August Bebel

Aus meinem Leben

Dritter Teil


Der Kanossagang nach London

Die Umstände, unter denen die Wahl Hirschs zum Redakteur des Sozialdemokrat zustande gekommen war, und die Bedenken, die gegen diese Wahl bei der Mehrheit der Parteileitung herrschten, ließen es mir angemessen erscheinen, nunmehr die längst geplante und immer wieder verschobene Reise nach London anzutreten. Hirsch lebte damals in London, ich konnte mich also gleich mit ihm auseinandersetzen. Dann aber wünschte ich auch, daß Bernstein, gegen den bei Marx und Engels und ebenso bei Hirsch starke Animosität herrschte, mit nach London in die Höhle des Löwen gehe, um zu zeigen, daß er nicht der schlimme Geselle war, den die beiden Alten in ihm sahen. Bei Bernstein selbst hatte das Leben in Zürich und was dort täglich über die Zustände aus Deutschland berichtet wurde, eine andere Stimmung erzeugt, als sie in dem bösen Dreigestirnartikel im Richterschen Jahrbuch zum Ausdruck gekommen war. Ich hatte sogar die stille Hoffnung, daß, wenn Hirsch die Redaktion des Sozialdemokrat ablehne, es gelingen werde, Bernstein an seine Stelle zu bringen. Sollte es aber mit Erfolg gelingen, so war ein persönlich erträgliches Verhältnis zwischen dem neuen Redakteur und Marx und Engels notwendig. Ich ersuchte also Bernstein, die Kanossareise nach London mit mir anzutreten, wozu er sofort bereit war. Wir trafen uns in Calais, da Bernstein allen Grund hatte, das Betreten deutschen Bodens zu vermeiden.

In London angelangt, besuchten wir zunächst Engels, der eben, zwischen 10 bis 11 Uhr vormittags, beim Frühstück saß. Engels hatte die Gepflogenheit, nie vor 2 Uhr nachts sich zur Ruhe zu begeben. Engels empfing uns sehr liebenswürdig; er redete mich sofort mit Du an, ebenso Marx, den wir am Nachmittag besuchten, außerdem lud mich Engels, der dieses Jahr zum Witwer geworden war, ein, bei ihm zu wohnen, und die Tage unserer Anwesenheit wurden selbstverständlich zu einem gründlichen Meinungsaustausch nach allen Seiten benutzt, in dessen Verlauf Bernstein sichtlich an Vertrauen bei den beiden gewann. Im Laufe der Tage, die wir in London waren, wobei Engels als der Beweglichere und Freiere öfter den Führer machte und uns die Sehenswürdigkeiten Londons zeigte, traf auch Paul Singer ein, der, auf seiner jährlichen Geschäftsreise in England begriffen, von Manchester nach London zurückgekehrt war. Den einzigen Sonntag, den wir damals in London zubrachten, waren wir sämtlich zu Marx zu Tisch geladen. Frau Jenny Marx hatte ich bereits kennengelernt, sie war eine vornehme Erscheinung, die sofort meine Sympathie gewann, die ihre Gäste in der scharmantesten und liebenswürdigsten Weise zu unterhalten verstand. An jenem Sonntag lernte ich auch die älteste, mit Longuet verheiratete Tochter Jenny kennen, die mit ihren Kindern zu Besuch gekommen war. Hierbei wurde ich sehr angenehm überrascht, zu sehen, mit welcher Herzlichkeit und Zärtlichkeit Marx, der zu jener Zeit überall als der schlimmste Menschenfeind verschrien war, mit den beiden Enkelkindern zu spielen verstand und mit welcher Liebe diese an dem Großvater hingen. Außer Jenny, der ältesten Tochter, waren auch die beiden jüngeren Töchter, Tussy, die spätere Frau Aveling, und Laura, die Gattin Lafargues, zugegen. Tussy mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen, das Ebenbild des Vaters, Laura, hellblond mit dunklen Augen, mehr das Ebenbild der Mutter, beide hübsch und lebhaft.

Auffallend für den Fremden war, daß Marx von Frau und Kindern immer Mohr angeredet wurde, als existiere kein anderer Name für ihn. Der kam von seinem pechschwarzen Haupt- und Barthaar, das damals, mit Ausnahme des Schnurrbartes, schon weiß leuchtete. Auch Engels besaß einen intimen Spitznamen. Die Marxsche Familie und seine näheren Bekannten nannten ihn General, wobei das Wort stets englisch ausgesprochen wurde: Dscheneräl. Den Titel trugen ihm seine kriegswissenschaftlichen Studien ein, denen er mit Vorliebe oblag. Man schrieb ihm ein sehr maßgebendes Urteil in militärischen und kriegswissenschaftlichen Dingen zu. Als ich am Tage vor unserer Abreise noch einmal die Marxsche Familie besuchte, lag Frau Marx zu Bett. Auf meine Bitte, mich verabschieden zu dürfen, führte mich Marx zu ihr mit der strengen Weisung, nicht länger als eine Viertelstunde mit ihr zu plaudern. Aber wir gerieten sofort in eine so animierte Unterhaltung, daß ich ihren Zustand ganz vergaß, und aus der Viertelstunde wurde mehr als eine halbe Stunde. Da trat der ungeduldig gewordene Marx ein und hielt mir eine Strafpredigt, ich wolle ihm wohl seine Frau zugrunde richten? Wehmütig nahm ich Abschied von ihr, denn das Leiden, an dem sie litt, war unheilbar. Ich sah sie nie wieder. Sie starb bereits im nächsten Jahr.

In Angelegenheiten der Redaktion des Sozialdemokrat erklärte sich nach vielem Wenn und Aber Hirsch bereit, unter den von mir im Namen der Leitung formulierten Bedingungen die Redaktion zu übernehmen und nach Zürich zu übersiedeln.

Nach vollem achttägigem Aufenthalt verließen wir befriedigt von den Resultaten London. Bernstein reiste über Paris zurück nach Zürich, Singer und ich reisten zusammen bis nach Köln, woselbst ich ihn verließ. Aber mein Glaube, mit Hirsch nunmehr im reinen zu sein, erwies sich sehr bald als Täuschung, wie folgender Brief an Engels vom 26. Dezember 1880 zeigt:

Lieber Engels!

Die Angelegenheit Hirsch ist also in der Weise gelöst, daß Hirsch bleibt, wo er ist, und die Redaktion nicht übernimmt.

Ganz entgegengesetzt zu unseren Verabredungen trifft am 24. Dezember abends ein Brief von ihm ein, worin er unter Wiederholung der bekannten Anschuldigungen gegen die Züricher erklärte, nicht nach Zürich zu gehen, sondern die Redaktion von London aus leiten zu wollen. Dieser Brief, den ich gestern in der Zusammenkunft, der Liebknecht beiwohnte, vorlas schlug dem Faß den Boden aus. Wir waren nunmehr einstimmig der Ansicht, daß Hirsch einfach nicht von London weg will, und da wir andererseits unmöglich Hirsch zuliebe und ohne äußeren Zwang die von ihm geplante Umwälzung vornehmen können, noch wollen, so wurde sein Schreiben als Ablehnung aufgefaßt und heute von mir dementsprechend beantwortet.

Damit ich nicht Wiederholungen zu machen habe, bitte ich, daß Ihr Euch von Hirsch meinen Brief zur Einsicht vorlegen laßt.

Das Arrangement soll so getroffen werden, daß Liebknecht die Hauptleitung des Blattes hat, Leitartikel und politische Übersicht schreibt respektive liefert, Kautsky die Korrespondenz und das Technische der Redaktion zu erledigen hat. Wie das Arrangement sich bewährt, muß die Erfahrung lehren, große Erwartungen habe ich nicht. Ich bitte Euch (Dich und Marx), daß Ihr nach Kräften Liebknecht unterstützt, namentlich in der Zeit, wo er im Gefängnis ist.

Die Sendung Tee, Whisky usw. ist glücklich eingetroffen und sieht ihrer Verwendung entgegen. Meine Frau läßt herzlich danken und schließe ich mich speziell noch diesem Danke an in bezug auf alles, was Ihr in London für mich getan.

Mich erwartete hier ein ganzer Berg von Arbeit, zu dessen Erledigung mir die Feiertage sehr gelegen kommen. Sonst alles beim alten. Liebknecht hat auf 24 Stunden Ferien gehabt, mußte aber gestern nachmittag wieder einziehen. Silvester bekommt er wieder 24 Stunden frei. Die Leute sind hier noch anständig.

Herzliche Grüße Euch allen, speziell auch der Familie Marx.

Dein A. Bebel.

Kautsky lehnte es ab, in die Redaktion des Sozialdemokrat einzutreten, er hatte nicht die Absicht, dauernd in Zürich zu bleiben. [1] So trat zunächst provisorisch Bernstein an Vollmars Stelle, und siehe, es zeigte sich jetzt, daß wir in ihm den richtigen Mann getroffen hatten. Sogar die Londoner erklärten, daß sie mit der Redaktion, wie sie sich seit Neujahr gestaltet, zufrieden seien. So meldete ich denn Engels unter dem 2. Februar 1881, daß ich heute an Bernstein geschrieben, ob er nicht definitiv die Redaktion übernehmen wolle. Nimmt er an, sind wir eine große Sorge los. Und Bernstein nahm, wenn auch widerwillig und nach langem Zögern, schließlich definitiv an. Damit hatten wir den Redakteur gewonnen, den das Blatt benötigte.

In dem erwähnten Brief schrieb ich weiter an Engels:

„Was Du bezüglich der Liebknechtschen sächsischen Landtagsrede schreibst, habe ich nicht genau verfolgt. Ich hatte eine Zeitlang das Steuer verloren. Er hatte sich insbesondere im sächsischen Landtag, veranlaßt durch Fr. und P. [2], viel zu sehr in die gemütliche Stimmung versetzen lassen. Dazu kommt sein von jeher viel zu viel auf das rein Politische gerichteter Blick, der verschuldet, daß er die ökonomischen Verhältnisse und ihre Entwicklung zu wenig beachtet und dadurch notwendig zu falschen Auffassungen getrieben wird.

Es wäre gut, wenn Du Liebknecht gelegentlich Deine Meinung über seine Landtagsrede mitteilen wolltest. Auch ist eine solche Einwirkung um so wichtiger, da die Mehrzahl der ‚Führer‘ noch einseitiger ist wie Liebknecht, und dabei von einem bedenklichen Pessimismus befallen ist.

Zum Glück ist die Masse, wie immer, besser als die Führer und wird eines Tages über sie hinwegschreiten. Das habe ich schon mehrfach unverhohlen ausgesprochen, wenn ich in dem stattfindenden Meinungsaustausch gegen das Einseitige und Schiefe der Beurteilung unserer Zustände und den nahezu gänzlichen Mangel an Vertrauen zu den Massen losziehen mußte.

Mir ist es unbegreiflich, daß man bei unseren Zuständen anders als mit Hoffnung in die Zukunft blicken kann. Daß sie für uns persönlich unangenehm und widerwärtig sind, ist unzweifelhaft, aber sie sind es aus ganz anderen Gründen auch für die Mehrzahl unserer Gegner, und zwar bis hoch in die herrschende Klasse hinauf ...

Interessant ist, was man zu hören bekommt, wenn man als Wolf im Schafspelz unter die Kaufleute und Fabrikanten kommt und diese in ihren Herzensgesinnungen belauscht. So ist noch nie auf Bismarck und sein System geschimpft worden wie jetzt. Die nächsten Wahlen dürften eine stark oppositionelle Färbung annehmen ...

Könntet Ihr für Liebknecht nicht eine leidlich bezahlte Korrespondenz in eine englische Zeitung schaffen, in die er schreiben kann, ohne sich etwas zu vergeben? Liebknecht wird, wenn er aus dem Gefängnis kommt, mehr seinen Erwerb in dieser Richtung suchen müssen, da ihm die Bezahlung unserer Blätter allein nicht ausreichenden Lebensunterhalt gewährt ...

Ich bitte um gelegentliche Mitteilung einiger Deckadressen. Die seinerzeit mitgeteilten habe ich vorigen Sonntag in Breslau vernichtet, als ich dort in der Wohnung Hepners von vier Mann Polizei beehrt wurde. Wir waren sechs oder sieben Mann beieinander, um verschiedenes zu besprechen, als die Diener der heiligen Hermandad in der Hoffnung auf einen Hauptfang plötzlich eintraten und eine körperliche Visitation und Wohnungsdurchsuchung vornahmen. Der einzige Fund war ein von mir angefangener Brief an Hasenclever, den ich anläßlich des Besuches nicht hatte vollenden können. Mit diesem Brief konnten sie nichts anfangen. Die Herren zogen nach zwei Stunden kleinlaut von dannen.

Freundschaftliche Grüße Euch allen

Dein A. Bebel.

Ich möchte diesen Abschnitt nicht schließen, ohne noch einige Bemerkungen über Engels zu machen: Persönlich war Engels ein reizender, liebenswürdiger Mensch, der es mit Martin Luthers Parole hielt, daß Wein, Weib und Gesang des Lebens Würze seien, wobei er aber auch des Ernstes der Arbeit nicht vergaß. Er war bis an sein Lebensende einer der fleißigsten Menschen, der noch, nachdem er schon das siebzigste Lebensjahr zurückgelegt hatte, Rumänisch erlernte und mit lebhaftestem Interesse allen Ereignissen folgte. – Immer heiter und guter Dinge, besaß er ein erstaunliches Gedächtnis für allerlei kleine Erlebnisse und komische Situationen in seinem bewegten Leben, die er in heiterer Gesellschaft zum besten gab und damit die Unterhaltung würzte. Ein Abend bei ihm gehörte zu den angenehmsten Erinnerungen der bei ihm verkehrenden Freunde und Genossen. Die Unterhaltung war sehr lebhaft, einerlei, ob man über ernste Themen sprach oder Heiteres die Grundstimmung bildete. Auch war Engels ein robuster Zecher, der über einen respektablen Weinkeller kommandierte und sich freute, erwiesen seine Gäste seinem Weine die Ehre.

Am puritanischen Sonntag, dem Tage, an dem der Aufenthalt in London für jeden lebensfrohen Menschen ein Greuel ist, führte Engels offenes Haus. Wer kam, war willkommen, und vor morgens zwei, drei Uhr verließ keiner seiner Gäste sein Haus. – Ich bin bis zu seinem Tode im Jahre 1895 mehrere Male sein Gast gewesen, er auch einmal der meine, als er im Jahre 1893 sich auf mein fortgesetzes Drängen entschloß, eine Reise nach dem Kontinent zu unternehmen, bei welcher Gelegenheit er den Internationalen Kongreß in Zürich und nachher Wien besuchte. Als er 1895 im fünfundsiebzigsten Lebensjahr starb, war mir’s, als starb ein Stück von mir. Und dieses Gefühl hatte außer mir noch mancher andere.

Meine Anwesenheit in London hatte ich auch dazu benutzt, im Kommunistischen Arbeiterbildungsverein einen Vortrag über die sozialpolitische Lage in Deutschland zu halten. Obgleich die Anhänger Mosts zahlreich anwesend waren, wagte keiner, mir Opposition zu machen. Dagegen luden sie mich ein, in einer von ihnen einberufenen Versammlung zu einer von ihnen aufzustellenden Tagesordnung zu sprechen. Das lehnte ich ab.


Fußnoten

1. Ich kann mich der Sachlage nicht mehr entsinnen, glaube aber, daß Bebel hier irrt. Ich hatte damals nicht die Absicht, Zürich zu verlassen. Wenn ich ablehnte, geschah es am ehesten deswegen, weil ich als Österreicher, der noch nie in Deutschland gelebt, mir nicht zutraute, unter den damaligen schwierigen Verhältnissen immer die richtige Auffassung der deutschen Politik zu treffen. Ich hielt es daher für richtiger, daß Bernstein die Redaktion des Sozialdemokrat übernahm, in der ich jedoch ebenfalls arbeitete, bis ich an die Gründung der Neuen Zeit ging. – K. Kautsky.

2. Freytag und Puttrich. – D.H.


Zuletzt aktualisiert am 2.7.2008