die christlichsozialen. Landesregierungen begannen nun gegen die christlichsoziale Bundesregierung zu frondieren. Die Erbitterung darüber, daß die Wiener Regierung, selbst nachdem sie in die Hände des Bürgertums gefallen war, unter dem mächtigen Einfluß der Arbeiterklasse geblieben war, ließ im Bürgertum und in der Bauernschaft der westlichen Länder die Bewegung für den Abfall von Wien, für die Losreißung der Länder vom Bunde noch einmal aufheben. Die internationale Schwäche der ungarischen Konterrevolution, die internationalen Schwierigkeiten, die einer Restauration der Habsburger entgegenstanden, hatte die Geschichte des Habsburgerputsches gezeigt; je schwächer sich Budapest erwiesen hatte, desto stärker ward die Anziehungskraft Münchens, des anderen Zentrums der Konterrevolution, auf die österreichischen Konterrevolutionäre. Abfall von Österreich, Anschluß an Bayern – das erschien nun den Führern des Länderpartikularismus in den westlichen Bundesländern als der einzige Ausweg, die einzige Rettung aus der österreichischen Republik, deren Entwicklung so gar nicht ihren Wünschen entsprach.

Längst schon bestanden sehr enge Verbindungen zwischen der bayrischen Reaktion und den führenden reaktionären Klüngeln in Tirol, und in Salzburg. In den Tagen des Kapp-Putsches hatte sich Kahr der Regierungsgewalt in Bayern bemächtigt, die brutale Herrschaft der Reaktion in Bayern begründet. Seitdem war Bayern der österreichischen Reaktion' zum bewunderten Vorbild geworden. Das revolutionäre Ideal des Anschlusses Deutschösterreichs an die deutsche Republik hatte sich den Tiroler und Salzburger Bauernführern zu dem reaktionären Kampfziel des Anschlusses Tirols und Salzburgs an das reaktionäre Bayern konkretisiert. Die Entwicklung des bayrischen Partikularismus, seine zeitweilige Unterstützung durch den französischen Imperialismus schienen die Vereinigung der österreichischen Alpenländer mit Bayern zu einem von Deutschland getrennten klerikalen bajuvarischen Königreich in den Bereich des Denkbaren zu rücken. Und so phantastisch dieses Ziel vorerst auch war: im Aufbau der Heimatwehren hatte die Verbindung zwischen der bayrischen Reaktion und der Reaktion in den Alpenländern doch schon im Jahre 1920 ein ergiebiges Feld praktischer Betätigung gefunden.

Die Heimatwehren waren in den ersten Monaten nach dem Umsturz in Kärnten und in Steiermark entstanden; damals hüteten sie die Grenzegegen die Jugoslawien. In der Zeit der ungarischen und der bayrischen Rätediktatur hatte sich die Bewegung ausgedehnt; in vielen Dörfern hatten sich. die Bauern bewaffnet und organisiert, um sich gegen Getreide- und Viehrequisitionen durch die Arbeiterräte zu schützen und sich gegen den. Bolschewismus zu rüsten. Aber erst im. Jahre 1920 gewann die Bewegung größeren Umfang und einheitliche Organisation. Am stärksten wurde die Bewegung in Tirol. Dort wurden die Heimatwehren durch die am 15. Mai 1920 erlassenen Satzungen einheitlich unter dem Kommando des christlichsozialen Landesrats Steidle zusammengefaßt. Das Tiroler Beispiel wurde in Salzburg nachgeahmt. Die Bewaffnung der Tiroler und der Salzburger Heimatwehren wurde durch Waffenschmuggel aus Bayern erleichtert; die bayrische Orgesch entzog ihre Waffen und ihre Munition dem Zugriff der Entwaffnungskommissionen der Entente, indem sie sie nach Tirol und Salzburg schmuggelte. Im Juni und im Oktober 1920 gelang es den Tiroler Eisenbahnern, bayrische Waffentransporte nach Tirol zu beschlagnahmen; im Oktober 1920 fielen Dokumente in unsere Hände, die den bayrischen Waffenschmuggel nach Salzburg erwiesen. Später ergänzten die Heimatwehren ihre Rüstung, indem sie staatliche Waffenmagazine überfielen und plünderten; so wurden in Tirol die staatlichen Waffendepots in Kramsach, Höttinger-Au und Hall von den Heimatwehren beraubt. Die Tiroler und die Salzburger Heimatwehren traten in engste Verbindung mit der bayrischen Orgesch; Ende Juli 1920 fand in München eine Zusammenkunft bayrischer und österreichischer Heimatwehrführer statt, auf der nach einer Rede Escherichs die Tiroler und die Salzburger erklärten, daß sie sich dem Kommando der bayrischen Orgesch unterstellen. Am 20. November 1920 verhinderten die Eisenbahner eine gemeinsame Demonstration der Tiroler und der bayrischen Orgesch durch Stillegung des Eisenbahnverkehrs.

Etwas anderen Charakter trug die Bewegung in Steiermark und in Kärnten. Die enge Verbindung mit Bayern, das politische Ziel des Anschlusses an Bayern, fehlten hier. Die Heimatwehren hatten hier kein anderes Ziel als das, der Bourgeoisie und der Bauernschaft gegen die Arbeiterschaft zu dienen. Desto leichter gewannen sie hier die finanzielle Unterstützung der Großindustriellen und der Banken, die sich in diesen Ländern zuerst zur Leistung regelmäßiger Abgaben an die Heimatwehren verpflichteten.

Die Rüstungen der Reaktion zwangen die Arbeiterschaft zu Gegenrüstungen. Die Arbeiterräte übernahmen die Aufgabe, die Abwehr der Arbeiterschaft zu organisieren. Die Tätigkeit der Arbeiterräte hatte sich seit den Wahlen im Oktober 1920 wesentlich verändert. Im Wahlkampf waren die Führer der „neuen Linken“, Dr. Frey und Rothe, der Sozialdemokratie entgegengetreten; es bestand nun kein Zweifel mehr, daß sie die Geschäfte der Kommunisten besorgten. Daher hatte sich die Masse der Genossen, die unter dem Einfluß der „neuen Linken“ gestanden war, von diesen Führern getrennt. Der Streit um die Koalitionspolitik war beendet, als nach den Wahlen die Sozialdemokraten aus der Regierung austraten. Nunmehr schlossen sich alle sozialdemokratischen Mitglieder der Arbeiterräte zu Fraktionen zusammen, die den kommunistischen Fraktionen geschlossen entgegentraten. Dr. Frey und Rothe, die sich der Fraktionsdisziplin der sozialdemokratischen Arbeiterratsfraktionen nicht unterwerfen wollten, traten aus der Partei aus und gingen zu den Kommunisten über; nur ein sehr kleiner Teil ihrer einstigen Gefolgschaft ging mit ihnen. Da nun in allen Arbeiterräten einer kleinen kommunistischen Fraktion die große, organisierte, einheitlich geführte, einheitlich stimmende sozialdemokratische Mehrheit gegenüberstand, verloren die politischen Debatten innerhalb der Arbeiterräte an Bedeutung und Interesse. Zugleich verloren die Arbeiterräte auch ihre wirtschaftlichen Funktionen. Mit dem Abbau der Kriegswirtschaft, mit der Wiederherstellung des „freien Handels“ lösten sich allmählich die mahnigfachen wirtschaftlichen Verwaltungskörperschaften auf, innerhalb deren die Vertreter der Arbeiterräte gewirkt hatten. Mit dem Niedergang der Revolution verloren so allmählich auch die Organe der Revolution ihren Wirkungskreis. Aber die Rüstungen der Konterrevolution gaben den Arbeiterräten noch einmal eine neue Funktion. Sie gingen nun daran, die Ordnerorganisation als Gegenwehr gegen die reaktionären „Heimatwehren“, „Selbstschutzverbände“, „Frontkämpferorganisationen“ zu schaffen und auszubauen.

Der Habsburgerputsch im März 1921 gab den Rüstungen beider Parteien neuen Anstoß. Die Arbeiterklasse halte die Republik bedroht gesehen; sie verstärkte nun ihre Bemühungen um den Ausbau der Ordnerorganisation, um gegen jeden monarchistischen Putschversuch gerüstet zu sein. Anderseits hatte der Habsburgerputsch die inneren Gegensätze im Lager der Reaktion weiterentwickelt. Das geschah insbesondere in Tirol. Einen Augenblick lang hatte das Auftauchen Karl Habsburgs in Ungarn die Zuversicht des legitimistischen Flügels der Tiroler Christlichsozialen gestärkt, der, von Schöpfer geführt, auf den Klerus und die städtischen Christlichsozialen gestützt, auf Habsburgs Wiederkehr hoffte. Aber sehr bald hatte der klägliche Ausgang des Habsburgerputsches die Anhänger des Anschlusses an Bayern gestärkt, die, von Schraffl geführt, auf die bäuerlichen Organisationen und die Heimatwehren gestützt, nicht in der Restauration Habsburgs in Österreich, sondern in der Losreißung von Österreich und dem Anschluß an das reaktionäre Bayern ihr Ziel erblickten. Nach dem Ende des Karl-Putsches glaubten in Tirol die Anhänger der bayrischen Orientierung den Anhängern der habsburgischen Orientierung eine entscheidende Niederlage bereiten, den Anschluß an Bayern als einmütigen Willen des ganzen Tiroler Volkes feststellen zu können. Sie konnten das ganze Volk für ihr Ziel aufbieten, indem sie das konkrete Ziel des Anschlusses an Bayern hinter der allgemeinen, auch Großdeutsche und Sozialdemokraten mitreißenden Parole des Anschlusses an Deutschland verbargen. Der Tiroler Landtag beschloß, für den 24. April 1921 eine Volksabstimmung darüber auszuschreiben, ob das Tiroler Volk den Anschluß an Deutschland wünsche.

Mit diesem Beschluß des Tiroler Landtages setzte eine neue Bewegung für den Anschluß an Deutschland ein. Sie war von der Anschlußbewegung des November 1918 und des Jahres 1919 sehr verschieden. Die Anschlußbewegung von 1918 war aus dem Geiste der nationalen Revolution hervorgegangen; die Anschlußbewegung von 1921 war reaktionären Ursprungs, wenngleich sie für die revolutionäre Parole des Anschlusses auch die der Reaktion feindlichen Klassen aufbieten konnte. 1918 war die Bewegung von der Sozialdemokratie getragen, von der Wiener Regierung geführt, der Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland war das Ziel; 1921 war die Bewegung von den Landesregierungen der Alpenländer geführt, gegen die Wiener Regierung gerichtet und ihr Ziel war der Abfall der Länder vom Bund und der Anschluß der einzelnen Länder an Bayern. Im Jahre 1919 hatte die Tiroler Landesregierung den Anschluß bekämpft und unserem Kampf um den Anschluß die größten Schwierigkeiten bereitet; im Jahre 1921 stellte sich dieselbe Tiroler Landesregierung an die Spitze der Anschlußbewegung. Im Jahre 1919, in einer Zeit, in der Großbritannien„ die Vereinigten Staaten und Italien drei Monate lang „schwankten und diskutierten“, ehe die Pariser Friedenskonferenz über den Anschluß entschied, war es ein ernster Kampf; im Jahre 1921, dem ratifizierten Friedensvertrag gegenüber, war die Bewegung aussichtslos.

Trotzdem bewährte sich auch in dieser Bewegung die mächtige Werbekraft des Anschlußgedankens. Am 24. April stimmten in Tirol 146.468 Männer und Frauen, beinahe neun Zehntel aller Stimmberechtigten, über den Anschluß ab; von ihnen stimmten 144.342 für, nur 1.794 gegen den Anschluß an Deutschland. Von Tirol griff die Bewegung nach Salzburg über. Auch hier wurde darüber abgestimmt, ob das Volk den Anschluß wünscht; 103.000 Stimmen wurden für, 800 gegen den Anschluß abgegeben. Aber indessen hatte schon Frankreich eingegriffen. Die französische Regierung verlangte die Einstellung der Volksabstimmungen. Sie drohte, Österreich werde, wenn die Abstimmungen nicht eingestellt werden, die in Aussicht gestellten Auslandskredite nicht bekommen, die Reparationskommission werde von Österreich Reparationen fordern, das Bürgenland werde Österreich nicht übergeben werden. Unter dem Druck Frankreichs mußte der Bundeskanzler Mayr von den Ländern die Einstellung der Abstimmungen verlangen. Aber Mayr hatte seit dem Habsburgerputsch den Einfluß auf seine Parteigenossen verloren. Trotz Mayrs Einspruch beschloß der steirische Landtag am 31. Mai, auch in Steiermark die Abstimmung über den Anschluß auszuschreiben. Infolge dieses Beschlusses demissionierte die Regierung Mayr. Niemand konnte eine neue Regierung bilden, ohne sich Bürgschaften dafür zu sichern, daß die Anschlußbewegung der Länder die neue Regierung nicht in schweren Konflikt mit Frankreich .bringen wird. Schließlich gelang dies: Christlichsoziale und Großdeutsche vereinbarten, für ein halbes Jahr auf die Abstimmungen über den Anschluß zu verzichten; die Bewegung für den Anschluß solle erst dann wieder aufgenommen werden, wenn die versprochenen Auslandskredite nicht bis Ende des Herbstes 1921 einlangen. Auf Grund dieser Vereinbarung wurde am 21. Juni eine neue Regierung gewählt, an deren Spitze der Wiener Polizeipräsident Johann Schober trat; es war eine Beamtenregierung, in der die christlichsoziale und die großdeutsche Partei durch je einen Abgeordneten vertreten waren.

Die Anschlußbewegung der Länder hatte nicht nur in Steiermark, wo der Landtag den Beschluß über die Volksabstimmung widerrufen mußte, sondern auch in Tirol und in Salzburg, wo die Volksabstimmung eine wirkungslose Demonstration geblieben war, mit einer Niederlage geendet. Die Länder hatten die Macht der äußeren Widerstände, die ihrem Abfall vom Bunde entgegenstanden, kennengelernt. Sie mußten erkennen, daß sie nicht von der deutschösterreichischen Republik abfallen können, sondern sich in ihr einrichten müssen. Diese Erfahrung förderte die Einfügung der Länder in den Bund. Und diese Einfügung wurde zugleich durch die wirtschaftliche Entwicklung gefördert. In den Jahren 1918 und 1919 war die Lebensmittelnot eine der stärksten Triebkräfte des Länderpartikularismus, der Kampf gegen die Ausfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus dem Lande sein volkstümlichstes Betätigungsgebiet gewesen; seitdem aber die Lebensmittel-, Kohlen- und Rohstoffnot allmählich überwunden wurde, :eitdem Österreich seit dem Einbruch der internationalen Absatzkrise im Jahre 1920 aus dem Ausland wieder so viel Lebensmittel, Kohle und Rohstoffe beziehen konnte, als es zu bezahlen vermochte, war diese wirtschaftliche Grundlage des Länderpartikularismus allmählich verschwunden. Im Jahre 1919, als infolge der Kohlen- und Rohstoffnot die Wiener Industrie stillstand, hatten die Länder Wien als den „Wasserkopf“ betrachtet, der den Alpenländcrn nur ihre Lebensmittel entziehe, ohne ihnen etwas bieten zu können; seitdem seit 1920 die Wiener Industrie und der Wiener Handel wieder in vollem Gange waren, war Wien kein „Wasserkopf“ mehr, sondern die große Steuerquelle, aus der der Bund vier Fünftel der Steuereinnahmen schöpfte, und die große Industrie- und Handelsstadt, deren Export dem Bunde die ausländischen Zahlungsmittel lieferte, die allein es ihm ermöglichten, auch für die Alpenländer ausländisches Getreide und ausländische Kohle zu kaufen. So schwand allmählich die wirtschaftliche Basis der Abfallsbewegung. Die Anschlußbewegung im Frühjahr 1921 war die letzte große Auflehnung der Länder gegen den Bund.

Sie war zugleich das letzte starke Aufflammen des Kampfes um die deutsche Einheit gewesen. Daß nach dem Friedensschluß der Anschluß nicht mehr ein unmittelbar erreichbares Ziel der Tagespolitik, sondern nur ein nationales Ideal sein kann, das festgehalten werden muß, bis eine grundstürzende Umwälzung der Machtverhältnisse in Europa seine Verwirklichung ermöglicht, war nun selbst den Spießbürgern an den Biertischen der Provinzstädte anschaulich geworden. Und ihre Begeisterung für dieses nationale Ideal wurde sehr bald kühler. Hatte die hoffnungslos fortschreitende Entwertung der österreichischen Krone ihre Überzeugung von der Lebensunfähigkeit Österreichs begründet, so sahen sie in dem Anschluß keine Rettung mehr, sobald unter dem Drucke der französischen Reparationslasten auch die deutsche Mark immer tiefer, immer hoffnungsloser sank Noch im Juni 1921, bei der Bildung der Regierung Schober hatten sich die Großdeutschen das Recht vorbehalten, die Fortsetzung der Abstimmungen über den Anschluß zu fordern, wenn die Republik die in Aussicht gestellten Auslandskredite nicht bis zum Herbste 1921 erlangt. Die Auslandskredite kamen in dieser Zeit nicht, aber von den Anschlußabstimmungen war trotzdem keine Rede mehr.

Die Sozialdemokratie hatte die Bemühungen der Regierungen Mayr, die Länder zum Verzicht auf die Fortführung der Anschlußabstimmungen zu bewegen, unterstützt. Wir wußten, daß die Anschlußabstimmungen unter den gegebenen Machtverhältnissen in Europa nicht den Anschluß, sondern nur einen schweren Konflikt mit Frankreich herbeiführen konnten. Wir halfen der Regierung, diesen Konflikt zu verhüten; denn wir sahen voraus, daß die Republik in der nächsten Zeit in eine schwere Krise geraten werde, in der ihr jeder Konflikt mit den Großmächten sehr gefährlich werden konnte. Die Ratifizierung des Vertrages von Trianon stand unmittelbar bevor. Damit mußte die Frage der Übergabe Deutsch-Westungarns an Österreich aktuell werden; der schwierigste, gefährlichste Konflikt mit der ungarischen Konterrevolution stand vor uns.

Am 26. Juli 1921 wurde der Friedensvertrag von Trianon ratifiziert. Nunmehr sollte eine interalliierte Generalskommission der Entente, an deren Spitze der italienische General Ferrario stand, das Burgenland vom Ungarn übernehmen und es Österreich übergeben. Ungarn bereitete offensichtlich bewaffneten Widerstand gegen die Übergabe vor.

Die österreichische Sozialdemokratie hätte niemals die Annexion, sie hatte immer nur das Selbstbestimmungsrecht des Burgenlandes gefordert. Bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain hatte unsere Friedensdelegation nicht die einfache Abtretung Deutsch-Westungarns an Österreich verlangt; sie hatte nichts anderes verlangt, als daß Deutsch-Westungarn in freier Volksabstimmung unter neutraler Besetzung und Kontrolle selbst entscheide, zu welchem Staat es gehören will. Die Entente hatte freilich diese Forderung damit beantwortet, daß sie Deutsch-Westungarn teilte. Der Entwurf des Friedensvertrages, der am 20. Juli 1919 unserer Friedensdelegation überreicht wurde, sprach Preßburg der Tschechoslowakei, Ungarisch-Altenburg, Wieselburg, Güns, St. Gotthard sprach er Ungarn, einige Grenzgemeinden Jugoslawien, nur den Rest des deutschen Westungarn Österreich zu. Unsere Friedensdelegation hat gegen diese Verfügung der Mächte über das Land protestiert; sie hat in ihrer Antwortnote auf den Friedensentwurf am 6. August 1919 den Mächten, die uns einen Teil Deutsch-Westungarns schenken wollten, geantwortet, Deutschösterreich wünsche ein solches Geschenk gar nicht; Deutschösterreich wolle Deutsch-Westungarn nur dann erwerben, wenn dies der Wille der Bevölkerung Deutsch-Westungarns selbst ist. Die Friedensdelegation sagte:

„Die deutschösterreichische Republik hält daran fest, daß das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gewissenhaft durchgeführt werde. Um von vornherein den Verdacht einer Maßnahme gegen den Willen des Volkes zu zerstreuen, erlaubt sich Deutschösterreich, darauf zu bestehen, im Wege einer unter der Leitung und Aufsicht der alliierten und assoziierten Hauptmächte vorzunehmenden Volksabstimmung die unumwundene Erklärung der Einwohner Westungarns darüber einzuholen, welchem Staate sie eingegliedert zu werden wünschen.“

Diese Forderung entsprach nicht nur den demokratischen Grundsätzen, sondern auch den Interessen Österreichs. Wir forderton ja in derselben Note, daß Kärnten, daß Deutsch-Südtirol, der Böhmerwaldgau und der Znaimer Kreis, die die Entente uns entreißen wollte, durch freie Volksabstimmung über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden sollen; wir mußten diese Forderung stützen, indem wir die Volksabstimmung unter denselben Bedingungen auch für das Burgenland, das die Entente uns zusprechen wollte, forderten. Überdies aber stützte unsere Forderung, daß das burgenländische Volk selbst über seine Staatlichkeit entscheiden solle, unseren Protest gegen die Teilung Deutsch-Westungarns; wir verlangten, daß die Volksabstimmung nicht nur in dem uns zugesprochenen Teile des Burgenlandes, sondern in dem ganzen deutschen Siedlungsgebiet Westungarns stattfinde. Die Entente lehnte diese Forderungen ab. In ihrer Note vom 2. September 1919 beharrte sie auf den schon in dem Entwurf vom 20. Juli festgestellten Grenzen. „Innerhalb dieser Grenzen“, sagte die Mantelnote zu dem endgültigen Text des Friedensvertrages, „empfehlen der Volkscharakter und das nationale Empfinden der Bewohner zu klar den Anschluß an Österreich, als daß es die Mächte für notwendig erachten würden, eine Volksabstimmung durchzuführen.“

Als es im Sommer 1921 offenbar wurde, daß Ungarn bewaffneten Widerstand gegen die Übergabe des Burgenlandes vorbereite, verlangte die Sozialdemokratie abermals, daß Österreich die friedliche Schlichtung des Streites nach demokratischen Grundsätzen vorschlage. Wir hielten es für notwendig, daß sich Österreich zu einer demokratischen Lösung bereit zeige, um womöglich einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden. Deshalb schlugen wir am 13. August dem Ausschuß für Äußeres vor, Österreich solle, um einen bewaffneten Konflikt mit Ungarn zu vermeiden, Ungarn eine Vereinbarung anbieten, durch die beide Staaten die Entscheidung über die Zukunft des Burgenlandes dem burgenländischen Volke selbst überlassen sollen. Österreich solle sich bereit erklären, die Entscheidung durch eine Abstimmung des burgenländischen Volkes anzuerkennen, wenn diese Abstimmung nicht nur in dem durch den Friedensvertrag uns zugesprochenen, sondern auch in dem Ungarn belassenen Teile Deutsch-Westungarns vorgenommen und wenn diese Abstimmung erst nach Abzug der ungarischen Truppen und Behörden und unter hinreichenden Bürgschaften für die volle Freiheit der Abstimmung vorgenommen werde. Die bürgerlichen Parteien konnten sich jedoch am 13. August nicht entschließen, Ungarn einen solchen Vorschlag zu machen. Erst am 27. August nahm der Ausschuß für Äußeres einen Antrag an, die Regierung solle sich bereit erklären, nach der Übergabe des Burgenlandes an Österreich mit Ungarn über eine „einvernehmliche Lösung der Abgrenzungsfragen auf Grund der Willensäußerung des burgenländischen Volkes“ zu verhandeln. Aber nun war es dazu schon zu spät. Die militärischen Vorbereitungen Ungarns im Burgenland waren schon in vollem Gang. In Ödenburg stand eine ungarische Truppe unter dem Kommando des Majors Osztenburg; die Offiziere der Pronay- und Hejjas-Detachements führten bewaffnete Freischärler, die zumeist aus Szeklern und anderen aus Siebenbürgen und der Slowakei geflüchteten Magyaren angeworben worden waren, in das Land.

Wir hatten uns bemüht, der österreichischen Politik eine Richtung zu geben, die eine friedliche und demokratische Lösung des Streites um das Burgenland ermöglichen konnte. Aber wir hatten keine Illusionen darüber, daß die Aussicht, die ungarische Offiziersdiktatur für eine solche Lösung zu gewinnen, auch dann sehr gering sei, wenn sich Österreich rechtzeitig zu der Entscheidung des Konflikts nach demokratischen Grundsätzen bereit zeigte. Deshalb hatten wir schon seit dem Frühjahr 1921 immer wieder verlangt, daß die Stände und die Ausrüstung des Bundesheeres so ergänzt werden, daß es in dem drohenden Konflikt mit Ungarn unsere Freiheit und unsere Grenzen zu verteidigen imstande sei. Dabei waren wir aber auf unüberwindlichen Widerstand gestoßen. Die herrschende christlichsoziale Partei wünschte keinen Ausbau des Bundesheeres. Schon im Frühjahr 1921 hatten führende christlichsoziale Abgeordnete, vor allen Doktor Mataja, und führende christlichsoziale Zeitungen, vor allen die Reichspost, verlangt, Österreich solle bei der Besetzung des Burgenlandes das Bundesheer überhaupt nicht verwenden. Diese Agitation gegen die Verwendung des Bundesheeres war von den klerikalen Elementen im Burgenland selbst ausgegangen. Die ödenburger Klerikalen waren Magyaronen; sie zogen trotz ihrer deutschen Nationalität das „christliche Ungarn“ dem demokratischen Österreich vor. Das Burgenland hatte in der Zeit der ungarischen Rätediktatur unter dem roten Terror schwer gelitten; die klerikalen Magyaren im Burgenland betrieben darum ihre Agitation gegen Österreich mit dem Argument, daß in Österreich der „schleichende Bolschewismus“ herrsche, das österreichische Bundesheer eine bolschewistische Rote Armee sei. Sie schrien in die Welt hinaus, das burgenländische Volk werde sich gegen den Einmarsch dieser Roten Armee auflehnen. Diese Agitation der Ödenburger Magyaronen fand in den Wiener klerikalen Kreisen Widerhall. Sie glaubten, das burgenländische Volk sei durch die Erfahrungen in der Zeit der ungarischen Rätedildatur mit reaktionärer Gesinnung erfüllt worden. Sie hofften, das Burgenland zu einem Bollwerk der Reaktion innerhalb Österreichs ausbauen zu können. Sie fürchteten, die Besetzung des Burgenlandes durch das republikanisch-proletarische Bundesheer könnte dies erschweren. Deshalb wünschten sie, das Burgenland solle nur durch Gendarmerie besetzt werden; nach seiner Besetzung solle dann sofort im Burgenland selbst ein ihren Zwecken dienstbares. Truppenkontingent aufgestellt werden. Es gelang der Agitation der burgenländischen und der Wiener Klerikalen, die interalliierte Generalskommission in Ödenburg zu gewinnen. Sie ordnete an, daß Österreich bei der Besetzung des Burgenlandes nur Gendarmerie, nicht das Bundesheer verwenden dürfe. Trotz unseren Protesten fügte sich die österreichische Regierung dieser Anordnung der Ententegenerale, weil ja die in Österreich regierende Partei selbst die Verwendung des Bundesheeres bei der Landnahme nicht wünschte.

So rückte denn am 28. August die Gendarmerie, insgesamt nur 1.950 Mann, in elf Kolonnen in das Burgenland ein. Sofort warfen sich ihr die magyarischen Freischärler entgegen. Die an Zahl viel zu schwachen und zum Kampf nicht ausgerüsteten Gendarmerieabteilungen konnten den Widerstand der Banden Horthys nicht brechen. Im Süden konnte die Gendarmerie über die steirische Grenze nicht hinausdringen. Im Norden konnte sie einen Teil des Burgenlandes besetzen, geriet aber dort in opfervollen Kleinkrieg mit den Banden. Immerhin waren die Freischärler an diesem Tage noch sehr schwach. Wäre am 28. August das Bundesheer in das Burgenland eingerückt, so hätte es die magyarischen Banden unschwer vertreiben können. Die Gendarmerie aber war dazu viel zu schwach gewesen; und der wohlfeile Erfolg, den die Freischärler gegen die Gendarmerie errungen hatten, rief in Ungarn großen Enthusiasmus hervor, der in den folgenden Tagen den Freischärlern starken Zuzug brachte. Die Zahl der Freischärler wuchs nun schnell und ihre Kühnheit wurde größer. Binnen wenigen Tagen geriet die bei Agendorf stehende Gendarmerieabteilung in eine sehr gefährdete Lage; am 8. September mußte sie schließlich an die niederösterreichische Grenze zurückgezogen werden. Aber schon vorher hatten die magyarischen Freischärler selbst altösterreichisches Gebiet angegriffen; am 31. August schon war eine magyarische Bande bei Hohenbrugg in Steiermark eingefallen.

Nun wurde die Gefahr sehr ernst: aus den Kämpfen zwischen den Banden und der Gendarmeric konnte ein Krieg zwischen Ungarn und Österreich entstehen. Ungarn zog an der Ostgrenze des Burgenlandes starke reguläre Truppen zusammen; es schien möglich, daß Ungarn den Streit um das Burgenland mit kriegerischer Gewalt entscheiden wolle. Österreich war dem Friedensvertrag gemäß, von der Entente entwaffnet worden. Ungarn, dessen Friedensvertrag soeben erst in Kraft getreten war, war nicht entwaffnet. Ungarn, uns militärisch überlegen, konnte sich mit einem Handstreich in den Besitz des Wiener-Neustädter Industriegebietes setzen und Wien unmittelbar bedrohen. Diese Gefahr war um so ernster, da wir mit der Möglichkeit rechnen mußten, daß die starke Truppenansammlung in Westungarn zu einem habsburgischen Restaurationsversuch benutzt werden könnte. Seit dem Osterputsch Karl Habsburgs hatten sich in Ungarn die Gegensätze zwischen den Legitimisten und den Anhängern Horthys, die die sofortige Restauration des Königs ablehnten, sehr verschärft. Im Sommer schon fürchteten die Mächte der Großen und der Kleinen Entente, daß die Legitimisten Karl Habsburg bewegen werden, seinen Versuch vom März zu wiederholen; daß sie sich zu diesem Zwecke der in Westungarn angesammelten Truppen bedienen werden, war um so mehr zu vermuten, da Osztenburg, der in Ödenburg kommandierte, ein bekannter Legitimist war.

Wir waren noch im August für eine friedliche demokratische Lösung des Streites um das Burgenland eingetreten, um einen bewaffneten Konflikt womöglich zu verhüten. Jetzt, da der Konflikt ausgebrochen war, gab es für uns nur noch eine Aufgabe: unsere ganze Kraft in den Dienst des Widerstandes gegen die ungarische Konterrevolution zu stellen. Das Zivilkommissariat im Heeresministerium, wo Julius Deutsch und Smitka amtierten, und die Soldatenräte sicherten sich entscheidenden Einfluß auf die militärischen Abwehrmaßregeln. Die bisher vernachlässigte Ausrüstung des Bundesheeres wurde schnell ergänzt. Ein Teil des Bundesheeres übernahm die Bewachung der Grenze, während die Bataillone aus den westlichen Ländern nach Wien gebracht wurden, um hier eine Kampfreserve zu bilden. Die sozialdemokratische Agitation befestigte den Wehrmännern die Überzeugung, daß sie im Kampfe gegen Horthy-Ungarn ihre revolutionäre Pflicht erfüllen, die Republik gegen die Monarchie, die Errungenschaften der Arbeiterklasse gegen die Konterrevolution verteidigen. Ein Aufruf der Partei forderte die jungen Arbeiter auf, für die Dauer der Gefahr in das Bundesheer einzutreten; tausende verließen ihre Arbeitsstätten und traten in das Bundesheer ein, um die Republik zu schützen. Am 5. September empfing das Bundesheer seine Bluttaufe. Das 2. Bataillon des Infanterieregiments Nr.5 wies bei Kirchschlag tapfer kämpfend einen Einbruch magyarischer Freischärler in niederösterreichisches Gebiet ab. Zwei Tote, vierzehn Verwundete, von denen fünf starben, drei Gefangene, die von den Banditen ermordet wurden, waren die Opfer des Bundesheeres. Am 23. und 24. September hatte das 3. Bataillon des Infanterieregiments Nr.1 bei Bruck a.d. Leitha schweren Kampf zu bestehen; auch dort wurde ein magyarischer Angriff auf niederösterreichischen Boden mit schweren Opfern abgewehrt. Mehr als zwei Monate lang bewachte das Bundesheer mit schwachen Kräften die 250 Kilometer lange Grenze, immer wieder zur Abwehr überraschender Bandeneinfälle gezwungen. 40 Tote, 66 Verwundete hatte die Wehrmannschaft der Republik zu beklagen.

Mit dem Bundesheer trat auch die Ordnerorganisation in Aktion. Nachdem die Gendarmerie aus dem Burgenland zurückgezogen worden war, standen die magyarischen Freischärler hart vor Wiener-Neustadt. Die Arbeiter von Wiener-Neustadt, in den Ordnerbataillonen formiert, hielten sich in den Tagen, in denen ein Angriff der Freischärler drohte, Tag und Nacht zum Kampfe bereit. Die Verbindung zwischen dem Bundesheer und der Ordnerorganisation wurde hergestellt; für den Fall des Kampfes wurden die Ordnerbataillone dem Kommando des Bundesheeres unterstellt. In dem ganzen Industriegebiet längs der Südbahnstrecke wurden die Ordnerorganisationen ausgerüstet, damit sie im Falle eines ungarischen Vorstoßes gegen Wien die ungarischen Truppen in den Flanken und im Rücken angreifen und im Kleinkrieg ihren Nachschub desorganisieren.

Indessen hatten die Mächte eingegriffen, um den bedrohten Frieden zu retten. Ein Vermittlungsversuch der tschechischen Regierung rief Italien auf den Plan; Italien wünschte nicht, daß die Kleine Entente als Schiedsrichter zwischen Österreich und Ungarn trete. Der italienische Minister des Äußern della Torretta lud Österreich und Ungarn zu Verhandlungen nach Venedig ein; England und Frankreich empfahlen Schober, die Vermittlung Italiens anzunehmen. Am 11. Oktober begannen die Verhandlungen in Venedig; sie zeigten, daß die italienische Regierung, die Ungarn immer als Italiens künftigen Bundesgenossen gegen Jugoslawien betrachtete, ein Ungarn vorteilhaftes Kompromiß erzwingen wollte. Torretta drohte mit der Verweigerung aller Kredithilfe an Österreich, wenn es sich seinen Vorschlägen nicht unterwerfe. Unter diesem Druck stimmte Schober dem Protokoll von Venedig zu. In diesem Protokoll verpflichtete sich die ungarische Regierung, ihre Freischärler zur Räumung des Burgenlandes zu verhalten, wogegen Österreich zustimmte, daß über die staatliche Zugehörigkeit der Stadt Ödenburg und ihrer nächsten Umgebung eine Volksabstimmung entscheiden solle.

Daß über Ödenburg eine Volksabstimmung entscheiden solle, entsprach unserer grundsätzlichen Auffassung. Aber wir hatten immer gefordert, daß Österreich eine Volksabstimmung nur dann anerkenne, wenn hinreichende Bürgschaften für die volle Freiheit der Abstimmung gesichert werden. Dieser Forderung entsprach das Protokoll von Venedig nicht.

Das Protokoll war noch nicht ratifiziert, als eine neue Wendung eintrat. Unsere Voraussage, daß die Ansammlung ungarischer Truppen in Westungarn einem neuen Habsburgerputsch zu dienen drohe, wurde bestätigt: am 20. Oktober kamen Karl und Zita Habsburg in einem Flugzeug in Ödenburg an. Karl erklärte sofort, er übernehme die Ausübung der Herrscherrechte in Ungarn und ernannte eine Regierung. Ein Teil der in Westungarn angesammelten Truppen, Lehär und Osztenburg an ihrer Spitze, stellte sich Karl zur Verfügung und setzte sich gegen Budapest in Bewegung. Schon am 22. Oktober erklärte die Tschechoslowakei, sie werde die Restauration Karls in Budapest als Kriegsfall behandeln. Dieser Erklärung schlossen sich Jugoslawien und Rumänien an. Am 24. Oktober verlangten die Großmächte Karls Thronentsetzung und Gefangennahme. Die ungarische Konterrevolution spaltete sich. Glaubten die Legitimisten, der Augenblick sei günstig, die Konterrevolution mit der Restauration des Königtums zu vollenden, so lehnten die Anhänger Horthys die Restauration des Königtums ab, um die Herrschaft der Konterrevolution vor dem drohenden Angriff von außen zu retten. Am 24. Oktober warf sich Gömbös an der Spitze einiger in aller Eile aus Studenten formierter Bataillone bei Budaörs den königlichen Truppen entgegen. Die Truppen des Habsburgers wurden geschlagen, er selbst gefangengenommen. Aber die Kleine Entente war entschlossen, für die Zukunft eine Wiederholung der Putschversuche des Habsburgers zu verhindern. Sie forderte, Ungarn müsse das Haus Habsburg in aller Form des Thrones entsetzen. Da Ungarn zauderte, mobilisierten die Tschechoslowakei und Jugoslawien einen Teil ihrer Heere. Ungarn mußte sich unterwerfen. Am 5. November beschloß die ungarische Nationalversammlung ein Gesetz, das die Souveränitätsrechte Karls IV. und die Pragmatische Sanktion für aufgehoben, das Recht der ungarischen Nation zur freien Wahl ihres Königs für wiederhergestellt erklärte, die Königswahl auf spätere Zeit vertagte. Am 10. November erklärte die ungarische Regierung in einer Note an die Botschafterkonferenz, daß Ungarn die Königswahl nur im Einvernehmen mit den Großmächten vornehmen werde und sich dem von der Botschafterkonferenz am 4. Februar 1920 und am 3. April 1921 ausgesprochenen Verbot der Restauration der Habsburger unterwerfe. Karl Habsburg wurde auf einen englischen Monitor gebracht und von den Engländern auf Madeira interniert, wo er am 1. April 1922 starb.

Die österreichische Regierung hätte die internationale Krise des Habsburgerputsches ausnützen können, um Österreich die Unterstützung der Kleinen Entente für die Entscheidung über Ödenburg zu sichern. Sie hat es nicht getan. Das Auftauchen Karl Habsburgs in Ödenburg hatte alle legitimistischen Hoffnungen des monarchistischen Flügels der Christlichsozialen geweckt. Die Mobilisierung des tschechischen Heeres hatte den Tschechenhaß der Großdeutschen wiederbelebt. Die beiden regierenden Parteien hatten nur den einen Wunsch, in dieser Stunde ja nicht an der Seite der Kleinen Entente zu erscheinen. Ihre Regierung beeilte sich, ohne Not sofort nach der tschechischen Mobilisierung eine Neutralitätserklärung in Prag abgeben zu lassen. Österreich hatte es unterlassen, die Krise zur Verstärkung seiner Stellung gegen Ungarn auszunützen. Dagegen wurde die Stellung Horthys und seiner Regierung gegenüber den Großmächten durch seine entschlossene Abwehr des Habsburgerputsches wesentlich verbessert. Die Folgen zeigten sich sofort. Am 9. November forderte die Pariser Botschafterkonferenz Österreich auf, das Protokoll von Venedig zu ratifizieren; tut Österreich das nicht, dann werde sich die Entente für „desinteressiert“ in der Burgenlandfrage erklären; Österreich möge dann selbst zusehen, wie es den Widerstand Ungarns bricht. Unter diesem Druck mußten alle Parteien der Ratifizierung des Protokolls von Venedig zustimmen.

Der Habsburgerputsch hatte die Freischärler im Burgenland aufgelöst. Die legitimistischen Truppen waren mit Karl Habsburg gegen Budapest marschiert. Die horthystischen Banden wurden von der ungarischen Regierung zurückgenommen, sobald sie der Ratifizierung des Protokolls von Venedig sicher war. Nunmehr forderte die interalliierte Generalkommission in Ödenburg Österreich zur Besetzung des Burgenlandes mit Ausnahme des Ödenburger Abstimmungsgebietes auf; und jetzt erhob sie auch gegen die Verwendung des Bundesheeres keinen Einspruch mehr. Der Einmarsch des Bundesheeres begann am 13. November. Die österreichischen Truppen stießen auf keinen Widerstand mehr. Am 4. Dezember war die Besetzung des Landes durch die österreichischen Truppen vollendet. Nun sollte die Volksabstimmung in Ödenburg stattfinden. Und nun zeigte es sich sehr bald, daß der italienische General Ferrario, der Vorsitzende der interalliierten Generalkommission, den Auftrag hatte, die Abstimmung so zu leiten, daß Ödenburg an Ungarn falle Zwar hatte der österreichische Nationalrat das Protokoll von Venedig erst ratifiziert, nachdem die Mächte versprochen hatten, daß Ödenburg vor der Abstimmung von den ungarischen Truppen geräumt und von Entente-Truppen besetzt werde. In der Tat trafen am 8. Dezember Entente-Truppen in Ödenburg ein und zogen am 12. Dezember die ungarischen Truppen ab. Aber die Verwaltung blieb in den Händen ungarischer Behörden, die magyarischen Bürgermeisterämter stellten die Abstimmungslisien her, magyarische Gendarmen und Polizei und die Reste der magyarischen Freischärlerformationen durften die Bevölkerung des Abstimmungsgebietes terrorisieren. Die magyarischen Behörden hatten Tausende stimmberechtigte Anhänger des Anschlusses an Osterreich in die Abstimmungslisten nicht eingetragen, Tausende nicht stimmberechtigte Magyaren in sie aufgenommen Erst am 5., 6. und 7. Dezember erhielten die Abstimmungskommissäre der österreichischen Regierung diese Stimmlisten; aber noch bevor sie die Überprüfung und Berichtigung auch nur eines Zehntels der Stimmlisten hatten durchführen können, erklärte General Ferrario das Reklamationsverfahren am 12. Dezember für geschlossen. Die Generalkommission beharrte darauf, daß die Abstimmung am 14. Dezember erfolgen müsse, obwohl bis zu diesem Tage die Herstellung einwandfreier Stimmlisten unmöglich war. Daher beschloß die österreichische Regierung am 13. Dezember, an einer solchen Abstimmung nicht teilzunehmen und ihre Abstimmungskommissäre abzuberufen. Ohne Kontrolle österreichischer Organe fand die Abstimmung am folgenden Tage statt. Ihr Ergebnis zeigte, daß sich das Abstimmungsgebiet bei wirklich freier und unverfälschter Abstimmung für Österreich entschieden hätte. Sieht man von der magyarischen Grenzgemeinde Zinkendorf ab, die Österreich ohne Abstimmung an Ungarn abzutreten bereit war und die man trotzdem mitstimmen ließ, so wurden im Abstimmungsgebiet 11.308 Stimmen für Ungarn, 8.222 Stimmen für Österreich abgegeben. Nur in der Stadt Ödenburg hatte die Mehrheit für Ungarn, in den Dorfgemeinden der Umgebung durchweg für Österreich gestimmt. Auf Grund dieser Abstimmung hat die interalliierte Generalkommission am 1. Jänner das ganze Abstimmungsgebiet Ungarn übergeben. Das Burgenland hatte damit seine Hauptstadt verloren und ist in zwei nur durch einen schmalen Landstreifen verbundene Teile zerrissen worden. Seine Verwaltung als eines selbständigen Bundeslandes wurde dadurch überaus erschwert.

Das burgenländische Volk hatte in der ganzen Zeit vom August bis zum Dezember die Sozialdemokratie als die treibende Kraft des Kampfes gegen Ungarn kennengelernt. Breite Massen des burgenländischen Volkes strömten unter dem Eindruck der Erfahrungen dieser Kampfzeit der Sozialdemokratie zu. In dem Lande, das keine Stadt und keine Industrie liat, erhielten wir bei den ersten Nationalrats- und Landtagswahlen am 18. Juni 1922 38,5 Prozent der Stimmen, so daß wir zur stärksten Partei im Landtag und Landesrat wurden. Wir hatten damit eine neue, auf Kleinbauern und Landarbeiter gestützte, für die Befestigung der Ostgrenze der Republik gegen die ungarische Konterrevolution sehr wichtige Machtposition erobert.

Die Burgenlandkrise hatte die innere Kraft der Republik geoffonbart. Die Bourgeoisie hatte abermals erfahren, wie entschlossen und opferbereit das Proletariat zur Republik stand und welche unüberwindlichen internationalen Hindernisse der Restauration Habsburgs entgegenstanden. Hatte die Erfahrung der Anschlußabstimmungen die Bourgeoisie belehrt, daß sie aus der Republik nicht in das reaktionäre Bayern flüchten konnte, so hatte die Erfahrung der Burgenlandkrise die Bourgeoisie belehrt, daß sie keine Hoffnung hatte, die Republik mit Hilfe des reaktionären Ungarn zu stürzen. Wie das Jahr 1919 das Proletariat belehrt hatte, daß es nicht seine Diktatur aufrichten, sondern nur im Rahmen der demokratischen Republik um die Macht ringen kann, so hat das Jahr 1921 die Bourgeoisie belehrt, daß sie die Republik weder sprengen noch stürzen, sondern nur in ihrem Rahmen um die Herrschaft kämpfen kann. Beide Klassen hatten erfahren, daß nicht der Umsturz der demokratischen Republik,. sondern nur der Kampf um die Macht in der demokratischen Republik der Inhalt des Klassenkampfes sein konnte.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008