August Bebel

Sozialdemokratie und Antisemitismus

Zweiter Nachtrag

Der Antisemitismus in feiner häßlichsten und abschreckendsten Gestalt zeigt sich, seitdem die große revolutionäre Bewegung in Rußland zum Ausbruch gekommen ist, dort. Was immer das christliche Mittelalter, insbesondere des frommen Deutschland, das heute noch so mancher als das Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte betrachtet, an Abscheulichkeiten, Grausamkeiten und Barbarei in Verfolgung und versuchtes Ausrottung der Juden leistete, hat sich im heiligen Rußland auf größerer Stufenleiter wiederholt. Und wie im christlichen Mittelalter nicht selten Behörden und Geistlichkeit den Judenverfolgungen Vorschub leisteten, so sind es in Rußland vorzugsweise Polizei und höhere Militärs, die das Mittelalter noch nicht kannte, die hier an der Spitze der Judenverfolgungen stehen und die Verschwörungen gegen die Juden organisieren, indem sie das zahlreich vorhandene Lumpengesindel bewaffnen und durch ihre Beauftragten führen lassen.

Die Schandtaten, die dieses Raub- und Mordgesindel in Städten wie Kischinew, Odessa, Bialystock usw. ausführten, haben das Entsetzen der ganzen Kulturwelt hervorgerufen und zu zahlreichen energischen Protesten in der Presse, in Versammlungen und Vereinen und selbst in verschiedenen Parlamenten geführt.

Die Ohnmacht, welche die russische Regierung diesen bestialischen Vorkommnissen gegenüber zum Schein an den Tag legt, bestätigt nur ihr Einverständnis mit denselben. Diese Judenhetzen, die in erster Linie die Folge des Hasses gegen eine fremde, geistig höher stehende Rasse, als sie die Masse des russischen Volkes gegenwärtig darstellt, ist, wird ähnlich wie in Mittel- und Westeuropa genährt durch die bevorzugte ökonomische Stellung, die ein Teil der russischen Juden sich eroberte.

In Rußland leben die Juden in dichteren Massen bei einander als sie, mit Ausnahme einzelner Provinzen des österreichisch-ungarischen Reiches, insbesondere Galiziens, irgendwo sonst in Europa beisammenleben. Daher denn auch wie überall in der bürgerlichen Gesellschaft die große Masse, hier die große Masse der Juden, Proletarier sind, die als Arbeiter in Industrie, Handel und Verkehr und in der Landwirtschaft eine elende Existenz führen, ausgebeutet von der besser siwierten Minderheit ihrer Rassen- und Glaubensgenossen. Diese letztere hat es auch in Rußland in weitgehendem Maße zu einer herrschenden Stellung innerhalb der russischen Bevölkerung gebracht. Diese reichen russisch-polnischen Juden stehen an der Spitze der russischen Handels- und Finanzwelt, viele unter ihnen sind auch Großindustrielle, noch viel mehr Händler aller Art, insbesondere auch Wirte, Güterspekulanten, kurz Ausbeuter in jeder Gestalt. Das hat in der Masse der Bevölkerung in Rußland zu ähnlichen Gefühlen gegen das gesamte Judentum geführt, wie in Mittel- und Westeuropa, und die russische Regierung begünstigt diese Judenfeindschaft, weil sie damit den Haß der Massen von ihrem eigenen durch und durch faulen und korrupten Regierungssystem und den Trägern dieses Systems, den korrupten Beamten, ablenken will. Einen weiteren Grund zur Judenfeindschaft sieht die russische Regierung in dem Bildungsdrang der jüdischen Jugend, soweit diese, begünstigt durch bessere Lebensstellung ihrer Eltern einen ungemein großen Prozentsatz der Schüler zu allen höheren Bildungsanstalten stellt. Sie russische Regierung sieht in diesem Drange nach Wissen und Bildung eine Gefahr für den Bestand ihres Systems um so mehr, da diese Elemente einer Klasse und Rasse angehören, die sich mit Fug und Recht in viel höherem Grade als unterdrückt und rechtlos als das übrige russische Volk ansehen muß.

Wie in den west- und mitteleuropäischen Volksbewegungen aus den schon angeführten Gründen vielfach Juden die Wortführer wurden, hatten sie doch den meisten Grund zur Unzufriedenheit, so jetzt auch in Rußland. Das führte dazu, daß die russische Regierung nur einen sehr mäßigen Prozentsatz der Schüler festsetzte, mit dem die Juden auf den höheren Bildungsanstalten vertreten sein durften. Im weiteren schrieb man den Juden bestimmte Städte und Bezirke als Aufenthaltsorte vor; man verbot ihnen bei schwerer Strafe das Übernachten in Orten, in denen sie nicht wohnen durften. Man verbot ihnen weiter den Erwerb von Grundbesitz und die Ausübung einer Reihe von Gewerben, kurz, man behandelte sie zu Anfang des 20. Jahrhunderts genau so und zum Teil noch schlimmer, als die Juden in früheren Jahrhunderten in den mittel- und westeuropäischen Ländern behandelt wurden. Und da infolgedessen die Juden in Rußland, Intelligenz wie Proletariat, in ungewöhnlich größer Zahl an der revolutionären Bewegung sich beteiligten – man müßte sich wundern, wäre es nicht so – war damit noch ein ganz besonderer Anlaß für die russische Regierung gegeben, den Judenhaß des Lumpenproletariats durch ihre Werkzeuge anzustacheln, und Schlächtereien und Metzeleien hervorzurufen, wie sie bisher nur in orientalischen Despotien vorgekommen sind.

Gegenüber solchen Vorkommnissen macht es einen peinlichen und degütierenden Eindruck, zu sehen, wie ungeachtet dieser Judenmetzeleien die jüdische Hochfinanz der mittel- und westeuropäischen Staaten immer wieder bereit ist, die moralischen Urheber und Unterstützer dieser Judenmetzeleien, die russischen Regierungsmänner, durch finanzielle Stütze am Ruder zu erhalten. Dieses Verhalten der jüdischen Finanzwelt ist nur geeignet, dem mittel- und westeuropäischen Antisemitismus Wasser auf seine Mühlen zu liefern. Aber wer tiefer blickt, versteht dieses Verhalten der jüdischen Kapitalisten. So sehr, durchschnittlich genommen, der Jude am Judentum hängt, der Jude wird durch den Kapitalisten totgeschlagen. Wenn wir oben sagten, der jüdische Großkapitalist, vor die Frage gestellt, ob er einen Antisemiten oder einen Sozialdemokraten wählen soll, den Antisemiten wählt, dieser jüdische Kapitalist wird auch, vor die Frage gestellt, ob er sich ein gutes Geschäft entgehen lassen soll, um einem Rassen- und Glaubensgenossen zu helfen, das Geschäft machen und den Glaubensgenossen preisgeben. Es ist kein schlechter Witz eines sozialdemokratischen Witzblattes, daß einen jüdischen Kapitalisten sagen läßt: „Wenn die russische Regierung meine armen jüdischen Glaubensgenossen abschlachten läßt, werde ich bei der nächsten russischen Anleihe ein Prozent mehr verlangen.“ Der Kapitalist kennt kein anderes Ziel als den Profit. Alle Gefühle der Rasse, Nationalität und Religion müssen diesem gegenüber schweigen, ob der Kapitalist Jude oder Christ ist. So werden auch alle schönen religiösen und moralischen Grundsätze bei dem sogenannten Christen mit Füßen getreten, sobald der wirtschaftliche Gegner, der verhaßte Konkurrent in Frage kommt.

Die deutschen Antisemiten prahlen mit ihrem Christentum, sie nennen sich mit Eifer patriotisch gesinnte Ordnungsmenschen, sobald aber an den ihnen verhaßten Juden die scheußlichsten Greueltaten, die religiöse, moralische und ordnungsliebende Menschen mit Entsetzen erfüIlen sollten, verübt werden, haben sie nicht nur kein Wort des Tadels oder gar des Bedauerns, sie haben Mühe, ihre Genugtuung zu unterdrücken, daß es den von ihnen Gehaßten so ergeht, und sie suchen die vertierten Barbaren noch zu entschuldigen. Das beweist, daß auch auf „christlicher“ Seite das materielle Interesse, die Freude, einen gefürchteten Konkurrenten zugrunde gehen zu sehen, alle anderen Gefühle verdrängt.

Der Antisemitismus, der nach seinem Wesen nur auf die niedrigsten Triebe und Instinkte einer rückständigen Gesellschaftsschicht sich stützen kann, repräsentiert die moralische Verlumpung der ihm anhängenden Schichten. Tröstlich ist, daß er in Deutschland nie Aussicht hat, irgendeinen maßgebenden Einfluß auf das staatliche und soziale Leben auszuüben.


Zuletzt aktualisiert am 18. Juni 2017