Tony Cliff

 

Staatskapitalismus in Rußland

 

1. Kapitel:
Die sozio-ökonomischen Verhältnisse im stalinistischen Rußland
(Teil 3)

 

Die Enteignung der Bauern

Die Oktoberrevolution enteignete die Großgrundbesitzer, die Kirche und die Monarchie. Die ländliche Bourgeoisie – die Kulaken – wurde nicht enteignet, und während der NEP-Periode machten nicht nur die alten Kulaken gute Geschäfte, sondern es entstanden neue großbäuerliche Schichten, die aus dem mittleren Bauerntum aufstiegen. Die Kulaken beuteten zusammen mit den privaten Kaufleuten die Armen auf dem Land aus. Der Privatkapitalismus setzte seine Herrschaft über die Landwirtschaft bis 1928 fort.

Die Kollektivierung veränderte die Situation grundlegend. Wir wollen hier nicht die Wirkung der Kollektivierung auf die Klassenunterschiede innerhalb der Landwirtschaft diskutieren, sondern uns nur mit der folgenden Frage beschäftigen: Wie beeinflußte die Kollektivierung das Gesamteinkommen im landwirtschaftlichen Sektor der Wirtschaft? Das wichtigste, womit man sich bei der Beantwortung dieser Frage beschäftigen muß, ist der Einfluß, den die Kollektivierung auf die staatlichen Erträge aus der Landwirtschaft hatte, d.h. ihr Einfluß auf die Pflichtabgaben: Steuern, Zahlungen für Arbeiten, die von den Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) und den staatlichen Getreidemühlen verrichtet wurden. Die Pflichtabgaben waren in Wirklichkeit Steuern – wenn auch nicht dem Namen nach –, da die Preise, die an die Kolchosen gezahlt wurden, außerordentlich niedrig waren. 1935 betrug der festgesetzte Preis für Pflichtabgaben von Hafer 4-6 Kopeken pro kg, den die Regierung im Kleinhandel für 55-100 Kopeken pro kg wiederverkaufte. Die Zahlen für Roggen waren 60-100 Kopeken bzw. 4,6-6,9 Kopeken. Der Einzelpreis für Mehl (in schlechter Qualität) war 60-70mal so hoch wie der Preis, zu dem Getreide eingekauft wurde. [130] Die Preise für andere landwirtschaftliche Produkte waren ähnlich kläglich.

Die Regierung zahlt den Produzenten noch immer etwa 10 Kopeken pro kg für Weizenlieferungen, während sie – seit der Preissenkung von 1946 – dem Konsumenten 13 Rubel für ein kg Weizenmehl (zu 85% ausgemahlen) abverlangt; mehr als das Hundertfache des Preises, zu dem das Getreide bezogen wurde. [131]

Zum zweiten erhielt der Staat einen beträchtlichen Anteil der Produktion in Form von Naturalbezahlungen für die von den MTS erbrachten Leistungen. Da die MTS ein Monopol über die Versorgung mit landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen hatten, waren sie in der Lage, für deren Gebrauch hohe Gebühren zu fordern. Die folgende Tabelle zeigt, wie über das von den Kolchosen produzierte Getreide im Jahr 1938 verfügt wurde (in Prozentzahlen): [132]

Pflichtabgaben

15,0

Zahlungen an die MTS

16,0

Rückzahlung von Darlehen

  2,0

Verkäufe an die Regierung und auf dem Markt

  5,1

Zuteilung für Saatreserven

18,6

Zuteilung für Futterreserven

13,6

Rücklagen für die Unterstützung von Invaliden und Kindergärten

  0,8

Verteilung an die Mitglieder [133]

26,9

Verschiedene Zuteilungen

  2,5

Darüber hinaus eignet sich der Staat überaus hohe Anteile bei weiteren Produkten an.

Dazu ebenfalls einige Zahlen von 1938: [134]

Pflichtabgaben

Zahlungen in
Naturalform
an die MTS

Zusammen

Sonnenblumensamen

38,7

16,0

54,7

Zuckerrüben

82,0

17,8

99,8

Baumwolle, gewässert

81,0

17,5

98,5

Baumwolle, ungewässert

90,1

  5,0

95,1

Fleisch (1937)

30.0

30,0

Milch (und Milchprodukte
an Stelle von Milch) (1937)

44,0

44,0

Wolle (1937)

54,7

54,7

Diese Zahlen muß man mit dem spärlichen Anteil der Kolchosbauern am Ertrag ihrer sogenannten „kollektiveigenen“ Farmen vergleichen (1937): [135]

Getreide

35,9

 

Milch

  7,6

Sonnenblumensamen

27,0

Butter

26,6

Leinsamen

  3,7

Fleisch und Fett

48,8

Flachs

  2,6

Wolle

  7,7

Hanfsamen

15,7

Honig

35,1

Hanf

  3,4

Eier

26,6

Kartoffeln

45,4

Zur gleichen Zeit wurden die Kolchosbauern gezwungen, immer härter und härter auf den Kollektivfarmen zu arbeiten, wie die folgenden Zahlen zeigen: [136]

Durchschnittszahl der Trudodni [137] pro Haushalt

Jahr

Zahl

Index

1932

257

100,0

1933

315

122,5

1934

354

133,4

1935

378

147,1

1936

393

152,8

1937

438

170,7

1938

437

170,0

Was die Länge des Arbeitstages in den Kolchosen angeht, so war sie nicht kürzer als unter dem Zaren-Regime. Zu dieser Zeit betrug sie 14 Std. für Landarbeiter, jedoch nur 11 Std. für Pferde und 10 Std. für Ochsen. [138] Ein Regierungserlaß vom 1.8.1940 legte fest, daß der Arbeitstag während der Ernte in Kolchosen, Sowchosen und MTS um 5 oder 6 Uhr morgens beginnen sollte und bis zum Sonnenuntergang dauert. Eine Broschüre, die die Arbeit eines Kolchosvorsitzenden in einer Musterkolchose beschreibt, stellt fest, daß im Frühling und zur Erntezeit der Arbeitstag 15 Std. dauert, die Essenszeiten ausgeschlossen. Ein russisches Fachbuch aus der damaligen Zeit gibt die folgenden Zeittafeln als Modelle an:

Es ist interessant, festzustellen, daß Lenin 1908 in seinem Buch Die Agrarfrage in Rußland am Ausgang des 19. Jahrhunderts schrieb:

Die Bauern ohne Pferd oder mit nur einem Pferd zahlen unter dem Titel von Steuern den siebenten bzw,. zehnten Teil dessen, was ihre Bruttoausgaben ausmachen. Der Fronzins lag wohl kaum so hoch ... [145]

Die landwirtschaftlichen Schwerstarbeiter im „Sozialistischen Vaterland“ zahlen weit mehr als diesen Anteil! Die Kollektivierung veränderte nicht nur die Lage derer, die in der Industrie in proletarische Verhältnisse hineingerieten, sondern ebenso derer, die in der Landwirtschaft verblieben. Die überwiegende Mehrheit der Landarbeiter sind Leute, die real, wenn auch nicht in der Theorie, keinerlei Produktionsmittel besitzen. Und in der Tat ist es noch weniger gerechtfertigt, die russischen Bauern von heute Besitzer von Produktionsmitteln zu nennen als die Leibeigenen des 19. Jahrhunderts.

Die Kollektivierung machte die landwirtschaftliche Produktion für die Bedürfnisse der industriellen Entwicklung verfügbar. Sie „befreite“ die Bauern von ihren Produktionsmitteln und verwandelte einen Teil von ihnen in ein Arbeitskräftereservoir für die Industrie. Die übrigen wurden teils Bauern, teils Arbeiter und teils Leibeigene auf den Kolchosen.

Prinzipiell ähnliche, wenn auch in einigen wichtigen Einzelheiten andere Resultate erreichte die englische Bourgeoisie im 16. und 17. Jahrhundert durch die Vertreibung der Bauernschaft vom Land. Marx nannte diesen Prozeß die „ursprüngliche Akkumulation“. [146] Er schrieb:

Die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer. [147]

In Rußland floß während der ursprünglichen Akkumulation viel mehr Blut als in England. Stalin vollbrachte in wenigen hundert Tagen, wozu England einige hundert Jahre gebraucht hatte. Das Ausmaß, in dem er es tat, und die Erfolge, die er erreichte, stellen die Taten der Herzogin von Sutherland weit in den Schatten. Sie legen ein unerbittliches Zeugnis ab von der Überlegenheit einer modernen industriellen Wirtschaft in der Hand des Staates unter der Führung einer erbarmungslosen Bürokratie.

Engels Prognose über die Zukunft der ursprünglichen Akkumulation in Rußland hat sich voll bestätigt, obwohl auf ganz andere Weise, als er selbst gedacht hatte. In einem Brief an Danielsen vom 24. Februar 1893 schrieb er:

... daß der Umstand, daß Rußland das letzte Land ist, dessen sich die kapitalistische grande industrie bemächtigt, und gleichzeitig das Land mit der größten Bauernbevölkerung ist, dazu führen muß, die durch diese ökonomische Umgestaltung hervorgerufene bouleversement [Erschütterung, d. Übers.] akuter werden zu lassen, als sie anderswo gewesen ist. Der Prozeß der Verdrängung von etwa 500.000 Gutsbesitzern und von etwa 80 Millionen Bauern durch eine neue Klasse bürgerlicher Grundbesitzer kann sich nur unter fürchterlichen Leiden und Konvulsionen vollziehen. Aber die Geschichte ist nun mal die grausamste aller Göttinnen, und sie führt ihren Triumphwagen über Haufen von Leichen, nicht nur im Krieg, sondern auch in Zeiten friedlicher Entwicklung. [148]

 

 

Die Umsatzsteuer

Seit 1930 stammte der Hauptanteil der Kapitalinvestition und der Verteidigungskosten aus der Umsatzsteuer. M. Dobb schreibt:

Wie erwartet läßt sich in dem Jahrzehnt eine recht enge Korrelation zwischen der ansteigenden Kurve für Investitionsausgaben und Verteidigung einerseits und den steigenden Einnahmen aus der Umsatzsteuer andererseits feststellen. Wie wir gesehen haben, betrug im Jahre 1932 das Einkommen aus dieser Steuer bereits mehr als 17 Milliarden Rubel. Für die Verteidigung und die Finanzierung der Volkswirtschaft wurden insgesamt 25 Milliarden Rubel ausgegeben. Im Jahre 1934 betrugen die beiden Zahlen für sich genommen jeweils 37 Milliarden, im Jahre 1938 schon 80 und 75 Milliarden, im Jahre 1939 92 und 100 Milliarden, im Jahre 1940 106 und 113 Milliarden, und im Jahre 1941 beliefen sich die Schätzungen auf 124 und 144 Milliarden Rubel (die sich in diesem Jahr öffnende Kluft wurde durch ein Ansteigen der Gewinnsteuern annähernd abgedeckt). [149]

Die Umsatzsteuer ist die wichtigste einzelne Quelle der russischen Staatseinnahmen. Sie machte folgende Anteile am gesamten Einkommen des Staates (Anleihen ausgenommen) aus: [150]

1931

46,2%

1932

51,5%

1933

58,2%

1934

64,3%

1935

69,5%

1936

69,7%

1937

69,4%

1938

63,1%

1939

62,1%

1940

58,7%

1942

44,8%

1944

35,3%

1945

40,8%

1946

58,7%

1947

62,1%

1948

60,6%

1949

58,8%

1950

55,9%

1951

57,8%

Die Umsatzsteuer wird zum Zeitpunkt der Fertigung von Gütern erhoben, und die Regierung muß sie außerdem bei Pflichteinkäufen landwirtschaftlicher Produkte von den Bauern zahlen, sie ist im Preis der Waren eingeschlossen und wird so vollständig vom Konsumenten bezahlt. Die Steuer liegt meist nur auf den landwirtschaftlichen Produkten und auf den Konsumgüterindustrien, wie man aus den folgenden Tabellen ersehen kann, die die Anteile der verschiedenen Industriezweige an der Gesamtproduktion und die staatlichen Steuereinnahmen aus der Umsatzsteuer für 1939 angeben: [151]

Kommissariat

Prozentualer
Anteil am
Brutto-
gesamtertrag

Prozentualer
Anteil der Einnahmen
aus der
Umsatzsteuer

Ölindustrie

  3,1

  8,0

Fleisch- und Milchwarenindustrie

  4,5

  7,3

Nahrungsmittelindustrie

11,7

29,7

Textilindustrie

10,2

13,0

Leichtindustrie

  7,9

  2,6

Landwirtschaftliche Geräte

  2,5

34,4

Andere Kommissariate (hauptsächlich
für die Schwerindustrie)

60,1

  5,0

Daraus läßt sich schließen, daß im Jahre 1939 fast 90% aller Einnahmen durch die Umsatzsteuer aus der Besteuerung von Nahrungsmitteln und Konsumgütern stammten.

Indem die Umsatzsteuer nicht erst auf den Verkaufspreis, sondern bereits auf die Fertigungskosten gelegt wird, verursacht eine Steuer von angenommen 50% in Wirklichkeit einen Anstieg des Warenpreises von 100%, eine Steuer von 75% einen Anstieg von 300% und von 90% eine l0fache Verteuerung des tatsächlichen Preises. Man muß das beachten, wenn man sich die folgenden Angaben über den Anteil der Umsatzsteuer ansieht: [152]

Warenart

prozentualer
Anteil

Datum

Getreide aus der Ukraine (Rubel/Zentner):

Weichweizen

  73,0

1.4.1940

Hartweizen

  74,0

Roggen

  60,0

Gerste

  46.0

Hafer

  25,0

Buchweizen

289,5

Kartoffeln (% des Ladenpreises):

48-62

24.1.1940

Fleisch (% des Ladenpreises):

Rindfleisch

67-71

24.1.1940

Kalb, Schwein, Hammel

62-67

Geflügel

20-43

Wurst, Frankfurter, Rauchfleisch

50-69

Fisch (% des Ladenpreises):

Fisch (ausgenommen Hering

39-53

10.4.1940

Hering, aus dem Kaspischen Meer

35-50

Kaviar

40

Dosenfisch (je nach Sorte)

5-50

Salz (% des Großhandelspreises):

in großen Mengen

70-80

1.5.1940

abgepackt in kleinen Packungen

35-42

Getränke (% des Ladenpreises):

Wodka

84

1.5.1940

andere alkoholische Getränke

55-78

nicht alkoholische Getränke

20

10.4.1940

Tabak (% des Ladenpreises):

Zigaretten

75-88

1.6.1937

Machorka

70

Baumwollartikel (% des Großhandelspreises):

Kattun

55

1.1.1938

andere Artikel

62-65

Der reaktionäre Charakter dieser Steuer zeigt sich darin, daß sie nur in geringem Maße auf Automobile (nur 2%), Radiogeräte (25%) und Kaviar (40%) gelegt wird, jedoch massiv auf Weizen (73-74%), Salz (70-80%), Zucker (73%), Seife (61-71%) und Zigaretten (75-88%) lastet. Im Licht dieser Fakten überrascht folgende Bemerkung von M. Dobb über die Umsatzsteuer:

... Sie war ein Mittel, das garantieren sollte, daß sich der Hauptanteil der Preissteigerungen auf Luxus und weniger notwendige Güter und so wenig wie möglich auf lebensnotwendige Artikel konzentrierte. Dies geschah durch unterschiedliche Erhebung der Umsatzsteuer auf verschiedene Waren, wobei die Unterschiede von 1-2% bis fast 100% variierten.

... Die Steuer hat die Wirkung einer allgemeinen direkten Ausgabensteuer – eine direkte Steuer auf das Einkommen, wenn es ausgegeben wird. [153]

Und weiter:

... Die höheren Steueranteile liegen natürlich auf den Luxusgütern, da diese tendenziell besonders knapp sind. Der Haupteffekt der unterschiedlichen Besteuerung liegt daher zweifellos darin, auf die Preisstruktur so einzuwirken, daß sie sich zuungunsten der nicht notwendigen Güter verändert. (Somit verringert sie die realen Einkommensunterschiede mehr als der Eindruck der Geldunterschiede, an denen man sich auf den ersten Blick orientiert, annehmen läßt.) [154]

Um die wirkliche Last, die durch die Umsatzsteuer auf die Konsumenten gewälzt wird, einzuschätzen, ist es zweckmäßig, sich gleichzeitig den Gesamtbetrag der Umsatzsteuer und der damit zusammenhängenden Steuer auf die Einzelverkaufspreise anzusehen. [155]

Jahr

Großhandels-
umsatz

Umsatzsteuer

Einzelhandels-
umsatz

Steueranteil (%)

 

(Alle Zahlen in Millionen Rubel)

1931

  27.465

  11.643

  15.822

  73,6

1932

  40.357

  19.514

  20.843

  93,6

1933

  49.789

  26.983

  22.806

118,3

1934

  61.815

  37.615

  24.200

155,4

1935

  81.712

  52.026

  29.686

175,3

1936

106.761

  65.841

  40.920

160,9

1937

125.943

  75.911

  50.032

151,7

1938

138.574

  80.411

  58.163

138,2

1939

163.456

  96.800

  66.656

145,2

1940

174.500

105.849

  68.651

154.2

1950

359.600

236.100

123.500

191,2

1952

393.600

246.900

147.300

167,6

Die Umsatzsteuer widerspricht als indirekte, reaktionäre Steuer offen dem ursprünglichen Programm der Bolschewistischen Partei. Sogar das Minimalprogramm der Bolschewiki, d.h. ein Programm, das noch unter dem Kapitalismus als realisierbar angesehen wurde, sprach sich für die „Abschaffung aller indirekten Steuern und die Einführung einer direkten Steuer auf Einkommen und Erbschaften“ aus [156] . Der 11. Parteikongreß (1922) erklärte hierzu:

Die Steuerpolitik muß darauf abzielen, den Prozeß der Akkumulation von Ressourcen mittels einer direkten Besteuerung von Eigentum, Einkommen usw. zu regulieren. Die Steuerpolitik ist das wichtigste Instrument einer revolutionären Politik des Proletariats in einer Übergangsepoche. [157]

Um den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu lösen, wurde offiziell die Umsatzsteuer nicht mehr Steuer genannt. Jasny hat darauf hingewiesen, daß im Jahrbuch von 1935 die Umsatzsteuern unter Steuern aufgeführt [158], aber schon in der nächsten Ausgabe desselben Jahrbuches aus der Rubrik „Einkünfte aus Steuern“ herausgenommen waren. [159] Dieser Wechsel in der Terminologie ermöglichte es dem Finanzminister der UdSSR, vor dem Obersten Sowjet zu erklären:

Es ist bekannt, daß der überwiegende Teil der Einnahmen des Budgets der Sowjetunion sich aus Zahlungen der nationalen Wirtschaft zusammensetzt. Der Anteil aller Steuern von der Bevölkerung ist unbedeutend. 1939 betrug der Gesamtbetrag aller Steuern von der Bevölkerung 6,5 Milliarden Rubel, das sind nur 4,2% aller Einnahmen des Staatshaushalts. [160]

 

 

Die Unterordnung des Menschen unter das Eigentum

Artikel 6 der sowjetischen Verfassung besagt, daß „das Land, seine Bodenschätze, Gewässer, Wälder, Mühlen, Fabriken, Bergwerke, Eisenbahnen, Transportmittel zu Wasser und in der Luft, Kommunikationsmittel, große staatlich organisierte Landwirtschaftsbetriebe (staatliche Farmen, Maschinen-Traktoren-Stationen usw.) und ebenso im wesentlichen die Wohnungen in den Städten und Industrieorten staatliches Eigentum, d. h. der Reichtum des ganzen Volkes, sind“.

Es ist merkwürdig, daß, obwohl damit dem Volk durch den Staat der Reichtum des Landes gehört, der russische Staat sich so sehr darum bemüht, den Reichtum vor dem Volk zu verteidigen.

Nach dem Gesetz vom 7.8.1932 Über den Schutz des Eigentums staatlicher Unternehmen, Kollektivfarmen, Kooperativen und Institutionen sozialistischen Eigentums wird der Diebstahl von Eigentum des Staates, der Kolchosen und der Kooperativen sowie der Diebstahl bei den Eisenbahnen und auf den Wasserwegen mit dem Tod durch Erschießen und der Beschlagnahme allen Besitzes bestraft. Bei mildernden Umständen konnte die Strafe in eine Haftstrafe von mindestens 10 Jahren bei Beschlagnahme allen Besitzes umgewandelt werden. [161] Stalin nannte dieses Gesetz die „Grundlage der revolutionären Gesetzgebung“. [162]

In Wirklichkeit wurde dieses Gesetz nur selten auf kleinere Diebstähle angewandt. Als das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR am 4. Juni 1947 einen Erlaß über den „Schutz des Privateigentums der Bürger“ verabschiedete, wird deshalb im 1. Artikel ausgeführt: [163]

Diebstahl – das ist die versteckte oder offene Aneignung privaten Eigentums von Bürgern – wird bestraft durch die Inhaftierung in einem Erziehungsarbeitslager für die Dauer von 5-6 Jahren. Diebstahl, der von einer Bande begangen wird, oder wiederholter Diebstahl wird mit Arbeitslager zwischen 6 und 10 Jahren bestraft. [164]

Die Strafe für die Beteiligung an Verbrechen gegen das Eigentum wurde selten gemildert. Am selben Tag verabschiedete das Präsidium noch einen anderen Erlaß über die „Veruntreuung staatlichen und öffentlichen Eigentums“, das die folgenden Artikel enthielt:

(1) Diebstahl, Aneignung, Unterschlagung oder eine andere Veruntreuung staatlichen Eigentums wird bestraft mit Inhaftierung in einem Erziehungsarbeitslager für 7-10 Jahre mit oder ohne Beschlagnahme des privaten Besitzes.

(2) Veruntreuung von staatlichem Eigentum im Wiederholungsfalle sowie wenn in großem Umfange oder durch eine organisierte Gruppe begangen, wird bestraft mit Haft in einem Erziehungsarbeitslager für die Dauer von 10-25 Jahren bei Beschlagnahme des Besitzes.

(3) Diebstahl, Aneignung, Unterschlagung oder andere Veruntreuung von Eigentum der Kollektivfarmen und Kooperativen oder von anderem öffentlichen Eigentum wird bestraft mit Haft in einem Erziehungsarbeitslager von 5-8 Jahren mit oder ohne Beschlagnahme des Besitzes.

(4) Veruntreuung von Eigentum der Kollektivfarmen und Kooperativen oder von anderem öffentlichen Eigentum im Wiederholungsfalle sowie wenn in großem Umfange, in einer organisierten Gruppe oder Bande begangen, wird mit Haft in einem Erziehungsarbeitslager für die Dauer von 8-20 Jahren bei Beschlagnahme des Besitzes bestraft. [165]

Einen Monat später gab das Staatsanwaltsbüro zehn Beispiele für die Durchführung dieser Erlasse:

(1) In der Stadt Saratow stahl W.F. Judin, der schon früher wegen Diebstahls verurteilt worden war ..., Fisch aus einer Räucherfabrik. Am 24. Juni 1947 wurde Judin zu 15 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt ...

(2) Am 11. Juni 1947 stahl D.A. Kiseliew, ein Elektriker auf der Eisenbahnlinie Moskau-Rjasan, Pelzwaren aus einem Eisenbahnwaggon ... Am 24. Juni 1947 verurteilte ihn das Kriegsgericht der Eisenbahn Moskau-Rjasan zu 10 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager.

(3) In der Stadt Pawlow-Posad in der Region Moskau stahl L.N. Markjelow ... Bekleidung aus der Textilfabrik von Pawlow-Posad. Am 20. Juni 1947 wurde Markjelow zu einer Haftstrafe von 8 Jahren in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(4) Im Distrikt Rodnikow in der Region Iwanow stahlen J.W. Smirnow und W.W. Smirnow ... 375 Pfund Hafer aus einer Kolchose. Am 26. Juni 1947 wurden beide zu einer Haftstrafe von 8 Jahren in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(5) Im Distrikt Kirow bei Moskau wurde der Chauffeur E.K. Smirnow wegen Diebstahls von 22 Pfund Brot aus einer Bäckerei verhaftet. Das Volksgericht verurteilte ihn zu 7 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager.

(6) In Saratow stahl E.J. Gordejew verschiedene Artikel aus einem Warenhaus. Am 21. Juni 1947 ... wurde Gordejew zu 7 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(7) In Kuibyschew stahl E.T. Polubojarow die Brieftasche eines Zugreisenden ... Am 4. Juli wurde er zu 5 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(8) Am 7. Juni 1947 riß W.E. Bukin Geld aus der Hand der Bürgerin Pustinski ... Am 20. Juni 1947 wurde ... Bukin zu 8 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(9) Am 6. Juni 1947 stahlen A.A. Tschubarkin und W.G. Morosow im Dorf Sobowka im Distrikt Kutusowsk der Region Kuibyschew 88 Pfund Kartoffel aus dem Keller der Bürgerin Presnjakow. Am 17. Juni 1947 wurden beide zu 5 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt.

(10) Am 5. Juni 1947 nutzte in Moskau ... K.W. Greenwald, der bereits früher wegen Diebstahls verurteilt worden war, die Abwesenheit seines Nachbarn aus, stieg in dessen Wohnung ein und stahl verschiedene Haushaltsartikel ... Greenwald ... wurde zu 10 Jahren Haft in einem Erziehungsarbeitslager verurteilt. [166]

Die Strenge dieses Teils des sowjetischen Gesetzes steht in krassem Gegensatz zu der relativen Milde, mit der gegen Mord, Entführung und andere Gewaltverbrechen vorgegangen wurde, und verdient somit nähere Aufmerksamkeit. Es wird deutlich, daß im stalinistischen Rußland das Individuum viel geringere Bedeutung hat als das Eigentum. Das Strafgesetz der RSFSR legte so folgendes fest:

Artikel 136: Auf vorsätzlichen Mord, begangen (a) aus Bereicherungsgründen, aus Eifersucht (soweit nicht durch Artikel 138 abgedeckt) oder aus anderen niedrigen Motiven, (b) durch eine Person, die schon einmal wegen vorsätzlichen Mordes oder schwerer Körperverletzung vor Gericht stand und einen Pflichtverteidiger vor Gericht hatte, (c) in einer Weise, die das Leben vieler Menschen gefährdet oder ungewöhnliche Qualen für das Opfer verursacht, (d) und andere schwere Verbrechen zu erleichtern oder zu vertuschen, (e) durch eine Person, die besonders für das Wohlergehen des Opfers verantwortlich war, (f) indem ein Vorteil aus der hilflosen Verfassung des Opfers gezogen wird, steht Freiheitsentzug bis zu 10 Jahren.

Artikel 137: Vorsätzlicher Mord, der unter anderen Umständen begangen wird als unter Art.136 beschrieben, hat Freiheitsentzug bis zu 8 Jahren zur Folge.

Artikel 138: Vorsätzlicher Mord, der unter plötzlichem Eindruck starker emotionaler Erregung begangen wird, die durch Gewalt oder eine grobe Beleidigung von seiten des Getöteten hervorgerufen wird, wird mit Freiheitsentzug bis zu 5 Jahren oder Zwangsarbeit bis zu einem Jahr bestraft. [167]

Einige andere Strafen für Gewaltverbrechen gegen Personen waren die folgenden:

Artikel 147: Widerrechtliche gewaltsame Freiheitsberaubung einer Person wird mit Freiheitsentzug oder Zwangsarbeit bis zu einem Jahr bestraft. Wer eine Person der Freiheit beraubt auf eine Weise, die Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Opfers hervorruft oder ihm physische Leiden zufügt, wird mit Freiheitsentzug zwischen einem und zwei Jahren bestraft.

Artikel 148: Wer eine geistig gesunde Person aus gewinnsüchtigen oder anderen persönlichen Gründen in ein Asyl bringt, wird mit Freiheitsentzug von einem bis zwei Jahren bestraft

.

Artikel 149: Entführung, Verstecken oder Vertauschen eines Kindes einer anderen Person aus gewinnsüchtigen Motiven, aus Rache oder einer anderen persönlichen Absicht wird mit Freiheitsentzug bis zu 3 Jahren bestraft. [168]

Diese Religion der Eigentumsverehrung richtet sich sogar gegen die schwächsten Mitglieder der Gemeinschaft – die Kinder. Wie man sieht, beträgt die Höchststrafe für Kindesentführung nur 3 Jahre Haft, während die Strafe, die wegen Diebstahls gegen ein Kind verhängt wird, ungleich größer ist.

All diese Dinge lassen folgende Aussage von Marx in einem neuen Licht erscheinen:

Ebensowenig wie das Recht geht das Verbrechen, d.h. der Kampf des isolierten Einzelnen gegen die herrschenden Verhältnisse, aus der reinen Willkür hervor. Es hat vielmehr dieselben Bedingungen wie jene Herrschaft. [169]

Im stalinistischen Rußland gründete sich der Begriff der Natur des Verbrechens und die Strafen, die gegen die Gesetzesbrecher ausgesprochen wurden, auf die Unterordnung der Menschen unter das Eigentum und der Arbeit unter das Kapital. Darin kommt der Grundwiderspruch der bürokratischen staatskapitalistischen Ordnung zum Ausdruck.

 

 

Anmerkungen

130. N. Jasny: The Socialized Agriculture of U.S.S.R., a.a.O., S.374-375.

131. a.a.O., S.375.

132. A. Arina: Kolchosen 1938, Sotsialisticheskoe Selskokhoziaistvo (Monatsorgan des Kommissariats für Landwirtschaft, Moskau), 1939, No.12.

133. Dies schließt die Entlohnung für den Verwaltungsapparat ein. Nach einem Artikel von A. Teriajewa: Organisatorisch-ökonomische Förderung der Vereinigung von Kolchosen, Woprosy Ekonomiki, 1950, Nr.12, machte die Bezahlung des Verwaltungsapparats unter Berücksichtigung der Größe der Kolchose folgenden Anteil an allen „Trudodni“ aus: Kolchosen bis zu 20.000 Trudodni, 8%; 20.000-35.000, 7%; 35.000-50 000, 6%; 55.000-75.000, 5%; 75.000-100.000, 4%; über 100.000, 3%.

134. Arina, a.a.O., und Jasny: The Socialized Agriculture of U.S.S.R., a.a.O., S.684.

135. T.L. Basyuk: Die Organisation der Kolchosproduktion, Russisch, (Moskau 1956, S.272-273.

136. Prokopovicz, a.a.O., S.164.

137. Trudoden – wörtlich: ein Arbeitstag. Heute jedoch verwendet als abstrakte Einheit für Kolchosarbeit. Ein Tag der am wenigsten qualifizierten Arbeit entspricht ½ Trudoden, ein Tag eines Facharbeiters 2½ Trudodni.

138. F. Semenow, A. Prankratowa u.a.: Das Proletariat in der Revolution von 1905-1907, Russisch, Moskau-Leningrad 1930, S.232.

139. M.P. Osadko (Hrsg.): Probleme der Organisation der Kolchosproduktion, Russisch, Moskau 1945, S.94.

140. Ebda., S.95.

141. Ebda., S.191.

142. Ebda., S.201.

143. Ebda., S.212.

144. Ebda., S.217.

145. Lenin, Werke, Bd.15, S.100.

146. In einem grundlegenden Punkt unterscheidet sich der Prozeß der mit der Kollektivierung verbunden ist, von den Vorgängen, die sich in England abspielten. In England schuf die Vertreibung einen Mehrwert an landwirtschaftlichen Produkten, der in den Städten verkauft wurde. In Rußland eignete sich die Regierung den überwiegenden Teil des Überschusses landwirtschaftlicher Produkte in Form von Steuern an, ohne daß irgend etwas im Austausch hergegeben wurde.

147. K. Marx, Das Kapital, Bd.1, Berlin 1962, S.743.

148. Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1968, Bd.39, S.38.

149. M. Dobb: Soviet Economic Development Since 1917, London 1948, S.364.

150. A.K. Suchkow (Hrsg.): Einnahmen im Staatshaushalt der UdSSR, Russisch, Moskau 1945, S.14; Plotnikow, a.a.O., S.26, 102, 181, 259; N.N. Rowinsky: Der Staatshaushalt der UdSSR, Russisch, Moskau 1949, S.72; Die Nationalwirtschaft der UdSSR, Moskau 1945, S.14; Plotnikow: a.a.O., S.17, 26, 102; Die UdSSR 1951, Russisch, Moskau 1951, S.337; Planovoe Khoziaistvo, 1952, No.2, S.20.

151. Suchkow, a.a.O., S.16.

152. N. Jasny: The Soviet Price System, Stanford 1951, S.164-165.

153. M. Dobb: Soviet Planning and Labour in Peace and War, London 1942, S.61-62.

154. M. Dobb: Soviet Economic Development Since 1917, a.a.O., S.371-372.

155. Prokopovicz, a.a.O., S.316; Bolschewik, No.12, 1950; L.M. Herman: Taxes and the Soviet Citizen, Problems of Communism, Sept.-Okt. 1959.

156. A.U.C.P. in Resol., Moskau 1932, vierte Auflage, Bd.I, S.22.

157. Ebda., S.506.

158. Sozialistischer Aufbau 1935, S.644; Jasny, The Soviet Price System, a.a.O., S.78.

159. Sozialistischer Aufbau 1936, S.646-647; Jasny, Ebda.

160. Zverev, a.a.O., S.43.

161. Ges. Gesetze der UdSSR 1932, No.62, Art.360.

162. J.W. Stalin, Werke, Russisch, Bd.VIII, S.209.

163. Dieses und die nächsten beiden Zitate sind nach Y. Gluckstein zitiert: Stalin’s Satellites in Eastern Europe, London 1952, S.93-95.

164. Prawda, 5. Juni 1947.

165. Ebda.

166. Prawda, 9. Juli 1947.

167. Strafgesetzbuch der R.S.F.S.R., Russisch, Moskau 1937, S.70-71.

168. Ebda., S.74.

169. MEW, Bd.3, S.312 (Deutsche Ideologie, Das Leipziger Konzil. Sankt Max).

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004