N. Bucharin

Die politische Ökonomie des Rentners

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Vorwort zur russischen Ausgabe

Die vorliegende Arbeit wurde bereits im Herbst 1914 vollendet, d. h. zu Beginn des Weltkrieges. Das Vorwort ist im August/September desselben Jahres geschrieben.

Mich beschäftigte seit langem der Gedanke, eine systematische Kritik der theoretischen Oekonomie der neuesten Bourgeoisie zu geben. Zu diesem Zweck ging ich nach Wien, nachdem es mir geglückt war, aus der Verbannung zu entkommen; ich hörte dort Vorlesungen von Böhm-Bawerk, dem nun verstorbenen Professor an der Wiener Universität. In der Wiener Universitätsbibliothek studierte ich die Literatur der österreichischen Theoretiker. Es gelang mir aber nicht, die Arbeit in Wien zu beenden, da die österreichische Regierung mich vor Ausbruch des Krieges auf einer Festung einsperren ließ, während die Hüter der Ordnung das Manuskript einer sorgfältigen Prüfung unterwarfen. In der Schweiz, nach der ich ausgewiesen wurde, konnte ich in der Lausanner Universitätsbibliothek an Ort und Stelle die „Lausanner Schule“ (Walras) und die älteren Volkswirtschaftler studieren und somit die Grenznutzentheorie bis auf ihre Wurzel verfolgen. Dort habe ich mich auch mit den englisch-amerikanischen Volkswirtschaftlern eingehend beschäftigt. Politische Tätigkeit führte mich nach Stockholm, wo die königliche Bibliothek und die besondere volkswirtschaftliche Bibliothek der Handelshochschule mir die Möglichkeit gaben, mein Studium der neueren bürgerlichen NationalÖkonomie fortzusetzen. Meine Verhaftung und Ausweisung nach Norwegen versetzten mich in die Bibliothek des Nobel-Instituts in Christiania; nach meiner Uebersiedlung nach Amerika konnte ich nun an Ort und Stelle in der Neuyorker öffentlichen Bibliothek die amerikanische volkswirtschaftliche Literatur noch ausführlicher kennen lernen.

Das Manuskript war in Christiania lange Zeit unauffindbar, und nur dank den energischen Bemühungen meines Freundes, des norwegischen Kommunisten Arvid C. Hansen, wurde es gefunden und im Februar 1919 nach Sowjetrußland gebracht. Ich habe ihm jetzt nur einige Bemerkungen und Anmerkungen hinzugefügt, die sich hauptsächlich auf die anglo-amerikanische Schule und die neueren Erscheinungen überhaupt beziehen.

Das die äußere „Geschichte“ dieser Arbeit. Was das Wesen der Sache betrifft, so läßt sich darüber folgendes sagen:

Bis jetzt kannte man im marxistischen Lager hauptsächlich zwei Arten der Kritik der neuesten bürgerlichen Volkswirtschaftslehre: entweder war es eine ausschließlich soziologische Kritik oder eine ausschließlich methodologische. Man stellte z. B. fest, daß das betreffende theoretische System mit einer bestimmten Klassenpsychologie verwandt ist, und damit war die Sache erledigt. Oder aber man wies darauf hin, daß gewisse methodologische Grundlagen, das Herantreten an das Problem unrichtig sei, und hielt es deshalb für überflüssig, eine ausführliche Kritik der „inneren“ Seite des Systems zu geben.

Gewiß, wenn man davon ausgeht, daß nur die Klassentheorie des Proletariats objektiv richtig sein kann, so genügt, streng genommen, schon die Aufdeckung des bourgeoisen Charakters der betreffenden Theorie allein, um diese Theorie abzulehnen. Im Grunde genommen ist es auch so, denn der Marxismus beansprucht Allgemeingültigkeit eben gerade deshalb, weil er der theoretische Ausdruck der fortschrittlichsten Klasse ist, deren „Ansprüche“ auf Erkenntnis viel kühner sind, als die konservative und infolgedessen auch beschränkte Denkweise der herrschenden Klassen der kapitalistischen Gesellschaft es ist. Trotzdem ist es klar, daß man diese Richtigkeit gerade im Kampfe der Ideologien untereinander beweisen muß, und zwar durch die logische Kritik der uns feindlichen Theorien. Und so entbindet uns die soziologische Charakteristik einer Theorie keineswegs von der Pflicht, den Kampf gegen sie auch auf dem Boden der reinen logischen Kritik zu führen.

Dasselbe gilt auch für die Kritik der Methode. Sicherlich wirft die Feststellung, daß der Ausgangspunkt der methodologischen Grundlagen falsch ist, das ganze theoretische Gebäude über den Haufen. Indes fordert der Kampf der Ideologien, daß man die Unrichtigkeit der Methode an den falschen Teilschlußfolgerungen des Systems nachweist, und zwar kann man entweder auf die inneren Widersprüche des gesamten Systems hinweisen oder auf seine Unvollständigkeit, auf seine organische Unfähigkeit, eine Reihe für die betreffende Disziplin wichtiger Erscheinungen zu erfassen und zu erklären.

Daraus folgt, daß der Marxismus eine ausführliche Kritik der neuesten Theorien geben muß, die sowohl die soziologische als auch die methodologische Kritik mit einschließt, gleichzeitig aber auch eine Kritik des ganzen Systems bis in alle seine Verästelungen ist. So hat auch Marx das Problem gegenüber der bürgerlichen politischen Oekonomie gestellt (siehe seine Theorien über den Mehrwert).

Während die Marxisten sich gewöhnlich auf eine soziologische und methodologische Kritik der österreichischen Schule beschränkten, kritisierten die bürgerlichen Gegner dieser Schule sie hauptsächlich vom Standpunkt der Unrichtigkeit einzelner Schlußfolgerungen. Nur der fast alleinstehende R. Stolzmann hat versucht, eine ausführliche Kritik Böhm-Bawerks zu geben. Sofern einzelne Grundgedanken dieses Autors eine gewisse theoretische Verwandtschaft mit dem Marxismus aufweisen, ist unsere Kritik der „Oesterreicher“ der Stolzmanns ähnlich. Ich hielt es für notwendig, diese Uebereinstimmung beider Kritiken auch in den Fällen hervorzuheben, in denen ich zu denselben Schlußfolgerungen kam, noch ehe ich Stolzmanns Arbeit kennen lernte. Indessen stützt sich Stolzmann bei all seinen Vorzügen auf eine ganz unrichtige Auffassung der Gesellschaft als eines „Zweckgebildes“. Nicht umsonst verteidigt sich R. Liefmann, ein sehr wichtiger Anhänger der österreichischen Schule, die er vertiefte und deren Besonderheiten er schärfer hervorhob, gegenüber Stolzmann, indem er dessen Teleologie bekämpft. Dieser teleologische Standpunkt, zusammen mit den ausgesprochenen apologetischen Tönen, gestattet Stolzmann nicht, seiner Kritik der österreichischen Schule einen entsprechenden theoretischen Rahmen zu geben. Diese Arbeit können nur Marxisten leisten, und einen Versuch in dieser Richtung stellt vorliegende Arbeit dar.

Die Auswahl des Gegenstandes unserer Kritik braucht wohl nicht des längeren erörtert zu werden. Es ist allgemein anerkannt, daß der stärkste Gegner des Marxismus eben die österreichische Schule ist.

Es kann sonderbar erscheinen, daß ich meine Arbeit in einer Zeit des tobenden Bürgerkrieges in Europa veröffentliche; indes haben sich die Marxisten nie verpflichtet, ihre theoretische Arbeit einzustellen, auch nicht zur Zeit der schärfsten Klassenkämpfe, wenn nur die physische Möglichkeit für eine derartige Arbeit vorhanden ist. Viel ernster wäre die Erwiderung, daß es doch mindestens unsinnig sei, die kapitalistische Theorie zu widerlegen, wenn Objekt und Subjekt dieser Theorie jetzt in den Flammen der kommunistischen Revolution untergehen. Aber auch eine solche Erwiderung wäre nicht stichhaltig, weil zum Verständnis der gegenwärtigen Ereignisse die Kritik des kapitalistischen Systems äußerst wichtig ist. Und sofern eine Kritik der bürgerlichen Theorien den Weg dazu ebnet, behält sie auch Erkenntniswert.

Noch einige Worte über die Form der Darstellung. Ich habe mich bemüht, möglichst kurz zu sein, wodurch wahrscheinlich die relative Schwierigkeit der Darstellung verursacht worden ist. Anderseits habe ich viel zitiert, sowohl die Oesterreicher als auch die Mathematiker, die Anglo-Amerikaner usw. Gegen eine solche Art der Darstellung besteht in unseren marxistischen Kreisen große Abneigung, als gegen eine rein äußerliche „Gelehrsamkeit“. Trotzdem hielt ich es für notwendig, einige Belege aus der historischen Literatur anzuführen, die die Leser in den Gegenstand einführen und die Orientierung erleichtern könnten. Die Feinde kennen zu lernen ist keineswegs überflüssig, umso weniger, als man sie bei uns wenig kennt. Dabei gebe ich in den Fußnoten in nuce zugleich parallel eine systematische Kritik der anderen Abzweigungen des bürgerlichen theoretischen Denkens.

Ich möchte an dieser Stelle meinem Freunde, Jurij Leonidowitsch Pjatakow, mit dem ich öfter Fragen der theoretischen NationalÖkonomie erörtert habe und der mir wertvolle Fingerzeige gab, meinen Dank aussprechen.

Das Büchlein ist dem Genossen N. L. gewidmet.

 

N. Bucharin
Moskau, Ende Februar 1919


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2020