Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

 

IV. Kampf gegen Imperialismus und Krieg

 

Die steigende pro-imperialistische Tendenz in der Arbeiterbewegung

Während der beiden Jahrzehnte vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm in der Sozialistischen Internationale die Unterstützung für den Imperialismus ständig zu.

Der Stuttgarter Kongreß der Internationale von 1907 zeigte das sehr deutlich. Die Kolonialfrage wurde auf die Tagesordnung gesetzt, weil es damals zu heftigen Zusammenstößen zwischen einigen imperialistischen Mächten in Afrika und Asien kam. Die sozialistischen Parteien sprachen sich zwar gegen die Raubgier ihrer jeweiligen Regierungen aus, aber eine konsequent anti-kolonialistische Stellung war, wie die Diskussionen des Stuttgarter Kongresses zeigten, dem Denken vieler Führer der Internationale fremd. Der Kongreß bildete eine Kommission zur Kolonialfrage, deren Mehrheit eine Resolution entwarf, in der es hieß, der Kolonialismus habe einige positive Aspekte: „Der Kongreß ... verwirft ... nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik ...“ Sozialisten sollten die Exzesse des Kolonialismus verurteilen, ihn aber nicht völlig ablehnen. Statt dessen „(haben) sie für Reformen einzutreten, um das Los der Eingeborenen zu verbessern ... und haben ... mit allen zu Gebote stehenden Mitteln an ihrer Erziehung zur Unabhängigkeit zu arbeiten. Zu diesem Zweck sollen die Abgeordneten der sozialistischen Parteien ihren Regierungen vorschlagen, einen internationalen Vertrag zu schließen, um ein Kolonialrecht zu schaffen, das die Rechte der Eingeborenen schützt und von den vertragschließenden Staaten gegenseitig garantiert wird.“ [1]

Dieser Resolutionsentwurf wurde zwar abgelehnt, jedoch mit einer recht mageren Mehrheit von 127 gegen 108 Stimmen. Praktisch der halbe Kongreß stellte sich also offen auf die Seite des Imperialismus.

Als 1914 der Erste Weltkrieg – im wesentlichen ein Krieg zwischen imperialistischen Mächten um die Aufteilung der Kolonien – ausbrach, kam die Unterstützung des Krieges durch die Mehrheitsvertreter in der Sozialistischen Internationale nicht aus heiterem Himmel.

 

 

Rosa Luxemburgs Kampf gegen den kapitalistischen Imperialismus

Beim Stuttgarter Kongreß sprach sich Rosa Luxemburg klar gegen den Imperialismus aus und schlug eine Resolution vor, in der die gegenüber der Drohung des imperialistischen Krieges nötige Politik umrissen wurde.

Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten, und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen. [2]

Diese Resolution machte deutlich, daß Sozialisten sich gegen Imperialismus und Krieg stellen sollten, und daß der einzige Weg, beidem ein Ende zu machen, der Sturz des kapitalistischen Systems ist.

Die Resolution wurde zwar angenommen, aber es wurde doch immer klarer, daß auch viele der Führer, die den Kolonialismus nicht offen unterstützten, den Kampf gegen den Imperialismus nicht auf revolutionäre Weise führen wollten. Diese Führer, deren wichtigster Sprecher Kautsky war, vertraten die Ansicht, der Imperialismus sei nicht ein notwendiges Resultat des Kapitalismus, sondern ein Anachronismus, von dem sich die kapitalistische Klasse als ganze mehr und mehr werde befreien wollen. Kautskys Theorie besagte, der Imperialismus sei eine Expansionsmethode, die von gewissen kleinen, aber mächtigen Kapitalistengruppen (den Banken und den Rüstungskönigen) unterstützt werde, die aber den Interessen der kapitalistischen Klasse als ganzer widerspreche, da Rüstungsausgaben das verfügbare Kapital für Investitionen im In- und Ausland reduzierten. Die Mehrheit der kapitalistischen Klasse werde daher ihren Widerstand gegen die Politik der bewaffneten imperialistischen Expansion fortschreitend verschärfen. Analog schrieb Bernstein noch 1911 zuversichtlich, der Wunsch nach Frieden werde allgemein und ein Kriegsausbruch sei nicht zu erwarten. Der Rüstungswettlauf war dem von Kautsky geführten „Marxistischen Zentrum“ zufolge eine Anomalie, die durch allgemeine Abrüstungsverträge, durch internationale Schiedsgerichte, durch Friedensbündnisse und durch die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa überwunden werden konnte. Kurz, das „Marxistische Zentrum“ traute den herrschenden Mächten zu, Friede auf Erden zu schaffen.

Rosa Luxemburg zerschlug diese Illusion eines kapitalistischen Pazifismus auf brillante Weise:

Der Glaube an die Möglichkeit der Akkumulation in einer „isolierten kapitalistischen Gesellschaft“, der Glaube, daß „der Kapitalismus auch ohne Expansion denkbar“ sei, ist die theoretische Formel einer ganz bestimmten taktischen Tendenz. Diese Auffassung zielt dahin, die Phase des Imperialismus nicht als historische Notwendigkeit, nicht als entscheidende Auseinandersetzung um den Sozialismus zu betrachten, sondern als boshafte Erfindung einer Handvoll Interessenten. Diese Auffassung geht dahin, der Bourgeoisie einzureden, daß der Imperialismus und Militarismus ihr selbst vom Standpunkt ihrer eigenen kapitalistischen Interessen schädlich sei, dadurch die angebliche Handvoll der Nutznießer dieses Imperialismus zu isolieren und so einen Block des Proletariats mit breiten Schichten des Bürgertums zu bilden, um den Imperialismus zu „dämpfen“, ihn durch „teilweise Abrüstung“ auszuhungern, ihm „den Stachel zu nehmen!“. Wie der Liberalismus in seiner Verfallzeit von der schlechtinformierten Monarchie an die besserzuinformierende appelliert, so will das „Marxistische Zentrum“ von der schlechtberatenen Bourgeoisie an die zu belehrende, vom imperialistischen Katastrophenkurs an internationale Abrüstungsverträge, von dem Ringen der Großmächte um die Weltdiktatur des Säbels an die friedliche Föderation demokratischer Nationalstaaten appellieren. Die Generalauseinandersetzung zur Austragung des weltgeschichtlichen Gegensatzes zwischen Proletariat und Kapital verwandelt sich in die Utopie eines historischen Kompromisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie zur „Milderung“ der imperialistischen Gegensätze zwischen kapitalistischen Staaten. [3]

Diese Worte treffen nicht nur den bürgerlichen Pazifismus der Kautsky und Bernstein, sondern auch all jene, die an den Völkerbund, die Vereinten Nationen, an kollektive Sicherheit und an Gipfelgespräche glauben!

Rosa Luxemburg zeigte, daß Imperialismus und imperialistischer Krieg nicht im Rahmen des Kapitalismus überwunden werden können, da sie den vitalen Interessen des kapitalistischen Systems entspringen.

Die von Rosa Luxemburg entworfenen Leitsätze des Spartakusbundes stellen fest:

Der Imperialismus als letzte Lebensphase und höchste Entfaltung der politischen Weltherrschaft des Kapitals ist der gemeinsame Todfeind des Proletariats aller Länder ... Der Kampf gegen ihn ist für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Das sozialistische Endziel wird von dem internationalen Proletariat nur verwirklicht, indem es gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front macht, und die Losung „Krieg dem Kriege“ unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik erhebt. [4]

Die zentrale These der anti-imperialistischen Politik Rosa Luxemburgs war die, daß der Kampf gegen den Krieg vom Kampf für den Sozialismus nicht zu trennen sei.

Mit großer Leidenschaft beendete Rosa Luxemburg ihre wichtigste Anti-Kriegs-Broschüre Die Krise der Sozialdemokratie (bekannter unter dem Titel Junius-Broschüre, da sie unter dem Pseudonym Junius schrieb) mit der folgenden Passage:

Aber das heutige Wüten der imperialistischen Bestialität in den Fluren Europas hat noch keine Wirkung, für welche die „Kulturwelt“ kein entsetztes Auge, kein schmerzzuckendes Herz hat: das ist der Massenuntergang des europäischen Proletariats ... Es ist unsere Kraft, unsere Hoffnung, die dort reihenweise wie das Gras unter der Sichel tagtäglich dahingemäht wird. Es sind die besten, intelligentesten, geschultesten Kräfte des internationalen Sozialismus, die Träger der heiligsten Traditionen und des kühnsten Heldentums der modernen Arbeiterbewegung, die Vordertruppen des gesamten Weltproletariats: die Arbeiter Englands, Frankreichs, Belgiens, Deutschlands, Rußlands, die jetzt zuhauf niedergeknebelt, niedergemetzelt werden ... Das ist noch mehr als die ruchlose Zerstörung Löwens und der Reimser Kathedrale. Das ist ... ein tödlicher Streich gegen diejenige Kraft, die die Zukunft der Menschheit in ihrem Schoß trägt und die allein die kostbaren Schätze der Vergangenheit in eine bessere Gesellschaft hinüberretten kann. Hier enthüllt der Kapitalismus seinen Totenschädel, hier verrät er, daß sein historisches Daseinsrecht verwirkt, seine weitere Herrschaft mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr vereinbar ist ...

„Deutschland, Deutschland über alles! Es lebe die Demokratie! Es lebe der Zar und das Slawentum! Zehntausend Zeltbahnen, garantiert vorschriftsmäßig! Hunderttausend Kilo Speck, Kaffee-Ersatz, sofort lieferbar!“ ... Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen. Und mit jedem sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab.

Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Rußland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier alter Länder, vereinigt euch! [5]

Prophetisch schreibt Rosa Luxemburg:

Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei ... Wir stehen ... heute ... vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur wie im alten Rom, Entvölkerung, Verbdung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats. [6]

Und heute leben wir im Schatten der H-Bombe ...

 

 

Anmerkungen

1. Resolution der Kommissionsmehrheit zur Kolonialfrage, zit. nach Internationaler Sozialisten-Kongreß Stuttgart 1907, Berlin 1907, S.24.

2. Änderungen zur Bebel-Resolution, beantragt von Rosa Luxemburg, Lenin und Martow, a.a.O., S.102

3. Antikritik, zit. nach GW VI, S.480f.

4. Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie, Anhang zu: Die Krise der Sozialdemokratie, zit. nach PS II, S.154-5.

5. Die Krise der Sozialdemokratie (1915), zit. nach PS II, S.149-52.

6. a.a.O., S.31.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003