August Bebel

Sozialdemokratie und Antisemitismus

Nachtrag

Es ist nicht überflüssig, die im vorliegenden Vortrag enthaltenen Ausführungen noch durch einige weitere Auseinandersetzungen zu vervollständigen.

Unter den alten politischen Parteien, die sich am meisten der antisemitischen Bewegung zu bemächtigen suchen, steht im Vordergrunde die konservative Partei. Diese, die sich mit Vorliebe auch eine christliche Partei nennt, sollte nach dem christlichen Grundsatz: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, am eifrigsten gegen eine Rassenhetze wirken. Aber es ist eine alte Erfahrung, daß christliche Lehren von denen am wenigsten befolgt werden, die sich als ihre eifrigsten Verteidiger hinzustellen lieben. Nach der Bibel sind die Juden das „auserwählte Volk Gottes“, und in diesem „auserwählten Volk“ wurde derjenige geboren und ging der Verheißung zufolge aus ihm hervor, der als der Begründer der christlichen Religion, als der „Sohn Gottes“, als der „Erlöser der Menschheit“ von den Christen verehrt wird. Man kann also mit vollem Rechte sagen, ohne Juden keine Christen, das Judentum ist der Nährboden, dem das Christentum entsproßte.

Wenn nun dennoch fromme christliche Junker,

„die im Herzen tragen die Treu
und auf dem Hintern ein Wappen“,

Arm in Arm mit christlichen Pfaffen die Fahne des Antisemitismus vorantragen, woher erklärt sich dieser Widerspruch? Einmal, weil diese erzkonservativen Mächte in der Tätigkeit des kapitalistischen Judentums ein revolutionäres Element erblicken, das ihre Stellung untergräbt, und weil man den von jeher genährten Haß der Massen gegen die Juden braucht, um Sündenböcke zu schaffen, damit man von den eigenen Sünden die Augen des Volkes ablenken kann.

Die Juden als Besitzer eines wesentlichen Teiles des mobilen Kapitals suchen sich auch des immobilen Kapitals, das den Grund und Boden darstellt, zu bemächtigen. Sie erscheinen also dem Grundbesitzer als sein gefährlichster Feind. Der Hauptbesitzer des Grund und Bodens ist aber heute noch der Adel. Dessen Haß gegen den Juden, in dem er den Hauptrepräsentanten des mobilen Kapitals sieht, ist also durchaus erklärlich. Die Besitzer des mobilen Kapitals arbeiten – da dasselbe seiner Natur nach sich rascher vermehren kann als das immobile und ersteres nach der ausschließlichen Herrschaft strebt – auf die Mobilisierung des bisher unbeweglichen Besitzes, und dadurch entsteht zwischen den Trägern dieser beiden Kapitalarten eine natürliche Gegnerschaft. Der Junker ist der Feind des Juden, weil er fürchtet, daß der Jude als Hypothekenbesitzer und Darleiher von Geld für seine, des Junkers, sogenannte standesgemäße Passionen, sich zum Herrn und Eigentümer des Grund und Bodens aufwirft, den der Junker als sein ihm von Gott und Rechts wegen gehöriges, unantastbares Eigentum betrachtet.

Auf dem Besitz von Grund und Boden ruhte von Alters her die Herrschaft des Menschen über den Menschen, Grund und Boden gilt auch heute noch als der sicherste Besitz, der jede Krise und jede politisch revolutionäre Umgestaltung am ehesten überdauert; daher ist das mobile Kapital auf die Erwerbung von Grund und Boden besonders erpicht.

Der Junker, der sich in seinem Besitz oder in der Ausdehnung desselben, nach dem er beständig strebt, durch den modernen Kapitalisten, beziehentlich den Juden, bedroht sieht, ruft zum Bundesgenossen den Bauern auf, der aus den oben angegebenen Gründen ebenfalls im Juden vorzugsweise seinen Feind sieht, obgleich der Junker nicht minder als der Jude der Feind des Bauern ist. Der Jude als Kapitalist angelt nach Grund und Boden, einerlei, ob er dem Junker oder dem Bauern gehört. Der adelige Grundherr, der Junker giert nach dem Grund und Boden des Bauern, um den eigenen Grund und Boden zu vermehren und seine soziale und politische Macht zu vergrößern. Die bisherige Entwickelung hat gezeigt, daß in diesem Konkurrenzkampf zwischen Junker und Jude, bei dem der Bauer der Geopferte ist, der Junker der Stärkere war.

Im Bauernlegen hat der Junker seit Jahrhunderten die größte Übung. Auf dem Lande mitten unter den Bauern wohnend, in der Regel ihr staatlicher und gemeindlicher Oberherr, weiß er alle Finessen, die soziale und politische Stellung, Erfahrung und Gewohnheit ihm an die Hand geben, auszunutzen. Die Gier nach immer mehr Grund und Boden beherrscht ihn dergestalt, daß alle Rücksichten der Menschlichkeit dieser Gier geopfert werden. Wie Adel und Junker in den letzten Jahrhunderten mit den Bauern wirtschafteten und umsprangen, mögen einige Tatsachen zeigen.

In Mecklenburg gab es zur Zeit des dreißigjährigen Krieges 12.543 ritterschaftliche Bauernherren, 1848 waren nur noch 1.213 vorhanden. Die übrigen hatte nicht der Jude, sondern der Junker – meist durch die brutalsten Gewaltakte – an sich gerissen. In der Provinz Pommern verschwanden seit 1628 an 12.000 Bauernhöfe, die in den Besitz des Adels übergingen. Der größte Teil der Rittergüter in den Provinzen Preußens, östlich der Elbe, besteht aus dem Gut gelegter Bauern, die man durch Praktiken oft der gemeinsten und gewalttätigsten Art von Haus und Hof vertrieb und zu Instleuten und Tagelöhnern degradierte. Von 1837–1857 verminderte sich der bäuerliche Besitz in den sechs alten Provinzen Preußens und in Westfalen um 2.831.266 Morgen, oder um acht Prozent des bäuerlichen Besitzes. Diese gingen nicht in den Besitz der Juden, sondern in den Besitz der großen Grundherren – meist fürstliche und adelige Personen – über.

In welchem Maßstab der große Grundbesitz in der Mehrzahl der preußischen Provinzen sich entwickelt hat, beweist die Tatsache, daß die Betriebe mit mehr als 100 Hektaren landwirtschaftlich bebauter Fläche vom gesamten landwirtschaftlichen Besitz in Anspruch nahmen: in den Provinzen Pommern 64,76 Prozent, Posen 61,22, Westpreußen 51,41, Ostpreußen 41,79, Brandenburg 42,60, Schlesien 42,14, Sachsen 30,89, Schleswig-Holstein 18,03.

In der Provinz Posen besitzen unter anderem der König von Preußen 10 Güter mit 6.380,35 Hektar [1], Fürst von Hohenzollern-Sigmaringen 4 Güter mit 29.611 Hektar, Fürst von Thurn und Taxis 36 Güter mit 24.482 Hektar, Fürst Radziwill 14 Güter mit 16.348 Hektar, Graf Jos. v. Wilzynski 11 Güter mit 13.933 Hektar, Graf Sig. Czarnecki auf Rusko 9 Güter mit 9.263 Hektar, v. Hansemann 3 Güter mit 7.734 Hektar, Graf Bodan Czapski 10 Güter mit 6.744 Hektar, der Abgeordnete Kennemann 13 Güter mit 10.482 Hektar. Das ist also Latifundienbesitz größter Art.

Weiter haben in den Ostprovinzen Preußens 15 regierende Fürsten große Latifundien zum Eigentum, daneben besitzen der Fürst zu Hohenlohe-Oehringen 43 Güter mit 39.365 Hektar, Graf Dohna-Schlieden 8 Güter mit 9.375 Hektar, Graf Mirbach-Sorquitten 4 Güter mit 5.578 Hektar. Fürst Bismarcks Besitz an Grund und Boden wurde 1892 auf rund 73.000 Morgen 18.537 Hektar, darunter 46.200 Morgen Land, geschätzt. 1886 gewann der Fürst allein aus dem Verkauf von Holz aus dem Sachsenwald, ohne daß der Waldbestand im geringsten darunter litt, 186.000 Mark. Und die Einkommen aus all diesem enormen Besitz, mit dem in der Regel noch eine Anzahl industrieller Betriebe, wie: Schnapsbrennerei, Zuckerfabrikation, Stärkefabrikation, Ziegel- und Kalkbrennereien, Sägemühlen, Cellulose- und Papierfabriken, Brauereien usw., verbunden sind, werden in der Hauptsache wieder zum Ankauf neuer kleinerer und größerer Güter zur „Arrondierung“ des vorhandenen Besitzes verwendet.

Wie im Norden und Osten, so vollzieht sich die Aufsaugung Kleiner und mittlerer bäuerlicher Besitzungen auch in Süd- und Mitteldeutschland. Vom badischen Schwarzwald wird gemeldet, daß der Fürst von Fürstenberg – kein Jude – die Bauerngüter und Bauernhöfe zu Dutzenden kauft, die Baulichkeiten niederreißen oder verfallen läßt und das Bauerngut als – Forst aufforstet. Das gleiche Geschäft betreibt der Fürst von Waldenburg in Sachsen, betreiben die großen Grundherren in ganz Deutschland. In Abnaundorf, einem Dorf in der Nähe von Leipzig, hat Dr. von Frege, der frühere konservative Reichstagsabgeordnete, so eifrig in „Bauernrettung“ gemacht, daß von den mehrere Dutzend Bauerngütern, die einstmals Abnaundorf bildeten, nur noch zwei vorhanden sind; die anderen Güter kaufte Dr. von Frege auf und arrondierte damit seinen Besitz. Fürsten, Adel und Großgrundbesitzer nehmen das Bauernland, wo sie es bekommen können, und namentlich gewinnt das Forst- und Jagdinteresse der gropen Besitzer über das allgemeine wirtschaftliche Interesse des Volkes immer mehr die Oberhand. Die Vorteile aus den Zuckersteuerprämien, der Branntweinsteuerdifferenz – aus dieser allein jährlich ca. 40 Mill. Mark – aus den Getreide-, Vieh- und Fleischzöllen, dem Holzzoll usw. usw. kommen in besonders hervorragendem Maße diesen großen Grundherren zugute und setzen sie in die Lage, ihren Reichtum ins Ungemessene zu steigern.

Der große Grundbesitz hat heute in Deutschland einen erheblichen TeiI des Grund und Bodens in feinen Händen – namentlich in Norddeutschland –, und zwar ohne nennenswerte Mithülfe der Juden.

Ein anderer Beweis für die Konzentration des Grund und Bodens liegt in der starken Vermehrung der Fideikommisse, d. h. in der Bindung des Besitzes an Gütern, die weder mit Schulden belastet, noch parzelliert, noch verkauft werden dürfen. Vor Beginn dieses Jahrhunderts gab es in Preußen nur 153 Fideikommisse, 1888 gab es deren aber 574, von denen allein in der Zeit von 1881–1888 nicht weniger als 135 gebildet wurden. Diele 574 Fideikommisse befanden sich in den Händen von 529 Besitzern, unter denen nur zwanzig Bürgerliche waren. Der gesamte fideikommissarisch gebundene Besitz umfaßte 1888: 1.408.860 Hektar.

Im Jahre 1888 gab es in Preußen 154 Personen, – 15 regierende Fürsten, 89 Herzöge, Fürsten und Grafen, 40 sonstige Adelige und 10 bürgerliche Besitzer –, von denen jeder einzelne mehr als 5.000 Hektar im Besitz hatte. Insgesamt besaßen diese 154 Personen 1.830 Güter mit 1.768.646 Hektar Land. Seitdem ist der Besitz dieser Herren noch größer geworden.

Was wollen angesichts einer solchen Konzentration des Grundbesitzes in den Händen fürstlicher unt adeliger Herren die jüdischen Güterschlächter bedeuten; sie sind die reinen Stümper gegenüber ihren „christlichen“ Konkurrenten. Gewiß hilff der Jude bei der Zerstörung des bäuerlichen Besitzes, aber es ist nur ein Maulwurf, wo andere Löwen sind. Auch ohne die Juden besorgen gut „christliche“ Kapitalisten bürgerlicher und adeliger Abstammung die Expropriation des Bauern.

Wie es also auf Übertreibung beruht, wenn man den Juden als den Hauptsünder an dem Bauern hinstellt, so ist es Übertreibung, wenn behauptet wird: die Schlechtigkeit der Juden beweise auch den großen Prozentsatz derselben bei der Beteiligung an Verbrechen und Vergehen.

Nach der deutschen Reichsstatistik, umfassend die Jahre 1882 bis 1889, war der Anteil der Juden an Verbrechen und Vergehen im Verhältnis zu dem der sogenannten Christen folgender:

Es wurden wegen Verbrechen
und Vergehen gegen Reichs-
gesetze verurteilt:

   

Auf 100,000 der strafmündigen
Bevölkerung gleicher Kategorie
kommt durchschnittlich verurteilt:

   

Von 100 wegen derselben
Vergehens oder Verbrechens
Verurteilten waren:

Christen

Juden

Christen

Juden

Wegen Gewalt und Drohungen
gegen Beamte

  38     

  15   

71,6

28,4

Wegen Hausfriedensbruch

  46,3  

  29,2  

61,3

38,7

Wegen Arrestbruch

    6,4  

    3,3  

65,3

34,7

Wegen Zuwiderhandl. gegen §147
der Gewerbeordnung

  10,6  

  23,7  

31,2

68,8

Wegen Meineid

    2,47

    3,6  

40,7

59,3

Wegen Unzucht mit Gewalt an
Bewußtlosen

    9,1  

    8,4  

52   

48   

Wegen Beleidigung

134     

183     

42,3

57,7

Wegen Mord

       0,354

         0,083

81   

19   

Wegen Kindesmord

       0,543

         0,171

76,1

23,9

Wegen einfacher Körperverletzung

  56,7  

   40,7  

58,2

41,8

Wegen gefährlicher Körperverletzung

161,6  

  54,3  

74,8

25,2

Wegen Nötigung und Bedrohung

  18,6  

  11,1  

62,6

37,4

Wegen einfachen Diebstahls

244,3  

  77,2  

76   

24   

Wegen schweren Diebstahls

  31,3  

    8,6  

78,4

21,6

Wegen Unterschlagung

  45,8  

  38,2  

54,5

45,5

Wegen Raub und räuberischer
Erpressung, auch im Rückfalle

     1,23

       0,27

82   

18   

Wegen Erpressung

    1,4  

       3,12

31   

69   

Wegen Hehlerei

   22,44

     21,62

50,9

49,1

Wegen Betrug

  36,1  

  82,6  

30,4

69,6

Wegen Betrug, auch im wieder-
holten Rückfalle

   44,32

     86,85

33,8

66,2

Wegen Fälschung öffentlicher
Urkunden

     9,45

  17,4

35,2

64,8

Wegen betrügerischen Bankerotts

       0,386

         4,486

  7,9

92,1

Wegen einfachen Bankerotts

     1,12

  23,9

  4,5

95,5

Wegen Jagd- u. Fischereivergehen

   24,54

     0,06

97,5

  2,5

Wegen Sachbeschädigung

  38     

  11,2

77,2

28,8

Wegen Brandstiftung

     1,55

     0,38

80,3

19,7

Unter diesen 26 Rubriken von Verbrechen und Vergehen haben die Juden in acht die Mehrheit, und diese gehören zumeist keineswegs zu den schwersten Verbrechen und Vergehen. Ein weiterer Blick auf die Art der Verbrechen und Vergehen, bei welchen die Juden die Mehrheit bilden, zeigt, daß es Verbrechen und Vergehen sind, die mit der Beschäftigung der großen Mehrzahl der Juden, mit dem Handel, in Verbindung stehen, z. B. Erpressung, Betrug, Fälschung öffentlicher Urkunden, einfacher und betrügerischer Bankrott. Um also einen richtigen Überblick zu erhalten, wäre notwendig, daß man die wegen Verbrechen und Vergehen verurteilten christlichen Handeltreibenden mit den jüdischen in Vergleich stellt. Geschieht das, so stellt sich heraus, daß die christlichen und die jüdischen Handeltreibenden in den Vergehen und Verbrechen, in welchen nach obiger Statistik die Juden die Mehrheit bilden, sich fast die Wage halten.

Will man also gerecht sein, so muß anerkannt werden, daß die Juden nur in 8 unter 26 Rubriken von Verbrechen und Vergehen die Mehrheit bilden, und auch unter diesen 8 Rubriken nicht ungünstiger stehen, wie die christlichen Geschäftsleute gleicher Kategorie, ihre moralische Qualifikation ist also nicht schlechter, sondern besser als die durchschnittliche der sogenannten Christen. Dieses Resultat ist aber durchaus nicht verwunderlich, weil die Juden durchschnittlich sich in weit besseren ökonomischen Verhältnissen befinden, als ein großer Teil der Christen, und dadurch die Versuchung zu Verbrechen und Vergehen weniger an sie herantritt. Es zeigt sich auch hier wieder schlagend, welchen entscheidenden Einfluß die ökonomischen Verhältnisse auf die Handlungsweise der Menschen ausüben.

Das Endresultat unserer Darlegungen ist also: Die Juden sind, durchschnittlich genommen, nicht besser, aber auch nicht schlechter als die sogenannten Christen. Gewisse geschäftliche Eigenschaften und Praktiken, die vorzugsweise als Handeltreibende ihnen eigen sind, sind mit der Natur dieses Gewerbes, das schon Fourier „die Kunst zu betrügen“ nannte, verknüpft; daß aber die Juden geriebene Handeltreibende sind, ist zunächst Schuld der Christen selbst, die seit anderthalb Jahrtausenden sie zum Handel zwangen. Eine Reihe anderer Eigenschaften, die im gesellschaftlichen Verkehr den sogenannten Christen besonders unangenehm auffallen, wie vorlautes oder überlautes Wesen, Sucht zu glänzen und sich vorzudrängen, Prahlsucht und Eitelkeit, Mangel an Takt, Eigenschaften, durch die sich unbestreitbar ein großer Teil der Juden auszeichnet, sind teils angeborene Eigenschaften der Rasse, teils Produkt der bisherigen Zurücksetzung, die bei längerer vollständiger Gleichstellung und Vermischung der Juden mit der übrigen Bevölkerung verschwinden werden. Sozial und politisch betrachtet stehen die Juden zu einem großen Teil im Vordergrunde aller fortschrittlichen Bestrebungen, was mit die Folge ihrer langen Unterdrückung und Rechtlosigkeit ist, sie sind opferwillig und mildtätig und können namentlich in letzterer Beziehung vielfach als Muster für ihre christlichen Verfolger gelten.

Der Antisemitismus wird heute von den verschiedensten bürgerlichen Parteien und Personen als Abzugskanal benutzt , um die Aufmerksamkeit von der eigenen volksfeindlichen Handlungsweise und von der auf Zerstörung von Bauern- und Handwerkerexistenzen gerichteten Tätigkeit abzulenken. Der Haß gegen die Juden muß den Deckmantel hergeben für alle möglichen Niederträchtigkeiten, die man selbst begeht, dem Juden aber besonders ankreidet. Uns doch wird diese Bewegung mit all den schmutzigen und niedrigen Beweggründen, die ihr mit zugrunde liegen, wider den Willen ihrer Leiter, schließlich einzig der Sozialdemokratie nützen. Die antisemitischen Agitatoren setzen Schichten unserer Gesellschaft in Bewegung, die bisher zu den politisch trägsten und denkfaulsten gehörten. Einmal aus der dumpfen Teilnahmlosigkeit aufgerüttelt und in den Kampf getrieben, wersen auch sie zum Denken genötigt, und sie werden alssann erkennen, daß das kapitalistische Judentum nur ein Teil der kapitalistischen Gesellschaft ist, daß es sich nicht bloß um eine Befreiung vom Judentum, sondern um eine solche vom Kapitalismus handelt, mit dem das kapitalistische Judentum steht und fällt. Die Rothschild, Bleichröder und Genossen sind Hauptstützen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung, nicht weil sie Juden, sondern weil sie Großkapitalisten sind; und vor die Frage gestellt, ob sie bei einer Wahl für den Reichstag für einen Antisemiten oder für einen Sozialdemokraten stimmen wollen, haben sie in so und so viel Fällen sich für den Antisemiten erklärt. Umgekehrt wählt der kapitalistisch interessierte Antisemit lieber einen Juden als einen Sozialdemokraten. Beide treffen damit das richtige für sich. Der Klasseninstinkt trügt nicht.

Der Schlachtruf muß also künftig nicht lauten:
Wider den Semitismus!
Sondern:
Wider den Kapitalismus!
und damit:
für den Sozialismus!


Fußnote

1. 1 Hektar hat nahezu 4 preußische Morgen.


Zuletzt aktualisiert am 18. Juni 2017