Chris Harman

 

Der staatskapitalistische Block

(Teil 2)

 

Die Stalin-Ära

Nicht nur die Massen der Arbeiter, Bauern und die Zwangsarbeiter in den Lagern litten darunter, daß in Rußland alles dem Aufbau der Schwerindustrie untergeordnet wurde. Innerhalb der Bürokratie selbst wütete die Terrorherrschaft. Diejenigen, die irgendwelche Skrupel wegen der Ausbeutung der Bevölkerung hatten, wurden eingesperrt, verbannt, gefoltert und schließlich während der großen Säuberungen hingerichtet. Die letzten heimlichen Überreste des Bolschewismus in Staat und Parteiapparat wurden ausgetilgt. [490] Jeder, von dem man auch nur ahnte, daß er die Abpressung des Mehrprodukts und dessen Verwandlung in Produktionsmittel behindern könnte, wurde entfernt. Die Angst vor dem, was passieren könnte, falls man in der Erfüllung von Forderungen der „Oberen“ versagte, mußte groß genug sein, um dem Druck der Arbeiter und Bauern von „unten“ entgegenzuwirken. Dies fand seine notwendige Ergänzung in der Durchsetzung einer monolithischen politischen Linie: denn jede Diskussion innerhalb der Bürokratie könnte leicht die unterdrückten Hoffnungen der ausgebeuteten Massen draußen widerspiegeln. Daher die ständigen und scheinbar widersinnigen Zwangsmaßnahmen des Polizei-Apparates. Dennoch war es nicht nur die Angst, die für die Stabilität des Regimes während der Stalin-Periode sorgte. Denn, wie sehr auch der einzelne unter dem Terror litt, wie groß auch die fortwährende Angst und Unsicherheit, die Bürokratie als Ganzes profitierte von Stalins Herrschaft. Vor allem die Industrie, über die sie herrschte, wuchs beträchtlich. Ihre Macht wuchs, und ihre Stellung war international gesichert.

Infolgedessen hatte niemand ernsthaft eine Alternative vorzuschlagen, obwohl Stalin überall gehaßt wurde. Nahm man einmal die Ziele als gegeben, die die gesellschaftliche Stellung der Bürokratie ihr selbst aufzwang – Aufbau der russischen Wirtschaft im Wettlauf mit dem Westen –, so schienen Stalins Methoden und seine Politik unvermeidlich.

Während die Industrie weiterhin in einem beispiellosen Ausmaß wuchs, konnten auch viele Einzelpersonen außerhalb der Bürokratie davon profitieren. Die Mehrheit der Arbeiter erfuhr eine Senkung ihres Lebensstandards, aber einige zehntausend unter ihnen stiegen zu privilegierten Positionen in dem sich erweiternden Kontroll- und Überwachungsapparat auf.

Zur selben Zeit zogen Millionen aus der rohen Primitivität des bäuerlichen Lebens in die Städte, wo die Verhältnisse zwar immer noch miserabel waren, die Möglichkeiten dennoch größer und der Horizont weiter.

Entgegen der Prophezeiungen eines frühen Untergangs durch viele seiner Gegner [491] entwickelte das Stalin-Regime eine beträchtliche Widerstandskraft und überlebte sogar die vernichtenden militärischen Rückschläge in der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges. Mehr noch: nach der Niederlage Deutschlands dehnte es seinen direkten Einflußbereich beträchtlich aus. Gleichzeitig gelang es ihm, Regime in Osteuropa zu etablieren, die in vieler Hinsicht mit dem in Rußland identisch und ihm unterworfen waren.

 

 

Imperialismus und Konterrevolution

Stalins Außenpolitik war von denselben Motiven bestimmt wie seine Innenpolitik. In den dreißiger Jahren bedeutete dies Opposition gegenüber revolutionären Entwicklungen im Ausland. In den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren bestand diese Feindschaft fort. Stalins Mangel an Unterstützung für Mao in China und Tito in Jugoslawien sind ausführlich dokumentiert. So war es auch der Druck Stalins, der die italienischen Kommunisten die reaktionäre Badoglio-Regierung unterstützen ließ, zu einer Zeit, als die sozialistischen und Aktions-Parteien diese von links her angriffen; es war Stalins Druck, der 1944 die französischen Kommunisten in die de Gaulle-Regierung eintreten ließ.

Aber das bedeutete nicht, wie viele linke Gegner Stalins glaubten, daß die russischen Herrscher nicht ihre eigene Herrschaft ausdehnen würden, falls sie Gelegenheit dazu hätten. Zur selben Zeit, als Stalin sich jedem Versuch von Revolutionären im Westen, den Kapitalismus zu stürzen, widersetzte, machte er sich daran, in den Ländern Osteuropas unter der direkten oder indirekten Kontrolle der Roten Armee Regimes zu etablieren, die mit dem in Rußland identisch waren. Hier hatten die moskautreuen Kommunisten durch die Beteiligung an Koalitionsregierungen Kontrolle über den Staatsapparat gewonnen. [492] Der russische Einfluß sollte nun sicherstellen, daß sie diese Kontrolle dazu nutzen konnten, alle anderen politischen und sozialen Kräfte auszuschalten, eine „Revolution von oben“ durchzuführen und die Gesellschaft durch einen stalinistischen Apparat zu beherrschen. In Wirklichkeit gab es keinen Widerspruch in Stalins Verhalten. Er war nur dann bereit, die Etablierung kommunistischer Regimes zu unterstützen, wenn er überzeugt war, daß er sie kontrollieren konnte, und nur dort, wo er sich damit nicht zu viel Feindschaft einhandelte. Das war der Fall mit fast ganz Osteuropa (und mit Nordkorea). Die Teilung der Welt in eine englisch-amerikanische und eine russische Einflußsphäre war auf den Konferenzen von Potsdam und Jalta beschlossen worden. Obwohl es Auseinandersetzungen an den Grenzen gab (Berlin, Korea), so hielten sich doch beide Seiten während der gesamten Nachkriegsperiode an die Abmachung. Stalin rührte keinen Finger, als britische und amerikanische Truppen mit Gewalt eine reaktionäre Monarchie in Griechenland wiedereinsetzten. Die Amerikaner beließen es ihrerseits bei flauer Propaganda, als die Arbeiter in Berlin und Budapest sich erhoben.

Ein Durchleuchten der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Rußland und den Satelliten enthüllt sehr schnell das vorrangige Interesse, das der russischen Politik zugrunde lag. Die Kontrolle über die osteuropäischen Staaten wurde dazu benutzt, sie den Akkumulationszielen der russischen Bürokratie zu unterwerfen. Dies nahm anfangs die Form mehr oder minder brutalen Eintreibens von Kriegsbeute aus diesen Ländern an.

Im Falle von Ländern, die im Krieg mit Deutschland verbündet gewesen waren, gab es sehr hohe „Reparationen“. Den einfachen Arbeitern und Bauern dieser Länder, die zuvor unter der Politik der reaktionären Herrscher gelitten hatten, wurde damit zugemutet, für die Verbrechen ihrer ehemaligen Herrscher im Ausland zu bezahlen. In Wirklichkeit war die Politik überall gleich; so z.B. in der Mandschurei, wo die russische Armee bekanntgab, daß sie industrielle Anlagen als „Kriegsbeute“ beschlagnehme. Die langfristige ökonomische Entwicklung dieser Länder war den Interessen Moskaus untergeordnet. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung dieser Länder durch den Handel ausgebeutet. Nach 1948 dirigierten alle ihren Handel vom Westen nach Rußland um. Die Russen benutzten ihre Monopolsituation dazu, um für Importe aus den Satelliten-Ländern weniger als Weltmarktpreise zu zahlen und für Exporte in diese Länder mehr als Weltmarktpreise zu verlangen. Einer der Hauptvorwürfe, den die Jugoslawen erhoben, als sie 1948 mit der Kominform brachen, war, daß Rußlands „revolutionäre Phraseologie die konterrevolutionären Versuche verschleiert, die Industrialisierung unseres Landes zu verhindern ...“

Dasselbe Interesse, nicht auf einen bloßen Zulieferer billiger Rohstoffe für das restliche Osteuropa reduziert zu werden, stand hinter Rumäniens Bruch mit Rußland in den sechziger Jahren. Und auch einer der Vorwürfe, den die Chinesen machten, war, daß „... die Preise vieler Waren, die wir aus der Sowjetunion importierten, viel höher als jene auf dem Weltmarkt waren“. [493]

Um die Zustimmung zu solchen Praktiken zu sichern, kam es anfangs ständig zu Säuberungen in den lokalen kommunistischen Bürokratien Osteuropas. Besonders nach Tito’s Bruch mit Stalin wurde jeder einzelne in der Führung dieser Parteien, der auch nur in Verdacht geriet, die russische Vorherrschaft in Frage zu stellen, liquidiert. In der Tschechoslowakei wurden der Sekretär der kommunistischen Partei und zehn Minister gehängt; in Ungarn wurde Rajk hingerichtet, Kadar eingesperrt und gefoltert; in Bulgarien wurde Kostor hingerichtet; in Polen Gomulka eingesperrt.

Gleichzeitig bekamen es auch Tausende von unteren Funktionären und Hunderttausende von Arbeitern zu spüren, daß der russische Imperialismus die Schrauben anzog.

 

 

Die Blockpolitik scheitert

Die Regimes in Rußland und Osteuropa gehören zu den repressivsten und totalitärsten Gesellschaften in der Geschichte. Es gibt freilich viele Beispiele aus vorkapitalistischen Gesellschaftsepochen, in denen eine Bürokratie als Klasse durch ihre kollektive Kontrolle über den Staat und die wichtigsten Produktionsmittel herrschte, indem sie ihre Handlungen darauf abstimmte, die Organisierung jeglicher andrer sozialen Kraft zu verhindern. Doch erst der Einsatz moderner Technik erlaubt systematische Unterdrückung von beispiellosem Ausmaß.

Gleichzeitig jedoch sind die staatskapitalistischen Regimes im Gegensatz zu früheren bürokratisch beherrschten Gesellschaften gezwungen, fortwährend die ökonomische Basis ihres eigenen Herrschaftssystems umzugestalten. Ihre vorwärtstreibende Kraft ist die fortwährende Ausdehnung der Produktionsmittel. Und dies kommt unweigerlich in Konflikt mit der starren, monolithischen und leblosen politischen Struktur. Das wird am deutlichsten an den internationalen Beziehungen der verschiedenen Ostblock-Staaten untereinander. In dem Maße, wie die Volkswirtschaften sich verändern, erheben deren jeweilige herrschenden Klassen auch gegeneinander neue Forderungen. jede wird durch das Interesse bestimmt, so schnell wie möglich eine Industrie aufzubauen. Sie werden nur mit den anderen Staaten kooperieren, sofern es ihnen hilft, dieses Ziel zu erreichen. Aber in dem Moment, wo das nicht mehr der Fall ist, tritt an die Stelle der Kooperation wilde Polemik, gegenseitige Verurteilung, physische Bedrohung und sogar militärische Auseinandersetzung. Genauso wie die Konkurrenz zwischen den privatkapitalistischen Staaten ihren Höhepunkt im Krieg erreichte, so die Konkurrenz zwischen den sogenannten „sozialistischen“ staatskapitalistischen Staaten. Waren daher erst einmal stalinistische Regime unabhängig von Rußland errichtet, dann war der Zerfall des internationalen kommunistischen Blocks unvermeidlich. Das wiederum machte es ehemaligen russischen Satellitenstaaten wie Rumänien und Nord-Korea möglich, sich einen gewissen Grad an Unabhängigkeit zu verschaffen.

Im Inneren dieser Gesellschaften aber erwachsen ebenfalls Spannungen, die die Gesellschaften sprengen können. Zwar kann die staatskapitalistische Form der Produktion unter bestimmten Bedingungen die Industrie in unerhörtem Tempo entwickeln; aber sie ist dabei nicht in jeder Hinsicht erfolgreich.

Eine repressive, bürokratische Organisation der Arbeit kann nur dann einen immer größeren Mehrwert aus der arbeitenden Bevölkerung heraus pressen, wenn eine mehr oder minder vollständige äußere Kontrolle über den tatsächlichen Arbeitsprozeß möglich ist. Aber es gibt Arbeitsprozesse, die ihrer Natur nach von der Initiative und Einsatzbereitschaft des Arbeiters abhängen. Diese Prozesse können nicht vollständig von oben kontrolliert werden, sei es nur deswegen, weil kein Aufpasser jedem kleinsten Arbeitsabschnitt folgen kann.

Dies ist tatsächlich ein Element, das die gesamte Entwicklung der russischen Industrie seit Beginn der stalinistischen Ära gehemmt hat. In der Landwirtschaft z.B., vor allem in der Tierzucht, steht die Initiative und das Verantwortungsgefühl des Arbeiters im Mittelpunkt. Bürokratische Methoden waren keineswegs in der Lage, die landwirtschaftliche Produktion zu steigern, im Gegenteil, sie führten zu einer Senkung der Produktion. Was für die Landwirtschaft gilt, gilt ebenso für viele wichtige Bereiche technisch fortgeschrittener Industrieproduktion. Auch hier führt bürokratische Kontrolle zu einem niedrigen Produktivitätsniveau und zu schlechter Qualität der Produkte. Dies kann nur dadurch überwunden werden, daß eine Übertragung der Initiative von den zentralen Bürokraten auf die lokalen Bürokraten und Arbeiter zugelassen wird. Aber jene werden nur dann mit einer Verbesserung ihrer Arbeitsleistungen antworten, wenn sie sich genügend mit dem System identifizieren können – eben, um gute Arbeit ohne äußeren Druck zu leisten. Also erfordert höhere Produktivität eine Hebung des Lebensstandards und verbesserte Arbeitsbedingungen. Wenn das nicht geleistet wird, kann die Folge nur ein langfristiger Rückgang der Akkumulationsrate und eine Schwächung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Bürokratie sein.

Diese Probleme werden desto schwerwiegender, je mehr die Industrialisierung voranschreitet, weil bis dahin ungenutzte materielle Mittel aufgebraucht sind. Zu Stalins Zeiten erlaubte ein Überfluß an materiellen Mitteln ein industrielles Wachstum, obwohl diese Mittel nicht wirksam ausgenutzt wurden und die Arbeitsproduktivität sehr niedrig war. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren nicht mehr möglich. Die Folge war ein Rückgang der Wachstumsraten aller stalinistischen Industriestaaten.

Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten des Volkseinkommens

1950-1955

1955-1960

1960-1965

DDR

11,4

7,0

3,5

CSSR

  8,0

7,1

1,8

UdSSR

11,3

9,2

6,3

Ungarn

  6,3

6,5

4,7

Polen

  8,6

6,6

5,9

Bulgarien

12,2

9,7

6,5

Um das Fallen der Wachstumsraten aufzuhalten, müssen die Bürokraten ihrer Kontrolle über den Rest der Bevölkerung andere Formen geben. Gleichzeitig müssen sie Mittel in die Sektoren der Wirtschaft umlenken, die Waren zur Hebung des Lebensstandards der Massen produzieren, d.h. in die bisher stagnierenden landwirtschaftlichen und Konsumgüterbereiche. Zwei unvermeidliche Probleme bedrohen die Bürokratie, wenn sie solche Veränderungen versucht.

  1. Die fortdauernde kurzfristige Konkurrenz mit dem Westen (und im wachsenden Maße mit anderen staatskapitalistischen Ländern) erzeugt einen starken Druck in Richtung auf eine weiterhin hohe Investitionsrate in der Schwerindustrie und der Rüstungsproduktion, So ist es „auf Grund der internationalen Situation nicht möglich gewesen, so viele Mittel, wie beabsichtigt, für landwirtschaftliche Investitionen bereitzustellen; und während die Zahl von 1969 die von 1968 überschreitet, bleibt sie unter der in den Direktiven für 1969/70 vorgesehenen.“ Das untergräbt die Möglichkeit jeglicher langfristigen Verbesserung der Produktivität.
  2. Jede Änderung der Organisation der Industrie beinhaltet auch eine Änderung der inneren Machtstruktur der Bürokratie selbst. Einige Gruppen der Bürokratie ziehen in diesem Prozeß den kürzeren. Unter diesen sind diejenigen, die sich von ihrer Stellung her am stärksten gegen solche Änderungen sträuben: die Verantwortlichen für die Unterdrückungsorgane, höhere Manager in der Schwerindustrie usw. Jene, die in der Vergangenheit die Macht ausübten, um die Ziele der gesamten Bürokratie zu verwirklichen, behalten weiterhin diese Macht. Sie können sie jetzt dazu benutzen, Änderungen zu sabotieren, die notwendig wären, um Produktionsziele unter neuen Bedingungen zu verwirklichen. Sie finden eine große Anzahl von Anhängern auf jeder Ebene des Staates und des Industrieapparates. Ferner erschwert die monolithische Organisation der Gesellschaft die Diskussion über Änderungen, sogar innerhalb der Bürokratie. Jene, die Änderungen fordern, setzen sich also ohne weiteres Repressionen, Einschüchterungsversuchen, der Verhaftung usw. aus.

Deshalb können notwendige Reformen zur Aufrechterhaltung der Akkumulationsrate nicht durchgeführt werden, wenn es nicht eine bewußte Organisation innerhalb des monolithischen Apparates gibt, um diese Reformen durchzusetzen. Diejenigen Gruppen im Apparat, die die Notwendigkeit von Reformen sehen, müssen Gegenmaßnahmen vornehmen, um sich vor konservativen Bürokraten, die in Machtpositionen sitzen, zu schützen.

Die klassische Form, in der sich diese Prozesse herausbilden, zeigt sich in Ungarn und Polen 1956 und in der Tschechoslowakei 1968. In allen drei Fällen waren diejenigen, die die langfristigen Interessen der Bürokratie über die Durchführung von Reformen vertraten, unfähig, den Widerstand der Konservativen durch Überzeugung zu überwinden. Selbst dort, wo formale Zustimmung erreicht wurde, wurden die Reformen in der Praxis sabotiert. Indessen wurden die Reformer vorwärtsgetrieben durch die immer bedrohlichere wirtschaftliche Situation sowie durch die Angst vor dem, was ihnen im Falle einer Niederlage zustoßen würde. In dieser Situation begannen sie, nach Verbündeten zu suchen. Diese sollten ihnen helfen, die Gegner in Schach zu halten, während sie, die Reformer, selbst vollständig die Macht übernahmen.

Ab einem bestimmten Punkt bedeutete das, daß die Reformer über die Grenze der herrschenden Bürokratie sich an Zwischenschichten wie Studenten und Intellektuelle und sogar an Elemente unter den Arbeitern wandten. Aber um deren Unterstützung zu gewinnen, mußten die reformerischen Bürokraten Parolen ausgeben, die die allgemeine Feindseligkeit der Gesellschaft gegenüber dem Polizeiapparat und dem Stalinismus ausdrückten.

In Polen führte Gomulka dieses ganze Manöver erfolgreich durch. Nachdem er einmal den Apparat übernommen hatte, ging er daran, die totale bürokratische Kontrolle bis hin zur stalinistischen Repression wiederherzustellen. [494]

In Ungarn und in der Tschechoslowakei hingegen führten die Versuche der Reformer, den repressiven Apparat zeitweilig lahmzulegen, wenn auch unterschiedlich rasch, zu einer Einbeziehung der Masse der Bevölkerung in die politische Debatte. Dies wiederum führte bei einer großen Gruppe der Reformer, die eine vollständige Vernichtung ihrer Klassenherrschaft durch das Volk fürchteten, dazu, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt die Fronten wechselten (Kadar in Ungarn, Cernik, Svoboda in der CSSR usw.). Dies führte auch zur russischen Intervention, dem einzigen Mittel, mit dem weiterhin die bürokratische Kontrolle sicherzustellen war.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen innerhalb der Bürokratie hielten die „Reformer“ in allen drei Fällen scheinbar radikale, demokratische und sozialistische Reden. Ein Großteil der westlichen Presse nahm diese für bare Münze. In Wirklichkeit jedoch kamen jene, die solche Parolen ausgaben, oft aus der stalinistischen Tradition und beabsichtigten in keiner Weise, die umfassende Kontrolle der Bürokratie zu untergraben. Sie wollten bloß deren besondere Form ändern. Wirklich bedeutsam an den Ereignissen in Ungarn und in der Tschechoslowakei waren nicht die Reden von Nagy und Dubcek, sondern die Tatsache, daß die Revolution permanent wurde: sie bewegte sich von der Bürokratie hin zu den Zwischenschichten und von diesen zu den Arbeitern in den Fabriken und Straßen und gipfelt in der Organisierung von Arbeiterräten.

In Rußland wurde die Krise der fünfziger und sechziger Jahre niemals so akut wie in Teilen Osteuropas. Es gab unerbittliche Machtkämpfe an der Spitze. Es gab auch Kampagnen, die darauf abzielten, die Arbeitsweise des gesamten Apparates zu verändern (wie in den Anti-Stalin-Kampagnen von 1956 und 1961-1962). Aber diese erreichten nicht den Punkt, wo sie den Apparat völlig lahm gelegt oder Gruppen außerhalb der Bürokratie mobilisiert hätten. Das ist der Grund, warum der russische Staatsapparat in der Lage war, in Osteuropa einzuschreiten und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Zudem führte der relative Zusammenhalt des Apparats dazu, daß die grundsätzlichen Konflikte, die in Rußland anstehen, niemals ausgetragen wurden. Die Reformen unter Chruschtschow wurden nur teilweise durchgeführt und in vielen Fällen später wieder fallengelassen. [495]

Die Erfahrungen mit Ungarn und der Tschechoslowakei haben der Bürokratie die Gefahr einer inneren Spaltung demonstriert. Zusammen mit dem permanenten Druck durch den Rüstungswettlauf mit dem Westen, stärkt dies die Position von Elementen, die überhaupt gegen Reformen sind. Während der letzten paar Jahre läßt sich eine Rückwendung zu offen repressiven Lösungen von Problemen beobachten. Der Apparat versucht nicht mehr, im Interesse der eigenen langfristigen Stärkung auf Veränderungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen einzugehen. Statt dessen sucht er, die bestehenden Verhältnisse einzufrieren.

Reformen werden nur halbherzig auf provisorischer Basis begonnen. Statt dessen findet man eine grobe Zurschaustellung von Gewalt, in den äußeren Beziehungen zur Tschechoslowakei und China, intern im Verhältnis zu intellektuellen Dissidenten.

Aber der Apparat kann seine langfristigen ökonomischen Probleme auf die Dauer nicht ignorieren. Die Notwendigkeit, auf diese Probleme einzugehen, stößt fortwährend mit der anderen Notwendigkeit zusammen, gegenüber dem Rest der Gesellschaft den Zusammenhalt der Bürokratie zu sichern. Anstatt eine klare Vorstellung davon zu haben, was sie tut und was sie vor hat, versucht die Bürokratie in wachsendem Maße, sich „durchzuwursteln“. Da sie unfähig ist, eine klare und entschlossene Linie des politischen Handelns gegenüber dem Rest der Gesellschaft anzugeben, wird ihre Rückwendung zur offenen Repression nicht ausreichen, um die Dissidenten einzuschüchtern. Trotz Androhungen von Verhaftung, Gefängnis, Verlust des Lebensunterhalts verschaffen diese sich weiterhin Gehör, in einer Weise, die unter Stalin unmöglich gewesen wäre: Niemand erwartet von den Dichtern und Intellektuellen, die heute angeklagt werden, daß sie sich schuldig bekennen und Geständnisse ablegen. Bei den Moskauer Prozessen gestanden, trotz jahrelanger Erfahrung im Widerstand gegen Unterdrückerregimes, alle Angeklagten. [496]

Der Unterschied kommt dadurch zustande, daß Bürokratie heute nicht einmal mehr von sich selbst den Eindruck zu vermitteln vermag, daß sie wirklich weiß, was getan werden muß. Während sie den Grad der Unterdrückung erhöht, verhält sie sich zugleich so, daß der Widerstand gegen die Repression wächst – was neue Unterdrückung notwendig macht. Das wiederum erschwert der Bürokratie die Durchführung von notwendigen Reformen zur Lösung ihrer Probleme. Sie bleibt in einem Teufelskreis gefangen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Die einzigen Alternativen sind: relative ökonomische Stagnation und damit wachsende Unzufriedenheit sowohl innerhalb der Bürokratie selbst als auch – wichtiger noch – innerhalb der Bevölkerung, was schließlich zu einer elementaren

Explosion der sozialen Kräfte im Volk führen würde. Als das 1956 und 1968 geschah, wurden die Gewaltorgane des Staates genauso betroffen wie die Massen. Nur die ausländische Intervention konnte die bürokratische Macht wiederherstellen. Wenn jedoch die Erhebung der Massen Moskau und Leningrad trifft, dann werden keine derartigen ausländischen Streitkräfte mehr bereitstehen. Wie die Revolutionäre Kuron und Modzelewski aus dem Gefängnis schrieben: „Die Revolution ist eine Notwendigkeit für die Entwicklung ... Die Revolution ist „unvermeidlich“.“ [497]

 

 

Andere Interpretationen der russischen Entwicklung

Bisher haben wir versucht die Degeneration der russischen Revolution aufzuzeigen und zu interpretieren, was sich seither zugetragen hat. Es lohnt sich, an dieser Stelle kurz auf andere Interpretationen der russischen Entwicklung und deren Schlußfolgerungen einzugehen.

Die Vertreter der wichtigsten Interpretationen betrachten Rußland immer noch als irgendeine Form eines sozialistischen oder Arbeiterstaates. Sofern sie versuchen, die Wirklichkeit der russischen Gesellschaft in den Griff zu bekommen, betrachten sie die repressiven Merkmale der staatlichen Politik als Ausfluß der Deformation einer grundsätzlich gesunden Struktur. Der früheste und weitreichendste Versuch einer solchen Analyse war der von Trotzki in den dreißiger Jahren. [498]

Trotzki argumentierte, die Bürokratie sei ein Fremdkörper, der in Rußland entstanden sei aufgrund des

Widerspruch[s] zwischen Stadt und Land; zwischen Bauernschaft und Proletariat; zwischen den nationalen Republiken und den Distrikten; zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse; zwischen verschiedenen Gruppen von Konsumenten; und schließlich zwischen dem Sowjet-Staat als Ganzem und seiner kapitalistischen Umgebung ... Indem die Bürokratie sich über die werktätigen Massen erhebt, reguliert sie diese Widersprüche. [499]

In diesem Sinne konnte sie sich zu einer „parasitären Kaste“ entwickeln. Aber sie vermochte nicht, den grundlegenden Charakter Rußlands als eines Arbeiterstaates zu verändern.

Der Bürokratie mangelt es an all diesen sozialen Zügen (einer Klasse). Sie hat keine unabhängige Stellung im Prozeß der Produktion und Verteilung. [500]

Vielmehr war sie nur entstanden, um „Ungleichheiten in der Konsumsphäre zu regeln“, um als „Gendarm“ in die Verteilungssphäre einzugreifen. Das bedeutete, daß die Dynamik der Entwicklung der russischen Gesellschaft nur als Folgeerscheinung von Kräften außerhalb der Bürokratie gesehen werden konnte. Weil sie nur überleben konnte, indem sie zwischen diesen Kräften balancierte, mußte die Lebensspanne des Stalinismus sehr kurz sein. „Der Bonapartismus kann sich von Natur aus nicht lange halten: eine Kugel, die auf der Spitze einer Pyramide balanciert, muß unweigerlich die eine oder andre Seite hinunterrollen.“ [501]

So waren also die Alternativen für die UdSSR klar.

Entweder wird die Bürokratie immer mehr zu einem Organ der Weltbourgeoisie innerhalb des Arbeiterstaates, wird die neuen Eigentumsformen abschaffen und das Land in den Kapitalismus zurückwerfen, oder die Arbeiterklasse wird die Bürokratie zerschmettern und den Weg zum Sozialismus öffnen. [502]

Und diese Alternativen würden sich „innerhalb nur weniger Jahre oder sogar einiger Monate“ stellen.

So konnte für Trotzki die Bürokratie, trotz ihrer relativen Autonomie in politischen Entscheidungen, nur das Gleichgewicht zwischen anderen Kräften ausdrücken. Sie hatte keine eigene unabhängige Rolle zu spielen.

Ein Tumor kann eine gewaltige Größe erreichen und sogar den lebendigen Organismus töten, aber ein Tumor kann niemals zu einem lebendigen Organismus werden. [503]

Die Bürokratie entwickelt jedoch in der Tat eine lebendige Eigendynamik. Das war selbst zu Trotzkis Zeit deutlich. 1929 behielt die Bürokratie nicht nur die auf 1917 zurückgehende Verstaatlichung bei – sie verstaatlichte tatsächlich durch die „Kollektivierung“ mehr Eigentum als es die Revolution vermocht hatte. Das geschah nicht, wie Trotzki es beschrieb, deshalb, weil die „Zentristen (d.h. die Stalinisten) Unterstützung unter den Arbeitern fanden ...“ [504]

In Wirklichkeit griff, wie wir oben beschrieben haben, schließlich die Stalin-Bürokratie 1929, nachdem sie jahrelang andre Kräfte gegeneinander ausgespielt hatte, von sich aus an und versetzte Arbeitern und Bauern gleichzeitig einen Schlag. Von diesem Zeitpunkt an machten Angriffe auf die Bauern keine Zugeständnisse an die Arbeiter notwendig. Ebensowenig machten Angriffe auf die Arbeiter oder auf die wenigen übriggebliebenen bolschewistischen Elemente in der Partei Konzessionen an die Bauernschaft notwendig. Das sah Trotzki nicht, und das führte zu einem weiteren Fehler in seiner Analyse: einer Neigung fortwährend die „Stärke der bourgeoisen Tendenzen innerhalb des „sozialistischen“ Sektors selbst“ [505] zu überschätzen, z.B. die „reichen Kollektivbauern“.

Trotzki selbst war ehrlich genug, die Ungereimtheiten seiner eigenen bisherigen Analysen zu erkennen, als Entwicklungen stattfanden, die damit völlig unvereinbar waren. Aber das bedeutete, daß er fortwährend gezwungen war, sowohl seine grundlegenden Definitionen als auch die Schlußfolgerungen, die er daraus zog, zu revidieren. So schreibt er 1931:

Die Anerkennung des gegenwärtigen Sowjetstaates als eines Arbeiterstaates zeigt nicht nur an, daß die Bourgeoisie die Macht auf keine andre Weise als durch einen bewaffneten Aufstand an sich reißen kann, sondern auch, daß das Proletariat der UdSSR noch nicht die Möglichkeit vergeben hat, sich die Bürokratie zu unterwerfen oder die Partei wiederzubeleben und das Regime der Diktatur zu gesunden – ohne eine neue Revolution, mit den Methoden und auf dem Wege der Reform. [506]

Der Staat ist also eine Form des Arbeiterstaates, weil die Arbeiter ihn wieder friedlich unter ihre Kontrolle bringen können. Aber bereits 1935 zwangen die realen Verhältnisse in der UdSSR und die internationale Politik der Komintern Trotzki, zu erkennen, daß nur eine Arbeiterrevolution einen gesunden Arbeiterstaat wiederherstellen konnte. Gemäß seiner Definition von 1931 hätte er zugeben sollen, daß Rußland nicht länger irgendeine Art von Arbeiterstaat war. Statt dessen zog er es vor, seine Definition des „Arbeiterstaates“, zu ändern – und damit übrigens auch die Definition von Marx, Engels und Lenin: Nicht die tatsächliche Kontrolle der Arbeiter über den Staat zählte, sondern die Tatsache, daß das Eigentum verstaatlicht war. Er rechtfertigte dies mit dem Argument, daß eine solche Verstaatlichung nur möglich war auf der Grundlage der Oktoberrevolution. Die Bürokratie „ist gezwungen, das Staatseigentum als die Quelle ihrer Macht und ihres Einkommens zu verteidigen. Unter diesem Aspekt ihrer Aktivität bleibt sie noch eine Waffe der proletarischen Diktatur.“ [507]

Als er diese Worte schrieb, schien Trotzki ein entscheidendes Argument gegen die These von der Bürokratie als einer neuen Klasse entwickelt zu haben, daß die „Bürokratie für ihre Herrschaft noch keine sozialen Stützpunkte, will sagen besondere Eigentumsformen, geschaffen [hat]“. [508] Doch sollte er sogar dieses Argument fallenlassen, als er in einem seiner letzten Artikel die hypothetische Möglichkeit einer herrschenden Klasse auf der Grundlage verstaatlichten Eigentums zugab.

Nach dem zweiten Weltkrieg (und nach der Ermordung Trotzkis) fanden Entwicklungen statt, die innerhalb des Rahmens von Trotzkis Theorie überhaupt nicht erklärt werden konnten. Erstens überlebte die russische Bürokratie eine große historische Krise (die Niederlagen der russischen Armeen in den ersten Phasen des Krieges), sie ging, entgegen allen Prophezeiungen Trotzkis, in Wirklichkeit gestärkt aus dem Krieg hervor. Sie dehnte ihren unmittelbaren Herrschaftsbereich enorm aus, offenbar im Widerspruch zu Trotzkis scharfsinniger Charakterisierung ihrer Rolle als „konterrevolutionäre“ Kraft (die nämlich von einer Kapitulation vor dem internationalen Kapital ausging – Anm. d. Übers.) [509]. Zweitens, wurden in mehreren Ländern Regime, deren Wesensmerkmale mit denen Rußlands mehr oder weniger identisch waren, ohne eine Arbeiterrevolution, ohne eine bewußte sozialistische Führung, und in mehreren Fällen sogar ohne Intervention des russischen degenerierten Arbeiterstaates, etabliert.

Diejenigen, die weiterhin an Trotzkis Interpretation der russischen Entwicklung festhielten, waren damals wie heute völlig unfähig, diese Ereignisse zu verstehen. Einige haben willkürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten gemacht, indem sie einige „deformierte“ oder „degenerierte Arbeiter“-Staaten nannten, die übrigen aber nicht. Andere haben alle Staaten mit verstaatlichtem Eigentum zu Arbeiterstaaten erklärt. In beiden Fällen jedoch ist bezeichnenderweise die Trennungslinie willkürlich. Sie basiert nicht auf Trotzkis Theorie, sondern auf ad-hoc-Annahmen, die ganz pragmatisch und oberflächlich nachträglich zusammengefügt wurden. Vor allem, um eine willkürliche Unterscheidung zwischen ganz eindeutig identischen Regimen in Rußland und den anderen Ostblock-Staaten zu vermeiden, sind diese Theoretiker gezwungen, ein grundlegendes Element des Marxismus zu revidieren: daß die Errichtung eines Arbeiterstaates das Ergebnis einer Arbeiterrevolution sein muß, die durch eine Partei bewußter Kämpfer geführt wird. Um Trotzkis Theorie formal aufrechtzuerhalten, müssen sie das marxistische Fundament aufgeben, dem Trotzki verpflichtet war. Der grundlegende Fehler aller jener Theorien ist, daß sie die treibenden Kräfte hinter der stalinistischen Politik nicht bestimmen und auch nicht bestimmen können. Für sie handelt es sich um einen Körper mit einem im Wesentlichen sozialistischen Stoffwechsel. Dieser wird lediglich beeinträchtigt durch Warzen, die man nur wegzuätzen braucht, oder sogar durch Krebsgeschwülste, die man operativ entfernen muß. Sie verstehen nicht, daß das Wesen des Stoffwechsels selbst sich verändert hat. Sie erklären nicht, was seit 1929 passiert ist. Sie verzeichnen spätere Veränderungen nur als Abweichungen von der Norm. Vor allem drückt sich diese Unfähigkeit in dem Versagen aus, das internationale Verhalten der verschiedenen bürokratischen Regime zu verstehen, die Natur ihrer Konflikte mit dem westlichen Imperialismus und die Kräfte, die sie unvermeidlich miteinander in Konflikt oder sogar in einen Krieg geraten lassen.

Was für Trotzkis Theorie gilt, gilt ebenso für alle anderen ähnlichen Theorien. Indem sie Rußland oder die anderen bürokratischen Staaten als „bürokratisiert“ „degeneriert“, und „deformiert“ „sozialistisch“ oder „Arbeiterstaaten“, bezeichnen, nennen sie nicht die Kräfte, die die Entwicklung dieser Staaten bestimmen.

Es geht dabei nicht nur um eine fehlerhafte Definition. Etwas viel Grundsätzlicheres steht auf dem Spiel. Die Stärke des Marxismus als eine Analyse des Weltgeschehens liegt darin, daß für den Marxismus zum ersten Mal in der Geschichte Sozialismus real möglich ist. Entfremdung und Ausbeutung, Unmenschlichkeit und Elend, Gewalt und Krieg, die Wesensmerkmale der Klassengesellschaft, können überwunden werden. Die Errichtung von Arbeiterstaaten soll die erste Stufe in diesem Prozeß sein. Doch die Entwicklung der Ostblock-Staaten bedeutet keineswegs eine Bewegung weg von Entfremdung, Ausbeutung, Elend und Krieg. Die Erfahrung zeigt, daß die Politik dieser Staaten unvermeidlich in dieselbe Richtung führt wie bei den gewöhnlichen kapitalistischen Staaten. Solche Regime „sozialistisch“ oder „Arbeiterstaaten“ zu nennen, heißt, den Marxismus seiner grundsätzlichen Bedeutung zu berauben.

 

 

Schlußfolgerung

In der Vergangenheit hat die revolutionäre Linke im Westen beständig unter dem Unvermögen gelitten, zu verstehen, daß die Revolution von 1917 vor vierzig Jahren vom Stalinismus ausgelöscht wurde. Statt dessen hat sie falsche Solidarität gezeigt, hat das, was man nicht verteidigen kann, verteidigt, hat versucht, vor sich selbst Realitäten zu vertuschen, die sie vor anderen nicht verbergen konnte. Zwangsläufig hat dies ihre ideologische Glaubwürdigkeit gemindert, zur Enttäuschung von Zehntausenden ihrer Anhänger geführt und sie gelähmt, als Handeln absolut notwendig war. Eine klare Analyse des stalinistischen Regimes ist eine notwendige Vorbedingung für das Wiedererstarken der Linken im Westen. Eine Theorie muß das grundsätzliche Problem der Herrscher in diesen Ländern zum Angelpunkt haben: das Problem der Akkumulation von Kapital. Daraus wird sie erkennen, daß dies die Herrschenden zu Zusammenstößen miteinander und mit der Arbeiterklasse zwingt. Nur eine solche Theorie läßt die Formen, die staatskapitalistische Herrschaft annimmt, und die Politik, die sie in bestimmten historischen Situationen verfolgt, begreifen. Daraus folgt notwendigerweise die Erkenntnis, daß ein Weltsystem existiert, das die herrschenden Klassen beherrscht, sowohl die kapitalistischen als auch die bürokratischen, die dieses Weltsystem aufrechterhalten. Keine von ihnen kann anders handeln, ohne die Basis ihrer eigenen Existenz in Frage zu stellen. Keine kann die Prozesse kontrollieren, die ihre wechselseitige Konkurrenz in Bewegung gesetzt hat. Alle tragen ohne Bedenken dazu bei, die Kräfte zu fördern, die wiederum jede herrschende Klasse zwingen, die Industrie ohne Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse aufzubauen und ungeheuerliche Waffen zu entwickeln, die menschliche Bedürfnisse für immer zerstören können. Zu glauben, daß irgendeine herrschende Klasse, die an diesem System teilhat, diesem System ein Ende machen könnte, ist absurd. Die linke Hand von Frankensteins Monster kann niemals dem übrigen Ungeheuer den Garaus machen. Notwendig ist vielmehr die Organisation der wirklichen oppositionellen Kräfte, die das System selbst erzeugt. Sie existieren in der Tat, im Weltmaßstab; in den Straßen Berlins ebenso wie in Posen, Budapest oder Prag, in den Betrieben von Moskau und Leningrad, in den Gefängnissen Sibiriens wie auf den Schlachtfeldern Vietnams oder den Ghettos der amerikanischen Städte.

 

 

Anmerkungen

490. Anfang der dreißiger Jahre schien Stalin das „Personal“ der verschiedenen Oppositionen gebraucht zu haben, da es ihm an fähigen und qualifizierten Arbeitskräften mangelte. Erst um 1930 begann das Stalinistische System diese selbst zu produzieren. Zwischen 1928 und 1940 wuchs daher die Zahl der Spezialisten um das Siebenfache. Das ermöglichte es Stalin, einige seiner Gegner physisch zu liquidieren und andere politisch impotent zu machen.

491. Vor allem durch Trotzki.

492. Ebenso in Nordkorea, aber nicht in Jugoslawien oder Albanien, wo die Regimes von rein inländischen Bewegungen errichtet wurden.

493. Siehe z.B. Harrison Salisbury: The Coming War between Russia and China, London 1969, oder – als viel frühere Darstellung – Ygael Gluckstein: Mao’s China, London 1957, S.394 ff., und über Jugoslawien, M. Djilas: Conversations with Stalin, London 1967, S. 11-14.

494. Die beste Darstellung dieser Phase findet sich in J. Kuron und K. Modzelewski: Offener Brief an die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei. Sonderheft der Zeitschrift Die Internationale, Heft 11, 1968.

495. Z.B. der Brachland-Plan und die Organisierung der Industrie durch Sownarkhozy.

496. Der einzige, der sich weigerte zu gestehen, gab unter Druck nach.

497. A.a.O., S.54.

498. Für eine längere Darstellung der Analysen von Trotzki siehe Cliff, a.a.O.

499. Trotzki: TheWorker’s State and the Question of Thermidor and Bonapartism, London o.J., S.8.

500. Trotzki: Die verratene Revolution, S.242f.

501. Trotzki: The Worker’s State ..., a.a.O., S.19.

502. Trotzki: Die verratene Revolution, a.a.O.

503. Trotzki: The Class Nature of the Soviet State, London 1967, S.13.

504. Trotzki: The Worker’s State ..., a.a.O., S.4.

505. Trotzki: Die verratene Revolution, S.229.

506. Trotzki: Problems of the Development of the USSR, New York 1931, S.36.

507. Trotzki: Die verratene Revolution, a.a.O., S.241.

508. Ebda., S.240-241.

509. Trotzki: USSR and the War.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.9.2002