Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Fünfter Abschnitt
Die Restauration der Bourgeoisie

§ 19. Die Ergebnisse der Revolution und die Aufgaben der Sozialdemokratie


Der Krieg hat ganz Europa in eine Revolutionskrise gestürzt. Aber schon nach wenigen Wochen wurde die Demobilisierungskrise in den westeuropäischen Ententestaaten überwinden. Schon 1919 und 1920 erlitt das Proletariat in Deutschland und in Ungarn, in Frankreich und Italien eine Reihe schwerer Niederlagen. Schon seit 1921 ist das internationale Proletariat in die Defensive gedrängt. Die internationale Offensive der Bourgeoisie ist aus wirtschaftlichen und aus sozialen Gründen besonders heftig “und besonders gewaltsam. Aus wirtschaftlichen Gründen: die Verarmung Europas durch den Krieg, die Notwendigkeit, die tief gesunkene Akkumulationsrate zu erhöhen, die Schwierigkeit des Konkurrenzkampfes auf dem von schwerer Industriekrise befallenen, durch die Zerrüttung der Währungen deroutierten Weltmarkt treiben zum Lohndruck und zur Rückbildung des Arbeiterschutzes. Aus sozialen Gründen: die Bourgeoisie, durch die Heftigkeit des revolutionären Ansturms 1918 und 1919 erschreckt, fühlt sich, nicht mehr sicher genug, sich mit den Herrschaftsmitteln, die ihr vor dem Kriege genügt haben, zu bescheiden. In allen Staaten östlich des Rheins – Österreich ist die einzige Ausnahme – hat sie sich mit den Waffen der Ausnahmegesetzgebung, der Beschränkung der Vereins-, Versammlungs-, Preßfreiheit und der Schwurgerichte ausgerüstet. In vielen dieser Staaten – auch Österreich ist unter ihnen – greift sie zu den Waffen der fascistischen Gewaltorganisationen. So ist in ganz Europa der Revolutionskrise von 1918/19 schwerer Rückschlag gefolgt.

Aber die Revolutionskrise von 1918/19 hat die durch den Krieg aufgeworfenen Probleme nicht gelöst. Es ist dem Imperialismus der Siegermächte nicht gelungen, das deutsch-französische Reparationsproblem zu lösen, die Sowjetrepublik dem europäischen Staatensystem einzugliedern, in dem Raum der einst russischen „Randvölker“ und der einst österreichischen „Nachfolgestaaten“ dauerhaften Frieden zu begründen, die revolutionäre Gärung zwischen dem Bosporus und dem Tigris, zwischen dem Nil und dem Ganges zu beendigen. Scheint der amerikanische Kapitalismus die schwere Industriekrise der Nachkriegszeit schon überwunden zu haben, so wird die Erholung des europäischen Kapitalismus durch politische Krisen und politische Unruhe gehemmt. Wirtschaftlicher Druck und politische Krisen verschärfen die soziale Unruhe und treiben neuen sozialen Erschütterungen zu.

So scheint die gegenwärtige Entwicklungsphase nur eine Übergangsperiode zwischen zwei revolutionären Prozessen zu sein: zwischen der schweren revolutionären Erschütterung, die Europa 1918/19 erlebt hat, und neuen schweren kriegerischen, revolutionären oder konterrevolutionären Erschütterungen, zu denen die durch den Krieg aufgeworfenen, immer noch ungelösten Probleme zutreiben.

Dieser allgemeinen europäischen Entwicklung entspricht auch die Entwicklung auf dem Boden, den einst die Habsburgermonarchie beherrscht hat. Auch hier ist der revolutionäre Prozeß zunächst unterbrochen. In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen, wo die Revolution eine bloß nationale Revolution geblieben ist, hat sie schon 1918, schon mit der Errichtung der neuen Nationalstaaten, ihren Abschluß gefunden. Ungarn hat im Verlauf eines Jahres die Tragödie seiner Revolutionen und seiner Konterrevolution durchlaufen. Deutschösterreich hat der Genfer Vertrag den Abschluß des revolutionären Prozesses gebracht: die nationale Revolution erscheint durch den Genfer Vertrag liquidiert, die soziale Revolution mit der Aufrichtung eines starken, selbstbewußten bürgerlichen Regimes unter dem Schulz der im Völkerbund vereinigten kapitalistischen Regierungen beendet. Aber in Wirklichkeit sind auch hier alle Probleme, die die Revolution von 1918 aufgeworfen hat, immer noch ungelöst.

Der Imperialismus hat die Idee der nationalen Revolution von 1918 verfälscht und vergewaltigt. Er hat den Tschechen, den Polen, den Jugoslawen die nationale Staatlichkeit, um die sie gerungen hatten, gegeben. Aber er liat mit diesen Staatsbildungen nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklicht, sondern neue Herrschaftsverhältnisse geschaffen. Er hat die Grenzen der neuen Staaten so gezogen, daß die nationalen Probleme, die die Habsburgermonarchie gesprengt haben, in den neuen Staaten wieder erstanden. Die Tschechoslowakei vermag die ihr unterworfenen Deutschen, Slowaken, Magyaren, Ruthenen nur mit den Mitteln der Gewalt zu beherrschen. Sobald die Entwicklung der Klassengegensätze innerhalb des herrschenden tschechischen Volkes die nationale Einheitsfront gegen die unterdrückten Nationen sprengt oder schwächt, wird sich diese Gewalt nicht mehr in die Formen parlamentarischer Mehrheitsherrschaft hüllen können. Die tschechoslowakische Republik muß dann in eine schwere Staatskrise geraten. Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen hat nicht das jugoslawische Ideal der Föderation der südslawischen Stämme verwirklicht, es hat vielmehr die südslawischen Stämme einer großserbischen Militärmonarchie unterworfen. Der Gegensatz zwischen dem Jugoslawentum und dem Großserbentum lebt im Kampfe um die Verfassung,. in der Auflehnung der Kroaten und der Slowenen gegen den großserbischen Zentralismus fort, er stärkt den reaktionären kroatischen und slowenischen Stammespartikularismus, er hindert die Konsolidierung des jugoslawischen Staates. Auf die Verschärfung der inneren Krisen des tschechischen und des südslawischen Staates lauern die konterrevolutionären Mächte, die in Italien und in Ungarn die Macht an sich gerissen haben; der italienische Fascismus, dem jeder Zusammenstoß zwischen Serben und Kroaten zur Gelegenheit werden muß, seine Herrschaftspläne an der Adria zu verwirklichen; die magyarische Offizierskaste, die auf den magyarischen Irredentismus in der Slowakei, in Siebenbürgen, im Banat auf den slowakischen und den kroatischen Stammespartikularismus ihre Hoffnung setzt. Die Furcht der beiden Slawenstaaten vor dem italienischen Imperialismus und der magyarischen Revanche hält das ganze Gebiet der einstigen Donaumonarchie in latenter kriegerischer Spannung. Jeder Zusammenstoß zwischen diesen Staaten muß aber auch Deutschösterreich in neue schwere Erschütterungen stürzen, auch hier alle nationalen und sozialen Probleme der Revolution von 1918 von neuem aufwerfen. Auch auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie scheint also der revolutionäre Umwälzungsprozeß nur unterbrochen, nicht abgeschlossen zu sein. Auch hier ist die Periode der Reaktion, die wir durchleben, wahrscheinlich nur eine Übergangsperiode zwischen zwei revolutionären Prozessen.

Niemand vermag vorauszusehen, wie lange diese Übergangsperiode dauern wird. Es ist gewiß möglich, daß sie bald ein jähes Ende findet. Aber es ist ebensowohl möglich, daß sie viele Jahre dauern wird. Wir müssen uns daher zunächst auf diese Übergangsperiode einstellen, uns ihr Wesen, ihre Probleme, ihre Aufgaben verständlich zu machen suchen.

Der überwiegenden Mehrheit der deutschösterreichischen Bourgeoisie ist die Republik im .Jahre 1918 aufgezwungen worden. Die Traditionen der überwiegenden Mehrheit der deutschösterreichischen Bourgeoisie sind altösterreichisch, habsburgisch. Die junge Republik erschien der Bourgeoisie als Mittel starker, drohender Machtentfaltung des Proletariats; so konnte sie die Liebe der Bourgeoisie nicht erwerben. Sobald der Rückschlag der Revolution der Bourgeoisie wieder Hoffnung gab, hoffte sie zunächst die Restauration der Habsburger. Die Restauration Habsburgs – das bedeutet der Bourgeoisie die Niederwerfung des Proletariats. Die Restauration Habsburgs – das bedeutet der Bourgeosie die Hoffnung auf die Wiederherstellung des großen Reiches, auf die Wiedergewinnung ihrer verlorenen Absatz-, Handels-, Herrschaftsgebiete. Aber die Erfahrungen der beiden Habsburgerputsche von 1921 belehrten die Bourgeoisie, daß die Restauration Habsburgs unmöglich ist, solange die Macht der Tschechoslowakei und Jugoslawiens ungebrochen ist. Die Bourgeoisie mußte sich mit der Republik abfinden. Nicht die Republik zu stürzen, sondern sie zu erobern, das Gleichgewicht der Klassenkräfte aufzuheben und an seine Stelle die Herrschaft der Bourgeoisie zu setzen, die Volksrepublik in eine ßourgeoisrepublik zu verwandeln – das allein kann in der Übergangsperiode das Ziel der Bourgeoisie sein.

Allein zu schwach, dieses Ziel zu erreichen, warf sich die Bourgeoisie den kapitalistischen Regierungen des Auslandes in die Arme. Der Genfer Vertrag will die Republik nicht stürzen, sondern ihre Finanzen sanieren. Aber zugleich verändert er den sozialen Inhalt der Republik. Unter dem Deckmantel der Sanierung der Republik vollzieht er die Restauration der Bourgeoisie.

Parlamentsmehrheit und Regierung bilden die Christlichsozialen mit der viel kleineren großdeutschen Partei in ihrer Gefolgschaft; bilden also die Parteien, die sich auf die vom katholischen Klerus geführten Groß- und Mittelbauern und auf das städtische Kleinbürgertum stützen. Diese Klassen haben nicht, wie das tschechische und das polnische Bürgertum, demokratische, revolutionäre Traditionen; sie standen bis 1918 im Lager der habsburgischen Konterrevolution und stehen mit ihren Herzen heute noch dort. Die Republik ist ihnen nichts als eine nun einmal gegebene Tatsache, der sie vorläufig nicht entrinnen können; ihr Republikanertum ist ihre Furcht vor den Tschechen. Männliche Freiheitsliebe, ohne die wirkliche Demokratie nicht möglich ist, ist ihnen fremd; als Herren der Demokratie fühlen sie sich nur hinter dem diktierenden Kontrollor des Auslandes in Sicherheit. Ihre Wirtschaftspolitik ist durch die überwiegende Machtstellung der Agrarier in ihrer Mitte bestimmt; ihre Sozialpolitik durch den Ärger des Bauern über die Begehrlichkeit seines Knechts, den. Arger des Kleinbürgers über das Rebellentum seines Gesellen; ihre Kulturpolitik durch die dumpfe Enge des Wirtshauses in der alpenländischen Kleinstadt. Der römische Klerikalismus beherrscht sie; von dem Kardinal-Erzbischof empfangen sie ihre Weisungen. Da sie, sich der Auslandskontrolle willig unterwerfend, ihren Nationalismus verloren haben, finden sie dürftigen Ersatz für ihn in einem Antisemitismus, der, da ihre Regierung von den jüdischen Großbanken abhängig ist, das jüdische Kapital nicht angreifen darf, sich im Radau gegen jüdische Gelehrte und Studenten ausleben muß. Die politische Herrschaft dieser reaktionären Kleinbürgerei – das ist die Bourgeoisrepublik in Österreich.

Aber die politisch-parlamentarische Herrschaft des Kleinbürgertums ist .immer und überall nur eine Verhüllung der wirtschaftlichen Herrschaft des Finanzkapitals; alle kleinbürgerliche Demokratie wird zur Bankokratie. Wenn die kleinbürgerlichen Parteien die Arbeiterklasse niederhalten, ihr die Lasten des Staatshaushaltes auferlegen, die Arbeiterschutzgesetzgebung abbauen, das Bundesheer in ein wirksames Instrument zur Niederhaltung der Arbeiterklasse verwandeln, eine Technische Nothilfe schaffen, so tun sie mit alledem nur, was das große Finanz-, Industrie- und Handelskapital braucht. So ehrlich sie den jüdischen Bourgeois hassen mögen, so besorgen sie wider Willen doch seine Geschäfte. Denn Nutznießer der Niederhaltung des Proletariats kann nicht das durch die Geldentwertung pauperisierte bodenständige Bürgertum, können nur die in der Zeit der Geldentwertung aufgestiegenen „neuen Reichen“ sein. Die ökonomische Herrschaft dieser, um mit Engels zu reden, „recht gemeinen, recht schmutzigen, recht jüdischen Bourgeois“ – das ist die Bourgeoisierepublik in Österreich.

Aber auch diese „neuen Reichen“ beherrschen nur einen Teil unseres Produktions- und Zirkulationsapparats. In großem, von Monat zu Monat wachsendem Maße ist ausländisches Kapital in unsere Banken und unsere Industrieunternehmungen eingedrungen. In vielen Fällen sind die österreichischen Generaldirektoren nur noch die Fronvögte ausländischer Kapitalisten. Und diesem ökonomischen Herrschaftsverhältnis entspricht seit Genf auch das politische: in vielen Beziehungen ist die österreichische Regierung nur noch das Exekutivorgan des ausländischen Generalkommissärs. Der eigentliche, der letzte Nutznießer der Niederhaltung des österreichischen Proletariats wird das ausländische Finanzkapital sein, das uns immer stärker wirtschaftlich und politisch beherrscht. Die nationale Fremdherrschaft des ausländischen Kapitals, ausgeübt mittels der ökonomischen Herrschaft des österreichischen Kriegsgewinner- und Schiebertums, dessen Unternehmungen das ausländische Kapital kontrolliert, und mittels der politischen Herrschaft der reaktionären österreichischen Kleinbürgerei, die sich willig dem Diktat des ausländischen Generalkommissärs ergibt – das ist der letzte Sinn der Bourgeoisrepublik in Österreich.

Aber die Bourgeoisrepublik in Österreich ist noch keineswegs vollendet. Bourgeoisie und Proletariat haben in Österreich vier Jahre lang einen Positionskrieg geführt, in dem zwar die eine Klasse die andere zeitweilig zurückdrängen, aber keine der beiden Klassen der anderen ihre entscheidenden Machtpositionen entreißen konnte. So verfügt die Arbeiterklasse in Österreich auch heute noch über Machtpositionen und Machtinstrumente, die der Aufrichtung einer schrankenlosen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege sind. Diese Machtstellungen und Machtmittel muß die Bourgeoisie dem Proletariat zu entreißen versuchen, um ihre Klassenherrschaft aufzurichten.

Es ist denkbar, daß die Bourgeoisie dies durch einen Gewaltstreich versuchen wird; ist doch durch die offizielle, legale Reaktion seit Genf die inoffizielle, illegale Reaktion der zu einem Gewaltstreich rüstenden Hakenkreuzler, Frontkämpfer, Heimatwehren sehr gestärkt worden. Die Arbeiterklasse muß daher zur Abwehr eines gewaltsamen Angriffs gerüstet bleiben. Aber wenn die Arbeiterklasse hinreichend gerüstet ist, dann wird die Bourgeoisie einen gewaltsamen Angriff schwerlich wagen. Den offenen Bürgerkrieg kann die Bourgeoisie nicht wünschen; er würde ja den Kredit Österreichs im Ausland vollständig vernichten, damit den auf Auslandskredite gegründeten Genfer Plan zerreißen und dadurch die Grundlage der ganzen Herrschaft der Bourgeoisie zerstören. Die Bourgeoisie wird diesen auch ihr so gefährlichen Weg um so mehr scheuen, als sie seiner gar nicht bedarf. Denn wenn die Staatsmacht einige Jahre lang in den Händen einer vom Generalkoramissär des Völkerbundes, der mit diktatorischer Gewalt über die Staatsfinanzen verfügt, gestützten und gestärkten, gemäß dem Genfer Vertrag mit außerordentlichen Vollmachten ausgestatteten Bourgeoisregierung bleibt, dann kann diese Bourgeoisregierung durch planmäßige Arbeit binnen wenigen Jahren die Machtpositionen des Proletariats zerbröckeln, ohne sie gewaltsam zerschlagen zu müssen.

Das gilt vor allem von unserer Machtstellung im Bundesheer. Die Wehrmänner, die durch die Schule des Krieges und der Revolution gegangen sind, scheiden nach der Beendigung ihrer Dienstzeit aus dem Heere aus. Die jungen Rekruten, die an ihre Stelle treten, durch Begünstigung der Willfährigen und Schikanierung der Selbstbewußten kirre zu machen und bei der Auswahl der Wehrmänner, die zu Offizieren ausgebildet werden, die bürgerlich Gesinnten zu bevorzugen, ist den Komrnanden sehr leicht möglich. Auf diesem Wege kann ein planmäßig arbeitender Heeresminister, ohne allzu großes Aufsehen hervorzurufen, ohne allzu große Kämpfe zu provozieren, das Bundesheer binnen wenigen Jahren in ein verläßliches Instrument zur Niederwerfung und Niederhaltung des Proletariats verwandeln. Ebenso kann eine starke bürgerliche Regierung planmäßig die bürgerlichen Selbstschutzorganisationen stärken, die proletarischen schwächen; kann sie den Einfluß der Personalvertretungen und der Gewerkschaften in den Bundesbetrieben schrittweise zurückdrängen und eine Technische Nothilfe zur Abwehr von Streiks in lebensnotwendigen Betrieben ausrüsten; kann sie die Finanzen der Gemeinde Wien planmäßig schädigen, dadurch die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung in Verlegenheiten stürzen und auf diese Weise die Herrschaft der Arbeiterklasse in dem weitaus größten Bundeslande untergraben; kann sie durch das friedliche Mittel von Parlamentswahlen die Zweidrittelmehrheit im Nationalrat erobern und sodann die Geschäftsordnung des Nationalrates so abändern, daß die parlamentarische Opposition auf wirkungslose Kritik beschränkt wird. Auf diese Weise kann eine starke bürgerliche Regierung binnen wenigen Jahren die wichtigsten Machtpositionen des Proletariats allmählich zerbröckeln. Gelingt ihr das, dann steht der dreifachen Herrschaft der Bourgeoisie – der politischen Herrschaft der reaktionären Kleinbürgerei, der wirtschaftlichen Herrschaft des Kriegsgewinner- und Schieberkapitals, der nationalen Fremdherrschaft der internationalen Hochfinanz – keine Gegenkraft mehr entgegen. Dann ist die Republik zur reinen Bourgeoisrepublik geworden.

Es ist selbstverständlich, daß sich das Proletariat gegen diese Verwandlung der von der Arbeiterklasse begründeten und erhaltenen Republik in ein Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie wehren muß. Aber welches politische System kann das Proletariat dem sich seit Genf entwickelnden System der Bourgeoisrepublik entgegensetzen? Die deutschösterreichische Arbeiterklasse konnte nicht einmal in der Zeit der stärksten revolutionären Spannung 1918/19 ihre Alleinherrschaft aufrichten. Sie kann es heute, in einer Zeit, in der das Proletariat in ganz Europa in die Defensive gedrängt ist, noch viel 'weniger. Im November 1918 hat das Proletariat die Waffengewalt an sich gerissen, während die Bourgeoisie, von den Ereignissen überrascht und moralisch tief erschüttert, unbewaffnet war. Seither hat die Bourgeoisie vier Jahre Zeit gehabt, zu rüsten. Die Aufrichtung der Alleinherrschaft der Arbeiterklasse – gleichgültig, ob in der Form einer Sowjetdiktatur oder in der Gestalt einer nur von einer Minderheit des Parlaments gestützten „Arbeiterregierung“ nach kommunistischem Rezept – könnte heute nur das Ergebnis vollständigen Sieges des Proletariats im blutigen Bürgerkrieg sein. Jeder Bürgerkrieg, mitten zwischen dem Ungarn Horthys, dem Jugoslawien des reaktionären Großserbentums, dem Italien des Fascio, dem Bayern der Orgesch unternommen, hätte aber die bewaffnete Intervention des Auslandes zur Folge. Schon im September 1922, in den Genfer Verhandlungen haben die Vertreter der kapitalistischen Mächte die Frage erörtert, ob sie nicht die Besetzung Österreichs durch eine internationale Gendarmerie zur Bedingung der Kreditgewährung machen sollen; je mehr fremde Kredite Österreich tatsächlich zugeflossen sein werden, je mehr ausländisches Kapital in Österreich tatsächlich investiert sein wird, desto gewisser werden sich die kapitalistischen Regierungen im Falle eines Bürgerkrieges in Österreich zu bewaffneter Intervention, das heißt: zu gewaltsamer Niederwerfung des österreichischen Proletariats entschließen. Ein Sieg im Bürgerkrieg, aus dem allein die Diktatur des Proletariats oder die „Arbeiterregierung“ nach kommunistischer Vorstellung hervorgehen könnte, ist also in der gegenwärtigen Periode unmöglich. Während der ganzen Übergangsperiode ist die Diktatur des Proletariats ebenso unmöglich, ebenso unerreichbar wie die Restauration der Monarchie. Wie sich die Bourgeoisie in der Übergangsperiode nicht die habsburgische Konterrevolution als Ziel setzen kann, sondern nur die Bourgeoisrepublik, so kann das Proletariat in der Übergangsperiode nicht seine Diktatur durchsetzen, sondern nur die Volksrepublik.

Klassenherrschaft der Bourgeoisie oder Wiederherstellung des Gleichgewichts der Klassenkräfte, Alleinherrschaft der Bourgeoisie oder Teilung der tatsächlichen Macht im Staate zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, Bourgeoisrepublik oder Volksrepublik – das ist das Kampfobjekt der Übergangsperiode, der Periode der proletarischen Defensive. Der Glaube, daß der Genfer Vertrag die kranke österreichische Volkswirtschaft heilen werde, hat alle Schichten des Bürgertums und der Bauernschaft unter dem Kommando der Reaktion vereinigt. Er hat jede Auflehnung des nationalen Selbstbewußtseins gegen die Fremdherrschaft des internationalen Finanzkapitals verhindert. Er erlaubt es der Bourgeoisregierung, unter dem Vorwand der Sanierung der Volkswirtschaft die Geschäfte der Reaktion zu besorgen. Hat der Glaube an Genf den Vorstoß der Bourgeoisie ermöglicht, so wird die Enttäuschung über Genf die Gegenwehr des Proletariats wirksam machen.

Bis 1918 sicherte die Einheit des mit Zollmauern umgürteten österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes der österreichischen Industrie den Absatzmarkt, dem Wiener Handel und dem Wiener Bankwesen die herrschende Stellung in dem großen Gebiet eines 50-Millionen-Reiches. Die Revolution der Jugoslawen, der Tschechen, der Polen hat dieses Wirtschaftsgebiet zerschlagen. Sieben Achtel unseres alten Wirtschaftsgebietes sind seither durch hohe Zölle gegen unsere Arbeitsprodukte abgesperrt. In sieben Achteln des Gebietes, von dem uns vordem hohe Zölle die ausländische Konkurrenz fernhielten, müssen wir jetzt mit den Industrien des Auslandes konkurrieren, deren Produktionsstätten den Kohlenlagern und dem Meere näher liegen als die unseren und deren Produktionsapparat technisch vollkommener ist als der unsere. Das ist das Problem der deutschösterreichischen Volkswirtschaft: Wird unsere Industrie nach dem Verlust von sieben Achteln ihres zollgeschützten Marktes noch bestehen, werden sich unser Handel und unser Bankwesen nach dem Verlust ihrer Herrschaftsstellung in dem alten großen Wirtschaftsgebiet noch behaupten können, werden wir also die Massen unserer städtischen Bevölkerung, deren Existenz bisher auf Industrie, Handel, Bankwesen gegründet war, noch ernähren können? Die Geldentwertung hat dieses Problem verhüllt: die Geldentwertung gab der Industrie eine außerordentliche Exportprämie, die Spannung zwischen dem Innen- und dem Außenwert der Krone gab dem Handel außerordentliche Wirkungsmöglichkeiten, die Schwankungen der Valutenkurse gaben den Banken ein ergiebiges Aktionsfeld. Erst die Stabilisierung des Geldwertes deckt das wirkliche Problem der deutschösterreichischen Volkswirtschaft auf. Erst jetzt wird es sich zeigen, welche Zweige unserer Industrie, unseres Handels, unseres Bankwesens nunmehr, nach dem Verlust ihrer alten Herrschaftsstellung in einem großen zollgeschützten Wirtschaftsgebiet, überhaupt noch lebensfähig sind, welche zur Zusammenschrumpfung, zur industriellen Rückbildung verurteilt sein werden. Erst jetzt wird es sich zeigen, in welchem Maße die ungünstigen Standorte und Produktionsbedingungen unserer Industrie durch niedrige Löhne der Arbeiter und Angestellten, durch niedrige Lebenshaltung der Massen, also durch kulturelle Rückbildung kompensiert werden, damit die Industrie den freien, nicht mehr durch Zollschutz wie bis zum Herbst 1918, nicht mehr durch die Geldentwertung wie bis zum Herbst 1922 modifizierten Wettbewerb mit Industrien, die unter günstigeren Produktionsbedingungen arbeiten, überhaupt bestehen könne. Erst jetzt wird es sich also zeigen, welcher Teil unserer städtischen Bevölkerung infolge der industriellen Rückbildung überhaupt nicht mehr Arbeit und Brot in der Heimat wird finden können und welcher Teil unserer Arbeiter und Angestellten Arbeit und Brot in unserer Industrie nur um den Preis finden wird, daß er sich mit niedrigerer Lebenshaltung bescheidet, also auch auf niedrigerem Kulturniveau verbleibt als die Arbeiter und Angestellten anderer, unter günstigeren Bedingungen produzierender Länder. Das Problem unserer nationalen Wirtschaft, wie weit wir unsere Volksmassen überhaupt und wie weit wir sie zu erträglichen Bedingungen zu beschäftigen vermögen, wie weit wir also zu industrieller und wie weit zu kultureller Rückbildung verurteilt sind, wird durch den Genfer Vertrag, durch die bloße Ordnung unserer Staatsfinanzen und unserer Währung nicht nur nicht gelöst, sondern erst ganz aufgedockt. Die Ursache der Krankheit unserer Volkswirtschaft ist die Tatsache, daß ein industrieller Wirtschaftskörper, der einem Wirtschaftsgebiet mit 50 Millionen Einwohnern angepaßt war, in ein Wirtschaftsgebiet mit sechs Millionen Einwohnern eingepfercht worden ist. Nur ein Symptom dieser Krankheit war die Geldentwertung. Aber die Massen, vier Jahre lang an den Folgen der Geldentwertung leidend, hielten das Symptom für die Krankheit selbst. Sie unterwarfen sich willig der schmerzhaften Operation, die das Symptom beseitigt, weil sie damit die Krankheit selbst geheilt glaubten. Allmählich erst erfahren sie, daß Genf nicht die Krankheit heilt, sondern nur eines ihrer Symptome, daß es nur an die Stelle einer Erscheinungsweise der Krankheit eine andere setzt, an die Stelle der Geldentwertung die Arbeitslosigkeit, den Lohndruck, die industrielle und kulturelle Rückbildung. In dem Maße, als sich die Enttäuschung über die Wirkungen der Operation verbreitet, wächst die Auflehnung gegen die Operation und die Operationsmethoden. Es wächst der Widerstand der Massen gegen Sanierungsmethoden, die die Staatsfinanzen auf Kosten der Volkswirtschaft sanieren; die alle Lasten der Sanierung den breiten Volksmassen auferlegen, die besitzenden Klassen aber ängstlich schonen; die jeden Wunsch der internationalen Hochfinanz zum unverbrüchlichen Gesetz für uns erheben. Es wird wachsen der Widerstand des um der Sanierung willen unterdrückten nationalen Selbstbewußtseins gegen die Fremdherrschaft und des um der Sanierung willen unterdrückten Kulturbewußtseins gegen die Herrschaft reaktionärer, klerikaler Kleinbürgerei. Diese anwachsende Unzufriedenheit politisch wirksam zu machen, die von der Wirtschaftskrise getroffenen Massen der Angestellten und Kleingewerbetreibenden, die vom Abbau bedrohten Beamten, die sich gegen die Fremdherrschaft auflehnenden Intellektuellen um die von der Krise mit voller Wucht getroffene Arbeiterklasse zu scharen, die Entwicklung der öffentlichen Meinung gegen die Reaktion zu fördern, durch all das die Bourgeoisregierung zu erschüttern und schließlich zu stürzen, der Arbeiterklasse wirksame Kontrolle über die Verwaltung wiederzuerobern und damit zu verhindern, daß die bürgerliche Regierung ihre Macht zu allmählicher, planmäßiger Zerbröckelung der entscheidenden Machtmittel des Proletariats benützen könne – das ist die nächste Aufgabe, die die Sozialdemokratie in der Übergangsperiode zu bewältigen hat.

Wird die Bourgeoisie die Machtmittel des Proletariats nicht gewaltsam zu zerbrechen, sondern allmählich zu zerbröckeln bemüht sein, so wird dieser Kampf nicht mit den Waffen des Bürgerkrieges, sondern auf dem Boden der Demokratie, mit den Kampfmitteln der Demokratie geführt werden müssen. Nicht die Köpfe einzuschlagen, sondern die Köpfe zu gewinnen wird daher in diesem Kampfe die Aufgabe sein. Vor allem gilt es, die Organisationen des Proletariats durch die Industriekrise ungeschwächt, unerschüttert hindurchzuführen. In Zeiten der Krise erst bewährt sich die auf unerschütterlicher Überzeugungstreue, auf größter Opferwilligkeit, auf unüberwindlicher Zähigkeit ihrer Mitglieder beruhende Kraft proletarischer Organisationen! Darüber hinaus aber gilt es, die Kleinbauern und Häusler, die Angestellten und Beamten in unsere Front zu bringen. Wir werden sie desto leichter gewinnen, je klarer wir das unmittelbare Kampfziel umgrenzen. Wir werden die vielen, die die Hoffnung auf Genf der Reaktion in die Arme geworfen hat, gewinnen, wenn wir ihnen klarzumachen vermögen, daß wir nicht die Sanierung der Staatsfinanzen bekämpfen, sondern den Mißbrauch der Sanierungsaktion zur Aufrichtung der politischen Herrschaft der Reaktion und der ökonomischen Herrschaft der Bankokratie; wenn wir der Restauration der Bourgeoisie den gerade diesen Mittelschichten gegenüber werbekräftigen Gedanken der Volksrepublik entgegensetzen, in der keine Klasse die andere beherrscht, sondern alle Klassen an der Staatsmacht verhältnismäßigen Anteil haben.

Eines der demokratischen Mittel, die potentielle Energie der sich auf diese Weise gegen die Restauration der Bourgeoisie sammelnden Volksmassen in politische Macht umzusetzen, sind die Wahlen. Gelingt es der Reaktion, bei der nächsten Nationalratswahl nur einige Sitze auf unsere Kosten zu gewinnen, dann verfügt sie über die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dann kann sie die Geschäftsordnung des Nationalrates so ändern, daß wir die Mehrheit an schrankenloser Herrschaft nicht hindern können. Dann hat sie die Zeit gewonnen, die sie braucht, um unsere wichtigsten Machtpositionen außerhalb des Parlaments planmäßig zu zerbröckeln. Umgekehrt, gewinnen wir bei den Wahlen auf Kosten der Bourgeoismehrheit, dann wird das Regime der Reaktion unhaltbar, dann stürzt es zusammen, dann droht auch unseren außerparlamentarischen Machtstellungen, die noch der Vollendung der Restauration der Bourgeoisie im Wege sind, keine Gefahr mehr.

Gelingt es, das Regime der Reaktion zu stürzen, dann wird sich uns vielleicht wieder das Problem aufdrängen, ob wir unsere parlamentarische und außerparlamentarische Macht durch Beteiligung an der Regierung voll wirksam machen können und sollen. Es ist keineswegs gewiß, daß uns diese Frage gestellt wird. Die Erfahrung der zwei Jahre vom Oktober 1920 bis zum Oktober 1922 hat gezeigt, daß schwachen bürgerlichen Regierungen gegenüber ein starkes Proletariat das Gleichgewicht der Klassenkräfte aufrechterhalten kann, ohne unmittelbar an der Regierung teilnehmen zu müssen. Aber in einer Zeit, in der das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie, ihrer Parteien und ihrer Regierung wesentlich erstarkt ist, in der die Regierung dank der Stütze des ausländischen Generalkommissärs und dank den außerordentlichen Vollmachten, die sie auf Grund des Genfer Vertrages erlangt hat, wesentlich mächtiger geworden ist, kann eine Situation eintreten, in der wir das Regime der Restauration der Bourgeoisie nicht stürzen können, wenn wir nicht bereit sind, es durch eine Koalitionsregierung unter unserer Teilnahme zu ersetzen; eine Situation, in der wir die allmähliche Zerbröckelung der wichtigsten Machtpositionen des Proletariats nicht verhindern können, wenn wir nicht unmittelbaren Anteil an der Regierungsgewalt, unmittelbare Kontrolle der Staatsverwaltung erlangen.

Nicht nur die Erfahrungen der russischen, der deutschen, der tschechischen Revolution, auch unsere eigenen Erfahrungen im Jahre 1920 haben die ernsten Gefahren einer Koalition der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien deutlich gezeigt; diese Gefahren wären doppelt groß in einer Zeit, in der die Handlungsfreiheit der Regierung durch die internationale Finanzkontrolle eingeengt ist; in der die Wirkungsmöglichkeit der Sozialdemokratie in der Regierung durch das erstarkte Machtbewußtsein der Bourgeoisie wesentlich eingeschränkt würde; in der Industriekrise und Massenarbeitslosigkeit einer Regierung, an der Sozialdemokraten teilnehmen, besonders schwierige Aufgaben stellten. Anderseits aber haben die Erfahrungen des August und September 1922, der Zeit der Verhandlungen in Verona und in Genf gezeigt, welche große Machtquelle doch selbst einem starken Proletariat gegenüber die Verfügung über die Regierungsgewalt ist; wie die Bourgeoisie, wenn sie allein im Besitz der Regierungsgewalt ist, diese Macht ausnützen kann, um das Proletariat plötzlich vor vollzogene Tatsachen zu stellen, die das Proletariat dann nicht wieder rückgängig machen kann, und dadurch die Machtverhältnisse sehr wesentlich zuungunsten der Arbeiterklasse zu verschieben. Die Sozialdemokratie kann daher die Teilnahme an einer Koalitionsregierung weder unter allen Bedingungen anstreben, noch unter allen Bedingungen ablehnen. Von der konkreten historischen Situation, aus der eine solche Koalitionsregierung hervorgeht, von den bestimmten geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie entsteht und wirkt, hängt es ab, ob die Koalitionsregierung ein zweckdienliches, ein wirksames Mittel im Klassenkampf sein kann.

Die erste Koalitionsregierung im Jahre 1919 war das politische Instrument, mittels dessen die Arbeiterklasse ihre Vorherrschaft ausübte. Sobald der Rückschlag der internationalen Revolution, sobald die wirtschaftliche Umwälzung und soziale Umschichtung in Österreich selbst diese Vorherrschaft erschüttert hatte, wurde die Koalitionsregierung zuerst durch die Klassengegensätze in ihrem Schoße gelähmt und schließlich durch die Verschärfung der Klassengegensätze gesprengt.

Seit dem Oktober 1920 blieb die Regierungsgewalt in den Händen der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hat uns in den Jahren 1920 bis 1922 wiederholt eine neue Koalition angeboten. Wir haben sie immer wieder abgelehnt. Aus zwei guten Gründen.

Das beherrschende Problem war damals das Problem der Geldentwertung. Wir durften in die Regierung nicht eintreten, ohne die Möglichkeit zu haben, mit unseren Mitteln der Geldentwertung halt zu gebieten. Unsere Mittel zur Stabilisierung der Krone – das waren: Anforderung der Valuten und Devisen, valorisierte Zwangsanleihe, Anforderung von Gratisaktien, Zwangsverbände der Industrie als Steuergesellschaften. So energische Eingriffe in das Eigentumsrecht hätten wir aber in der ganzen Zeit vom Sommer 1920 bis zum Sommer 1922 auch in einer Koalitionsregierung nicht durchsetzen können; dazu war der Widerstand der Bourgeoisie schon viel zu stark geworden. Die Koalitionsregierung war also damals für uns kein brauchbares Mittel, die positive Aufgabe, die damals zu lösen war, zu lösen.

Die Koalitionsregierung hätte damals daher nur ein Mittel der Verteidigung der schon errungenen Machtpositionen der Arbeiterklasse sein können. Aber zu diesem Zwecke war uns damals keine Koalition notwendig. Den schwachen bürgerlichen Regierungen dieser Periode gegenüber konnten wir die Machtstellungen der Arbeiterklasse verteidigen, ohne an der Regierung teilnehmen zu müssen.

Erst im August 1922 drohte die Währungskatastrophe eine Situation herbeizuführen, in der der Bourgeoisie nichts anderes mehr übriggeblieben wäre, als sich unseren finanzpolitischen Forderungen zu unterwerfen. Erst in diesem Augenblick konnte der Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung positiven Zweck, positive Bedeutung erlangen. In diesem Augenblick erklärten wir uns zur Bildung einer Konzentrationsregierung bereit. Aber im letzten Augenblick noch gelang es der Bourgeoisie, die Hilfe des ausländischen Kapitals zu erlangen und dadurch der Situation, die sie zur Kapitulation vor unseren finanzpolitischen Forderungen gezwungen hätte, zu entrinnen.

Seither lehnt die führende, von Seipel repräsentierte Gruppe der Bourgeoisie jede Koalition mit der Sozialdemokratie entschieden und schroff ab. Sie will im Alleinbesitz der durch den Genfer Vertrag wesentlich gestärkten Regierungsgewalt bleiben, weil ihr nur der Alleinbesitz der Regierungsgewalt ermöglicht, die außerparlamentarischen Machtpositionen der Arbeiterklasse allmählich, planmäßig zu zerbröckeln, um schließlich, auf ein reaktionär gewordenes Heer, auf starke bewaffnete Selbstschutzorganisationen, auf eine ausgebaute Technische Nothilfe gestützt, die Arbeiterklasse völlig niederzuwerfen.

In dieser wesentlich veränderten Lage ist es die nächste Aufgabe der Arbeiterklasse, dieses Regime der Restauration der Bourgeoisie zu stürzen, und kann es nach seinem Sturze notwendig werden, an seine Stelle eine Koalitionsregierung der Sozialdemokratie mit einer oder der anderen bürgerlichen Partei zu setzen. Das wäre freilich eine ganz andere Koalitionsregierung als die von 1919. War die Koalitionsregierung von 1919, die Koalitionsregierung in der Zeit der höchsten revolutionären Spannung, ein Instrument der Vorherrschaft der Arbeiterklasse, so wäre die neue Koalitionsregierung, die Koalitionsregierung der Übergangsperiode, nur ein Instrument der Defensive des Proletariats, ein Instrument der Arbeiterklasse, ihre gefährdeten außerparlamentarischen Machtpositionen zu erhalten und dadurch die Rückbildung der Volksrepublik zur Bourgeoisrepublik zu verhindern. Konnten wir 1920 bis 1922 das Gleichgewicht der Klassenkräfte aufrechterhalten, ohne an der Regierung teilnehmen zu müssen, kann jetzt eine Situation eintreten, in der wir an der durch den Genfer Vertrag gestärkten Regierungsgewalt unmittelbaren Anteil haben müssen, wenn wir die dauernde Festigung einer unbeschränkten Klassenherrschaft der Bourgeoisie verhüten wollen.

Aber auch in der durch die Wirkungen des Genfer Vertrages sehr wesentlich geänderten Lage darf die Sozialdemokratie nicht unbedingt, nicht in jedem beliebigen Augenblick in eine Koalitionsregierung eintreten. Unser Eintritt in eine Koalitionsregierung muß auch jetzt an zwei Voraussetzungen geknüpft sein.

Die Sozialdemokratie kann nur als Beauftragte, als Sachwalterin des Proletariats an einer Regierung teilnehmen, sie darf nicht gegen den Willen des Proletariats über das Proletariat regieren. Sie darf im Besitze der Regierungsgewalt die breiten Massen des Proletariats nur mit geistigen Mitteln führen, nichl mit den Mitteln der Gewalt niederhalten. Daher ist die. erste Voraussetzung jeder Teilnahme der Sozialdemokratie an einer Koalitionsregierung, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeiterklasse die Koalitionsregierung will. Im Jahre 1920 mußten wir aus der Koalitionsregierung austreten, weil sich breite Arbeitermassen von der Koalitionsregierung enttäuscht abwendeten. Auch jetzt dürfen wir in eine Koalitionsregierung nur dann eintreten, wenn die breite Masse der Arbeiter überzeugt ist, daß wir die jetzt wesentlich erstarkte Regierungsgewalt nicht der Bourgeoisie allein überlassen können, wenn nicht unsere wichtigsten Machtmittel planmäßig unterminiert, allmählich zerbröckelt werden sollen; daß daher jetzt eine Koalitionsregierung, auch wenn sie nicht ein Mittel der Vorherrschaft der Arbeiterklasse, sondern nur ein Instrument zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Klassenkräfte ist, auch wenn sie dem Proletariat keine wesentlichen neuen Errungenschaften bringt, sondern ihm nur die bedrohten Errungenschaften der vergangenen Revolutionsperiode erhält und rettet, ein unentbehrliches Mittel des Verteidigungskampfes der Arbeiterklasse sein kann.

Die Sozialdemokratie kann an einer Koalitionsregierung nur teilnehmen, wenn uns die Teilnahme an der Regierung nicht bloßen Schein der Machte sondern wirkliche Macht bringt. Wäre die Koalitionsregierung nur das Ergebnis einer zufälligen Kombination, dann gäbe sie uns bloßen Schein der Macht; denn solange die Bourgeoisie imstande ist, auch ohne uns und gegen uns die Republik zu regieren, wird sie unsere Teilnahme an der Regierung nicht mit wesentlichen Zugeständnissen, nicht mit Einräumung wirklicher Macht erkaufen. Nur wenn die Koalitionsregierung das schließliche Ergebnis unseres energischen Kampfes gegen die Regierung der Bourgeoisie ist; erst wenn dieser Kampf breite Schichten der Bourgeoisie mit der Überzeugung erfüllt hat, daß die Bourgeoisie den Staat ohne uns und gegen uns überhaupt nicht mehr oder doch nicht ohne die größten Schwierigkeiten und ernstesten Gefahren zu regieren vermag, nur dann und erst dann wird die Bourgeoisie unsere Teilnahme an der Regierung mit wesentlichen Zugeständnissen, mit Einräumung wirklicher Macht erkaufen müssen; nur dann und erst dann wird die Koalitionsregierung ein wirksames Mittel im Verteidigungskampfe der Arbeiterklasse sein. Daher ist es die zweite Voraussetzung unseres Eintritts in eine Koalitionsregierung, daß eine solche Regierung nicht eine bloß parlamentarische Kombination, sondern das schließliche Ergebnis eines energisch, leidenschaftlich und zäh, geführten Klassenkampfes, nicht das Ergebnis einer parlamentarischen Intrige, sondern der Ausdruck einer realen Verschiebung der Machtverhältnisse der Klassen, nicht eine bloße Parteienverbindung, sondern der Ausdruck des wiederhergestellten Gleichgewichts zwischen den Klassenkräften ist. Nur unter dieser Voraussetzung bedeutet eine Koalitionsregierung nicht den Verzicht auf den Klassenkampf, sondern sein Resultat, nicht die Einstellung des Klassenkampfes, sondern ein Mittel zur Durchsetzung und Stabilisierung seiner Ergebnisse, nicht die Illusion der Aufhebung der Klassengegensätze, sondern den Ausdruck eines zeitweiligen realen Machtverhältnisses zwischen den kämpfenden Klassen.

Diese Voraussetzungen des Eintritts der Sozialdemokratie in eine Koalitionsregierung sind derzeit nicht gegeben. Sie können aber, vielleicht im Verlauf der Entwicklung, die seit dem Genfer Vertrag eingesetzt hat, vielleicht durch die fortschreitende Auflösung der durch den Genfer Vertrag hervorgerufenen Illusionen, durch die fortschreitende Auflehnung immer breiterer Massen gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik des Regimes der bourgeoisen Restauration, keinesfalls aber anders als in unserem entschiedensten Kampfe gegen dieses Regime hergestellt werden.

Die Kommunisten lehnen jede Teilnahme einer Arbeiterpartei an einer Koalitionsregierung mit bürgerlichen Parteien bedingungslos ab. Aber wenn wir in einer Zeit, in der die Alleinherrschaft der Arbeiterklasse unmöglich ist, jede Koalitionsregierung ablehnen, dann unterwerfen wir uns damit nur freiwillig der Alleinherrschaft der Bourgeoisie; dann geben wir selbst der Bourgeoisie den Freibrief, die wichtigsten Machtpositionen der Arbeiterklasse planmäßig zu unterminieren und allmählich zu zerbröckeln. Umgekehrt erscheint manchen Fraktionen der bürgerlichen Demokratie die Vereinigung aller Parteien zu einer gemeinsamen Regierung als ein unter allen Umständen, unter allen Bedingungen erstrebenswertes Ziel. Aber wenn Sozialdemokraten in eine Koalitions- oder Konzentrationsregierung eintreten, ohne in dieser Regierung wirkliche Macht üben, wirksam der Arbeiterklasse dienen zu können, dann erschüttern sie nur das Vertrauen der Arbeitermassen zur Sozialdemokratie, zerstören sie damit nur die Klassenorganisation des Proletariats, auf der seine Macht beruht. Wir dürfen keine Koalitionspolitik treiben, wie sie die tschechische, zeitweilig auch die reichsdeutsche Sozialdemokratie getrieben hat: eine Politik, in der die Koalition nur die Unterordnung der Sozialdemokratie unter ein tatsächlich bourgeoises Herrschaftssystem bedeutet. Aber wir müssen verstehen, daß die Behauptung der allerwichtigsten Machtpositionen des Proletariats davon abhängig sein kann, ob wir rechtzeitig, das heißt ehe sich die Bourgeoisie dieser Machtpositionen bemächtigt, eine Situation zu erkämpfen vermögen, in der die Bourgeoisie gezwungen ist, uns einen Anteil an der realen Macht einzuräumen und uns damit die von ihr bedrohten Machtpositionen wieder zu übergeben.

Der Kampf, den wir zu führen haben, ist ein Kampf um Klassenmacht. Und von der Klassenmacht hängt die Durchsetzung der Klasseninteressen ab; hängt es vor allem ab, in welchem Verhältnis die einzelnen Klassen zu den Kosten der finanziellen Sanierung werden beitragen müssen. Aber es geht nicht um Macht und Interessen allein. Wie in jedem großen Klassenkampf birgt sich auch in diesem Kampf um Klassenmacht und Klasseninteressen ein Kampf zwischen zwei verschiedenen Typen staatlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, geistigen Lebens, die durch die kämpfenden Klassen repräsentiert werden.

Solange der Staat keinerlei Gewaltmittel zur Niederwerfung großer proletarischer Massenbewegungen besitzt, muß er immer wieder das Einvernehmen mit den Massen, das freiwillige, aus eigener Einsicht hervorgehende Einverständnis der Massen suchen; kann er also die Massen nur mit geistigen Mitteln führen. Sobald der Staat über die Gewaltmittel verfügt, die Massen niederzuhalten und niederzuwerfen, bedarf es dessen nicht mehr. Die Mittel der Gewalt ersetzen dann die Mittel der geistigen Führung. Solange der Staat die Massen nur mit geistigen Mitteln führen kann, bedarf er der Vermittlung der Organisationen; diese Funktion macht die Organisationen zu Organen des Staates und Mitbeherrschern des Staates zugleich. Sobald der Staat die Massen mit den Mitteln der Gewalt niederhalten kann, bedarf er der Vermittlung der Organisationen nicht mehr. Die Ansätze zur Entwicklung einer funktionellen Demokratie, die die Revolution hervorgebracht hat, verkümmern dann; der Staat fällt auf die Stufe einer rein parlamentarischen Demokratie zurück. Solange der Staat über Gewaltmittel zur Niederhaltung des Proletariats nicht verfügt, ist die Demokratie wirkliche Selbstregierung der Volksgesamtheit. Sobald der Staat hinreichende Mittel zur Niederhaltung des Proletariats besitzt, vermag: die Bourgeoisie, wenn nur die Wahlen ihr die Mehrheit in dem Parlament der Republik sichern, das Proletariat unbeschränkt zu beherrschen; die Demokratie verwandelt sich dann zur bloßen Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Das also ist der Sinn des Kampfes: es ist der Kampf zwischen dem Geist und der Gewalt als Regierungsmittel; zwischen der funktionellen und der bloß parlamentarischen Demokratie als Regierungsmethode; zwischen der Demokratie als wirklicher Selbstregierung der Volksgesamtheit und der Demokratie als bloßer Form der Klassenherrschaft.

Von dem Ergebnis dieses Kampfes hängt die ganze Einstellung der Arbeitermassen zum Staat ab. Bis zur Revolution von 1918 war der Staat den Arbeitermassen eine ihnen fremde, ihnen feindliche Gewalt. Durch die Revolution von 1918 wurde die Arbeiterklasse mit einem Schlag zur Trägerin des Staatsgedankens. Der Wille, die Republik zu erhalten und zu schützen, war das mächtige Motiv der Selbstzucht, der Selbstbeherrschung der Arbeitermassen in den Hunger- und Sturmzeiten von 1919 und 1920. Der republikanische Enthusiasmus hob die Arbeiterklasse zur Vorkämpferin der Verteidigung der Republik in der Burgenlandskrise von 1921. Die Entschlossenheit, die Republik zu retten, war die Quelle der Opferwilligkeit des Proletariats in den finanzpolitischen Kämpfen von 1922. Und mit dem Verhältnis der Arbeiterklasse zum Staat hat sich auch ihr Verhältnis zur Nation verändert. Bis zur Revolution von 1918 war die Arbeiterklasse die Todfeindin der nationalen Politik, deren Inhalt die Aufrechterhaltung der Herrschaft der deutschöstcrreichischen Bourgeoisie und Bürokratie über die anderen Nationen der Habsburgermonarchie war. Durch die Revolution von 1918 wurde die Arbeiterklasse zur Trägerin der nationalen Politik, deren Inhalt nun nur noch das Selbstbestimmungsrecht des deutschösterreichischen Volkes sein kann.. Die Arbeiterklasse war die Trägerin des nationalen Gedankens im Kampfe um den Anschluß an Deutschland in den Jahren 1918 und 1919, im Kampfe um das Burgenland 1921, im Kampfe gegen die Unterwerfung Deutschösterreichs unter die Fremdherrschaft einer internationalen Finanzkontrolle im Jahre 1922. Aber gerade mit dieser Unterwerfung hat eine rückläufige Bewegung eingesetzt. Verwandelt sich der Staat wieder in eine Klassenorganisation der besitzenden Klassen, die die Arbeiterklasse gewaltsam niederhält, dann entfremden sich die Arbeitermassen wieder dem Staat, sie beginnen wieder, den Staat als eine ihnen fremde, ihnen feindliche Gewalt zu betrachten. Organisiert sich die Nation wieder als Herrschaftsorganisation der besitzenden Klassen, dann tritt die gewaltsam niedergehaltene Arbeiterklasse unvermeidlich wieder in schroffen Gegensatz zur Idee der Nation. Was, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus gesehen, die Frage ist, ob die Arbeiterklasse den Staat mitbeherrschen, die Nation mitführen oder von der den Staat beherrschenden, sich als Nation konstituierenden Bourgeoisie beherrscht werden soll, ist, vom Standpunkt des Staates und der Nation aus gesehen, die Frage, ob sich Staat und Nation die Arbeitermassen, auf deren Arbeit alle staatliche Organisation und alles nationale Kulturleben beruhen, geistig eingliedern oder ob Staat und Nation wieder zu Organisationen der besitzenden Klassen zusammenschrumpfen, ob sie die Arbeitermassen wieder als bloße Untertanen des Staates, bloße Hintersassen der Nation gewaltsam beherrschen und damit auf die geistige Eingliederung der breiten arbeitenden Massen in sich verzichten sollen.

Das ist der staatliche, der nationale, der kulturelle Gehalt der Probleme, die uns die Übergangsperiode, in der wir leben, stellt. Aber ist es auch unsere nächste Aufgabe, unsere Kampfziele in dieser Übergangsperiode innerhalb des in ihr Möglichen, Erreichbaren, klar zu bestimmen und unsere Kampfmethoden den Bedingungen dieser Übergangsperiode anzupassen, so müssen wir uns bei alledem doch immer dessen bewußt bleiben, daß die Ziele der Übergangsperiode eben doch nur vorübergehende, nur Ubergangsziele, die Losungen der Übergangsperiode doch nur Übergangslosungen sind; daß unsere Aufgaben wesentlich andere, wesentlich größere sein werden, wenn erst die Übergangsperiode zu Ende gehen, wenn der jetzt unterbrochene revolutionäre Prozeß wieder von neuem einsetzen wird; daß das labile Gleichgewicht der aus dem Kriege hervorgegangenen staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung Europas früher, als wir glauben, durch Ereignisse aufgehoben werden kann, die eine neue Revolutionsperiode einleiten.

In der Übergangsperiode bleibt unsere nationale Existenz durch die Schranken der Verträge von St. Germain und Genf begrenzt. Wir können in der Übergangsperiode nur innerhalb dieser Schranken die Reste unserer nationalen Selbständigkeit verteidigen, nicht diese Schranken selbst sprengen. Wenn aber erst neue große revolutionäre Erschütterungen in Europa die Friedensverträge von Versailles, St. Germain, Riga zerreißen und das auf sie gegründete Staatensystem zerbrechen; wenn das innere Gefüge der tschechoslowakischen Republik und des jugoslawischen Königreiches in schwere Krise gerät und die permanente latente Kriegsgefahr in dem ganzen einst von den Habsburgern beherrschten Raum akut wird, dann wird uns das Problem unserer nationalen Existenz wieder so gestellt sein, wie es uns 1918 gestellt war. Da der Genfer Vertrag das Problem unserer selbständigen nationalen Existenz nicht löst; da die bloße Sanierung unserer Staatsfinanzen das Problem unserer volkswirtschaftlichen Existenz nicht nur nicht löst, sondern erst stellt, wird die unter den Existenzbedingungen eines Fünfzigmillionenreiches entstandene österreichische Volkswirtschaft in jeder europäischen Krise den ihr allzu engen Rahmen des kleinösterreichischen Wirtschaftsgebietes zu sprengen versuchen. In jeder europäischen Krise werden wir wieder vor dem Problem von 1918 stehen: Übernationale Föderation der Donauvölker oder nationaler Zusammenschluß der Deutschen; Wiederherstellung der habsburgischen Monarchie oder Anschluß an die Deutsche Republik!

In der Übergangspcriode ist die Volksrepublik, in der keine Klasse über die andere herrscht, sondern die Macht zwischen allen Klassen des Volkes geteilt ist, das allein mögliche, allein erreichbare Ziel unserer Kämpfe. Aber die Volksrepublik ist nicht die Aufhebung der Klassengegensätze, nicht das Ende der Klassenkämpfe; die Klassengegensätze können nicht aufgehoben werden, solange die kapitalistische Gesellschaftsordnung besteht, die Klassenkämpfe nicht enden, solange das Volk in Klassen, deren Interessen und Ideale einander widerstreiten, geschieden bleibt. Die Volksrepublik ist nichts als ein Ausdruck zeitweiligen Gleichgewichts zwischen den Kräften der Klassen – eines Gleichgewichts, das immer wieder durch die in ihrem Schoße weitergeführten Klassenkämpfe aufgehoben zu werden droht. Wenn erst neue große Erschütterungen in Europa den Klassenkrieg zwischen Kapital und Arbeit einer neuen großen Entscheidungsschlacht zutreiben, dann wird auch in Österreich das Gleichgewicht der Klassenkräfte aufgehoben; dann steht auch hier die Wahl nur noch zwischen der Konterrevolution der Bourgeoisie und der Revolution des Proletariats, zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Vor zwei gleich verhängnisvollen Irrtümern müssen wir uns hüten. Wir müssen uns hüten vor dem Irrtum der Kommunisten, die der Arbeiterklasse in der Übergangsperiode Aufgaben stellen möchten, die erst in einer neuen revolutionären Periode lösbar werden können. Sie verwechseln die Gegenwart mit der Zukunft. Wir müssen uns aber ebenso auch hüten vor dem Irrtum kleinbürgerlicher Demokraten, die die Volksrepublik, die nur die Übergangsform der Übergangsperiode ist, für den Abschluß der Entwicklung halten, über den uns keine neue revolutionäre Periode mehr hinausführen könne. Sie verwechseln die Zukunft mit der Gegenwart.

Wie die Menschheit auf dem Wege vom Feudalismus zum Kapitalismus durch eine lange Reihe einander folgender revolutionärer Prozesse hindurchgehen mußte, von denen jeder Übergangsformen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens geschaffen hat, die erst durch den folgenden revolutionären Prozeß wieder überwunden, in höhere Übergangsformen überführt wurden, bis schließlich auf diese Weise durch die mannigfaltigsten Übergangsformen hindurch der Weg vom reinen Feudalslaat des 13. bis zum reinen Bourgeoisstaat des 19. Jahrhunderts zurückgelegt war, so wird die Menschheit auch auf dem Wege vom Kapitalismus zum Sozialismus eine lange Reihe revolutionärer Prozesse durchmachen, durch eine ganze Kette staatlicher und gesellschaftlicher Übergangsformen hindurchgehen müssen.

Ein solcher revolutionärer Prozeß, einer von vielen, die einander folgen müssen, war die Revolution von 1918. Die Revolution, die das alte Habsburgerreich zerstört hat, war nicht unsere Revolution, nicht die Revolution des deutschösterreichischen Proletariats; sie war die Revolution der tschechischen, der jugoslawischen, der polnischen Bourgeoisie. Aber das deutschösterreichische Proletariat hat diese bürgerlich-nationale Revolution ausgenützt, um auch auf seinem Boden den absolutistischen Obrigkeitsstaat zu zerstören, um seine Macht in Staat, Land und Gemeinde, in Kaserne, Amt und Schule, in Fabrik, Werkstatt und Gutshof gewaltig zu vergrößern. Das Ergebnis dieser Revolution war die Volksrepublik, ein Übergangszusland gesellschaftlichen Lebens, der noch auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ruht, aber das kapitalistische Wirtschaftsleben unter der Kontrolle eines nicht mehr von den Herrenklassen der kapitalistischen Gesellschaft allem regierten Staates hält; ein Ubergangszustand staatlichen Lebens, in dem der Staat nicht mehr von der Bourgeoisie allein und noch nicht vom Proletariat allein beherrscht werden kann, nicht mehr ein Instrument der Bourgeoisie zur Niederhaltung des Proletariats und noch nicht ein Instrument des Proletariats zur Überwindung der Wirtschaftsherrschaft der Bourgeoisie ist. Heute ist die Revolution von 1918 abgeschlossen; die Aufgabe des Proletariats beschränkt sich vorläufig darauf, die Ergebnisse dieser Revolution zu verteidigen, den aus ihr hervorgegangenen staatlichen und gesellschaftlichen Übergangszustand gegen die Reaktion der Bourgeoisie wiederherzustellen und festzuhalten. Sobald aber die durch die Revolution von 1918 ungelösten Probleme, nach ihrer Lösung drängend, einen neuen revolutionären Prozeß einleiten, wird der aus der Revolution von 1918 hervorgegangene staatlich-gesellschaftliche Übergangszustand gesprengt, im Sturme einer neuen Revolution zu einem anderen, einem höheren Übergangszustand übergeführt. So muß die Arbeiterklasse durch eine Kette von Revolutionen hindurchgehen, nach jeder Revolutionsphase die aus ihr hervorgegangene Übergangsform staatlich-gesellschaftlichen Lebens gegen Rückschläge so lange verteidigen, bis eine neue Revolutionsphase es ihr ermöglicht, die aus der vorausgegangenen entstandene Übergangsform im Sturme der Revolution zu einer neuen, höheren Übergangsform weiterzuentwickeln. Auf diese Weise muß die Arbeiterklasse zu immer neuen, immer höheren Formen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, immer neuen Phasen in dem weltgeschichtlichen Prozeß der Umbildung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische aufsteigen, bis schließlich das Ziel erreicht, bis die sozialistische Gesellschaft verwirklicht ist. In diesem revolutionären Prozeß verwirklicht und vollendet sich schließlich die aus der Revolution von 1918 hervorgegangene Idee der Volksrepublik. Denn wenn die Volksrepublik heute nur der Ausdruck vorübergehenden Gleichgewichts zwischen den Kräften der einander bekämpfenden Klassen sein kann, das durch den Klassenkampf immer wieder aufgehoben werden muß, so findet sie ihre Vollendung erst in der sozialistischen Gesellschaft, die mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln die Scheidung der Gesellschaft in Klassen, Klassengegensatz und Klassenkampf aufhebt und damit erst die nicht mehr in gegensätzliche Klassen zerrissene Volksgemeinschaft verwirklicht.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008