Tony Cliff

 

Staatskapitalismus in Rußland

 

4. Kapitel:
Das materielle Erbe der Gesellschaft vor der Oktoberrevolution

 

 

Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie formulierte Marx in prägnanter Kürze die wichtigsten Schlußfolgerungen des historischen Materialismus. Er schreibt:

Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.

Die Menschewiki zitierten diese Passage in der Absicht zu beweisen, daß der Kapitalismus in Rußland noch nicht reif für eine sozialistische Revolution sei und daß es auf jeden Fall noch eine lange Zeit in Anspruch nähme, um diese Entwicklungsstufe zu erreichen.

Diese einfache Schlußfolgerung vernachlässigt allerdings eine ganze Reihe von Faktoren, die die Möglichkeiten der Entwicklung der Produktivkräfte bestimmen, eingrenzen oder erweitern.

Die Entwicklung im zaristischen Rußland war einerseits bestimmt durch das Machtverhältnis zwischen den Klassen in Rußland selbst, andrerseits jedoch durch Rußlands Abhängigkeit vom Weltkapitalismus. Beide Faktoren stehen in einem dialektischen Zusammenhang. Wenn es nicht vor dem Hintergrund eines vereinheitlichenden Weltmarktes eine ungleiche und zugleich verbundene Entwicklung in den verschiedenen Ländern gäbe, könnte nicht erklärt werden, warum der Klassenkampf in solch einem rückständigen Land, wie Rußland es war, die tiefste und schärfste Form angenommen hat. Ebensowenig könnte die Tatsache erklärt werden, daß das russische Proletariat unter dem Zarismus in noch größerem Maße in riesigen Unternehmen konzentriert war als selbst das Proletariat der USA. Diese Phänomene machen deutlich, wie weit die Vergesellschaftung der Produktion im Rahmen der Weltwirtschaft entwickelt war, und wie reif die Welt für die Ablösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch sozialistische war. Der Erste Weltkrieg, der den Niedergang des Zarismus noch beschleunigte, war jedoch kein Beweis für den hohen Stand der Produktivkräfte in jedem der kriegführenden Länder; allerdings zeigte er, daß die materiellen Bedingungen reif waren für die sozialistische Revolution im Weltmaßstab. Die Kette von militärischen Niederlagen, in denen die russische Armee ungeheure Verluste erleiden mußte, offenbarten die industrielle und militärische Rückständigkeit Rußlands innerhalb der entwickelten Welt. Die Tatsache, daß der Marxismus – Ergebnis der Synthese des französischen Frühsozialismus, der englischen Nationalökonomie und der deutschen Philosophie – in Rußland Verbreitung fand, als die Arbeiterbewegung dort noch am Beginn ihrer Entwicklung stand, zeigt deutlich die geistige Einheit der Welt. Andrerseits zeigt auch die Tatsache, daß Opportunismus und Revisionismus wesentlich schwächere Wurzeln in der russischen Arbeiterbewegung schlagen konnten als in den Ländern des Westens, die Rückständigkeit Rußlands in einer Welt, die reif für den Sozialismus war: der niedrige Lebensstandard der Arbeiter, verursacht durch die Landflucht der Bauern in die Städte; die Tatsache, daß die russische Bourgeoisie keine Investitionen in Übersee hatte und daher auch keinen Teil der daraus resultierenden Extraprofite abzweigen konnte, um eine Schicht Arbeiter zu bestechen und die Lebensbedingungen der Massen insgesamt für eine bestimmte Periode zu verbessern, so wie es im Westen geschehen war; die Konzentration von Arbeitern in riesigen Unternehmen; die Tatsache, daß das Land auf dem Pulverfaß einer Bauernrevolution saß.

Da sich die Produktivkräfte im Rahmen der nationalen und internationalen gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelten und eben nicht in einem Vakuum, wurde die Illusion der Menschewiki völlig zerstört, daß dem russischen Kapitalismus ungeheure Möglichkeiten zu seiner Entwicklung offen ständen. Im Gegenteil, das Fortbestehen des russischen Kapitalismus innerhalb der konkreten nationalen und internationalen Verhältnisse, wie sie damals bestanden, hatte die Last des Feudalismus weiter erhalten. Das Land wäre in Kriege hineingezogen worden, die durchaus zur Verwandlung des rückständigen Rußland in eine Kolonie oder Halbkolonie der Westmächte hätten führen können. Es hätte außerdem bedeutet, daß die Entwicklung der nationalen Minoritäten, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, weiterhin verhindert worden wäre.

Die oben zitierte Stelle aus der Kritik der Politischen Ökonomie bezieht sich auf das Weltsystem, nicht auf ein isoliertes Land. Gerade die Tatsache, daß die erste proletarische Revolution in einem rückständigen Land ausbrach, bestätigt dies nur; sie ist das beste Zeugnis für die Reife der Welt für eine sozialistische Revolution.

Eine der grundlegenden Ursachen für die unlösbare Krise der modernen Welt ist die Tatsache, daß mit der internationalen Arbeitsteilung die nationalen Grenzen zu eng für die Entwicklung der Produktivkräfte werden. Für ein Land wie Rußland schränkte die Existenz von nationalen Grenzen nicht nur die Chance beträchtlich ein, von den weiterentwickelten Ländern materielle Hilfe zu bekommen, sondern bürdete ihm auch noch die schwere Last eines Rüstungswettlaufes mit anderen Nationalstaaten auf.

Bis zu Lenins Tod kam niemand in der bolschewistischen Partei auf den Gedenken, daß Rußland ohne Hilfe aus eigener Kraft den Sozialismus aufbauen könne. Lenin selbst betonte wiederholt das Gegenteil:

Die russische Revolution ... war gar nicht durch ein besonderes Verdienst des russischen Proletariats, sondern durch den Verlauf des allgemeinen Zuges der historischen Ereignisse hervorgerufen worden ..., die dieses Proletariat nach dem Willen der Geschichte einstweilen auf den ersten Platz gestellt und zeitweise zur Vorhut der Weltrevolution gemacht haben ...

Wir setzten bei unserem Vorgehen immer auf eine internationale Revolution, und das war unbedingt richtig ... wir betonten immer ... daß es unmöglich ist, in einem Land ein Werk wie die sozialistische Revolution zu vollenden ... [324] [325]

Selbst nach dem Tode Lenins sagte Stalin, der später die These vom „Sozialismus in einem Land“ entwickelte:

In einem einzelnen Land die Macht der Bourgeoisie brechen und die des Proletariats errichten, ist noch keine Garantie für den vollständigen Sieg des Sozialismus. Die Hauptaufgabe, nämlich die sozialistische Produktion zu organisieren, muß dann immer noch bewältigt werden. Können wir den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Land ohne die vereinten Anstrengungen der Proletarier in einigen entwickelten Ländern erreichen und sicherstellen? Ganz gewiß nicht. Die Anstrengungen eines einzelnen Landes reichen aus, um die Bourgeoisie wegzufegen: Das ist die Lehre aus der Geschichte unserer Revolution. Für den endgültigen Triumph des Sozialismus jedoch, für die Organisation der sozialistischen Produktion, reichen die Anstrengungen eines Landes allein nicht aus, insbesondere eines im wesentlichen agrarischen Landes wie Rußland: Dazu sind die Anstrengungen der Proletarier in einigen entwickelten Ländern notwendig ... [326]

Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß Trotzki bei vielen Gelegenheiten dieselben internationalen Ideen zum Ausdruck gebracht hat.

Die russische Revolution kann durch das Gesetz der ungleichen Entwicklung erklärt werden, die ein Moment der einheitlichen Entwicklung im Weltmaßstab ist. Das Gesetz erlaubt jedoch zwei Möglichkeiten der Entwicklung: erstens, daß die russische Revolution als Zeichen für die Reife der Welt für den Sozialismus der Auslöser sein würde für eine Reihe weiterer Revolutionen, die unmittelbar anschließend oder nach einer gewissen Zeitspanne ausbrechen; zweitens – und dies ist nur die Kehrseite der ersten Möglichkeit –, daß infolge der ungleichen Entwicklung sich diese „gewisse Zeitspanne“ auf Jahre hinaus ausdehnt und die russische Revolution in einer feindlichen kapitalistischen Welt isoliert bleibt. Vor dem Oktober 1917 war es nicht möglich, aufgrund allgemeiner Überlegungen über die Universalität der Weltgeschichte anzugeben, welchen Weg die Menschheit einschlagen würde; die Widersprüche, die diese Universalität beinhaltet, z.B. das Gesetz der ungleichen Entwicklung, müssen ebenso berücksichtigt werden. Allein das Handeln der Menschen kann entscheiden, welchen Weg die Geschichte gehen wird. Heute können wir im Rückblick sagen, daß das Handeln der Menschen, vor allem der Rückhalt, den die sozialdemokratischen Parteien dem Kapitalismus in West – und Mitteleuropa gaben, die Niederlage der Revolutionen verursachte, die im Kielwasser der Oktoberrevolution ausgebrochen waren.

Damit die Produktivkräfte entwickelt werden konnten, mußte die soziale Ordnung, die unter dem Zaren bestand, verschwinden. Aber welche soziale Ordnung sollte an ihre Stelle treten? Wenn man sich vor Augen hält, daß die Zerstörung der sozialen Ordnung des zaristischen Rußland Ausdruck der Reife der Welt für den Sozialismus war, kann es keinen Zweifel daran geben, daß im Fall der Ausbreitung der Revolution die dann an ihrer Stelle entstehende Gesellschaft die erste Stufe der kommunistischen Gesellschaft gewesen wäre. Aber als sich die Oktoberrevolution nicht weiter ausbreitete, welche gesellschaftliche Ordnung hätte in Rußland entstehen können? Der erste Schritt, diese Frage zu beantworten, ist die Analyse des materiellen Erbes, das von der gesellschaftlichen Ordnung hinterlassen wurde, die vor dem Oktober 1917 existierte.

Die Menschen bauen sich eine neue Welt, nicht aus den „Erdengütern“ wie der grobianische Aberglauben wähnt, sondern aus den geschichtlichen Errungenschaften ihrer untergehenden Welt. Sie müssen im Laufe der Entwicklung die materiellen Bedingungen einer neuen Gesellschaft selber erst produzieren, und keine Kraftanstrengung der Gesinnung oder des Willens kann sie von diesem Schicksal befreien. [327]

 

 

Das materielle Erbe der zaristischen Ära

Im Jahre 1913 bestritten 80% der Bevölkerung in Rußland ihren Lebensunterhalt aus der Landwirtschaft, nur 10% aus Industrie, Bergbau und Verkehr. Allein diese Zahlen reichen aus, um die Rückständigkeit Rußlands zu belegen. Von allen europäischen Ländern wiesen nur noch Jugoslawien, die Türkei, Rumänien und Bulgarien eine ähnliche Beschäftigungsstruktur der Bevölkerung auf.

Selbst wenn man weit zurück geht, war in den Ländern in West- und Mitteleuropa und in den USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein wesentlich höherer Prozentsatz der Bevölkerung in Industrie, Bergbau und Verkehr beschäftigt und ein sehr viel kleinerer Teil in der Landwirtschaft im Vergleich zu Rußland im Jahre 1913. So betrug 1841 in England der Prozentsatz der in der Fischerei und in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten 22,7, derjenigen, die in der Produktion, im Baugewerbe, Bergbau und Verkehr beschäftigt waren, dagegen 47,3%. Frankreich, das eine ganze Zeit hinter England herhinkte, hatte 1837 einen Anteil von 63% in der Landwirtschaft Beschäftigten; 1866 hatte es 43% in der Landwirtschaft und 38% in der Industrie beschäftigt. In Deutschland waren um 1800 fast zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig; 1852 waren es noch 44,4%, während 40,9% in Industrie und Handwerk ihrer Beschäftigung nachgingen. In den USA, einem Land, dessen Hauptmerkmal ursprünglich die landwirtschaftlichen Siedlungen waren, waren um 1850 72,3% in der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei, 12,3% in Industrie, Baugewerbe und Bergbau beschäftigt; 1880 waren es 64,8%, bzw. 17,8% gewesen.

Statistiken über das Nationaleinkommen zeigen deutlich, wie gering die materielle Erbschaft war, die die Bolschewiki nach ihrer Machtübernahme antraten. Das nicht nur im Vergleich zu den entwickelten kapitalistischen Ländern in dieser Zeit, sondern auch im Vergleich mit denselben im Frühstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung.

Die vollständigste und genaueste Berechnung – soweit Genauigkeit möglich ist bei der umfassenden und komplexen Berechnung des Nationaleinkommens von verschiedenen Ländern in verschiedenen Perioden – hat Colin Clark in seinem Buch The Conditions of Economic Progress (London, 1940) vorgenommen. Clark schätzt das reale Einkommen pro Beschäftigten in Rußland im Jahre 1913 auf 306 E. [328]

Demgegenüber betrug das Realeinkommen pro Beschäftigten in einigen entwickelten Ländern: [329]

Großbritannien

Frankreich

Deutschland

USA

Jahr

I.E.

Jahr

I.E.

Jahr

I.E.

Jahr

I.E.

1688

   372

1850-59*

382

1850

420

1850

   787

1860-69*

   638

1860-69*

469

1877

632

1880

1.032

1904-10*

   999

1911

786

1913

881

1900

1.388

1913

1.071

 

1917

1.562

 

1929

1.636

* jährlicher Durchschnitt

Und so erweist es sich, daß das durchschnittliche Einkommen pro Beschäftigten in Rußland im Jahre 1913 nur 80,9% der entsprechenden Zahl für England im Jahre 1688 betrug – fast hundert Jahre vor der industriellen Revolution.

 

 

Die Herrschaft der Arbeiterklasse beim Fehlen der materiellen Bedingungen zur Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse

Mehr als einmal behandelten Marx und Engels die Frage, was geschehen würde, wenn die Arbeiterklasse die Macht ergreifen würde, bevor die historischen Voraussetzungen für die Ablösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch sozialistische gegeben seien. Ihre Schlußfolgerung war, daß in diesem Fall die Arbeiterklasse ihre Macht an die Bourgeoisie verlieren würde. Die Arbeiterklasse würde nur vorübergehend an der Macht bleiben können und den Weg für die Entwicklung des Kapitalismus bahnen.

So schrieb z.B. Marx im Jahre 1847:

Wenn übrigens die Bourgeoisie politisch, das heißt durch ihre Staatsmacht, „die Ungerechtigkeit in den Eigentumsverhältnissen aufrecht erhält“ so schafft sie dieselbe nicht. Die durch die moderne Teilung der Arbeit, die moderne Form des Austausches, die Konkurrenz, die Konzentration usw. bedingte „Ungerechtigkeit in den Eigentumsverhältnissen“ geht keineswegs aus der politischen Herrschaft der Bourgeoisklasse hervor, sondern umgekehrt, die politische Herrschaft der Bourgeoisklasse geht aus diesen modernen, von den bürgerlichen Ökonomen als notwendige, ewige Gesetze proklamierten Produktionsverhältnissen hervor. Stürzt daher das Proletariat die politische Herrschaft der Bourgeoisie, so wird sein Sieg nur vorübergebend, nur ein Moment im Dienste der bürgerlichen Revolution selbst sein, wie Anno 1794, so lange im Laufe der Geschichte, in ihrer „Bewegung“ die materiellen Bedingungen nicht geschaffen sind, die die Abschaffung der bürgerlichen Produktionsweise und darum auch den definitiven Sturz der politischen Bourgeoisherrschaft notwendig machen. Die Schreckensherrschaft mußte daher in Frankreich nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. [330]

Ähnlich schrieb Engels:

Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft dieser Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert ... Er findet sich notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma: was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei, und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist, mit einem Wort, gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muß im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigene Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, daß die Interessen jener fremden Klasse ihre eigenen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren. [331]

Was Marx und Engels über die Revolution sagten, die das Proletariat zur Macht bringen würde, bevor die historischen Vorbedingungen für den Übergang des Kapitalismus zum Sozialismus erfüllt sind, kann nicht unvermittelt auf die Oktoberrevolution angewandt werden. Die Gründe dafür liegen nicht nur darin, daß die materiellen historischen Bedingungen auf der internationalen Ebene vorhanden waren, sondern auch in den besonderen Bedingungen, wie sie in Rußland bestanden. Die russische Bourgeoisie war nicht allein politisch entmachtet, sondern auch ökonomisch ein paar Monate nach dem Oktober enteignet worden. Der ländlichen Bourgeoisie, die übriggeblieben war, gelang es nicht, das Proletariat niederzuwerfen, und ihr soziales Gewicht, insbesondere in der Zeit des Fünf-Jahres-Plans, war unbedeutend. Die Isolierung des Oktobers bedeutete keineswegs ein Schritt in der Entwicklung der russischen Bourgeoisie, da die russische Bourgeoisie vernichtet worden war. Wenn das so war, welche Produktionsverhältnisse konnten aber dann nach dem Oktober entstehen?

 

 

Sozialistische Produktionsverhältnisse?

Die Errichtung sozialistischer Produktionsverhältnisse erforderte ein wesentlich höheres Niveau der Produktivkräfte als jenes, welches der Zarismus hinterlassen hatte. Die Erklärung von Engels für die Teilung der Gesellschaft in Klassen, für die Spaltung in Ausbeuter und Ausgebeutete, trifft ausnahmslos auch für die Bedingungen in Rußland zu, gerade auch für die Zeit nach dem Oktober:

Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der früheren geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag liefert, der das zur notdürftigen Existenz alles Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich diese Gesellschaft notwendig in Klassen. Neben der ausschließlich der Arbeit frönenden großen Mehrheit bildet sich eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, die die gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft besorgt: Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künst usw. Es ist also das Gesetz der Arbeitsteilung, das der Klassenteilung zugrunde liegt. Aber das hindert nicht, daß diese Einteilung in Klassen nicht durch Gewalt, Raub, List und Betrug durchgesetzt worden ist, und daß die herrschende Klasse, einmal im Sattel, nie verfehlt hat, ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die gesellschaftliche Leistung umzuwandeln in gesteigerte Ausbeutung der Massen. [332]

 

 

Die historische Funktion des Kapitalismus

Die historische Mission der Bourgeoisie wird von Lenin in den beiden Losungen zusammengefaßt: „Steigerung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit und der Vergesellschaftung der Arbeit.“

Im Weltmaßstab war diese Aufgabe bereits erfüllt. In Rußland hatte die Revolution die Hindernisse für die Entwicklung der Produktivkräfte aus dem Weg geräumt, hatte die Überbleibsel des Feudalismus verschwinden lassen, hatte die Revolution das Außenhandelsmonopol eingerichtet, das die Entwicklung der Produktivkräfte vor dem zerstörerischen Druck des Weltkapitalismus schützte, und hatte zugleich in Form des Staatseigentums an den Produktionsmitteln einen mächtigen Hebel für die Entwicklung der Produktivkräfte geschaffen. Unter diesen Bedingungen waren alle Hindernisse für die historische Mission des Kapitalismus beseitigt – die Vergesellschaftung der Arbeit und die Konzentration der Produktionsmittel, die notwendige Voraussetzungen für die Errichtung des Sozialismus sind und die von der Bourgeoisie nicht erfüllt werden konnten. Dem Rußland nach der Oktoberrevolution stand die Erfüllung der historischen Aufgabe der Bourgeoisie noch bevor.

Selbst in entwickelten Ländern würden noch eine Reihe von Aufgaben der Bourgeoisie weiterbestehen, die eine siegreiche proletarische Revolution bewältigen müßte. In bestimmten Sektoren der USA (vor allem in der Landwirtschaft) wird die Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Produktionsbedingungen aufgehalten, so daß die gesellschaftliche Produktion und Konzentration der Produktionsmittel immer noch nicht verwirklicht ist. Da jedoch die Produktivkräfte in den USA insgesamt sehr weit entwickelt sind, bilden diese bürgerlichen Aufgaben lediglich Beiwerk, der Aufgabe, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen, untergeordnet. Deshalb ist z.B. die Einrichtung der gesellschaftlichen Produktion und der Konzentration der Produktionsmittel dort, wo diese noch nicht existiert, nicht verbunden mit dem Entstehen eines Proletariats auf der einen und von Kapital auf der anderen Seite. Die Produzenten werden von Anfang an nicht von ihren Produktionsmitteln getrennt sein. Ganz im Gegensatz dazu war die Erfüllung der Aufgaben der Bourgeoisie das zentrale Problem Rußlands in der Nach-Oktober-Zeit mit seinem niedrigen Niveau des Nationaleinkommens. In den Vereinigten Staaten kann die Anhäufung neuer Produktionsmittel, die notwendig sind für die Vergesellschaftung der Arbeit, Hand in Hand gehen mit einer Erhöhung des Lebensstandards der Massen durch die Stärkung des Bewußtseins von der Produktionsdisziplin, durch die Festigung der Arbeiterkontrolle, durch das zunehmende Verschwinden der Differenzen im Einkommen zwischen Hand – und Kopfarbeitern usw. Kann aber all dies in einem rückständigen Land erreicht werden, das sich zudem noch im Belagerungszustand befindet? Kann weiterhin Arbeitsdisziplin, die auf Überzeugung beruht, herrschen, wenn das Produktionsniveau sehr niedrig ist? Kann ein schnelles Tempo der Akkumulation, das angesichts der Rückständigkeit des Landes und des Druckes des Weltkapitalismus notwendig ist, erreicht werden, ohne daß die Gesellschaft in Verwalter für die allgemeinen gesellschaftlichen Angelegenheiten und die Verwalteten in Leiter der Arbeit und Geleitete aufgespalten wird? Kann diese Trennung beendet werden, noch bevor diejenigen, die die Produktion leiten, auch anfangen, die Verteilung in ihrem Interesse zu leiten? Kann eine Arbeiterrevolution in einem rückständigen Land, das vom triumphierenden internationalen Kapitalismus in die Isolierung gezwungen wird, etwas anderes sein als ein Markstein in der Entwicklung des Kapitalismus, selbst wenn die kapitalistische Klasse abgeschafft wurde?

 

 

Weshalb der Fünf-Jahres-Plan die Transformation der Bürokratie in eine herrschende Klasse signalisiert

In Kapitel I und II haben wir gesehen, daß die Einführung des Fünf-Jahres-Plans den Wendepunkt in der Entwicklung der Distributionsverhältnisse markiert, im Verhältnis zwischen Akkumulation und Konsumtion, zwischen Arbeitsproduktivität und Lebensstandard der Arbeitenden, in der Kontrolle über die Produktion, in den gesetzmäßigen Rechten der Arbeiter, in der Intensivierung der Arbeit, im Verhältnis der Landarbeiter zu ihren Produktionsmitteln, im ungeheuren Anschwellen der Umsatzsteuer, und schließlich in der Struktur und Organisation der Staatsmaschinerie. Die Wirklichkeit der Industrialisierung und Kollektivierung begann sich in das Gegenteil dessen zu verkehren, was sich die Massen davon erhofften und was selbst die Bürokratie als Illusion gehegt hatte. Sie dachten, der Fünf-Jahres-Plan brächte Rußland ein gutes Stück auf dem Weg zum Sozialismus weiter. Doch ist es nicht das erstemal in der Geschichte, daß sich die Ergebnisse der Handlungen der Menschen als das genaue Gegenteil dessen erweisen, was sich die Handelnden selbst gewünscht und erhofft hatten. Wie können wir die Frage beantworten, warum der erste Fünf-Jahres-Plan solch ein Wendepunkt war? Zu diesem Zeitpunkt machte die Bürokratie den ersten Versuch, die historische Aufgabe der Bourgeoisie so schnell wie möglich zu verwirklichen. Eine schnelle Akkumulation des Kapitals auf der Basis eines niedrigen Produktionsniveaus, auf der Basis eines geringen Nationaleinkommens pro Kopf, mußte einen schwer erträglichen Druck auf den Konsum der Massen und auf ihren Lebensstandard ausüben. Unter diesen Bedingungen mußte die Bürokratie, die sich zur Personifikation des Kapitals gewandelt hatte und für die die Kapitalakkumulation das ein und alles war, alle Hindernisse der Arbeiterkontrolle loswerden, mußte sie im Arbeitsprozeß Überzeugung durch Zwang ersetzen, die Arbeiterklasse atomisieren und das gesamte gesellschaftliche und politische Leben in eine totalitäre Form pressen. Es liegt auf der Hand, daß die Bürokratie, die für den Akkumulationsprozeß des Kapitals notwendig und zum Unterdrücker der Arbeiterschaft geworden war, nicht zögern würde, Nutzen aus ihrer gesellschaftlichen Überlegenheit innerhalb der Produktionsverhältnisse zu ziehen, um für sich selbst innerhalb der Distributionsverhältnisse Vorteile zu sichern. Daher verwandelt die

Industrialisierung und die technische Revolution in der Landwirtschaft („Kollektivierung“) in einem rückständigen Land im Belagerungszustand die Bürokratie aus einer Schicht, die unter direkter oder indirekter Abhängigkeit und Kontrolle durch das Proletariat steht, in eine herrschende Klasse, in Manager „der allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft: Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaften, Künste usw.“

Die dialektische historische Entwicklung, voll mit Widersprüchen und Überraschungen, brachte es mit sich, daß der erste Schritt, den die Bürokratie in der Absicht unternommen hatte, den Aufbau des „Sozialismus in einem Land“ zu beschleunigen, zum Grundstein für den Aufbau des Staatskapitalismus wurde.

 

 

Anmerkungen

324. 6. November 1920, Lenin, Werke, Russisch, 3. Auflage, Vol.XXV, pp.473-474. Vom Verfasser hervorgehoben. Der hervorgehobene Satz wurde in der 4. Auflage der Werke Lenins im Russischen gestrichen. Vgl. Vol.XXXI, p.370.

[Anmerkung der Übersetzer: In der Ostberliner Dietz-Ausgabe der Ges. Werke 1960 fehlt der von Cliff hervorgehobene Halbsatz ebenfalls. Vgl. Lenin, Werke, Bd.31, S.421-422.]

325. Lenin, Werke, Bd.27, S.421.

326. Aus dem Englischen übersetzt, Stalin: The Theory and Practice of Leninism, veröffentlicht von der Kommunistischen Partei Großbritanniens (London 1925), pp.45-46. In der 2. russischen Auflage dieses Buches, das im Dezember 1924 erschien, wurde der obige Abschnitt ausgelassen. An seiner Stelle kann man lesen: „Nachdem das Proletariat (des siegreichen Landes) seine Macht gefestigt und die Führung der Bauern übernommen hat, kann und muß es eine sozialistische Gesellschaft aufbauen ... Das sind ganz allgemein die charakteristischen Grundzüge der leninistischen Theorie der proletarischen Revolution.“ (Stalin, Werke, Russisch, Vol.VI., pp.107 108.) (Auch: Stalin: Problems of Leninism, S.27-28.)

327. K. Marx: Die Moralisierende Kritik und die kritische Moral, Stuttgart 1902, Bd.2, S.456. Zit. nach Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, Engels und Lasalle.

328. Clark definiert die „Internationale Einheit“ als „den Betrag an Gütern und Dienstleistungen, die man mit einem Dollar in den USA im Durchschnitt der Periode, 1924-1934 kaufen konnte“.

329. C. Clark: The Conditions of Economic Progress, London 1940, S.79, 83, 91, 98.

330. K. Marx: Die Moralisierende Kritik und die Kritische Moral, a.a.O., S.455-456. (Hervorhebung durch T.C.)

331. F. Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin 1955, S.111-112.

332. F. Engels: Von der Utopie zur Wissenschaft, Marx/Engels, Ausgewählte Werke, Berlin 1953, Bd.2, S.140.

 


Zuletzt aktualisiert am 18.9.2002