August Bebel

Aus meinem Leben

Zweiter Teil


Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes

Nachwehen


So glatt, wie ich in meinem Briefe an Engels die Sachlage dargestellt hatte, verlief indes die Einigung nicht überall. Namentlich platzten in Hamburg, wo Hasselmann und Richter-Wandsbeck und ihr Anhang schürten, die Geister oft heftig aufeinander. Auer, der als Parteisekretär in Hamburg wohnte, sah diese Vorgänge als ziemlich bedenklich an. So schrieb er mir am 15. September 1875: In der Parteimitgliedschaft sei nach wie vor große Uneinigkeit, es sei fraglich, ob aus all dem Teufelsquark nicht noch eine Spaltung hervorgehe. Und in einem Briefe vom 25. September an mich wiederholte er seine Klagen. Auf dem Parteikongreß 1876 wurde dann Richter-Wandsbeck wegen seines parteischädigenden Treibens aus der Partei ausgestoßen.

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In Leipzig hatte der zum Reichstag gewählte Abgeordnete Dr. Stephani im Frühjahr 1875 sein Mandat niedergelegt. Es kam zu einer Nachwahl, bei der ich wieder als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Bei der Wahl am 11. Mai erhielt ich 4.018 Stimmen, 367 mehr als das Jahr zuvor bei den allgemeinen Wahlen, mein nationalliberaler Gegner erhielt über 1.000 Stimmen weniger, die auf einen Konservativen fielen. Ich war auch als Landtagskandidat für den sächsischen Landtagswahlkreis Meerane-Hohenstein-Ernstthal aufgestellt worden. Ich unterlag hier gleichfalls, und zwar mit 694 gegen 899 Stimmen, die mein nationalliberaler Gegner erhielt. Ich war über diese Niederlage, wie ich in meinem oben abgedruckten Briefe an Engels bereits andeutete, sehr zufrieden. Die Partei hatte sich um jene Zeit noch wenig mit den Landtagswahlen befaßt. Das Wahlgesetz war zwar im Vergleich zu dem heute bestehenden ein sehr günstiges, es forderte für den Wähler einen Zensus von 3 Mark direkter Staatssteuer, die sächsische Staatsangehörigkeit und ein Alter von 25 Jahren. Für das Recht, als Abgeordneter gewählt zu werden, das sogenannte passive Wahlrecht, wurde ein Zensus direkter Staatssteuer von mindestens 30 Mark, ein Alter von 30 Jahren und dreijährige Staatsangehörigkeit verlangt. Trotzdem war die Zahl unserer Wähler gering, da zu jener Zeit viele Arbeiter die Staatssteuer von 3 Mark, die mit einem Jahreseinkommen von 600 Mark verknüpft war, nicht bezahlten. Erst mit der Einführung eines neuen Einkommensteuergesetzes im Jahre 1876 änderte sich dieses zu unseren Gunsten infolge der höheren Einkommeneinschätzung. Von jetzt ab begannen wir mit Erfolg uns an den Wahlen zum Landtag zu beteiligen.

Um die stattgehabte Vereinigung immer mehr in Fleisch und Blut der früher feindlichen Brüder überzuleiten, kamen wir überein, daß die bekanntesten Persönlichkeiten aus den ehemaligen beiden Lagern hauptsächlich in den Bezirken Versammlungen abhalten sollten, die ihnen früher mehr oder weniger unzugänglich waren. So gingen Liebknecht und Motteler nach Norden und Westen, Hasenclever, Dreesbach und andere nach dem Süden und nach Sachsen, ich nach Altona-Hamburg, woselbst meine Versammlungen ungemein stark besucht wurden, ebenso in Berlin, woselbst ich im Tivoli eine Riesenversammlung abhielt. In Hamburg, Altona und Umgegend erhielt die Bewegung einen neuen Stützpunkt in der Gründung des Hamburg-Altonaer Volksblattes, das mit dem 1. Oktober 1875 ins Leben trat. Hasenclever zog es jetzt vor, aus dem Vorstand aus-und in die Redaktion des Hamburg-Altonaer Volksblattes einzutreten.

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Für mich persönlich war damals die Situation keine angenehme. Unter dem Widerspruch der Interessen zwischen Geschäft und Partei litt ich schwer, darüber klagte auch Bracke in einem Briefe an mich Ende August. Es sei schrecklich, Sklave eines Geschäftes zu sein. Aber wie loskommen? Er trage sich mit dem Gedanken, sein Druck- und Verlagsgeschäft an die Leipziger Genossenschaftsdruckerei zu verkaufen, aber andererseits habe er wieder Bedenken. Er habe erdrückende Arbeit und ein schweres Defizit zu tragen, das ihm Verlag und Druckerei verursache. Ich bewunderte bei ihm die Heiterkeit des Gemüts, die er trotz aller Sorgen behielt. Da ich um jene Zeit meinen späteren Associé gewonnen hatte, eine Verbindung, die erst im nächsten Herbste durchgeführt werden konnte, wovon aber Nachricht sich blitzschnell in Leipzig verbreitet hatte, entstand das von den Gegnern genährte Gerücht, ich werde mich alsdann aus dem Parteileben zurückziehen. Die erste Nachricht von diesem Geschwätz erhielt ich durch einen Altenburger Genossen, der mir am 30. August schrieb: Er habe bei seiner kürzlichen Anwesenheit in Leipzig von verschiedenen Seiten gehört, daß ich einen Kompagnon erhielte, Großindustrieller würde und dann mich langsam aus der Partei zurückziehen wolle. Das habe er bei einem Arbeiterfest in Schmölln auch Meeraner und Gößnitzer Genossen mitgeteilt und ihnen gesagt, sie müßten diesen schmerzlichen Schlag, den sie von mir erhielten, überwinden. Da sei es aber rührend gewesen, mit welch felsenfestem Vertrauen die betreffenden Genossen geantwortet, das glaubten sie nicht, das hielten sie für unmöglich. Mittlerweile habe er auch vernommen, daß es nicht wahr sei. Er habe ihnen aber versprechen müssen, an mich wegen der Sache zu schreiben, er bitte wegen seiner Zudringlichkeit um Verzeihung, ich möchte aber dem Gerücht öffentlich entgegentreten, ein Verlangen, das zu erfüllen ich meiner unwürdig hielt.

Um diese Zeit – September 1875 – befand sich Most noch immer im Gefängnis zu Plötzensee. Ich schrieb ihm zur Tröstung einen längeren Brief und erkundigte mich, wie es ihm gehe. Daß seine Behandlung gegen früher eine anständigere geworden war, hatte ich vernommen. Darauf schrieb er mir am 27. September:

„Lieber Bebel! Wenn ich Dir sage, daß ich oft monatelang weder von der Partei noch von Parteigenossen ein Sterbenswörtchen höre, so kannst Du Dir denken, daß mich Dein Brief freute. Du mußt Dir meinethalben keine Sorge machen, es steht zwar (lediglich wegen meiner kärglichen Lebensweise) faul genug mit mir, aber flöten gehe ich deshalb doch nicht. Mir geht es von Kindheit an, namentlich aber seit den letzten sieben Jahren, so nichtswürdig, daß ich immerhin ungemein viel aushalten kann ... Alle Nachrichten, die Du mir betreffend unsere Partei übermittelst, beweisen mir aufs neue, daß alle gegen uns inszenierten Verfolgungen fruchtlos waren und sind. Komme ich erst heraus, hoffe ich meine Freude zu haben. Und was meine Stimmbänder betrifft, so werden sie wohl noch ein Weilchen aushalten ... Was ich tue? Nun, ich ochse! Erstens schreibe ich für Geib, zweitens büffle ich französische Übersetzungen und drittens löffle ich tüchtig Materialismus ... Man muß ja heutzutage entsetzlich viel gelesen haben, will man nicht als Schafskopf gelten ... Die Zeit vergeht mir verhältnismäßig sehr rasch. Geib meint, ich solle beantragen, daß man mich vorläufig entlasse, aber dieses habe ich nun schon dreimal abgelehnt, da solche Betteleien prinzip- und zwecklos sind.“



Zuletzt aktualisiert am 20.7.2007