August Bebel

Sozialdemokratie und Antisemitismus

Rede beim Kölner Parteitag 1893

Parteigenossen! Als der Parteivorstand auf die Tagesordnung des damals in Aussicht stehenden Parteitages in Berlin das Thema „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ setzte, hat es insbesondere die antisemitische Presse, die von dieser Tatsache mit Genugtuung Kenntnis nahm. Sie wies darauf hin, daß der Umstand, daß auch die Sozialdemokratie sich nunmehr auf ihrem Parteitage offiziell mit dieser Frage beschäftige, beweise, was für eine große Bedeutung die antisemitische Partei und Bewegung in Deutschland erlangt habe.

Gewiß hat die antisemitische Bewegung in Deutschland eine gewisse Bedeutung erlangen müssen, ehe die Sozialdemokratie sich entschließen konnte, dazu Stellung zu nehmen. Wenn aber die Herren Antisemiten mit der Stellungnahme zu dieser Frage bereits im voraus die Meinung bekunden, daß wir dieser Bewegung eine besondere Beachtung schenken, dann dürften sie, und ich hoffe, die heutige Verhandlung wird das beweisen, sich darin geirrt haben. Indem wir diese Frage auf die Tagesordnung setzten, haben wir getan, was wir gegenüber allen neuen Erscheinungen, die auf sozialpolitischem und ökonomischem Gebiete hervortreten und die eine gewisse Bedeutung erlangen, als sozialdemokratische Partei tun müssen. Keine Partei hat weniger als die sozialdemokratische versucht, die Augen zu schließen vor den Dingen, die in die Öffentlichkeit treten; sie hat im Gegenteil zu allen Zeiten, und wird dies auch ferner tun, es für ihre Pflicht und Aufgabe gehalten, an Vorkommnisse, die für das öffentliche Leben eine gewisse Berücksichtigung verdienen, ihre Kritik anzulegen und sie auf ihren Wert zu prüfen.

Wenn nun die Partei sich mit der Frage „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ beschäftigt, so geschieht das noch aus einem besonderen Grunde. Doch ich muß vorher eine kleine Erläuterung hier geben. Ich sprach von einer neuen Erscheinung, die der Antisemitismus sei. Das ist richtig und nicht richtig. Versteht man unter Antisemitismus Bestrebungen, die darauf hinausgehen, in Judenfeindschaft zu machen, deren Endziel ist, die Juden zu vernichten, mindestens sie aus dem Lande zu treiben oder in ihrem sozialen Dasein auszuheben, dann besteht der Antisemitismus seit mehr als anderthalb taufend Jahren. Was wir aber heute unter Antisemitismus verstehen, ist in der Tat eine neue Erscheinung insofern, als die gegen das Judentum als solches gerichteten feindseligen Bestrebungen sich in einer bestimmten politischen Partei verkörpert haben, die am öffentlichen Leben sich beteiligt und deshalb von allen anderen Parteien beachtet werden muß. Dazu kommt noch, und das ist der besondere Grund, warum wir uns mit dieser Frage beschäftigen, daß über die Bedeutung dieser Bewegung innerhalb unserer eigenen Reihen eine gewisse Unklarheit herrscht. Ich habe vor wenigen Tagen, als ich in einer Berliner Parteiversammlung das Referat über die Tagesordnung des hier versammelten Parteitages zu halten hatte, auch auf den uns jetzt beschäftigenden Punkt die Aufmerksamkeit gelenkt und einige Bemerkungen dazu gemacht. In der Debatte, die sich daran knüpfte – es war im VI. Berliner Wahlkreis – trat nun ein Genosse auf, der meinte, man lege dem Antisemitismus einen zu großen Wert bei, er sei in Wahrheit nichts anderes als ein Produkt von Schlagworten. Der Beifall, den jene Ausführungen seitens eines Teiles der Versammlung fanden, die sehr stark besucht war, bewies mir, daß ein gar nicht unbeachtenswerter Teil der Genossen über die Bedeutung dieser Frage im unklaren ist, daß also schon aus diesem Grunde eine offizielle Erörterung, wie wir sie heute vornehmen, eine Notwendigkeit ist. Wäre der Antisemitismus wirklich nur das Produkt von Schlagworten, die ausschließliche Wirkung der Tätigkeit gewisser Agitatoren, dann hätten wir uns nicht mit ihm zu beschäftigen (Zustimmung); und es wäre alsdann auch die Bewegung, wie sie tatsächlich vorhanden ist, undenkbar. (Sehr richtig!) Den Antisemitismus mit solchen Urteilen abfertigen zu wollen, steht genau auf derselben Stufe, von der unsere Gegner jahrzehntelang glaubten uns abfertigen zu können. (Sehr richtig!) Da hieß es auch: Die Sozialdemokratie ist nur ein Produkt der agitatorischen Tätigkeit gewisser Leute; kann man diese mundtot machen, dann ist auch die Sozialdemokratie von der Bildfläche verschwunden. Lange genug haben sich unsere Feinde mit dem Glauben getragen, die Sozialdemokratie sei ein vorübergehendes Gebilde oder, wie sie seitdem von einer sehr hohen Stelle bezeichnet wurde, „eine vorübergehende Erscheinung“, bis unsere Gegner endlich, durch die steigende Anhängerschaft und die Ausbreitung unserer Partei und durch ihre sonstigen Erfahrungen belehrt, begriffen, daß ihre Auffassung eine total irrige war. Und in der Tat, Parteigenossen, treten irgendwo Bestrebungen auf, die allerdings zuerst durch Agitatoren angeregt, größeren Widerhall in den Massen finden, so darf man nicht darüber hinweggehen als über etwas, das ohne Bedeutung sei. Ob vorhandene sich geltend machende Bestrebungen uns gefallen oder mißfallen, muß uns, objektiv betrachtet, gleichgültig sein; wir haben zu untersuchen, was die Ursachen sind, die dieselben ins Leben riefen und zur Entfaltung brachten. Haben wir uns mit dieser Frage beschäftigt und dabei erkannt, daß die uns beschäftigende Erscheinung zu beseitigen ist, so haben wir die Mittel zu untersuchen, mit deren Hülfe sie beseitigt werden kann.

Was das letztere betrifft, so ist unser Standpunkt der antisemitischen Bewegung gegenüber ein anderer, als unserer eigenen Bewegung gegenüber. Wir können im voraus erklären, die antisemitische Bewegung wird und muß für immer verschwinden, ohne daß sie eine Spur ihrer Wirksamkeit hinterläßt, in dem Augenblick, wo ihre Ursachen beseitigt werden. Diese werden aber nicht durch den Antisemitismus beseitigt, sondern durch den Sozialismus, indem dieser allein die sozialen Übel aus der Welt schafft, welche die antisemitische Bewegung hervorriefen. (Sehr richtig!)

Ich hatte ausgeführt, daß der Antisemitismus im Sinne des Judenhasses, im Sinne der Feindseligkeit gegen die Juden eine sehr alte Erscheinung in der Geschichte ist. Von dem Augenblicke an, in dem das alte jüdische Reich vernichtet, Jerusalem zerstört war, und die wenige Millionen zählende Bevölkerung auseinandergesprengt und zum Teil zur Auswanderung gezwungen wurde; sobald also die Juden sich über die bekannten Länder der alten Kulturwelt verbreiteten, hat auch eine gewisse antisemitische Strömung Platz gegriffen. Wir lesen schon in den Annalen des Tacitus, daß dieser römische Schriftsteller sich in der feindseligsten Weise über die Juden äußert. Und wenn seitdem, mit kurzen Unterbrechungen, bis auf den heutigen Tag in der Geschichte immer wieder dieselben Strömungen gegen die Juden zutage treten, so muß dies einen tieferen Grund haben, über den man nicht einfach hinweggehen kann.

Die Juden waren in ihrem Heimatlande und bis zu ihrer Vernichtung als selbständiges Volk im wesentlichen ein ackerbau- und gewerbetreibendes Volk. Der Ackerbau bildete die Hauptgrundlage ihrer Existenz, daneben hatte sich in den wenigen, verhältnismäßig unbedeutenden Städten eine Reihe von Gewerben entwickelt, die in allen Ländern bei Völkern auf gleicher Kulturstufe. Als eigentlich handeltreibendes Volk sind die Juden im Gegensatz zu ihren Stammesverwandten, den Phöniziern, Tyrern und Karthagern, in der Zeit ihrer Selbständigkeit nicht aufgetreten. Dazu war schon die geographische Lage des Landes nicht geeignet, es lag nicht am Meere und war von dieser Seite dem Handelsverkehr schwer zugänglich. Aber charakteristisch ist, daß von dem Augenblicke an, wo die Juden, auseinandergesprengt, sich über die anderen Länder verbreiteten, der größte Teil von ihnen sich dem Handel zuwandte. Allerdings war in der alten Kulturwelt die Sklavenarbeit die Grundlage der Produktionsweise. Diese Produktionsweise erschwerte es außerhalb der Gesellschaft eines Staatswesens stehenden Elementen, eine entsprechende Existenz zu finden. Die Juden mußten also, wollten sie unter fremden Völkern leben können, einer Beschäftigung sich zuwenden, die ihnen die Existenzmöglichkeit gewährte. Das war in erster Linie der Handel. Unbestreitbar ist, daß in der semitischen Rasse der Handelsgeist – wie ihn Fourier nennt –, wie das namentlich auch die Phönizier und Karthager bewiesen, in hohem Maße entwickelt ist. Es erklärt sich also aus dieser natürlichen Anlage leicht, daß das Judentum, wo immer es unter fremden Völkern auftritt, und besonders wenn es in der Vereinzelung, beziehentlich in kleinen Gruppen auftritt, vorzugsweise als handeltreibendes Element erscheint. Andererseits zeigt sich auch in der Gegenwart, daß dort, wo die Juden in geschlossenen Massen beieinander wohnen, sie sich nicht hauptsächlich mit Handel, sondern als Gewerbetreibende und mit Ackerbau beschäftigen und daß auch eine große Zahl von Lohnarbeitern – Landarbeiter und gewerbliche Arbeiter – unter ihnen ist. [1] Das sehen wir bis zu dieser Stunde in jenen Ländern Europas, in denen sie massenhaft beisammen wohnen; in Polen, Galizien, Ungarn, Teilen Rußlands, mit einem Wort in den osteuropäischen Ländern. Dort wohnen sie zu Tausenden und Zehntausenden in den Städten und bilden einen wesentlichen Bruchteil der Bevölkerung. Dort bilden auch die Handeltreibenden nur einen kleinen Teil der jüdischen Bevölkerung, die anderen Teile sind Handwerker und Arbeiter. Und die jüdischen Kapitalisten und Unternehmer beuten ihre jüdischen Rassen- und Religionsgenossen genau in derselben und oft in noch schamloserer Weise aus, als das die christlichen Kapitalisten mit christlichen Arbeitern tun. Anders ist es, wo die Juden mehr sporadisch unter Völkern leben, wie z. B. in Deutschland, in dem unter nahezu fünfzig Millionen Einwohnern etwa 500.000 Juden sind, also nicht ein Prozent. Hier tritt die Erscheinung auf, daß ihre wesentlichste Beschäftigung der Handel ist.

Aber der natürliche Hang und die Anlage der Juden zum Handel ist noch durch ihre geschichtliche Entwickelung, durch die Umstände, unter denen sie im Laufe von fast zwei Jahrtausenden in den europäischen Kulturstaaten zu leben hatten, im höchsten Maße begünstigt und entwickelt worden. Mit einer einzigen Ausnahme in der Geschichte Mittel- und Westeuropas, und zwar mit Ausnahme jener Periode, in der das muhamedanisch-arabische Reich im südwestlichen Europa und auf Sizilien die Herrschaft hatte – vom 10. bis 13. Jahrhundert – gab es keine Periode in Europa, in der die Juden nicht systematisch und gewaltsam durch die herrschenden Gewalten von jeder anderen Beschäftigung als dem Handel ausgeschlossen wurden. Nur in jenem durch die Araber begründeten Reiche waren die Juden völlig Gleichberechtigte. Doch hatten sie die Möglichkeit, in freier Tätigkeit sich zu entwickeln, und sie gelangten durch die ihnen innewohnende Intelligenz und Rührigkeit zu den höchsten Staatsämtern, sogar zum Vezirrat. Sie haben auch im Khalifenreich auf dem Gebiete der verschiedenen Wissenschaften, als Ärzte, Anatomen, Physiologen und Mathematiker, als Dichter und Denker eine hervorragende Rolle gespielt. Anders war es von Anfang an in der christlichen Kulturwelt. Judäa bildete die eigentliche Wiege des Christentums; sehr bald aber trat das Christentum in Feindschaft gegen das Judentum, aus dem es hervorgewachsen ist. Andererseits hegten die Juden einen tiefen Haß gegen die Christen, weil ein Teil der ersten Christen Juden waren und die Juden jene Abtrünnigen als räudige Schafe betrachteten und verfolgten. Nimmt man hierzu die Darstellung der christlichen Kirche, wonach die Verfolgungen und der Kreuzestod des Christus durch die Juden veranlaßt wurden, so begreift sich, daß neben dem materiellen dieses religiöse Moment, das die die Massen vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag beherrschte, die größte Feindschaft gegen die Juden hervorrufen mußte. Dazu kommt die fast überall bestehende Abneigung zwischen Menschen verschiedener Rasse, die namentlich bei Menschen auf niedrigerer Kulturstufe vorhanden ist. Wir sehen, wie noch heute in Europa sogar der Nationalhaß entflammt wird, den allerwärts die Bourgeoisie mit Vorliebe begünstigt. Galt es doch teilweise in Deutschland und in Frankreich bis vor nicht langer Zeit als eine Art Landesverrat, wenn man mit sogenannten Erbfeinden in Geschäftsverbindung trat, so sehr man sonst geneigt ist, Geschäfte und Profit zu machen. Massenabneigung erklärt sich aber um so leichter, wenn es sich, wie hier, um Massen handelt, deren Grundverschiedenheit in der Charakteranlage und im ganzen Wesen trotz zweitausendjährigen Nebeneinanderlebens in hohem Grade aufrecht erhalten worden ist. Hat dann noch der Jude das Malheur, durch sein Äußeres aufzufallen, so daß man ihm den Juden schon an der Nase ansieht (Heiterkeit), ist er also in den Augen seiner Feinde schon ein von der Natur Gekennzeichneter, so liegt hierin ein weiteres Moment zu Haß und Feindseligkeit.

Einer der Hauptvorwürfe, die man von antisemitischer Seite, scheinbar mit Recht, gegen das Judentum erhebt, ist, daß man sagt: wären die Juden nicht eine in jeder Beziehung eigentümliche Rasse, die grundverschieden von den Germanen ist und sein will, wie könnten sie dann noch heute ihre Separierung innerhalb der christlich.germanischen Gesellschaft aufrecht erhalten? Diejenigen, die so sprechen, vergessen, oder aber wissen nicht, daß die Juden bis in die neueste Zeit, besonders in Deutschland, gezwungen wurden, sich von der übrigen Bevölkerung getrennt zu halten, es sei denn, sie gaben ihren Glauben auf. Durch das ganze Mittelalter war eine in den Einzelheiten wechselnde, im ganzen jedoch ständige Gesetzgebung vorhanden, die die Juden nach allen Richtungen unterdrückte und sie geradezu zwang, in der Vereinsamung, im engsten Kreise mit ihren Glaubens- und Stammesgenossen zu leben. Dieser anderthalb Jahrtausende hindurch fortgesetzte Druck hat aber selbstverständlich in außerordentlich hohem Grade dazu beigetragen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter sich und den Abschluß von der übrigen Bevölkerung zu begünstigen. Wird eine Rasse eine lange Reihe von Generationen hindurch verfolgt und ausgeschlossen, wird sie durch den Zwang der Umstände genötigt, sich auf sich selbst zurückzuziehen, so ist nach dem Darwinschen Anpassungs- und Vererbungsgesetzen nur natürlich, daß die eigentümlichen Charaktereigenschaften dieser Rasse sich im Laufe der Zeit immer mehr entwickeln und vervollkommnen müssen. Die Verfolgung prägte dieser Entwickelung ihren besonderen Stempel auf, und so wurde das Judentum, was es heute ist. Die Gesetzgebungen des Mittelalters haben von Anfang gegen die Juden schwer gesündigt, indem sie dieselben nötigten, sich abzuschließen. Andererseits wurden damit aber auch selbstverständlich alle die Erscheinungen begünstigt, die man jetzt an den Juden in hohem Grade tadelt. Objektiv betrachtet, mit Unrecht, wenigstens nach meiner Auffassung. Nicht allein, daß man im Laufe der Jahrtausende durch die Gesetzgebung, namentlich in Deutschland, dem Judentum aufs feindseligste entgegengetreten ist und es mit Gewaltmitteln unterdrückte; es haben namentlich auch in der Periode vom zwölften bis zum vierzehnten Jahrhundert in Deutschland eine sehr große Reihe von Judenverfolgungen der gewalttätigsten Art stattgefunden, die notwendig das jüdische Volk zu der Entwickelung brachten, die bei ihm eingetreten ist. Von 1198 bis 1331, also in einem Zeitraum von 133 Jahren, haben in Deutschland nicht weniger als 52 große Judenverfolgungen stattgefunden, und an diesen haben sich alle größeren Städte der damaligen Zeit ohne Ausnahme beteiligt, so Köln, Mainz, Straßburg, Nürnberg, Augsburg usw. Ganz besonders auch Frankfurt a. M., d. h. gerade jene Stadt, in der bis heute die Juden eine so erhebliche Rolle spielen. Und es waren nicht Verfolgungen, wie wir sie z. B. unter dem Sozialistengesetz kennen lernten, sondern es waren solche der brutalsten und gewalttätigsten Art. Die Juden wurden wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens und nicht zuletzt wegen ihres Vermögens von Haus und Hof getrieben, geplündert, oft grausam mißhandelt und gemordet. Es gab Judenverfolgungen, in denen die Zahl der Opfer über zehntausend Betrug. Ich kann eine gewisse Bewunderung nicht unterdrücken für eine Rasse, die trotz all dieser Verfolgungen und Vergewaltigungen in ihrer Art sich dennoch weiter entwickelte und aufrecht erhalten hat. Es gibt in der ganzen Menschheitsgeschichte nur zwei Beispiele, daß Völker, die zersplittert und zersprengt unter fremden Völkern leben, noch nach Jahrtausenden in voller Reinheit sich erhalten haben. Das sind die Juden und die Zigeuner. (Heiterkeit.) Kein Volk, keine Raffe ist, soweit meine Kenntnis reicht, auf dem Erdboden vorhanden, von denen man ähnliches sagen kann.

Wurden aber einerseits häufig unter Billigung und Unterstützung der geistlichen und weltlichen Obrigkeit gegen die Juden Massenhetzen und Gewalttaten in Szene gesetzt, so war man andererseits an hoher Stelle auch öfter geneigt, den Juden eigenartige Begünstigungen einzuräumen. Das geschah besonders seitens einiger deutscher Kaiser. Da die Juden keinem deutschen Stamme angehörten, also in jener Zeit kein eigentliches Niederlassungsrecht besaßen, so waren sie der kaiserlichen Schutzherrschaft unterstellt. Das wollte freilich nicht allzuviel bedeuten, denn die deutschen Kaiser hatten bekanntlich häufig nur die formale Gewalt, undes fiel ihnen häufig schwer, gegen die Gewalt der Fürsten, der höheren geistlichen und weltlichen Herren aufzukommen. Die Juden galten nun als „des heliigen römischen Reiches Kammerknechte“, wie man sie nannte, und sie mußten, weil sie direkt unter kaiserlichem Schutze standen, jährlich ein bestimmtes Schutzgeld entrichten. Einzelne Kaiser benutzten diese Stellung der Juden und erhöhten das Schutzgeld, um höhere Einnahmen zu erzielen, wofür sie ihnen gestatteten, von zugeliehenem Gelde doppelten Zins zu nehmen.

Im Mittelalter war der Wucher von der Kirche auf das Strengste verpönt. Unter Wucher verstand man aber nicht, was man heute darunter versteht, das Nehmen ungewöhnlich hohen Zinses, sondern die Zinsnahme überhaupt. Zinsen zu nehmen war also verboten; es war unchristlich. Nach kirchlicher Auffassung tat der Schuldner seine Pflicht, wenn er allmählich das Kapital im Zins zurückzahlte. Das Zinsverbot steht aber mit der Natur des Kapitals im schroffsten Widerspruch, und so hatte bas Verbot wenig Wirkung, so große Mühe sich auch in dieser Beziehung geistliche und weltliche Herren gaben. Als aber die Kirche schließlich selbst in den Besitz großer Güter und Geldmittel kam und begann, für Verpachtung und Ausleihen Pacht und Zins zu fordern, trat sie selbst in die Reihen derer, die Wucher trieben. Sie handelte also gegen ihre eigenen Gebote. Sie verbot jetzt nicht mehr das Zinszahlen an sich, sondern sie ließ zu, daß ein Maximalsatz für Zinsen festgesetzt wurde. Es sollte über einen bestimmten Prozentsatz hinaus niemand Zinsen nehmen, erst dann wurde der Übertreter straffällig. Diese damals eingeführten Zinsbeschränkungen hatten bis in die neueste Zeit bestanden. Erst im Jahre 1868 wurde im Norddeutschen Reichstage ein Antrag auf Aufhebung derselben gestellt und angenommen und heute sind es die Antisemiten, die von neuem die Forderung aufstellen, die alten Zinsbeschränkungen wieder einzuführen und damit dem sogenannten Wuchertum entgegenzutreten. Im Mittelalter erließen z. B. die Kaiser mehrfach Verordnungen, nach denen z. B. der Christ sich mit 6 Prozent Zins begnügen müsse, während dem Juden gestattet wurde, bis 12 Prozent zu nehmen. Dementsprechend wurde das Schutzgeld der Juden festgesetzt. Die christlichen Kaiser begünstigten also damit selbst den Wucher der Juden.

Um diesen historischen Teil meiner Schilderungen, so weit er das Mittelalter betrifft, abzuschließen, sei angeführt, daß damals in der Hauptsache die Juden unter folgenden Ausnahmebeatimmungen, die vielfach bis in die Neuzeit Geltung hatten, zu leben hatten: 1. Sie durften keinen Grundbesitz erwerben noch besitzen. Sie waren also zu einer Zeit, in welcher der Besitz von Grund und Boden das hauptsächlichste Produktionsmittel war, von diesem ausgeschlossen. 2. Sie durften kein Handwerk betreiben; es verblieb ihnen also nur der Handel als Feld ihrer Tätigkeit. 3. Sie waren für unfähig erklärt zur Ausübung politischer Rechte. 4. Sie waren mit besonderen Abgaben belastet. 5. Es bestand für sie der Zwang, in bestimmten Stadtteilen oder Dörfern zu wohnen – das bekannte Ghetto, wie es bis vor wenig Jahrzehnten noch im christlichen Rom, der Hauptstadt des päpstlichen Kirchenstaates, bestand. 6. Sie waren gezwungen, äußere Kennzeichen zu tragen, die charakteristische Nase genügte nicht. (Heiterkeit.) Sie mußten besondere Kennzeichen an ihren Leibern anbringen, damit man sie schon von weitem als Juden erkennen konnte. 7. Sie durften keine Christen ehelichen. Der Jude war also, wenn er nicht Christ werden wollte, gezwungen, innerhalb des Judentums zu bleiben. Eine Annäherung an die christliche Welt ohne Glaubenswechsel war unmöglich. 8. Christen durften bei Strafe feine jüdischen Ärzte nehmen – und gerade auf dem medizinischen Gebiete haben Juden von jeher Ausgezeichnetes geleistet. 9. Christlichen Hebammen war es verboten, jüdischen Wöchnerinnen Beistand zu leisten. Allen diesen Bestimmungen lag also das Bestreben zugrunde, die Juden als Juden abgeschlossen von der ganzen übrigen Welt zu erhalten. Es wurde ihnen also schon von Staats wegen das Stigma als Geächtete aufgedrückt, das die Bevölkerung nur zu leicht geneigt war, ihnen aufzudrücken.

Diese Beschränkungen haben, hier und dort verschieben, im wesentlichen übereinstimmend bestanden bis in die neueste Zeit. So wurde erst 1812 in Preußen infolge der neuen Ära Stein-Hardenberg-Scharnhorst, die nach den Niederlagen Preußens von 1805/7 sich Bahn brach, eine Verordnung erlassen, die bestimmte, daß von jetzt ab die Juden zugelassen werden sollten a) zur Ausübung bürgerlicher Gewerbe, b) zum höheren Lehramt, c) zur Ausübung des Kriegsdienstes mit dem Anspruch auf Beförderung. Auch wurde ihre Zulassung zum Landbau und Grunderwerb und die Aufhebung der besonderen Juden-Abgaben ausgesprochen. Aber obgleich diese Verordnung Gesetzeskraft erlangte, war der tatsächliche Zustand der Juden noch nach Jahrzehnten kein anderer. 1833 sah sich die preußische Regierung veranlaßt, bei den Provinzial-Ständen anzufragen, welche Wirkung der Erlaß von 1812 auf die Stellung der Juden gehabt habe. Aus den Gutachten, die damals bei der Zentralstelle in Berlin aus den acht alten Provinzen eingingen, ist zu ersehen, daß darin die Stände übereinstimmten, daß trotz der Verordnung in der Stellung der Juden seit 1812 keine wesentliche Veränderung eingetreten war. Gleichzeitig sprachen sich die Provinzialvertretungen gemäß ihrem durchaus konservativen Charakter im wesentlichen übereinstimmend für die Wiederaufhebung der früher eingeräumten Freiheiten und für die Einführung neuer Beschränkungen aus. Man verlangte unter anderem, daß die Juden nicht zum Hausierhandel zugelassen würden; daß sie keine christlichen Dienstboten beschäftigen dürften; daß ihnen die Niederlassung aufs äußerste erschwert und insbesondere daß Verbot der Erwerbung von Häusern und Landbesitz aufs neue auferlegt werden müsse, desgleichen das Verbot, Ehrenämter zu bekleiden. Einzelne Stände verlangten, daß ihnen die Erwerbung des Staats- und Gemeindebürgerrechts überhaupt verweigert werde. Auch soIlte ihnen die Ausübung des Gastwirts- und Schankgewerbes verboten werden, beziehentlich es sollte sich diese Ausübung auf die eigenen Glaubensgenossen beschränken. Auch die Ausübung des Apothekergewerbes sollte ihnen verboten werden, beziehentlich auf ihre eigenen Glaubensgenossen beschränkt werden. Charakteristisch für die damaligen Verhältnisse ist, daß in Berlin in den 22 Jahren, von 1812 bis 1833, kein einziger Jude in der Stadtvertretung oder im Stadtrat saß, ein Zustand, den bekanntlich unsere Antisemiten auch heute noch als ihr Ideal ansehen. Aber damit waren die Versuche, die Juden unter neue Ausnahmebestimmungen zu bringen, keineswegs erschöpft. Zwar hatte das Jahr 1848, das in ganz Deutschland große Umwälzungen hervorbrachte, auch große Verbesserungen für die Juden in bezug auf ihre soziale und politische Stellung im Gefolge. Es war auch natürlich, daß nicht allein an allen Reformbestrebungen, sondern auch in den Revolutionsjahren jüdische Schriftsteller und Juden überhaupt sich hervorragend an der Bewegung beteiligten. Das ging aus der unterdrückten Stellung, die sie als Juden, als unterdrückte Rasse im Staate einnahmen, hervor. Kaum war aber die Revolution niedergeschlagen und waren die konservativen Mächte wieder im Besitz der Gewalt, so wurde auch bereits 1851 im preußischen Herrenhause der Antrag gestellt, den Artikel 12 der Verfassung, der die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährleistete und den Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis unabhängig erklärte, in der Art abzuändern, daß die Mitgliedschaft in einer der beiden Kammern, sowie der Zutritt zu den richterlichen und zu allen mit exekutiver Gewalt bekleideten Ämtern, auch wenn es Ehrenämter seien, nur den Angehörigen einer der anerkannten christlichen Kirchen zustehen solle. Ein solcher Antrag wurde in der preußischen ersten Kammer zu einer Zeit gestellt und verhandelt, in der das eigentliche Haupt der Feudalpartei, Stahl, ein Mann war, der selbst aus dem Judentum stammte, nur hatte er sich taufen lassen. (Heiterkeit.) Der Antrag fand aber nicht einmal im Herrenhause Zustimmung, er fiel ins Wasser. Schließlich sind durch die soziale und gewerbliche Gesetzgebung, die nach der Begründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches ins Leben trat, alle damals noch vorhandenen Beschränkungen der Juden aufgehoben worden. So wurden z. B. noch in den fünfziger Jahren im Königreich Sachsen Juden nur in Dresden und Leipzig geduldet, im übrigen Lande zu wohnen, war ihnen verboten. Die Verfolgung und Unterdrückung der Juden durch Ausnahmegesetze hat also bis in unsere Zeit gewährt. Wenn aber alle die Unterdrückungsmaßregeln, die, wie erwähnt, in abwechselnder Gestalt durch fast anderthalb Jahrtausende dauerten, nicht erreichten, was sie erreichen sollten, so müßte dies allein schon für die Judenfeinde ein Beweis sein, daß ihre Bestrebungen nicht durchführbar sind, auch dann nicht durchzuführen sind, wenn sie selbst einmal, woran gar nicht zu denken ist, zur macht gelangen sollten.

Es ist zu beachten, daß im ersten Jahrzehnt des Bestandes des Deutschen Reiches von einer antisemitischen Strömung in größerem Umfange nichts zu bemerken war. Daß stets es Leute gab, die den Juden nicht grün waren, die aus irgend welchen Ursachen einen Haß gegen sie hatten, ist unbestreitbar, aber daß diese feindselige Stimmung in einer greifbaren judenfeindlichen Organisation ihren Ausdruck fand, kann nicht behauptet werden. Das geschah erst gegen Ende der siebziger Jahre. Erst mit dem Jahre 1877 trat diese Bewegung als politische Erscheinung in die Öffentlichkeit. Insbesondere war es der sogenannte christliche Hofprediger Stöcker, der sich zum Wortführer dieser Bewegung aufwarf, der sie organisierte und der noch heute auf diese seine Tat stolz ist und sich ihrer bei jeder Gelegenheit rühmt. Wie kam das? Es war die natürliche Wirkung und Folge der ökonomischen Zustände, in die wir in Deutschland durch den großen Krach von 1874 gelangten. (Sehr richtig!) Der große Krach hatte eine allgemeine Depression, eine vollständige Niederwerfung des von 1871 bis 1874 währenden großartigen ökonomischen Aufschwunges herbeigeführt. Die Großunternehmungen aller Art, die in der Zeit des Aufschwunges auf den verschiedensten industriellen Gebieten ins Leben gerufen worden waren, machten durch die Massenhaftigkeit ihrer Produktion insbesondere dem Handwerkerstande starke Konkurrenz. Jetzt zum ersten Male wurde innerhalb des mittleren und kleinen Gewerbestandes das Gefühl allgemein, daß es mit ihnen abwärts gehe. Die ersten Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches, in der jene Prosperitätsepoche erstand, wie wir sie niemals vorher hatten und kaum je wieder bekommen werden, verbarg der Gesellschaft die wahre Natur der Dinge. Aber als mit dem Zusammenbruch dieser Epoche die große Krise hereinbrach, der vielfach selbst die großen Unternehmungen unterlagen, als die Konkurrenz so drückend, namentlich auf den Mittelschichten der Gesellschaft lastete, kam diesen nicht nur zum Bewußtsein, daß sie in eine bedenkliche ökonomische Lage geraten seien, sondern es entstand bei ihnen auch die Frage: Wem ist das geschuldet und woher kommt das? Nun haben die Juden – ich bemerke, daß, wenn ich von Juden spreche, ich hierbei immer die Mehrheit von ihnen im Auge habe – ganz unbestreitbar im Vordergrunde unserer wirtschaftlichen Entwickelung gestanden, seitdem sie die volle Gleichberechtigung nach allen Richtungen hin erlangt hatten, und nachdem durch unsere Sozialgesetzgebung: die Gewerbeordnung, die Freizügigkeit- und Niederlassungsgesetze, die Handels- und Zollgesetzgebung, wie sie durch den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich geschaffen worden war, sich der kapitalistischen Entwickelung neue Bahnen mit ungeahntem Erfolge eröffneten. Bei der nicht geringen Zahl großer Geldleute (Bankiers und Leiter von Bankinstituten), die sie in ihrer Mitte zählen, standen sie überall mit im Vordergrunde der zahllosen Gründungen oft sehr bedenklicher Art, die in den Jahren 1871–1874 ins Leben gerufen wurden. Ebenso standen und stehen sie an der Spitze der Handelsunternehmungen auf den verschiedensten Gebieten. Der Handel wird auch von den sogenannten Christen als lukratives Unternehmen angesehen, weshalb alles sich nach dem Handel drängt. Wer nicht mehr weiß, wie er sich eine selbständige Existenz gründen kann, beginnt irgend einen Handel. Die Juden aber sind, aus den schon angeführten Ursachen, ihrer Zahl nach überwiegend Handeltreibende und sie sprechen hier als die Kapitalkräftigeren und die Geübteren unf Geriebeneren ein sehr bedeutendes Wort mit. Die Tatsache, daß die Juden ungewöhnlich stark im Handel vertreten sind und sich hier den sogenannten Christen gegenüber meist überlegen zeigen, hat Feindschaft und Neid gegen sie hervorgerufen. Ihre Konkurrenz ist eine gefährliche und sie wenden vielfach Praktiken an, denen der minder gewandten Gegner unterliegt. Marx spricht sich in einer Schrift aus den vierziger Jahren Über die Judenfrage folgendermaßen aus:

„Was ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.

Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher.

Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.

Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen realen Judentum, wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit ...

Die Judenemanzipation ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“

Marx sagt also: unsere ganze Gesellschaft ist Schacher und Streben nach Geld und damit eine verjudete Gesellschaft das, was man dem Juden, weil er Jude ist, zuschreibt, in Wahrheit die Natur unserer bürgerlichen Gesellschaft. Wollen wir also den Juden von den diesen eigentümlichen Charaktereigenschaften befreien, so kann das nur geschehen, indem wir die Gesellschaft davon befreien. Mit der bürgerlichen Gesellschaft fällt auch das dem Juden eigentümliche Wesen.

Kein Zweifel, daß das, was man Schacher nennt, einen großen Teil der Juden besonders auszeichnet. Unter Schacher versteht man bekanntlich etwas mehr oder auch etwas weniger als Handel, das heißt, man versteht darunter den Handel um den kleinsten Profit, den Handel mit Dingen, mit denen andere sich nicht gern abgeben, mit Dingen , die anderen unscheinbar, oder wertlos, oder gar verächtlich erscheinen. Der Schacherer nimmt dabei mit dem geringsten Gewinn vorlieb. Mit dem bescheidensten Vorteil sich zu begnügen, wenn es sein muß, dadurch zeichnet sich ein großer Teil der jüdischen Händler aus, und das beweist, daß sie besser wie andere zu rechnen verstehen. Sie haben längst erkannt, daß das „die Masse muß es bringen“ auch ein Weg zur Kapitalbildung ist. Viele Juden, die an der Spitze der Kapitalmacht stehen, sind durch den Schacher entweder persönlich oder durch ihre Vorfahren letzter Ordnung zu dieser Stufe emporgekommen. Nun sind die Juden zwar in ihrer Gesamtheit der germanischen oder arischen Bewohnerzahl gegenüber gering an Zahl, aber sie bilden als hauptsächlich Handeltreibende gegenüber den übrigen Handeltreibenden einen verhältnismäßig großen Prozentsatz und sind daher eine unangenehme Konkurrenz. Deshalb hat der Antisemitismus besonders in den Handeltreibenden Kreisen starken Anhang gefunden. Sie Handelsgebiete, auf welchen das Judentum in hohem Grade als entscheidender Faktor auftritt, sind sowohl der Zahl als der Art nach von großer Bedeutung für die Gesellschaft. So ist für den Handel mit Manufakturwaren im weitesten Sinne das Judentum maßgebend; für den Handel mit Agrarprodukten ist es unbestreitbar ausschlaggebend. In weiten Gegenden Deutschlands, so in den beiden Hessen, in Nassau, der Pfalz, Elsaß-Lothringen, Baden und Württemberg, in den meisten Provinzen Bayerns, in Thüringen usw. sind es Juden, die ausschließlich oder nahezu ausschließlich den gesamten Handel in Agrarprodukten in der Hand haben. Seinerzeit hat ein Genosse im Vorwärts einen Artikel veröffentlicht Über die Ursachen des Antisemitismus, in dem er in bezug auf Hessen den Ausspruch tat, den ich schon früher wiederholt getan: „Überall tritt der Jude dem Bauern als Käufer und Verkäufer gegenüber, dem Bauern gegenüber ist der Kapitalist der Jude, Jude und Kapitalist sind für den Bauern identische Begriffe.“ Nun zeigt aber die Entwickelung auf agrarischem Gebiet, insbesondere durch die Zufuhren an Getreibe, Fleisch usw. aus fernen Weltteilen, daß die angeblich zum Schutze des Bauernstandes ins Leben gerufenen Schutzzölle ihm fast nichts nützten. Er sieht, wie die Ansprüche an ihn immer größer, die Konkurrenz immer drückender wird, so kommt er zur Einsicht, daß die schönen Versprechungen, die ihm die Konservativen, UItramontanen und Nationalliberalen jahrzehntelang machten, ihn nicht geholfen haben. Wohl aber wurde seine materielle Lage schlechter. So wirft er sich denen in die Arme, die auftreten und ihm predigen: „Alles, was Euch bisher versprochen wurde, ist falsch; schafft den Juden aus der Welt, der Euch aussaugt! Bringt Ihr das fertig, dann ist für Euch die Periode des Friedens und des Glücks wieder vorhanden.“ Es ist ein sehr einfaches Rezept, das der Antisemitismus bereit hält und mit dem seine Anhänger als Demagogen schlimmster Art auf den Bauernfang gehen. (Sehr richtig!) Der kleine Bauer, der kleine Handel- und Gewerbetreibende, hat erklärlicherweise keine Neigung, ohne Widerstand und ohne daß er nach Hülfe sich umsieht, in diesem Entwickelungskampf unterzugehen. Er greift nach einem Strohhalm. Was ist es, daß uns die Agitation in diesen Kreisen so erschwert? Daß wir als ehrliche Leute diesen Klassen sagen müssen: Wir haben keine Heilmittel, die Euch als Handwerfer, als Kleinbauern, als Kleinhändler auf die Dauer innerhalb der heutigen Gesellschaft retten können! (Sehr richtig!) Wenn wir mit Engelszungen reden könnten, unser Anhang wird unter diesen Umständen zunächst ein verhältnismäßig schwacher sein. Genosse Katzenstein tat den Ausspruch: wir haben noch keinen einzigen Bauern für unsere Partei gewonnen. Dieser Ausspruch ist nicht richtig, wir haben solche allerdings gewonnen. Wir haben sogar wirkliche und wahrhaftige Bauern aus der Nähe Kölns in diesen Tagen hier unter uns gehabt und sind an mich herangetreten. Es waren echte Bauern, die erklärten, zu uns zu gehören. Und wir haben auch anderwärts solche in Menge. Ich erinnere an Mecklenburg, an Holstein usw. Wir haben sogar, wie uns die Vertretung auf dem Parteitag in Hannover zeigte, eine kleine Anzahl Großgrundbesitzer in unseren Reihen, und zwar vornehmlich in Ostpreußen, woselbst sogar die liberalen Großgrundbesitzer fast ausgestorben sind. Viele Bauern sind auch nicht so dumm, als man sie schätzt. Kommt ein geschickter Agitator, der den Bauern zu sagen weiß, wo sie der Schuh drückt, und ihnen zugleich beweisen kann – und nichts läßt sich nach meiner Auffassung leichter beweisen –, daß erst unter der Herrschaft des Sozialismus die Grund- und Bodenverhältnisse so organisiert werden können, daß der Bauer ein wirklich freier Mensch, ein voller Kulturmensch, wird, dann ist auch der einsichtige Bauer zu gewinnen. Wir müssen unser Augenmerk darauf richten, daß neben der Kritik der Übelstände auch die politischen Heilmittel erörtert werden, die unser Standpunkt erfordert, die sich aber nicht von heute auf morgen verwirklichen lassen. Aus diesem Grunde ist unser Standpunkt kein leichter, denn das erfordert Nachdenken und einen gewissen Idealismus. Das ist bei den Antisemiten anders. Die fragen sich nicht, ob die Heilmittel, die sie vorschlagen, auch in Wirklichkeit so beschaffen sind, daß sie durchgeführt werden können . Diese Frage können sie nicht an sich richten, sonst könnten sie eine Reihe ihrer Forderungen gar nicht aufstellen. (Sehr wahr!) Es ist für sie auch nebensächlich, ob ihre Forderungen durchführbar sind und helfen, sie wissen, daß sie nie ein Machtfaktor werden, der entscheidend mitwirken kann. Haben sie aber wirklich einmal, wie im Juli 1892 im Reichstage, ihre zwölf Vertreter die Entscheidung in der Hand, so erklärten sie sich stets für die Reaktion. Diesesmal stimmten sie für die große Militärvorlage, ein andermal werden sie für eine andere verderbliche Maßregel stimmen, sie werden stets nach ihrer Natur, die durch und durch reaktionär ist, für die Reaktion eintreten. (Sehr richtig!) Täuschen wir uns also nicht: Wir können nicht, wenn wir nicht Demagogen der gemeinsten Art sein wollen, dem Bauern-, dem kleinen Gewerbe- und Handelsstand gegenübertreten und Forderungen entwickeln, von denen wir uns sagen müssen, daß sie den Nöten dieser Klassen nicht abhelfen. Das werden wir nicht tun, weil wir nichts tun können, nichts tun dürfen und nichts tun werden, was unserer inneren Überzeugung nach entweder undurchführbar ist oder ein Scheinmittel ist, was nicht hilft. (Lebhafte Zustimmung.)

Die Demagogie ist es, die dem Antisemitismus bei den Bauern aufgeholfen hat, zahlreiche Erscheinungen, wie die Wahl Fusangels gegen das offizielle Zentrum in einem rein bäuerlichen Wahlkreise, die Opposition der sogenannten Bauernbündler gegen das Zentrum in Bayern und anderwärts, trotz aller Frömmigkeit und allem Katholizismus, was beweist das anders als die Erkenntnis der Bauern, daß es so nicht weiter geht, und zugleich, daß das Zentrum die erwartete Schuldigkeit auf ökonomischem Gebiete nicht getan hat. Das Zentrum ist seiner Geschichte nach eine Partei, die in erster Linie die Interessen der katholischen Kirche gegenüber dem protestantischen Kaiserreich zu vertreten hat. Das war der Ursprung seiner Gründung im Jahre 1870. Aber das Zentrum mußte, sollte es zu einer großen Partei werden, auch die materiellen Interessen der von ihm vertretenen Volksschichten wahrnehmen. In erster Linie diejenige der Bauern, aber auch die der Arbeiter, die sehr oft mit denen der Bauern im Widerspruch stehen . Daher sein doppelzüngiges Wesen und die Eiertänze, die es unausgesetzt aufführen muß. Wie steht nun in den verschiedensten Gegenden Deutschlands der Bauer zum Junker? Verkauft der Bauer seine Kartoffeln, sein Getreide, seinen Wein, seinen Hopfen, seinen Raps, wer sind in der Regel die Käufer? Mit verschwindenden Ausnahmen Juden. Wer sind diejenigen, die ihm Kapitalien leihen, die sein Vieh kaufen oder verkaufen? Fast ohne Ausnahme Juden. Auf dem Berliner Viehmarkt sind alle Händler Juden. Der ganze Viehhandel, auch der Engros-Handel, liegt überall in den Händen der Juden. Es ist also nur zu erklärlich, daß alle diese Umstände, und was ich sonst über Entwickelung und Charakter der Juden anführte, den Antisemitismus hervorgerufen haben.

Besonders leidet unter den heutigen Verhältnissen auch der kleine Gewerbestand, der verloren ist unter der großartigen kapitalistischen Entwickelung, die sich, seit 1871 in Deutschland in einem Maßstabe vollzog, wie sie ähnlich in so kurzer Zeit nur noch in den Vereinigten Staaten Nordamerikas erfolgt ist. Ich will hier nicht darauf eingehen, wie diese ungemein rasche Entwickelung Deutschlands die notwendige Folge war der langen künstlichen Zurückhaltung und der vorhandenen Kräfte durch die Kleinstaaterei, durch eine veraltete und verrottete Sozialgesetzgebung usw. Das Großkapital tritt immer mehr in Konkurrenz mit sich selbst, es schlägt nicht allein den Gewerbetreibenden und Handwerker tot, sondern auch bereits den mittleren Kapitalisten und frißt ihn auf. Je rascher nun diese kapitalistische Entwickelung sich vollzieht, desto mehr häuft sich das Kapital in den Händen einer Minderheit. Immer neue großindustrielle Verkehrsunternehmungen treten ins Leben. Die Schutzzölle, die zuerst im Jahre 1879 angeblich zur Rettung von Handwerker- und Bauernstand eingeführt wurden, haben die Entwickelung des Großkapitals besonders begünstigt; sie gerade beförderten die Ansammlung riesenhafter Kapitalien in wenigen Händen. Durch sie wesentlich ist möglich geworden, daß unsere Kapitalistenklasse, bestehend aus einigen hunderttausend Köpfen, jährlich tausende Millionen Mark aufhäuft, um diese in neuen industriellen Unternehmungen anzulegen oder zur Bildung eines landwirtschaftlichen Latifundienbesitzes zu verwenden. Das Judentum ist hierbei stark beteiligt.

Insbesondere tritt auf Gebieten, die bis vor kurzem fast ausschließlich dem Kleingewerbe angehörten, der jüdische Kapitalist immer mehr als Konkurrent auf. So in der Schuhmacherei, der Schneiderei, der Wäschefabrikation usw. Wer hat den Handel mit Kleidern, sowohl mit neuen wie mit alten, in Händen? Juden. Die Haupthändler für Schuhwaren sind Juden; die Besitzer der Schuhwarenfabriken sind zu einem großen Teil Juden. Der Jude, der überall als Handeltreibender, als Kapitalift en gros, also als Ausbeuter der Arbeitskraft austritt, der als Unternehmer in der Hausindustrie eine Menge von kleinen Gewerbetreibenden, wie Schuhmacher, Schneider, Weber, Tischler, Kleineisenwarenproduzenten usw. beschäftigt, er ruft auch in den Kreisen der Kleingewerbetreibenden den Antisemitismus hervor. Auch hier deckt sich vielfach der Begriff Kapitalist mit Jude. Ruft man diesen wie den Bauern zu: Schafft den Juden weg, dann wird Eure Lage eine andere sein! so fallen diese kleinen Gewerbetreibenden in Scharen dem Antisemitismus zu. Unsere Kleingewerbetreibenden, unsere Bauern sind sehr unwissend in allem, was das wirtschaftliche und politische Leben betrifft; sie haben in ihrer engen sozialen Stellung keinen Überblick. Ihr Ideal liegt in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Und so unterstützen sie alles, was nach ihrer kurzsichtigen Auffassung dieses Ideal aus der Vergangenheit in die Zukunft zurückführen könnten. Stellt man den antisemitischen Demagogen offen die Frage: Glaubt Ihr, daß es möglich wäre, die Zustände des fünfzehnten, des sechzehnten Jahrhunderts wieder herbeizuführen, jene Zeit, in der das Handwerk seinen „goldenen Boden“ hatte? dann müssen sie allerdings mit Nein antworten, aber alle ihre Bestrebungen sind nur unter Zuständen, wie sie jenes Zeitalter hatte, zu verwirklichen. Aber sie klären ihre Anhänger darüber nicht auf, das dürfen sie nicht. Diese folgen in ihrem Drange, um jeden Preis gerettet zu werden, blindlings den Schlagworten derer, die ihnen sagen: „Tretet nur für uns ein, wählt uns, dann wird es anders.“ In der Tat, wenn irgendwer mit Unverschämtheit und Unverfrorenheit vor die Wähler tritt und ihnen zuruft: Wählt nur mich und Ihr werdet sehen, daß, bin ich erst im Reichstage, es anders wird, so ist das bei den antisemitischen Agitatoren der Fall. (Lebhafte Zustimmung.) Ein Sozialdemokrat kann und darf so nicht sprechen, er würde mit dem Besen von seinen eigenen Parteigenossen aus der Versammlung gefegt, täte er das. (Große Heiterkeit.) Weiter. Das Reich, der Staat, die Kommune vergeben große Lieferungen für ihre Zwecke; selbstverständlich sehen sie darauf, daß sie diese Lieferungen billig bekommen. Wer kann billig, wer massenhaft liefern? Nur der, der das Rohmaterial im großen und darum billig einkauft, der die Vorteile der Massenproduktion ausnutzen kann, weil er das Kapital zur Verfügung hat! Das sind sehr häufig wieder die Juden. Daher kommen die Militär-, die Staats-, die Gemeindelieferungen so oft in die Hände von Juden. Drückt dann der Jude wieder die Handwerker, weil er die Lieferungen zu niedrigen Preisen übernahm, so ist diese Tatsache im Zusammenwirken mit der Abneigung gegen einen durch Rasse und Religion verschiedenen Volksstamm nur zu geeignet, den Haß und die Feindschaft gegen die Juden im allgemeinen auf ihren Höhepunkt zu treiben. Der sogenannte christliche Kapitalist macht es meist nicht anders, aber von ihm duldet der „germanische“ Handwerker, was ihn bei dem Juden empört.

Aber es sind nicht nur die Schichten der Bauern, Gewerbetreibenden und Handeltreibenden, in welchen der Antisemitismus zahlreich Anhang hat. Die Feindschaft gegen die Juden geht weiter. Zahlreiche Kreise unserer Beamtenwelt sind ebenfalls antisemitisch. Wie erklärt sich das? Scheinbar haben diese keinen Grund, denn ihnen tritt der Jude noch nicht als Konkurrent gegenüber. Sicher nicht. Aber ein großer Teil unserer Beamten ist schlecht bezahlt, und infolge dieser schlechten Bezahlung und der sogenannten standesgemäßen Lebensweise, oder was er dafür hält, macht er Schulden. Da er nichts besitzt, womit er bei Darlehen Garantie zu leisten vermag, muß er zum Wucherer, zum Halsabschneider gehen. Wer wird dem Beamten etwas borgen und das Risiko eingehen, nichts wiederzuerhalten, da das Gesetz für Beträge bis zu einer gewissen Höhe des Gehaltes die Einklagung unmöglich macht? Der Darleiher ist also auf das Vertrauen angewiesen, das er zu dem Beamten hat. In nicht wenigen Fällen läßt der Beamte den Gläubiger hineinfallen, oder richtiger gesagt, er muß ihn hineinfallen lassen, weil er nicht zahlen kann. Es werden also nach dem herrschenden ökonomischen Gesetz: „einem großen Risiko muß auch ein großer Gewinn gegenüberstehen“ Wucherzinsen genommen. Der Nutzen auf der einen Seite soll nicht nur den Schaden auf der anderen ausgleichen, sondern es muß auch mit dem steigenden Risiko die Risikoprämie wachsen. Diese Theorie hat nicht ein Jude aufgestellt, sondern es ist, den französischen und englischen Ökonomen folgend, der verstorbene Hermann Schulze-Delitsch, der sie in Deutschland predigte. Wer sind nun wieder zum größten Teil die Wucherer? Unleugbar Juden. Man sagt den Juden nach, sie seien feig. Ich bin der gegenteiligen Ansicht. Niemand riskiert mehr als der Jude, er riskiert jedenfalls mehr als die meisten seiner arischen Mitkonkurrenten, und daher betreibt er diese Art von Geschäften mit Vorliebe. In Hannover sehen wir gegenwärtig ein ähnliches Schauspiel sich entwickeln, in welchem Juden die Hauptangeklagten sind – allerdings Individuen der verkommensten Art, wie denn diejenigen, die solche Geschäfte betreiben, keine edlen Charaktere genannt werden können. Es ist also begreiflich, daß auch innerhalb der Beamtenschaft, die vielfach bis über die Ohren verschuldet ist, der Antisemitismus Boden hat. Ein anderes kommt hinzu: Unter der Fahne des Antisemitismus können die Beamten, was sie sonst nicht dürfen, Politik treiben, und sie können unter Umständen sogar ein wenig Opposition gegen die Regierung machen; es ist die polizeistaatlich erlaubte Opposition, die sonst für den Beamten unmöglich ist. (Sehr richtig!) Die Beamten dürfen sonst nur konservative Versammlungen besuchen und dort als Redner auftreten; aber da es in diesen Versammlungen meist entsetzlich langweilig zugeht, während in den antisemitischen Versammlungen häufig Radau und Aufregung herrschen, ein Genuß, den die ans Gehorchen und Mundhalten gewöhnten Beamten selten haben, so gehen sie lieber in diese letzteren, namentlich da auch ihrer Loyalität und Königstreue, die sie zur Schau tragen müssen, kein Zwang angetan wird. (Heiterkeit.) Ferner hat der Antisemitismus Anhang in den Offizierskreisen, und zwar aus denselben Ursachen, wie in den Beamtenkreisen. Antisemitisch ist auch ein großer Teil des Feudaladels. Unser Junkertum ist zum Teil aus Verschwendungssucht, zum Teil wegen der Ausgaben, die es aus Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung machen muß, dem Wucherer in die Hände zu fallen gezwungen. Seine Söhne, die meist Offiziere werden, erfordern große Zuschüsse, um „standesgemäß“ auftreten zu können. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Da ist meist der Jude der Retter. Der Jude ist der Darleiher von Geld und Hypotheken und tritt nachher als Käufer der Rittergüter auf. Er wird also sogar Rittergutsbesitzer. Das sind Gründe genug, weshalb der Feudaladel sich im antisemitischen Lager befindet. Das hält freilich einen Teil unserer Hochedelgeborenen nicht ab, nach einem jüdischen Goldfisch zu angeln, um mit dessen Gelde das altadelige Wappen aufs neue zu vergolden und die brüchig gewordene Existenz zu retten. (Heiterkeit.) Wer die Memoiren von Busch: Fürst Bismarck und seine Leute gelesen hat, wird sich eines drastischen Wortes erinnern, das Bismarck über die eheliche Verbindungen von Christen und Juden ausgesprochen hat. Aus Anstandsrücksichten kann ich das Wort hier nicht wiederholen. (Heiterkeit und Sehr gut!)

Zu den erwähnten kommt noch ein antisemitisches Element, das ebenfalls erwähnt werden muß, und sogar innerhalb der antisemitischen Bewegung einen gewissen Einfluß hat: Das sind die Studenten. Der größte Teil derselben ist heute antisemitisch. Aber diese können doch nicht aus materiellen Ursachen gegen die Juden gestimmt sein? Und doch ist dieses der Fall. Der Konkurrenzkampf, der gegenwärtig auf allen Gebieten der materiellen Produktion sich täglich schärfer zuspitzt und die Vernichtung der Schwächeren herbeiführt, spielt auch innerhalb der Gelehrtenkreise, innerhalb der mit höherer Bildung ausgestatteten Kreise, eine entscheidende Rolle. Ich habe schon in der ersten Auflage meines Buches Die Frau ausgeführt: Wir leiden nicht nur an einer Überproduktion an Waren, sondern auch an einer solchen an Intelligenz. Je mehr die jetzige Entwickelung fortschreitet, desto unmöglicher wird es den Eltern des Mittelstandes, ihre Söhne materiell so auszustatten, daß sie als Gewerbetreibende, als Bauern usw. ihre Existenz aufrecht erhalten können. Diese Verhältnisse zwingen zahlreiche Familien, ihre Söhne den Hochschulen zuzuweisen und mit dem letzten Aufwand ihrer Kräfte ihnen das Studium auf denselben zu ermöglichen, damit sie in die Staats- oder Gemeindeverwaltungskarriere kommen und dort versorgt werden. Sehen Sie sich doch in unseren gewerblichen Kreisen um! Unseren Gewerbetreibenden fällt es kaum noch ein, ihre Söhne Handwerker werden zu lassen; sie wissen genau, daß dabei nichts mehr herauskommt, daß ihre Söhne verloren sind, wenn sie auf das Handwerk oder den Kleinhandel ihre Existenz gründen sollen. Sie lassen dieselben als Einjährige dienen und schicken sie auf die Universität. Hat der junge Mann seine Studien absolviert, so sucht er in irgend eine Beamtenstellung zu kommen, oder er wird höherer Lehrer, oder Jurist, oder Arzt, oder er geht als Architekt oder Ingenieur oder Chemiker oder Elektriker oder dergleichen in ein großes industrielles Unternehmen, wo, in eine Stellung, welche ihm ohne Kapital eine entsprechende Existenz gewährt. Aber auch auf diesen Gebieten ist durch den übermäßigen Zudrang ein solches Überangebot von Kräften entstanden, daß heute kein Zweig höherer geistiger Tätigkeit mehr vorhanden ist, in dem das Angebot von Kräften nicht zu der Nachfrage im stärksten Mißverhältnis steht. Für diese Entwickelung ist eine Erscheinung besonders charakteristisch. In den siebziger Jahren, als der sogenannte Kulturkampf in höchster Blüte stand, wuchs mit dem Kampf gegen die Kirche auch die Abneigung der Söhne der sogenannten höheren Schichten, Geistliche zu werden. Die Neigung, das theologische Studium zu ergreifen, ließ nicht nur bei den Protestanten, sondern auch bei den Katholiken nach, und es blieben deshalb viele selbst gut dotierte Pfarrstellen jahrelang unbesetzt. Erst in den achtziger Jahren, als auf allen übrigen Gebieten, auf dem juristischen, dem mechanischen, im Berg- und Forstwesen, im höheren Schulwesen usw. usw. die Konkurrenz der Kräfte so überhand nahm, daß die jungen Leute Jahre warten mußten, ehe sie eine feste Einstellung erhalten konnten, und darum Staats- und Gemeindebehörden öffentlich vor dem Ergreifen der verschiedensten Karrieren warnen mußten, hat man sich, „der Not wieder gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, dem Studium der Theologie wieder zugewandt, und so sind heute alle Pfarrstellen besetzt. Das ist, nebenbei bemerkt, ein Beweis, wie materiell auch die Religion sogar von ihren amtlichen Vertretern aufgefaßt wird.

Bei der Wohlhabenheit und dem Reichtum der Juden und bei ihrem unzweifelhaft vorhandenen Streben nach höherer geistiger Bildung, besuchen zahlreiche Juden auch die Universitäten und Hochschulen aller Art, sie verstärken also das Angebot der Kräfte. Darin liegt der erste Grund für unser sogenanntes germanisches Studententum, antisemitisch zu sein. Ein anderer Umstand kommt hinzu, und dieser gilt nicht bloß für die Universitäten, sondern auch für alle übrigen Zweige der Tätigkeit, für materielle wie geistige. Es ist unleugbar, daß die Juden sich durch große Ausdauer, Fähigkeit und auch Nüchternheit auszeichnen. (Zwischenruf: Oho!) Ja, Genosse Schoenlank, gewiß! (Heiterkeit.) Unsere Handwerker, unsere Händler, unsere Kaufleute glauben vielfach, den Tag nicht gehörig verlebt zu haben, an dem sie nicht einen Frühschoppen von ein paar Stunden machen. Das fällt dem jüdischen Geschäftsmann nicht ein, der bleibt in seinem Geschäft. In bezug auf den Genuß von Spirituosen kann der Jude sogar vielfach als das Ideal unserer Antialkoholisten gelten. (Heiterkeit.) Als Student studiert auch der jüdische Student, aber der sogenannte germanische Student schlägt den größten Teil seiner Zeit in Kneipen, auf dem Fechtboden oder an anderen Orten, die ich nicht nennen wilI, tot. (Heiterkeit.) Der Graf Mirbach hat vor einigen Jahren einmal in einem öffentlichen Blatte eine Warnung erlassen. Der große Luxus, den auf den Universitäten die Korpsverbindungen, namentlicht die Mitglieder der Bonner „Borussia“, trieben, müsse aufhören. Man ließe sich noch gefallen, wenn der Sohn, ausschließlich der Kosten für den Einjährigen, nicht mehr als 4.000 Mk. pro Jahr verbrauche, aber darüber hinaus könnten viele Väter nicht leisten. Die Juden dagegen sind meist fleißig, sie lernen tüchtig und im Examen schlagen sie alsdann häufig ihre germanischen Kommilitonen, die einen großen Teil ihrer Zeit wie angedeutet vergeudet haben. Würden alle Studenten ähnlich arbeiten und studieren, wie es die Juden größtenteils tun, der preußische Kultusminister Dr. Bosse hätte keine Veranlassung gehabt, vor Jahren einen Vortrag über den mangelnden Studieneifer der Studenten, die sich der Jurisprudenz widmeten, und über die geringen juristischen Kenntnisse der Kandidaten der Rechte zu halten. Er wies damals darauf hin, wie gründliche Kenntnisse bei den jungen Juristen immer seltener würden, wie dagegen dieselben vielfach Streber seien, die durch gute Gesinnung zu ersetzen suchten, was ihnen an Wissen und Charakter abgeht. Würde man die Juden, im Widerspruch mit Verfassung und Gesetz, nicht von allen offiziellen Stellungen im Staat, vom Richterstuhl, der Professur, der Verwaltungslaufbahn, ausschließen, unsere studierten Germanen würden ihr blaues Wunder erleben, wie wenig Plätze für sie noch übrig blieben. Es ist also auch hier begreiflich, daß unser germanisches Studententum in der immer größer werdenden Konkurrenz der Juden sehr unangenehme Mitbewerber sieht und deshalb fanatisch dem Antisemitismus huldigt.

Ich habe hiermit die Hauptgründe entwickelt, die nach meiner Auffassung in vollstem Maße dazu beitragen, den Antisemitismus zu der Erscheinung zu machen, die er heute geworden ist.

Aufgefallen ist allgemein das ungemeine Wachstum, das der Antisemitismus bei den letzten Reichstagswahlen namentlich in Sachsen zeigte. Es fiel auf, hat gerade dort, wo verhältnismäßig wenig Juden sind, der Antisemitismus so starken Boden fand. Aber es kommt bei der heutigen Organisation der Gesellschaft nicht darauf an, ob der Jude persönlich am Platze ist, sondern ob und wie er sich als Konkurrent bemerkbar macht. Als solcher macht er sich aber überall bemerkbar. Als Kaufmann, als Großgewerbetreibender, als Reisender, der den Kleingewerbetreibenden und den kleinen Handelsmann empfindlich schädigt. Dazu kommt, daß wenn irgendwo die Konservativen im allgemeinen sich durch ein besonderes Maß von Charakterlosigkeit und Kriecherei nach oben auszeichnen, dies von den sächsischen Konservativen gesagt werden muß. Dies war ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit der Wähler mit ihrer bisherigen Vertretung, der zur den ErfoIgen der antisemitischen Agitatoren geführt hat. Einesteils schmeichelten sie den rückständigen Aspirationen und Hoffnungen des kleinen Mittelstandes, anderenteils traten sie mit scheinbar radikalen politischen Forderungen auf und erweckten damit bei dem im Innern demokratisch gesinnten Kleinbürgertum Sympathie. Ob aber der Antisemitismus sich auf die Dauer in Sachsen halten wird, bezweifle ich.

Warum ist heute eine bürgerliche Demokratie, wozu ich die Antisemiten nicht zähle, in Deutschland nicht mehr möglich? Warum tritt sie, auch dort, wo sie bisher eine gewisse Bedeutung hatte, immer mehr zurück? Weil der kleine Handwerker, und Bauernstand mehr und mehr an Bedeutung verliert. Die freie Bauernschaft, die städtische Kommune im Mittelalter waren der Boden für die Demokratie, die ihrer Natur nach kleinbürgerlich ist. Heute ist an Stelle der Demokratie der Liberalismus, der politische Repräsentant der Bourgeoisie, getreten, die infolge ihrer sozialen Nacht vielfach Kleinbürger, Bauern und Arbeiter zur Heeresfolge zwingt. Die Elemente, die sich von der Leitung der Bourgeoisie freigemacht, folgen jetzt zum Teil dem Antisemitismus, der ihnen die Befreiung aus ihrer sozialen Not verspricht. Je schwieriger nun der Existenzkampf für die erwähnten Schichten wird, je mehr sie fühlen, daß sie dem Untergang entgegeneilen, um so mehr wird innerhalb dieser Schichten die antisemitische Bewegung zunehmen. Darüber täuschen wir uns nicht. Wir werden also einstweilen in diesen Kreisen agitatorisch wenig erreichen können. Aber wir kommen an die Reihe, sobald der Antisemitismus abgewirtschaftet hat. Sobald jene Schichten durch bittere Erfahrungen, vor allem durch das Verhalten ihrer antisemitischen Führer im Reichstage erkennen, daß sie auch von jenen getäuscht wurden, kommt die Stunde unserer Ernte. (Zustimmung.) Ist es also hiernach vollkommen erklärlich, daß der Antisemitismus das wurde, was er bei den letzten Wahlen geworden ist, so ist auch sicher, daß er in den nächsten Wahlen in einzelnen Gegenden noch wachsen wird; aber er wird in keinem Kampfe um die Herrschaft genötigt sein, wider seinen Willen über sein Ziel hinauszugehen. Die Richtigkeit dieser Ansicht hat sich schon bewiesen, nämlich bei der Stellung Ahlwardts gegenüber seinen bäuerlichen und kleinbürgerlichen Wählern. Ahlwardt trat Arm in Arm mit dem Junkertum in den Kampf ein und wurde gewählt. Allmählich aber ist er durch die Stimmung des Hauptteiles seiner Wähler genötigt worden, die Parole auszugeben: Wider Juden und Junker! Sobald aber der Moment gekommen ist, wo es für den Antisemitismus nicht mehr ausreicht, bloß gegen die Juden zu gehen, sondern wo er genötigt wird, gegen das Kapital überhaupt Front zu machen – und darin kommt er in seinem Kampfe gegen die jüdischen Kapitalisten von selbst; das gilt auch bereits für die hessische Bewegung – ist auch der Augenblick gekommen, in dem unsere Anschauungen auf fruchtbaren Boden fallen können und fallen werden. Wir gewinnen alsdann den Anhang, den ich augenblicklich noch vergebens erstreben. (Zustimmung.)

Um Ihnen zur beweisen, in welchen Widersprüchen sich die Antisemiten in ihrem Programm infolge ihrer widerspruchsvollen sozialen Stellung bewegen, werde ich Ihnen einige Punkte daraus vortragen. Aus seiner widerspruchsvollen Natur kommt der Antisemitismus dazu, die widerspruchvollsten Forderungen aufzustellen, einerseits ultrareaktionäre oder konservative, andererseits vollkommen demokratische, die sich teilweise mit unserem Programm decken. Der erste Punkt „Erhaltung einer starken kaiserlichen Gewalt; Wahrung der Rechte der Bundesfürsten; Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung und an der Kontrolle über die Staatsverwaltung“, ist für den Antisemitismus selbstverständlich. Der zweite Punkr „Zusammensetzung der Volksvertretungen aus Abgeordneten sämtlicher Berufsstände“ ist eine durchaus konservative, ins Mittelalter zurückgehende Forderung. Die alten Berufsstände heute wieder zu rekonstruieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sobald die Antisemiten versuchen, die Abgrenzung der einzelnen Berufsstände gegeneinander herzustellen, wird sich zeigen, daß ebensoviel Meinungen unter ihnen vorhanden sind als Personen beieinander. Solange aber diese Berufsstände nicht rekonstruiert sind, sind die Antisemiten mit dem allgemeinen, gleichen und direkten Stimmrecht einverstanden und sie wünschen sogar Diäten. (Heiterkeit.) Einen Antrag auf Aufhebung des allgemeinen Stimmrechts würden diese Herren also zurzeit aufs heftigste bekämpfen, und zwar weil dies es ihnen allein ihre Existenz im Reichstage möglich macht. Drittens fordern sie Freiheit des Wortes, der Schrift und der Versammlung, zugleich aber neben diesem demokratischen Verlangen „scharfe Bestimmungen gegen unsittliche Auswüchse in Presse, Literatur und Kunst“, eine Forderung, die, wie immer sie gesetzlich formuliert würde, der schlimmsten Reaktion Tür und Tor öffnete. Was man unter „unsittlichen Auswüchsen“ verstehen kann, hat die Lex Heinze genugsam bewiesen. Sie fordern ferner Wahrung des christlichen, nationalen Charakters der Schule, eine durchaus konservative Forderung, daneben „Ausbildung unbemittelter, hervorragend befähigter Schüler auf Staatskosten“, was wieder fast gleichlautend in unserem Programm steht, und niemals von den Konservativen bewilligt werden wird. Ferner verlangen sie „eine starke Heeresmacht zur Erhaltung des Friedens nach außen und nach innen“. Gegen wen diese Heeresmacht „nach innen“ nötig ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. (Heiterkeit.) In der Steuerreform verlangen sie durchaus demokratisch eine progressive Einkommen- und Erbschaftssteuer, daneben eine Wehrsteuer, die wieder vorzugsweise die Unbemittelten träfe; auf der anderen Seite aber treten sie für indirekte Steuern in Form der Zölle auf Lebensmittel ein, sie verlangen „ausreichenden Schutzzoll“, wo mit die Bauern gefangen werden sollen. Die Forderung einer sozialen Neuordnung auf dem Boden der Berufskreise und Erwerbsstände ist wieder rein mittelalterlich, ebenso die „Beschränkung der Gewerbefreiheit, Einführung des gesetzlichen Befähigungsnachweises, Errichtung von Handwerkerkammern mit ehrengerichtlicher Befugnis“. Das sind alles reaktionäre Forderungen. Dann kommen Forderungen wie ein „Heimstättengesetz, scharfe Bestimmungen gegen die Gutszertrümmerung und den Grundstückwucher, Verstaatlichung der Grundschulden.“ Hier muß ich eine kurze theoretische Auseinandersetzung machen. Verstaatlichung der Grundschulden, also der Hypotheken – diese Forderung wird auch im Kommunistischen Manifest erhoben, und wird gegenwärtig in einer deutschen Kammer von unserem Genossen gestellt. Es scheint auf den ersten Blick wunderbar, daß Antisemiten, Bauernbündler und gleichzeitig wir eine solche Forderung stellen. Aber diese scheinbar gleichen Forderungen haben nichts miteinander gemein. Das Kommunistische Manifest hat etwas ganz anderes darunter verstanden, als wie der Antisemitismus oder die Bauernbündler darunter verstehen. Das Kommunistische Manifest erhebt die Forderung unter der Voraussetzung, daß eine sozialistisch-kommunistische Leitung des Staates vorhanden ist, die die Verstaatlichung des gesamten Grund- und Bodeneigentums vornehmen will, mit dem Übergangsstadium „Verstaatlichung der Hypotheken“. Das heißt also: Falls wir Sozialisten nicht ohne weiteres der Kapitalistenklasse den Grund und Boden expropriieren können, begnügen wir uns, dem Hunde den Schwanz stückweise abzuhauen. (Heiterkeit.) Man würde also, wenn der Zinsfuß der Hypotheken durchschnittlich 5 oder 4½ Prozent ist, diese für unkündbar erklären und den Zinsfuß auf 2½ oder 2 und noch weniger herabsetzen. Die Männer, die das Kommunistische Manifest entwarfen, wußten sehr gut, daß das wenig zu bedeuten hat, aber in der Übergangsperiode nötig sein könne. Wenn aber, gegenüber einer stabilen konservativen Regierung, gegenüber einem mächtigen Agrariertum die Verstaatlichung der Hypotheken angeregt wird, damit die Agrarier niedrigere Hypothekenzinsen zu zahlen haben, so ist das eine durchaus konservative Maßregel. (Seht richtig!) Sie bedeutet eine Bevorzugung einen einzelnen Klasse. Beschafft der Staat die Hypothekenzinsen billiger, dann haben nicht bloß die Kleinbauern ein Vorteil davon, sondern auch die Großgrundbesitzer; mit der Verringerung des Zinsfußes steigt der Wert und die Belastungsfähigkeit des Bodens, es können mehr Schulden gemacht werden. (Sehr richtig!) Schaffte der Staat gar die Hypotheken beispielsweise zur 3 Prozent, während er für Geld 3½ Prozent geben muß, so muß das halbe Prozent Zins von Milliarden Hypothekenschulden, das der Staat den Kapitalisten zu ersetzen hat, aus anderen Steuerquellen aufgebracht werden. Es fällt den Kapitalisten, von denen der Staat das Geld für die Hypotheken bekommt, nicht ein, die Zinsendifferenz selbst zu bezahlen, sondern ganz andere Leute müssen das tun, und vornehmlich würde die Arbeiterklasse diese Differenz in irgend einer Form zu bezahlen haben. Die Sozialdemokratie hat kein Interessse, mitzuarbeiten an der künstlichen Aufrechterhaltung von Gesellschaftszuständen, die durch die Entwickelung der Verhältnisse mehr und mehr untetgraben und aufgelöst werden.

Die Forderungen des antisemitischen Programms auf dem Gebiete des Handels: „Verschärfung der Konkursordnung, Beschränkung des Hausierhandels, Verbot der Schleuderbazare, der Schwindelauktionen und der Abzahlungsgeschäfte, strafrechtliche Bestimmungen gegen verlogene Reklame,“ sind nichts als interessante Beweise für die Demagogie der Antisemiten. Keine dieser Forderungen ist ohne größten Schaden und stärksten Mißbrauch durchführbar. Da donnerte bei der letzten Landtagswahlagitation in Sachsen ein antisemitischer Agitator gegen die Juden als Ausbeuter, gegen Schleuderbazare usw.; kein christlicher Mann dürfe bei einem Juden kaufen. Als aber der Herr seinen Überzieher in der Versammlung auszog, entdeckte einer unserer Genossen am Henkel desselben eine jüdische Firma! (Große Heiterkeit.) Mir wurde gesagt, der Herr sei so verschuldet, daß keiner seiner christlichen Mitbürger ihm etwas borge. Aber der Jude borgte. (Erneute Heiterkeit.) Ferner werden im antisemitischen Programm Strafbestimmungen gegen falsche Preisbezeichnungen, Beschränkungen der Konsumvereine, eine tatkräftige, zielbewußte Kolonialpolitik und überseeische Strafkolonie sowie Beförderung der inneren Kolonisation gefordert. Ein wahrer Häringssalat von Forderungen. Wer zur Verschickung in die Strafkolonien in erster Linie verwendet werden soll, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. (Heiterkeit.) Wenn schließlich von der Judenfrage die Rede ist und Aufhebung der Judenemanzipation, Stellung der Juden unter ein Fremdenrecht, sowie das Verbot der Einwanderung fremder Juden verlangt wird, so wird man damit nicht weit kommen. Die Forderungen sind so unsinnig, daß sie eine grundstürzende Umgestaltung der Staatsgrundlagen im mittelalterlichen Sinne nötig machten. In einem Punkte zeichnen sich die Juden vorteilhaft auf, sie haben bisher das Gebot ihrer Väter: Seid fruchtbar und mehret Euch wie Sand am Meere! stets verfolgt. (Große Heiterkeit.)

Parteigenossen! Sie sehen, hat dieses Mixtum compositum, aus dem dieses Programm besteht, ganz und gar der widerpruchsvollen reaktionär-revolutionären Natur des Antisemitismus entspricht. Das Programm ist in den meisten seiner Forderungen sogar unausführbar, weil es nicht dem Judentum, sondern dem gesamten Kapitalismus Beschränkungen auferlegte, die wider die Natur desselben gehen, und gegen die er deshalb mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht ankämpfen muß. Die Macht im Staate haben aber nicht die Kleinbauern und Kleingewerbetreibenden, sondern diese hat die Kapitalistenpresse, welche die Regierungen, die Parlamente, die Presse, das gesamte wirtschaftliche Leben beherrscht. Auch das Junkertum, das so antisemitisch ist, ist mit Haut und Haar dem Kapitalismus verfallen und gehört manchmal wider Willen zu seinen vornehmsten Trägern.

Es ist eine arge Selbsttäuschung, glauben Bauern und Handwerker auf die Unterstützung des Junkertums für ihre Programmforderungen rechnen zu können. Man schaffe alle Juden über die deutschen Grenzen und an den Grundlagen unserer Gesellschaft wird nicht um Haaresbreite geändert. Nicht das Judentum, sondern der Kapitalismus ist der Feind unserer antisemitisch gesinnten Mittelschichten. Der Kapitalismus, einerlei, ob das Kapital in jüdischen oder in christlichen Händen sich befindet. Schafft heute die Juden fort und morgen sitzen sog. Christen an ihrer Stelle, die den kapitalistischen Aufsaugungsprozeß genau so vortrefflich besorgen, als dies die Juden tun. Diese Erkenntnis wird den untergehenden Mittelschichten immer mehr dämmern und sie werden alsdann zur Einsicht kommen, hat sie nicht bloß den Kampf gegen den jüdischen Kapitalisten, sondern gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse zu führen haben. Ich habe Ihnen schon ausgeführt, wie auf einer gewissen Stufe unserer ökonomischen Entwickelung auch der Antisemitismus seinen Höhepunkt erreicht und er alsdann wider Willen und mit Notwendigkeit revolutionär werden muß, und damit uns, der Sozialdemokratie, in die Hände arbeitet. Mein Gedankengang ist in der von mir Ihnen vorgelegten Resolution, wie ich glaube, genügend zum Ausdruck gekommen; ich kann deshalb nur bitten, daß Sie möglichst einstimmig derselben Ihre Zustimmung geben. (Lebhafter, andauernder Beifall und Händeklatschen.)


Diese einstimmig angenommene Resolution lautet:

„Der Antisemitismus entspringt der Mißstimmung gewisser bürgerlicher Schichten, die sich durch die kapitalistische Entwickelung bedrückt finden und zum Teil durch diese Entwickelung dem wirtschaftlichen Untergang geweiht sind, aber in Verkennung der eigentlichen Ursache ihrer Lage den Kampf nicht gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern gegen eine in demselben hervortretende Erscheinung richten, die ihnen im Konkurrenzkampfe unbequem wird: gegen das jüdische Ausbeutertum.

Dieser sein Ursprung zwingt den Antisemitismus zu Forderungen, die ebenso mit den wirtschaftlichen wie politischen Entwickelungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft in Widerspruch stehen, also fortschrittsfeindlich sind. Daher auch die Unterstützung, die der Antisemitismus vorzugsweise bei Junkern und Pfaffen findet.

Der einseitige Kampf des Antisemitismus gegen das jüdische Ausbeutertum muß notwendig erfolglos sein, weil sie Ausbeutung der Menschen durch den Menschen keine speziell jüdische, sondern eine der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche Erwerbsform ist, die erst mit dem Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endigt.

Da nun die Sozialdemokratie der entschiedenste Feind des Kapitalismus ist, einerlei ob Juden oder Christen seine Träger sind, und da sie das Ziel hat, die bürgerliche Gesellschaft zu beseitigen, indem sie deren Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft herbeiführt, wodurch aller Herrschaft des Menschen über den Menschen, wie aller Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende bereitet wird, lehnt es die Sozialdemokratie ab, ihre Kräfte im Kampfe gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung durch falsche und darum wirkungslos werdende Kämpfe gegen eine Erscheinung zu zersplittern, die mit der bürgerlichen Gesellschaft steht und fällt.

Die Sozialdemokratie befämpft den Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwickelung der Gesellschaft gerichtete Bewegung, die jedoch trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihren Willen schließlich revolutionär wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, daß nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und daß nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann.“


Fußnote

1. Bei dem Arbeitermangel, der z. B. infolge der Sachsengängerei auf den Gütern Oberschlesiens herrscht, greift man dort zu russisch-polnischen Arbeitern, und auf einzelnen Gütern sollen ausschließlich jüdisch-polnische Arbeiter beschäftigt sein, wogegen die antisemitisch gesinnten ostelbischen Grundbesitzer durchaus nichts einzuwenden haben.


Zuletzt aktualisiert am 18. Juni 2017