Julian Borchardt

Ueber Zweck und Methode
der Geschichtswissenschaft
vom sozialistischen Standpunkt

(April 1899)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1899, Nr.4, April 1899, S.185-190.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Nachdem ich in einer frühem Arbeit [1] auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, unablässig und methodisch an dem Ausbau der Sozialwissenschaften, und unter ihnen in erster Reihe an der Nationalökonomie und der Geschichte, zu arbeiten, will ich heute einen praktischen Versuch in dieser Richtung wagen: ich will festzustellen versuchen, welchen Zweck die Geschichtswissenschaft verfolgen muss, und mit welcher Methode, d.h. mit welchen Mitteln es ihr möglich sein wird, diesen Zweck zu erreichen. Es wird das darauf hinauslaufen, eine Art Programm der geschichtswissenschaftlichen Arbeit, so wie sie von unserm sozialistischen Standpunkt aus betrieben werden muss, aufzustellen.

Auch wer nicht Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung ist, wird, sofern er nur Sozialist ist, mit uns dahin übereinstimmen, dass die Art und Weise, wie die Geschichte von unseren führenden bürgerlichen Kreisen betrieben wird – und wie sie z.B. im Geschichtsunterricht der Schule zum Ausdruck kommt – mit der Wissenschaft nichts zu thun hat. Es kann nicht die Aufgabe einer Wissenschaft sein, dem Hörer unter allen Umständen Patriotismus, kriegerischen Sinn und Frömmigkeit einzuprägen. Auf den Universitäten freilich wird im Allgemeinen ernster gearbeitet.

Wenn die Geschichte eine Wissenschaft sein soll, so müssen ihr offenbar diejenigen Merkmale zukommen, die einer jeden Wissenschaft wesentlich sind.

Das Wesen einer Wissenschaft besteht aber darin, die Regelmässigkeit einer Bewegung zu suchen.

Alles, was wir um uns her beobachten und was wir wissen, sind Veränderungen, und Veränderungen sind im Grunde nichts andres als Bewegungen. Diese Sätze brauchen wohl in einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht weiter ausgeführt zu werden.

Von den Bewegungen nun wissen wir auch nicht mehr, als dass sie da sind, nicht aber, warum sie da sind. Ihre Geschwindigkeit, ihre Richtung, ihr Verlauf sind für. uns erkennbar, nicht aber ihre Ursache. So wissen wir z.B. dass unter bestimmten Umständen ein frei schwebender Stein zur Erde fallen wird, wir wissen aber nicht, warum dem so ist. Wir wissen es nicht, und wir können es auch nicht ergründen. Es überschreitet das die Grenzen unserer Erkenntniss. Alles, was wir ergründen können, ist, ob die Bewegung regelmässig ist, d.h. ob sie unter bestimmten Umständen bestimmte Geschwindigkeit, bestimmte Richtung, bestimmten Verlauf haben wird.

Da uns weitere Erkenntniss versagt ist, so müssen wir uns mit dieser wohl oder übel einrichten. Für praktische Zwecke ist sie aber auch ausreichend. Und auf den praktischen Zweck kommt es an. Denn die Wissenschaft ist nicht um ihrer selbst willen da; sie ist ein Mittel zu dem Zweck, das Leben der Menschen zu vervollkommnen und zu erleichtern. Sie soll die Wahrheit suchen, damit wir die Kenntniss der Wahrheit zu unserm Nutzen anwenden können. Und die Kenntniss von der Regelmässigkeit einer Bewegung kann uns grossen Nutzen bringen. Haben wir erkannt, dass eine Bewegung-, die vordem durchaus unregelmassig schien, dennoch regelmässig ist, so können wir ihren Verlauf bis zu einem gewissen Grade vorhersagen und können suchen, unser Verhalten ihr anzupassen oder auch sie uns direkt zu nutze zu machen. Wir können dem fallenden Stein aus dem Wege gehen, oder auch durch besondere Vorrichtungen die Kraft, die er im Fall entwickelt, zu einer uns nützlichen Arbeitsleistung verwenden.

So besteht die ganze Thätigkeit der Naturwissenschaften nur darin, in Bewegungen, die anscheinend ganz unregelmassig vor sieh gehen, die Regelmässigkeit zu suchen. Die durch ihre Forschungen gewonnene Erkenntniss benutzt dann die Technik, um solche regelmässigen Bewegungen, von denen wir nunmehr vorher wissen, wie sie verlaufen werden, den Zwecken der Menschen nutzbar zu machen.

Wenn – wie Jeder zugeben wird – der Zweck einer jeden Wissenschaft das Erkennen ist, und wenn weiteres Erkennen als das der Regelmässigkeit einer Bewegung uns versagt ist, so kann auch die Aufgabe der Geschichtswissenschaft keine andere sein, als: die Regefmässigkeit der geschichtlichen Bewegung zu erkennen.

Die geschichtliche Bewegung der Menschheit in den wenigen Jahrtausenden, wo wir etwas von ihrer Geschichte wissen, bietet einen sehr bunten Anblick. Sie ist anscheinend durchaus unregelmassig und zeigt die allerverschiedensten Erscheinungsformen.

Indessen darf uns das nicht entmuthigen. Auch die Naturwissenschaft hat oft genug vor ähnlichen Problemen gestanden. Die Bewegungen der Planeten am Himmel scheinen durchaus wirr. Man wird wohl kaum je zwei Steine finden, die in genau gleicher Weise zur Erde fallen; sondern wenn man – ohne experimentellen Eingriff – hundert verschiedene Fälle beobachtet, wird man auch hundert verschiedene Arten des Falles finden. Und doch ist es gelungen, in all dieser scheinbaren Unordnung Ordnung herauszufinden und ihre Kenntniss den Menschen nutzbar zu machen.

So ist au hoffen, dass auch in der anscheinend ganz ungeordneten Bewegung, welche die Menschheit in ihrer bisherigen Geschichte durchgemacht hat,. eine Regelmässigkeit existirt, und dass es angestrengter wissenschaftlicher Arbeit gelingen wird, sie aufzudecken.Andrerseits ist die Kenntniss solcher Regelmässigkeit – der historischen.Gesetze -unerlässlich, ja, ich möchte sagen, eine Lebensfrage für den Bestand der Gesellschaft. Denn praktische Anforderungen in diesem Sinne treten alltäglich in ungezählten; Mengen an die Gesellschaft heran. Der sozialen Uebelstände giebt es Legion, und da wird denn der Arzt der Gesellschaft gerufen, der Politiker, der Staatsmann, und er soll die kranke Gesellschaft heilen.

Was aber kann der Staatsmann von heute thun, um die Gesellschaft zu heilen? Er weiss nicht genau, was ihr fehlt, er weiss nicht, nach welchen Prinzipien er handeln soll, er tappt vollständig im Dunkeln umher. Und so ist die heutige Staatskunst nur elende Quacksalberei.

Wie zur wirklichen Heilung physischer Krankheiten sachgemässe Kenntniss des menschlichen Körpers nöthig war, so ist zur wirklichen Heilung der sozialen Krankheiten sachgemässe Kenntniss des sozialen Körpers, der Gesellschaft, erforderlich. Sachgemässe Kenntniss aber wird erreicht durch wissenschaftliche Untersuchung,

Dies ist der wahre Grund, weshalb in der neuern Zeit die wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft, ihrer Struktur ihres Lebens in die Hand genommen worden ist, der Grund, weshalb die Sozialwissenschaften entstanden sind.

Ist somit die Aufgabe der Sozialwissenschaften im Allgemeinen, die Erforschung der gesellschaftlichen Bewegungen überhaupt, so hat die Geschichte, die eine Sozialwissenschaft ist, eine unter mehreren, einen Theil der gesellschaftlichen Bewegung zu durchforschen, denjenigen Theil, den wir die geschichtliche Bewegung nennen, und in ihm die Regelmässigkeit herauszusuchen.

Was aber ist die geschichtliche Bewegung? Worin besteht sie?

Wir Sozialisten halten die Weltgeschichte für die Entwickelung der menschlichen Zivilisation, und ihre Bewegung besteht in den Veränderungen, welche die menschliche Zivilisation bisher durchgemacht hat.

Um das Problem zu präzisiren und um die Mittel zur Lösung, die Methode, finden zu können, müssen Missverständnisse unbedingt vermieden werden, und deshalb scheint es mir nöthig, jeden meiner Ausdrücke möglichst genau zu definiren.

Mein Satz war: die Weltgeschichte besteht in der Entwickelung der menschlichen Zivilisation, und die Geschichtswissenschaft soll die Regelmässigkeit jener Entwickelung aufzeigen.

Was ist zunächst die menschliche Zivilisation?

Eine jede menschliche Gesellschaft setzt sich zusammen aus einzelnen Menschen, Individuen. Die Individuen leben aber nicht nur neben einander, sondern mit einander; sie haben unter sich Beziehungen und zwar Beziehungen so wichtiger Art, dass kein Individuum ihrer entbehren könnte; kein Mensch könnte ausserhalb der Gesellschaft auch nur leben, jeder ist mit seiner ganzen Existenz auf die Gesellschaft, auf seine Mitmenschen, auf die anderen Individuen angewiesen.

So haben die Menschen unter einander Beziehungen verschiedener Art, z.B. wirthschaftliche Beziehungen, rechtliche Beziehungen, religiöse Beziehungen, verwandtschaftliche Beziehungen u.s.w.

Alle Beziehungen der Menschen unter einander kann man zusammenfassen unter dem Namen gesellschaftliche oder soziale .Beziehungen, und die Zivilisation der Menschen ist nichts andres als die Gesammtheit ihrer sozialen Beziehungen.

Die Menschen stehen auch in Beziehung zu der sie umgebenden Natur, insbesondere zu dem Grund und Boden, auf dem sie leben. Diese Beziehungen werden besser mit dem Namen Kultur bezeichnet. Kultur und Zivilisation stehen in Wechselwirkung mit einander, und deshalb muss die Geschichte auch die Kultur in ihre Untersuchungen einbeziehen. Gegenstand ihrer Forschung ist aber nur die Zivilisation, während die Kultur und ihre Einflüsse auf d.ie Zivilisation spezieller Gegenstand, der Sozial Geographie sind.

So viel für den Begriff der Zivilisation. Was ist nun aber die Entwickelung der Zivilisation?

Entwickelung ist nichts weiter als Aenderung. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet; das Wort Entwickelung ’häufig eine Aenderung zum Bessern, einen .Fortschritt. Wissenschaftlich kann das der Sinn des Wortes nicht sein, weil nämlich der Begriff Fortschritt ein rein persönlicher ist – . und zwar ganz besonders in der Geschichte. Was mir Fortschritt ist; kann nicht nur, sondern ist sogar wirklich für Hinz und Kunz Rückschritt. Eine Aenderung .dagegen bleibt eine Aenderung. für Jedermann. Die Wissenschaft kann weiter nichts thun, als sie feststellen, und es, bleibt dann, einem Jeden überlassen, sie nach Belieben für, einen Rückschritt oder für einen Fortschritt anzusehen.

Wenn ich nach dieser Erklärung der Begriffe den Ausdruck: Entwickelung der menschlichen Zivilisation in verständlicheres Deutsch übersetzen soll, so werde ich sagen: die Gesammtheit der Aenderungen, die in den sozialen Beziehungen der Menschen bisher eingetreten sind. Die Weltgeschichte besteht – nach sozialistischer Auffassung – in jenen Aenderungen, die Geschichtswissenschaft hat zu suchen, ob jene Aenderungen regelmässig vor sich gegangen sind, und gegebenen Falls nach welchen Regeln.

Es kommt die Krage nach der Methode: mit welchen Mitteln wird es uns möglich sein, die eben gestellte Aufgabe zu lösen?

Um zu sehen, ob die Aenderungen der menschlichen Zivilisation regelmässig sind, müssen wir sie offenbar zuerst kennen. Wir werden also damit beginnen, die verschiedenen Zivilisationen, welche die Menschheit in den verschiedenen Epochen und an den verschiedenen Orten ihres Daseins durchgemacht hat, festzustellen und mit einander zu vergleichen, um die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede zu erkennen. Soweit es sich um die Zivilisation eines und desselben Volkes zu verschiedenen Zeiten handelt, sind jene Unterschiede nichts Anderes als die inzwischen eingetretenen Aenderungen der Zivilisation.

Damit ist unsere Aufgabe noch keineswegs gelöst. Wir werden dann nur die Aenderungen der Zivilisation konstatirt nahen. Wenn es uns gelingt, alle Zivilisationen aller Völker und aller Epochen zur Vergleichung mit heranzuziehen, werden wir vielleicht auch eine gewisse Regelmässigkeit in jenen Aenderungen erkennen können. Ob das aber genügen wird, die Regeln, die Gesetze selber zu entdecken, können wir heute nicht wissen. Wir können nur hoffen, dass, wenn unsere Arbeit einmal so weit gediehen sein wird, wenn wir erst einmal jene Höhe des Wissens erklommen haben werden, neue Wege KW endlichen Erreichung des Ziels sich unsrem Blick darbieten werden, Wege, von denen wir heute noch nichts ahnen können.

Die Aufgabe, soweit wir sie bis jetzt erfassen können, ist aber auch gerade gross genug und liefert für mehrere Generationen genügenden Arbeitsstoff.

Denn es sollen sämmtliche Zivilisationen sämmtlicher Völker und sämmtlicher Zeiten zuerst dargestellt, dann mit einander verglichen werden – ein riesenhaftes Werk, noch riesenhafter als es scheint. Was man nämlich darstellen soll, muss man zuerst kennen. Von den Zivilisationen der allermeisten Völker sind aber nur Bruchstücke bekannt. Sie sind nicht erforscht. Die historische Forschung hat sich bisher mit der Zivilisation nur nebenbei beschäftigt. Ihr Gegenstand ist die Erforschung der Kriegsereignisse und der Politik gewesen, und nur insoweit ist die Zivilisation von ihr mit berücksichtigt worden, wie sie zum Verständniss der Ereignisse nothwendig erschien. Wir besitzen deshalb Bruchstücke der Zivilisation aus fast allen Epochen, aber nirgends ein Gesammtbild. Und ehe eine vollständige Darstellung gegeben werden kann, muss die Forschung wieder aufgenommen, muss die Zivilisation erforscht werden.

Versuchen wir, uns das anschaulich zu machen.

An die Vergleichung der verschiedenen Zivilisationen kann selbstredend erst gedacht werden, wenn wir mindestens eine gewisse Anzahl Darstellungen haben. Es handelt sich also zunächst um die Darstellung der Zivilisation möglichst vieler verschiedener Epochen und Völker.

Zivilisation ist – wir erinnern uns – die Gesammtheit der sozialen Beziehungen. Alle sozialen Beziehungen eines Volkes sollen also dargestellt werden. Dahin gehört z.B.:

  1. seine soziale Verfassunng, d.h. seine Eintheilung in Klassen und Stände;
  2. die Art und Weise seines Nahrungserwerbs, wie Ackerbau, Industrie, Handel, Schifffahrt, Kriegswesen (letzteres wenigstens in den ältesten Zeiten);
  3. seine politische Verfassung, d.h, die Vertheilung der Staatsgewalt unter die Klassen und Stände;
  4. Rechtswesen;
  5. Eigenthumsordnung;
  6. Familienordnung;
  7. Religion;
  8. Kenntnisse und Fertigkeiten;
  9. Kunst;
  10. Moral;
  11. Privatleben.

Diese Liste beansprucht keineswegs, vollständig zu sein. Sicherlieh giebt es noch eine ganze Menge andrer sozialer Beziehungen, die in keiner der 11 Klassen enthalten sind. Und doch genügt ein Blick, um uns zu überzeugen, wie weit wir noch entfernt sind selbst von der Kenntnis nur dieser 11 Klassen. Nur die politische Verfassung und das Rechtswesen sind selbst Gegenstand der Forschung gewesen. Dabei wurden auch über einzelne andre Gebiete, namentlich über soziale Verfassung, über Religion, über Kunst und Wissenschaft ansehnliche Kenntnisse mit zu Tage gefördert. Und so besitzen wir, wie gesagt, nennenswerthe Kunde von gar manchen Theilen der Zivilisation. Aber weitaus das Meiste – ich nenne nur den Nahrungserwerb, die wirtschaftlichen Verhältnisse – ist uns noch durchaus unbekannt.

Es ergiebt sich daraus, dass zunächst die ganze historische Quellenforschung noch einmal aufgenommen’ werden muss, um zu dem bisher Bekannten noch die Erforschung aller sozialen Beziehungen zu fügen, soweit uns das irgend möglich ist.

Hiernach stellt sich die ganze Arbeit, die in der historischen Wissenschaft meines Erachtens die Aufgabe unsrer und der nächsten Generationen ist, folgendermaassen:

  1. zuerst die Wiederaufnahme der Quellenforschung zum Zweck der Erforschung der sozialen Beziehungen in allen uns bekannten Epochen;
  2. darauf folgend die Darstellung der Ergebnisse dieser Forschungen, d.h. der Zivilisationen in den verschiedenen Epochen;
  3. endlich Vergleichung dieser verschiedenen Zivilisationen, um die Unterschiede und dadurch die Entwickelung derselben zu erkennen.

In diese Arbeit haben sich alle Diejenigen zu theilen, die sich für die historische Wissenschaft interessiren und an ihrem Fortschritt mitarbeiten wollen.

Es entsteht die Frage, ob es gerathen ist, eine Darstellung derjenigen Bruchstücke der Zivilisation, die wir kennen, heute schon zu beginnen. [2] Man könnte solche Darstellungen freilich schon jetzt benutzen, um die einander entsprechenden Theile der Zivilisation, z.B. die soziale Verfassung, das Rechtswesen, die Religion, bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten zu vergleichen und Schlüsse daraus zu ziehen. Solche Schlussfolgerungen sind aber gefährlich. So lange man nicht alles zur Vergleichung nothwendige Material heranziehen kann, müssen die Schlüsse nothwendigerweise fehlerhaft sein. Und deshalb könnte es gerathen erscheinen, zunächst, alle verfügbare Kraft auf die Quellenforschung zu verwenden, und die Darstellung so lange aufzuschieben, bis alles uns erreichbare Material durchforscht ist.

Ich bin nicht dieser Ansicht.

Zunächst kommt die Eigenart des Historikers in Betracht. Ich kann mir vorstellen, dass Jemand ein ganz guter Historiker ist und doch für die Quellenforschung nichts taugt, auch keinen Geschmack daran findet. Der muss sich also von vornherein sein Arbeitsfeld wo anders suchen.

Des Weitern ist die Darstellung, wenn sie auch ihr Material von der Quellenforschung erhält, doch, auch ihrerseits ein wichtiges Hilfsmitel der Quellenforschung, indem sie ihr durch Aufweisung der Lücken zeigt, wo etwas zu leisten ist.

Ferner ist die Darstellung, auch wenn sie verfrüht wäre, doch keine verlorene Arbeit. Ob früher oder später, gemacht muss sie doch werden, und was wir in dieser Hinsicht heute etwa leisten, kann von unsern Nachfolgern direkt benutzt werden; sie brauchen es nur zu vervollständigen.

Zudem, wenn wir warten wollten, bis die Quellenforschung ganz fertig ist, so könnten wir auf den Sankt-Nimmerleinstag warten: sie wird nie fertig, werden. Unsere Darstellung wird immer unvollkommen sein und deshalb immer Fehler enthalten; wie können nichts weiter thun, als im Fortschritt der Arbeit die Fehler so viel wie möglich verringern und ausmerzen Das ist übrigens in allen ändern Wissenschaften genau ebenso. Endlich aber – und das ist mir die Hauptsache – würde diese Art der Geschichtserzählung einen prinzipiellen Bruch mit der alten Auffassung bedeuten. Sie würde dem Publikum, das bis jetzt nur gewöhnt ist, Heldenthaten und Schlachtenberichte zu vernehmen, eindringlich vor Augen führen, dass die Bedeutung der Geschichtswissenschaft eine andre, eine höhre ist, als die Verherrlichung einzelner Personen. So könnte sie die allgemeine Aufmerksamkeit unsrer neuen Auffassung zuwenden und wäre dann, wenn auch nur ein und noch dazu ein sehr kleiner Schritt, doch der erste Schritt auf der neuen Bahn, und darin liegt ihre Wichtigkeit.

 

Fußnoten

1. Siehe Soz. Monatshefte 1898, pag. 482 ff., 579 ff., 588 ff.

2. Ich möchte nicht das Missverständniss aufkommen lassen, als ob es mir unbekannt wäre, welche werthvolle Arbeiten – Forschungen sowohl wie Darstellungen – über grosse Gebiete der Zivilisation bereits gemacht worden sind, und zwar fast ausschliesslich wohl von bürgerlicher Seite. Ich erinnere nur an Verfassungsgeschichte, Rechtsgeschichte, Kunstgeschichte u.s.w. Im Gegentheil sind es gerade diese Arbeiten, auf die wir uns in erster Linie zu stützen haben werden. Es wäre ganz unnütz, die Quellenforschung und Darstellung der Zivilisation da, wo sie schon gemacht ist, noch einmal zu machen. – Aber jene Arbeiten verfolgen grundsätzlich einen ändern Zweck, als den von mir verlangten: sie wollen durch Erkenntniss der Gesammtgeschichte zum Verständniss desjenigen Gebiets, das sie speziell behandeln, und dessen Entwickelung vordringen, während ich umgekehrt durch Zusammenstellung alles aus den einzelnen Gebieten Bekannten zum Verständniss der Gesammtzivilisation und ihrer Entwickelung vorzudringen strebe.


Zuletzt aktualisiert am 5.10.2008