Tony Cliff

 

Studie über Rosa Luxemburg

 

VIII. Die Akkumulation des Kapitals

Während der Jahre 1906-13 lehrte Rosa Luxemburg an der sozialdemokratischen Parteihochschule politische Ökonomie. In dieser Zeit bereitete sie ein Buch über marxistische Wirtschaftstheorie vor, mit dem Titel Einführung in die politische Ökonomie. Kurz vor Abschluß des Rohentwurfes stieß sie auf eine unerwartete Schwierigkeit:

Es wollte mir nicht gelingen, den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion in ihren konkreten Beziehungen sowie ihre objektive geschichtliche Schranke mit genügend Klarheit darzustellen. Bei näherem Zusehen kam ich zu der Ansicht, daß hier nicht bloß eine Frage der Darstellung, sondern auch ein Problem vorliegt, das theoretisch mit dem Inhalt des II. Bandes des Marx’schen Kapital im Zusammenhang steht und zugleich in die Praxis der heutigen imperialistischen Politik wie deren ökonomische Wurzeln eingreift. [1]

Das gab den Anstoß zu Rosa Luxemburgs wichtigster theoretischer Arbeit: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus (1913). Das Buch ist keineswegs einfach zu lesen, insbesondere nicht für jemanden, der nicht mit Marx’ Kapital vertraut ist. Aber Rosa Luxemburgs Studie ist, ob man mit ihr übereinstimmt oder nicht, zweifellos einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste und originellste Beitrag zur marxistischen Wirtschaftstheorie seit dem Kapital.

 

 

Die Fragestellung

Als Marx die Bewegungsgesetze des Kapitalismus analysierte, abstrahierte er von allen nichtkapitalistischen Faktoren, so wie z.B. auch ein Naturwissenschaftler die Schwerkraft unter den Bedingungen eines Vakuums untersuchen wird.

Das Problem, mit dem sich Rosa Luxemburg beschäftigt, ist folgendes: Kann die erweiterte Reproduktion, d.h. die Produktion auf erweiterter Stufenleiter, unter den Bedingungen des abstrakten, reinen Kapitalismus stattfinden, wenn nichtkapitalistische Länder nicht existieren, oder wenn außer Kapitalisten und Arbeitern keine anderen Klassen existieren? Marx ging davon aus, daß dies möglich sei. Rosa Luxemburg meinte, die Abstraktion von nichtkapitalistischen Faktoren sei zwar im allgemeinen bei der Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems gerechtfertigt, nicht aber bei der Analyse der erweiterten Reproduktion.

Die Frage ist natürlich eine rein theoretische, da der reine Kapitalismus in Wirklichkeit niemals bestanden hat: Die erweiterte Reproduktion hat immer stattgefunden, indem der Kapitalismus in vorkapitalistische Bereiche eindrang, entweder innerhalb des kapitalistischen Landes selbst – Eindringen in den Feudalismus mit Zerstörung der Existenzgrundlage der Bauern, Zunfthandwerker etc. oder in rein agrarische, vorkapitalistische Länder.

Da der Kapitalismus also niemals in reiner Form bestanden hat, könnte man fragen: Worin liegt die Bedeutung der Frage, ob die erweiterte Reproduktion im reinen Kapitalismus theoretisch möglich ist? Schließlich haben weder Marx noch Rosa Luxemburg angenommen, daß der Kapitalismus so lange bestehen werde, bis alle vorkapitalistischen Formationen überwunden sind. Die Antwort auf diese Frage kann jedoch die Auswirkungen des nichtkapitalistischen Bereichs auf Verschärfung oder Milderung der Widersprüche im Kapitalismus verständlich machen, und die Faktoren, die den Kapitalismus zur imperialistischen Expansion treiben, aufzeigen.

 

 

Das Marx’sche Schema

Beginnen wir damit, zu erklären, wie Marx den Gesamtprozeß der Reproduktion im Kapitalismus beschrieb.

Marx geht von der Analyse der einfachen Reproduktion aus, d.h. von der Annahme – die natürlich im Kapitalismus ausgeschlossen ist –, daß keine Kapitalakkumulation stattfindet, daß der gesamte Mehrwert für den persönlichen Konsum der Kapitalisten verwendet wird, die Produktion also nicht expandiert.

Damit es für den Kapitalisten zur einfachen Reproduktion kommen kann, müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein. Er muß das Produkt, das er in seiner Fabrik herstellt, verkaufen können und mit dem erlösten Geld die Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe etc.) kaufen, die er für seinen speziellen Industriezweig benötigt; der Markt muß ihm die Arbeitskräfte, die er braucht, liefern, wie auch die Konsummittel, die nötig sind, um die Arbeiter zu ernähren, zu kleiden und ihre sonstigen Bedürfnisse zu erfüllen. Das von den Arbeitern mit Hilfe der Produktionsmittel hergestellte Produkt muß wieder einen Markt finden usw.

Während es vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten keinen Unterschied ausmacht, was seine Fabrik herstellt, vorausgesetzt, er kann für sein Produkt Käufer finden, damit er sein Kapital plus Mehrwert realisieren kann, ist es für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt von höchster Bedeutung, daß sich die Gesamtproduktion aus bestimmten Arten von Gebrauchswerten zusammensetzt, mit anderen Worten: Die Gesamtproduktion muß sowohl die Produktionsmittel liefern, die notwendig sind, um den Produktionsprozeß zu erneuern, als auch die Konsummittel, die von den Arbeitern und Kapitalisten verbraucht werden. Die Mengen der verschiedenen Produkte können nicht willkürlich festgelegt werden: die hergestellten Produktionsmittel müssen dem konstanten Kapital c dem Wert nach gleich sein; die hergestellten Konsummittel müssen den aufgewendeten Lehnen (dem variablen Kapital v) plus dem Mehrwert m dem Wert nach gleich sein.

Um die einfache Reproduktion zu analysieren, teilte Marx die gesamte Industrie in zwei Grundabteilungen: diejenige, die Produktionsmittel herstellt (Abteilung I) und diejenige, die Konsummittel herstellt (Abteilung II). Zwischen diesen beiden Abteilungen muß ein bestimmtes Verhältnis bestehen, damit die einfache Reproduktion stattfinden kann. Es ist zum Beispiel klar, daß, wenn Abteilung I mehr Maschinen produzierte, als Abteilung I und II zusammen benötigten, eine Überproduktion an Maschinen vorläge; die Produktion in Abteilung I würde dadurch gelähmt und dies würde eine ganze Reihe von Folgeerscheinungen auslösen. Wenn Abteilung I zu wenig Maschinen produzierte, würde die Reproduktion zurückgehen, statt sich auf dem gleichen Niveau zu wiederholen. Dasselbe gälte für Abteilung II, wenn sie mehr oder weniger Verbrauchsgüter herstellen würde, als v + m in beiden Abteilungen beträgt. [2] Die Proportion zwischen der Nachfrage nach Produktionsmitteln und der nach Konsummitteln in der Gesamtwirtschaft hängt ab von dem Verhältnis zwischen dem Kapitalanteil, der für den Einkauf von Maschinen und Rohstoffen eingesetzt wird (d.h. für das c der Gesamtwirtschaft), und jenem Kapitalanteil, der auf die Löhne v und die Profite der Kapitalisten in der Gesamtwirtschaft entfällt.

Mit anderen Worten, die Produkte von Abteilung I (PI) müssen dem konstanten Kapital der Abteilung I (cI) plus dem konstanten Kapital der Abteilung II (cII) gleich sein:

PI = cI + cII

Dementsprechend müssen die Produkte von Abteilung II (PII) den Löhnen und dem Mehrwert beider Abteilungen gleich sein:

PII = vI + mI + vII + mII

Diese beiden Gleichungen können zu einer Gleichung zusammengefaßt werden:

cII = vI + mI

Mit anderen Worten, der Wert der Maschinen und Rohstoffe etc., die von Abteilung II gebraucht werden, muß den Lehnen der Arbeiter plus dem Mehrwert der Kapitalisten in Abteilung I gleich sein.

Diese Gleichungen gelten für die einfache Reproduktion. Die Formeln für die erweiterte Reproduktion sind komplizierter. Hier wird ein Teil des Mehrwerts für den persönlichen Verbrauch der Kapitalisten ausgegeben – diesen Teil werden wir als r bezeichnen – und ein Teil wird akkumuliert – diesen bezeichnen wir als a. a selbst wird in zwei Teile aufgegliedert: der eine Teil dient dem Kauf zusätzlicher Produktionsmittel, d.h. er wird für die Vermehrung des verfügbaren konstanten Kapitals ausgegeben (ac), der andere Teil für die Lehne der zusätzlich beschäftigten Arbeiter in der Produktion (av).

Wenn die gesellschaftliche Nachfrage nach Produktionsmitteln unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion nur durch die Formel cI + cII ausgedrückt wurde, so lautet sie für die erweiterte Reproduktion cI + acI + cII + acII. Entsprechend gilt für die gesellschaftliche Nachfrage nach Verbrauchsgütern: aus vI + mI + vII + mII wird vI + rI + avII + vII + rII + avII.

Daher können die Bedingungen für die erweiterte Reproduktion folgendermaßen formuliert werden:

PI = cI + acI + cII + acII.

PII = vI + rI + avI + vII + rII + avII

Oder cII + acII = vI + rI + avI. [3]

 

 

Rosa Luxemburgs Kritik der Marx’schen Schemata [4]

Rosa Luxemburg zeigte, daß ein Vergleich der Formel für die einfache Reproduktion mit der für die erweiterte Reproduktion zu einem paradoxen Ergebnis führte. Im Falle der einfachen Reproduktion muß cll gleich vl + ml sein. Im Fall der erweiterten Reproduktion muß cII + acII gleich vI + rI + avI sein. Dann sind vI + rI + avI kleiner als vI + mI (da acI von mI abgeleitet ist). Wenn nun unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion Gleichgewicht herrschte, würde der Übergang zur erweiterten Reproduktion in Abteilung II nicht nur Nichtakkumulation voraussetzen, sondern sogar die absurde Situation der Disakkumulation.

Sie schrieb, es sei kein Zufall, daß Marx zur Illustration der erweiterten Reproduktion schematische Darstellungen verwandte, in denen c zahlenmäßig kleiner war als im Modell der einfachen Reproduktion.

Schema einfacher Reproduktion

I.

4.000c + 1.000v + 1.000m

= 6.000

II.

2.000c + 500v + 500m

= 3.000

Summa

= 9.000

 

Ausgangsschema für Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter

I.

4.000c + 1.000v + 1.000m

= 6.000

II.

1.500c + 750v + 750m

= 3.000

Summa

= 9.000 [5]

Das konstante Kapital von Abteilung II ist also in der erweiterten Reproduktion um 500 kleiner als in der einfachen. Marx arbeitet das Schema der erweiterten Reproduktion aus und zeigt, daß – falls weder in Abteilung I noch Abteilung II eine Änderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (d.h. des Verhältnisses von konstantem zu variablem Kapital) eintritt, die Mehrwertrate konstant bleibt und die Hälfte des Mehrwertes in Abteilung I kapitalisiert wird – die Reproduktion des Kapitals in folgender Progression stattfinden wird:

Erstes Jahr

I.

4.400c + 1.100v + 1.100m

=   6.600

II.

1.600c + 800v + 800m

=   3.200

Summa

=   9.800

 

Zweites Jahr

I.

4.840c + 1.210v + 1.210m

=   7.260

II.

1.760c + 880v + 880m

=   3.520

Summa

= 10.780

 

Drittes Jahr

I.

5.324c + 1.331v + 1.331m

=   7.986

II.

1.936c + 968v + 968m

=   3.872

Summa

= 11.858

 

Viertes Jahr

I.

5.856c + 1.464v + 1.464m

=   8.784

II.

2.129c + 1.065v + 1.065m

=   4.259

Summa

= 13.043

 

Fünftes Jahr

I.

6.442c + 1.610v + 1.610m

=   9.662

II.

2.342c + 1.172v + 1.172m

=   4.686

Summa

= 14.348 [6]

Bei der Analyse dieses Schemas weist Rosa Luxemburg auf folgende Eigentümlichkeit hin:

Während die Abteilung I jedesmal den halben Mehrwert kapitalisiert und den halben verzehrt, was sowohl eine Erweiterung der Produktion wie der persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse ergibt, geht die Doppelbewegung in der Abteilung II in folgender sprunghafter Weise vor sich:

Im 1. Jahr wird kapitalisiert 150, verzehrt 600

Im 2. Jahr wird kapitalisiert 240, verzehrt 560

Im 3. Jahr wird kapitalisiert 254, verzehrt 626

Im 4. Jahr wird kapitalisiert 290, verzehrt 678

Im 5. Jahr wird kapitalisiert 320, verzehrt 745 [7]

Sie fährt fort: „Daß die absoluten Zahlen des Schemas in jeder Gleichung willkürlich sind, versteht sich von selbst und verringert nicht ihren wissenschaftlichen Wert. Worauf es ankommt, sind die Größenverhältnisse, die exakte Beziehungen ausdrücken sollen. Die von klarer Gesetzmäßigkeit diktierten Akkumulationsverhältnisse in Abteilung I scheinen nun aber durch eine völlig willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein, und dieser Umstand ist geeignet, zur Nachprüfung der inneren Zusammenhänge der Analyse zu veranlassen.“ [8]

Bei fortschreitender erweiterter Reproduktion würde, unter der Annahme, daß in Abteilung II wie in Abteilung I eine regelmäßige Expansion der Kapitalakkumulation und des persönlichen Verbrauchs der Kapitalisten erfolgt, ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen den beiden Abteilungen auftreten. Rosa Luxemburg weist deshalb sehr deutlich darauf hin, daß, falls für die Akkumulationsbedingungen in Abteilung I logische Regeln festgelegt sind, diese durch eine völlig willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein scheinen; mit anderen Worten: Wenn die gleichen logischen Regeln, die der Abteilung I zugrunde liegen, auf die Akkumulationsbeziehungen in Abteilung II angewandt würden, so würde ein Ungleichgewicht in Form von Überproduktion in Abteilung II auftreten und sich ständig vergrößern.

Wenn man davon ausgeht, daß zu Beginn der erweiterten Reproduktion das konstante Kapital in Abteilung II nicht um 500 kleiner ist als im Schema der einfachen Reproduktion, läßt sich nun ziemlich leicht zeigen, daß zwischen Abteilung I und Abteilung II ein Mißverhältnis auftritt: die Nachfrage von Abteilung I nach Konsummitteln ist dann bei Beginn des Prozesses um 500 kleiner als der in Abteilung II verfügbare, auf den Markt drängende Vorrat an Konsummitteln: zu Beginn des Prozesses der erweiterten Reproduktion liegt eine Überproduktion von Verbrauchsgütern im Werte von 500 vor.

Hätte Rosa Luxemburg nicht von einer Reihe anderer Faktoren wie dem Ansteigen der Mehrwertrate und der veränderten organischen Zusammensetzung des Kapitals abstrahiert, so wäre ihr Argument sogar noch stärker gewesen. Es läßt sich leicht aufzeigen, daß beim Ansteigen der Mehrwert- (oder Ausbeutungs-)rate, wenn also m/v wächst, die relative Nachfrage nach Konsumgütern im Verhältnis zu Investititionsgütern abnehmen wird, und damit die Akkumulationsrate in Abteilung II sogar noch unregelmäßiger ausfallen würde als in Marx’ Darstellungen, oder daß in Abteilung II wachsende Überschüsse auftreten würden. Jeder Anstieg des Anteils des akkumulierten Mehrwerts, wie auch jede Änderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, würde in dieselbe Richtung wirken.

Die oben erwähnten drei Tendenzen – der Anstieg der Mehrwertrate, der Anstieg der Akkumulationsrate und die Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals – hielt Marx für absolute und immanente Gesetze des Kapitalismus. Werden sie noch mit berücksichtigt, so gewinnt Rosa Luxemburgs These, daß im reinen Kapitalismus ökonomische Disproportionalitäten unvermeidbare und permanente Begleiterscheinungen darstellen, außerordentlich an Gewicht.

 

 

Kritik der Kritik

Es gibt jedoch einen wichtigen Faktor, der alle oben genannten kompensiert und eng mit ihnen verbunden ist: die Zunahme des relativen Gewichts der Abteilung I gegenüber Abteilung II. Die Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, die Verbesserung der Technik, war historisch notwendig mit dem relativen Wachstum der Abteilung I gegenüber der Abteilung II verbunden. So wurde berechnet, daß das Verhältnis der Nettoproduktion von Investitionsgütern zu der von Konsumgütern in Großbritannien sich wie folgt entwickelte: 1851: 100 zu 470; 1871: 100 zu 390; 1901: 100 zu 170; 1924: 100 zu 150.

Die Zahlen für die USA sind: 1850: 100 zu 240; 1890: 100 zu 150; 1920: 100 zu 80.

Die Zahlen für Japan: 1900: 100 zu 480; 1913: 100 zu 270; 1925: 100 zu 240. [9]

Um zu zeigen, daß das Anwachsen der Abteilung I gegenüber Abteilung II die von Rosa Luxemburg erwähnten Faktoren, ebenso wie die hier zur Unterstützung ihrer These von der tendenziellen Überproduktion in Abteilung II vorgetragenen, kompensiert, soll in einer schematischen Darstellung gezeigt werden, welche Auswirkungen die Veränderung des relativen Gewichts von Abteilung I gegenüber Abteilung II auf das Austauschverhältnis zwischen beiden Abteilungen hat.

Das in Abteilung I investierte Kapital kann im Vergleich mit Abteilung II auf zwei Arten wachsen:

  1. durch eine höhere Akkumulationsrate in Abteilung I (als in Abteilung II);
  2. Durch die Übertragung von Kapital von Abteilung II auf Abteilung I.

Wir werden für jeden dieser beiden Prozesse ein Beispiel durchrechnen.

Nehmen wir an, daß die Akkumulationsrate in Abteilung I höher ist als in Abteilung II: in Abteilung I wird die Hälfte des Mehrwerts kapitalisiert, in Abteilung Il nur ein Drittel. Wir nehmen weiter an, daß die anderen Faktoren (eine Mehrwertrate von 100%, die organische Zusammensetzung des Kapitals in einem Verhältnis von konstantem zu variablem Kapital wie 5 : 1) unverändert bleiben. Dann wird, wenn wir die oben zitierte Marx’sche Darstellung als Ausgangspunkt benutzen, die Reproduktion des Kapitals in folgender Progression stattfinden (die Zahlen sind der Einfachheit halber abgerundet):

Ausgangspunkt:

I.

5.000c + 1.000v + 1.000m

= 7.000

II.

1.500c + 300 v + 300m

= 2.100

 

Ende des ersten Jahres:

I.

5.000c + 1.000v + 500r + 417ac + 83av

= 7.000

II.

1.500c + 300v + 200r + 80ac + 20av

= 2.100

cII + acII

= 1.580

während vI + rI + avI

= 1.583

Damit erscheint am Ende des ersten Jahres statt eines Überschusses in Abteilung II, wie Rosa Luxemburg annahm, ein Überschuß in Abteilung I im Werte von 3.

Ende des zweiten Jahres:

I.

5.417c + 1.083v + 541r + 450ac + 90av

= 7.583

II.

1.580c + 320v + 213r + 90ac + 18av

= 2.220

cII + acII

= 1.670

während vI + rI + avI

= 1.714

Der Überschuß in Abteilung I beträgt nun 44.

 

Ende des dritten Jahres:

I.

5.867c + 1.173v + 586r + 489ac + 98av

= 8.213

II.

1.670c + 338v + 225r + 94ac + 19av

= 2.346

cII + acII

= 1.764

während vI + rI + avI

= 1.857

Der Überschuß in Abteilung I beträgt nun 93.

Aus dieser Darstellung wird klar, daß gleichbleibende Mehrwertrate und unveränderte organische Zusammensetzung des Kapitals vorausgesetzt – im Falle einer höheren Akkumulationsrate in Abteilung I, in Abteilung I Überproduktion auftritt. [10]

Wie wir oben gesagt haben, kann sich Abteilung I gegenüber Abteilung II auch durch Übertragung von Mehrwert von Abteilung II auf Abteilung I vergrößern. Verdeutlichen wir auch diesen Prozeß durch eine Darstellung. Wir nehmen an, die Mehrwertrate, die organische Zusammensetzung des Kapitals und die Akkumulationsrate seien in beiden Abteilungen gleich und blieben konstant. Gleichzeitig nehmen wir an, die Hälfte des in Abteilung II produzierten Mehrwerts werde auf Abteilung I übertragen.

Das Fortschreiten der erweiterten Reproduktion könnte dann folgendermaßen beschrieben werden:

Ausgangspunkt:

I.

5.000c + 1.000v + 1.000m

= 7.000

II.

1.500 +; 300v + 300m

= 2.100

 

Ende des ersten Jahres:

I.

5.000c + 1.000v + 500r + 417ac + 83av

= 7.000

II.

1.500c + 300v + 150r + 63ac + 12av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 63ac + 12av)

= 2.100

cII + acII

= 1.563

während vI + I + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.595.

Damit stehen wir am Ende des ersten Jahres statt vor einem Überschuß in Abteilung II, wie Rosa Luxemburg annahm, vor einer Überproduktion in Abteilung I im Wert von 32.

Ende des zweiten Jahres:

I.

5.480c + 1.095v + 547r + 455ac + 91av

= 7.670

II.

1.563c + 312v + 156r + 65ac + 13av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 65ac + 13av)

= 2.187

cII + acII

= 1.628

während vI + rI + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.746.

Der Überschuß in Abteilung I beträgt 118.

 

Ende des dritten Jahres:

I.

6.000c + 1.200v + 600r + 500ac + 100av

= 8.400

II.

1.628c + 325v + 162r + 67ac + 14av
(plus dem auf Abteilung I übertragenen
Mehrwert: 67ac + 14av)

= 2.278

cII + acII

= 1.695

während vI + rI + avI
(plus dem von Abteilung II übertragenen av)

= 1.914.

Der Überschuß in Abteilung I beträgt 219.

Nun wendet sich Rosa Luxemburg gegen den Gedanken, der Mehrwert-Transfer von einer Abteilung auf die andere könne dazu beitragen, ein Austauschgleichgewicht zwischen den Abteilungen herbeizuführen: „... so scheitert die beabsichtigte Übertragung eines Teils des kapitalisierten Mehrwerts aus der Abteilung II in die Abteilung I erstens an der Sachgestalt dieses Mehrwerts, mit der die Abteilung I offenbar nichts anfangen kann, zweitens aber an den Austauschverhältnissen zwischen beiden Abteilungen, die es mit sich bringen, daß der Übertragung eines Teils des Mehrwerts in Produkten II in die erste Abteilung eine gleichwertige Übertragung von Produkten I in die zweite Abteilung entsprechen muß.“ [11]

Mit anderen Worten: Rosa Luxemburg sagt, das Marxsche Schema sei auf die Voraussetzung gegründet, daß erstens die Realisierung von Mehrwert nur durch einen Austausch zwischen den Abteilungen stattfinden könne, und daß zweitens der voraussichtliche Überschuß in Abteilung II natürliche Form annehme, d.h. Konsummittel bleibe und nicht direkt als Produktionsmittel dienen könne. Das erste Argument geht fehl aufgrund der Tatsache, daß der Austausch zwischen Unternehmen der gleichen Abteilung zur Realisierung des Mehrwerts dienen kann: Wenn ein Eigentümer einer Hutfabrik seine Hüte an Arbeiter verkauft, die Zwieback produzieren, realisiert er den von seinen Arbeitern geschaffenen Mehrwert. Zweitens können eine ganze Reihe von Konsumgütern auch als Produktionsmittel dienen: Wenn ein Bauunternehmer Fabriken anstelle von Wohnungen baut, ist das übertragen von Kapital von Abteilung II auf Abteilung I; Elektrizität kann zur Beleuchtung von Wohnungen ebenso dienen wie zum Antrieb von Maschinen; Korn kann Menschen ernähren (Konsum), aber auch Schweine (produktiver Konsum), etc. Drittens verliert ohne die Möglichkeit des Kapitaltransfers von einer Abteilung auf die andere die These, daß die Profitrate in der gesamten Wirtschaft zum Ausgleich tendiert (und das ist ein grundlegender Bestandteil der marxistischen Ökonomie), ihre Begründung.

Aus der obigen Darstellung wird klar, daß ein relatives Anwachsen von Abteilung I gegenüber Abteilung II, bei sonst gleichen Bedingungen, Überschüsse in den Austauschbeziehungen der Abteilung I mit sich bringt.

Kann dieser Faktor nicht den von Rosa Luxemburg als Ursache eines Überschusses in Abteilung II aufgezeigten Faktor kompensieren? Sind die verschiedenen, einander aufhebenden Faktoren nicht tatsächlich zwei Seiten einer Münze, des Fortschritts der kapitalistischen Wirtschaft? Natürlich ist es so. Rosa Luxemburg kam zu dem Schluß, in Abteilung II müsse ein Überschuß auftreten, weil sie nur die eine Seite der Münze beachtete. Unter Berücksichtigung beider Seiten ergibt sich, daß im reinen Kapitalismus Proportionalität zwischen beiden Abteilungen bestehen kann, solange die Akkumulation in beiden gleichmäßig und nicht unregelmäßig erfolgt.

Die theoretische Möglichkeit der Erhaltung korrekter Proportionalitäten zwischen den beiden Abteilungen, die durch ihren Austausch Überproduktion verhindern können, wenn die Akkumulation gleichmäßig erfolgt, bedeutet nicht, daß im realen Ablauf das anarchische und atomistische Funktionieren des Kapitalismus zu beständiger und stabiler Bewahrung der erforderlichen Proportionalitäten führt. Und hier ist der von Rosa Luxemburg aufgezeigte Faktor – die Existenz nichtkapitalistischer Formationen, in die der Kapitalismus expandiert – von überaus großer Bedeutung. Wenn sie auch nicht, wie Rosa Luxemburg meinte, eine Voraussetzung der erweiterten Reproduktion ist, so bildet sie doch zumindest einen Faktor, der den Prozeß der erweiterten Reproduktion, der Akkumulation erleichtert, indem er die Interdependenz der beiden Abteilungen einschränkt. Man kann Rosa Luxemburg nur zustimmen, wenn sie sagt:

Die Akkumulation ist nicht nur ein inneres Verhältnis zwischen den Zweigen der kapitalistischen Wirtschaft, sondern vor allem ein Verhältnis zwischen dem Kapital und dem nichtkapitalistischen Milieu, in dem jeder der beiden großen Zweige der Produktion den Akkumulationsprozeß zum Teil auf eigene Faust unabhängig vom anderen durchmachen kann, wobei sich die Bewegung beider wieder auf Schritt und Tritt kreuzt und ineinander verschlingt. Die sich daraus ergebenden komplizierten Beziehungen, die Verschiedenheit des Tempos und der Richtung im Gang der Akkumulation beider Abteilungen, ihre sachlichen- und Wertzusammenhänge mit nichtkapitalistischen Produktionsformen, lassen sich nicht unter einen exakten schematischen Ausdruck bringen ... [12]

Tatsächlich sind die Faktoren, die über bestimmte Proportionalitäten zwischen den Abteilungen entscheiden, sehr zahlreich und widersprüchlich (die Ausbeutungsrate, die Rate der Akkumulation in verschiedenen Industriezweigen, Veränderungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals in verschiedenen Industriezweigen etc.), und sobald die Wirtschaft einmal das Stadium des Gleichgewichts verläßt, verändern sich frühere Proportionalitäten nach dem Schneeballsystem in Disproportionalitäten. Daher kann der Austausch zwischen der kapitalistischen Industrie und nichtkapitalistischen Bereichen, auch wenn er, den absoluten Zahlen nach, recht klein ist, für die Elastizität, und dadurch auch für die Stabilität des Kapitalismus von ungeheurer Bedeutung sein.

 

 

Der begrenzte Markt des Kapitalismus

In ihrem Buch wechselt Rosa Luxemburg zwischen Analysen der Reproduktionsschemata (die die Austauschverhältnisse zwischen den beiden Abteilungen beschreiben) und der Analyse anderer Beziehungen zwischen beiden Abteilungen: der Fähigkeit der Produktionsmittel, zu Konsummitteln zu werden; hier werden also die Produktionsmittel nicht nur gegen Konsummittel ausgetauscht, sondern gleichzeitig in neuen Konsummitteln realisiert. Die in den Marx’schen Schemata ausgedrückten Proportionalitäten sind Bedingungen, ohne die eine Akkumulation nicht stattfinden kann; damit aber die Akkumulation tatsächlich stattfindet, bedarf es einer fortschreitend wachsenden Nachfrage nach Waren, und es erhebt sich die Frage: Wo kommt diese Nachfrage her?

Die kapitalistische Prosperität hängt von wachsender Produktion und Absorption der Kapitalgüter ab. Aber dies ist letzten Endes von der Fähigkeit der Industrie abhängig, den steigenden Ausstoß von Konsumgütern zu verkaufen. Beim Versuch, ihre Produkte zu verkaufen, gerät die kapitalistische Industrie aber in wachsende Widersprüche, deren grundlegendster der zwischen der Produktion und dem begrenzten Markt ist: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ [13]

Rosa Luxemburg behauptete, der Faktor, der es dem Kapitalismus ermögliche, dem absoluten Akkumulationshindernis des begrenzten Marktes auszuweichen, sei die Expansion der kapitalistischen Industrie in nichtkapitalistische Gebiete. [14]

 

 

Andere ökonomische Auswirkungen des Imperialismus

Mehr als jeder andere marxistische oder nicht-marxistische Wirtschaftswissenschaftler hat Rosa Luxemburg auf die Rückwirkungen der nichtkapitalistischen Grenze auf den Kapitalismus aufmerksam gemacht. Daran anknüpfend lassen sich (auch wenn sie selbst nicht alle wesentlichen Konsequenzen entwickelt hat) die Auswirkungen der kapitalistischen Expansion in nichtkapitalistische Gebiete etwa folgendermaßen zusammenzufassen:

1. Die Märkte der rückständigen Kolonialländer schwächen durch steigende Nachfrage nach Waren aus industrialisierten Ländern die dort bestehende Tendenz zur Überproduktion, vermindern die Reservearmee der Arbeitslosen und bewirken dadurch eine Verbesserung der Lehne der Arbeiter in den industrialisierten Ländern.

2. Die derart herbeigeführte Lohnerhöhung hat kumulative Auswirkungen. Durch die Erweiterung des inneren Marktes in den industrialisierten Ländern wird die Tendenz zur Überproduktion geschwächt, Arbeitslosigkeit nimmt ab, die Lehne steigen.

3. Der Kapitalexport trägt zur Prosperität der industrialisierten Länder bei, da er – zumindest zeitweise – einen Markt für ihre Waren schafft. Der Baumwollwarenexport von Großbritannien nach Indien hat zur Voraussetzung, daß Indien dafür sofort zahlen kann, z.B. durch Export von Baumwolle. Andererseits setzt der Kapitalexport zum Bau einer Eisenbahn den Export von Gütern – Schienen, Lokomotiven etc. – voraus, der die unmittelbare Kauf- oder Exportkraft Indiens übersteigt. Mit anderen Worten: Für eine bestimmte Zeit ist der Kapitalexport ein wichtiger Faktor für die Erweiterung der Märkte für die Industrien der fortgeschrittenen Länder. Danach schlägt jedoch dieser Faktor in sein Gegenteil um: Einmal exportiertes Kapital bremst den Warenexport aus dem Mutterland, sobald die Kolonialländer beginnen, auf dieses Kapital Gewinne oder Zinsen zu zahlen. Wenn z.B. Indien Gewinne in Höhe von 10 Millionen Pfund an Großbritannien zu zahlen hat (für britisches, in Indien investiertes Kapital), muß es weniger importieren, als es exportiert, um so die benötigten 10 Millionen Pfund einsparen zu können. Mit anderen Worten: Der Kapitalexport von Großbritannien nach Indien erweitert den Markt für britische Waren; die Bezahlung der Zinsen und Profite auf britisches Kapital in Indien schränkt die Märkte für britische Waren ein.

Daher schließen große Investitionen von britischem Kapital im Ausland keineswegs Überproduktion und Massenarbeitslosigkeit in Großbritannien aus. Im Gegensatz zur Leninschen Ansicht brauchen die hohen Profite aus dem im Ausland investierten Kapital durchaus nicht eine Begleiterscheinung der kapitalistischen Prosperität und Stabilisierung in den imperialistischen Ländern zu sein, sondern können zu einem Faktor der Massenarbeitslosigkeit und Depression werden.

4. Der Kapitalexport in die Kolonien beeinflußt den gesamten Kapitalmarkt im imperialistischen Land. Selbst wenn der vergeblich nach Investitionsmöglichkeiten suchende Kapitalüberschuß sehr klein wäre, könnte sein kumulativer Effekt verheerend wirken, da er auf den Kapitalmärkten Druck erzeugen und den Abwärtstrend der Profitrate verstärken würde. Das hätte wiederum kumulierende Auswirkungen auf die Tätigkeit des Kapitals, auf die gesamte ökonomische Aktivität, auf den Arbeitsmarkt, damit auf die Kaufkraft der Massen, und dadurch – in einem Teufelskreis – auf die Märkte.

Der Export von überschüssigem Kapital kann diesen Schwierigkeiten entgegenwirken und dadurch für die gesamte kapitalistische Prosperität – und für den Reformismus – große Bedeutung gewinnen.

5. Indem er den Druck auf den Kapitalmärkten mindert, verringert der Kapitalexport den Wettbewerb zwischen verschiedenen Unternehmen, d.h. die Notwendigkeit, ihre Ausstattung zu rationalisieren und zu modernisieren. (Das erklärt z.B. in gewissem Maße die – im Vergleich zum heutigen Deutschland bestehende – technische Rückständigkeit der britischen Industrie, die einmal Pionier der industriellen Revolution gewesen ist). Dies schwächt die Tendenzen zu Überproduktion und Arbeitslosigkeit, zu Lohnsenkungen etc. (natürlich kann dieser Faktor unter veränderten Bedingungen, wenn Großbritannien sein virtuelles Monopol in der Industriewelt verloren hat, durchaus zur Niederlage der britischen Industrie auf dem Weltmarkt, zu Arbeitslosigkeit und Lohnsenkungen führen).

6. Der Kauf billiger Rohstoffe und Nahrungsmittel in den Kolonien erlaubt in den industrialisierten Ländern Erhöhungen der Reallöhne ohne Senkung der Profitrate. Diese Lohnerhöhung bedeutet erweiterte Binnenmärkte ohne Absinken von Profitrate und -menge, d.h. ohne Schwächung des Antriebs der kapitalistischen Produktionsweise.

7. Der Zeitraum, in dem die agrarischen Kolonialländer zur Erweiterung der Märkte für die industrialisierten Länder beitragen, verlängert sich proportional zu:

  1. dem Umfang der kolonialen Welt im Vergleich zur Produktivkraft der fortgeschrittenen industrialisierten Länder, und
  2. zu dem Ausmaß, in dem die Industrialisierung dieser Länder hinausgeschoben wird.

8. Alle günstigen Auswirkungen des Imperialismus auf die kapitalistische Prosperität würden eliminiert, wenn zwischen den industrialisierten imperialistischen Ländern und ihren Kolonien keine nationalen Grenzen bestünden. Großbritannien exportierte Waren und Kapital nach Indien und importierte Rohstoffe und Nahrungsmittel; aber die durch das Eindringen des britischen Kapitalismus vermehrten indischen Arbeitslosen wurden nicht auf dem britischen Arbeitsmarkt zugelassen. Gäbe es nicht die (finanzielle) Schranke für eine indische Masseneinwanderung nach Großbritannien, so wären die Lehne in Großbritannien während des ganzen letzten Jahrhunderts nicht gestiegen. Die Krise des Kapitalismus hätte sich verschärft. Der Reformismus hätte den revolutionären Chartismus nicht ersetzen können. [15]

 

 

Zusammenfassung

Man kann Rosa Luxemburgs Kritik der Marx’schen Schemata im Band II des Kapitals akzeptieren oder ablehnen, ebenso wie alle oder einige Glieder ihrer Argumentationskette, die zu dem Schluß führt, daß der Kapitalismus, wäre die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die vorherrschende, sondern die einzige, notwendigerweise innerhalb kurzer Zeit an seinen eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen wäre. Wie immer man dazu steht: unzweifelhaft ist, daß Rosa Luxemburg durch ihren Hinweis auf die Auswirkungen der nichtkapitalistischen Sphären auf die Stabilität des Kapitalismus einen unschätzbaren Beitrag geleistet hat. Wie Joan Robinson in ihrem Vorwort zur englischen Ausgabe der Akkumulation des Kapitals feststellt, würden „nur wenige bestreiten, daß die Ausbreitung des Kapitalismus auf neue Territorien die Haupttriebfeder dessen war, was ein akademischer Nationalökonom (Hicks) den ‚großen säkularen Aufschwung‘ der letzten zweihundert Jahre genannt hat, und viele akademische Nationalökonomen erklären die unangenehme Lage des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert weitgehend aus dem ‚Schließen der Grenzen‘ auf der ganzen Welt.“ [16]

Joan Robinson mischt ihr Lob für Rosa Luxemburgs Analyse mit einer Kritik daran, daß sie den Anstieg der Reallöhne in der gesamten kapitalistischen Welt (ein Faktor zur Erweiterung des Marktes) ignoriert und so ein unvollständiges Bild gezeichnet habe. Aber auch wenn Rosa Luxemburg diesen Faktor nicht in ihre Analyse aufgenommen hat (er ist unwesentlich für ihr Hauptthema, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der erweiterten Reproduktion im reinen Kapitalismus), so kann man den Anstieg der Reallöhne selbst nicht unabhängig von dem Hauptfaktor erklären, auf den Rosa Luxemburg hinwies: die Expansion des Kapitalismus in nichtkapitalistische Sphären. [17]

 

 

Anmerkungen

1. Vorwort zu: Die Akkumulation des Kapitals (1913): zit. nach Akk, Vorwort.

2. Tatsächlich ist für eine reibungslose Reproduktion nicht nur die Einhaltung einer bestimmten Proportion zwischen den Abteilungen I und II der Gesamtwirtschaft notwendig, sondern das Verhältnis zwischen den Abteilungen muß auch in jedem Wirtschaftszweig gewahrt bleiben. So wird z.B. die Produktion von Textilmaschinen (Abteilung I) der Nachfrage nach dieser Art von Maschinen in der Bekleidungsindustrie (Abteilung II) entsprechen müssen.

3. Diese Gleichungen, die algebraische Formulierungen der Marx’schen Analyse in Band II des Kapitals darstellen, wurden von N. Bucharin in Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Wien 1926, S.7-12, formuliert. Wir halten sie für eine sehr brauchbare Zusammenfassung der vielen arithmetischen Beispiele Marx’.

4. Bevor wir Rosa Luxemburgs Analyse des Reproduktionsprozesses beschreiben, muß noch betont werden, daß sie nicht eine Theorie zur Erklärung der zyklischen Bewegung von Aufschwung, Krise und Abschwung entwickelte. Sie faßte die periodischen Zyklen als Reproduktionsphasen der kapitalistischen Wirtschaft auf, nicht aber als den Gesamtprozeß. Daher sah sie in ihrer Analyse von Zyklen ab, um den reinen Reproduktionsprozeß als ganzen zu untersuchen: „Denn trotz des scharfen Auf und Ab der Konjunkturen, trotz Krisen werden die Bedürfnisse der Gesellschaft schlecht oder recht befriedigt, die Reproduktion geht weiter ihren verschlungenen Gang und die Produktivkräfte entwickeln sich immer mehr. Wie kommt dies nun zustande, wenn wir von Krise und Konjunkturwechsel absehen? – Hier beginnt die eigentliche Frage ... wenn wir im folgenden von kapitalistischer Reproduktion sprechen, so ist darunter stets jener Durchschnitt zu verstehen, der sich als die mittlere Resultante des Konjunkturwechsels innerhalb eines Zyklus ergibt.“ (Akk, S.7)

5. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, II. Band, MEW, Bd.24, S.505.

6. a.a.O., S.507-8.

7. Akk, S.95.

8. a.a.O., S.95.

9. W.S. and E.S. Woytinski, World Population and Production, New York 1953. S.415f.

10. Rosa Luxemburgs Einwand gegen die Annahme einer höheren Akkumulationsrate in Abteilung I gegenüber Abteilung II (siehe Akk, S 308f.) ist völlig falsch. Es ist hier aus Platzgründen leider nicht möglich, darauf näher einzugehen.

11. Akk, S.311.

12. Akk, S.393f.

13. Marx, Kapital, Bd.III, MEW Bd.25, S.501.

14. Eine andere „marxistische“ Antwort auf das kapitalistische Dilemma lieferte Otto Bauer in seiner Kritik an Rosa Luxemburgs Werk. Mit viel komplizierteren Reproduktionsschemata, als Marx und Rosa Luxemburg benutzt hatten, versuchte er „die Anpassung der Akkumulation an das Bevölkerungswachstum“ nachweisen: „Die periodische Wiederkehr der Prosperität, der Krise, der Depression ist der empirische Ausdruck der Tatsache, daß der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbsttätig Überakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumulation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der Bevölkerung anpaßt. (Otto Bauer, Die Akkumulation des Kapitals, in Die Neue Zeit, 7. u. 14. März 1913, S.871f.) Und dies sagte nicht ein Malthus-, sondern ein Marxschüler, für den der entscheidende Faktor nicht im Bevölkerungswachstum, sondern im Akkumulation des Kapitals liegen sollte!

15. Übrigens muß der „dritte“ Käufer – der weder Arbeiter noch kapitalistischer Verbraucher ist – nicht unbedingt der nichtkapitalistische Produzent sein; auch der nichtproduzierende Staat kann als Käufer auftreten. Daher kann die ständige Rüstungswirtschaft zumindest für eine gewisse Zeit auf die kapitalistische Prosperität ähnliche Auswirkungen haben wie die nichtkapitalistische Wirtschaftssphäre (siehe T. Cliff: Perspectives on the Permanent War Economy, in: Socialist Review, Mai, 1957).

16. Joan Robinson, Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals, zit. nach der Aufsatzsammlung Über Keynes hinaus, Wien 1962, S.91.

17. In ihrer Argumentation machte Rosa Luxemburg eine Reihe nebensächlicher Fehler, die N. Bucharin in der Folgezeit in seiner Studie Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals aufdeckte, obwohl er ihre zentrale These nicht widerlegte (selbst wenn er glaubte, es sei ihm gelungen). So widmete Rosa Luxemburg zum Beispiel rein monetären Problemen der Kapitalakkumulation beträchtliche Aufmerksamkeit – ob man zum Beispiel die Produktion von Geldmaterial (Gold, Silber etc.) der Abteilung I zuschlagen solle, wie Marx es getan hatte, oder ob man, wie sie selbst vorschlug, eine dritte Abteilung einführen sollte. Es scheint, als hätte Rosa Luxemburg an einigen Stellen in ihrem Buch die Frage: Wo kommt die Nachfrage her? mit der Frage verwechselt: Wo kommt das Geld her? Da dies jedoch für die zentrale These ihres Buches von untergeordneter Bedeutung ist, werden wir hier nicht darauf eingehen.

Während wir, wenn wir Rosa Luxemburgs eigener Argumentation zur Frage der Reproduktionsschemata genau folgen würden, sagen müßten, der Kern ihres Arguments laute, daß ein Teil des überschüssigen Mehrwerts in Abteilung II im reinen Kapitalismus nicht realisiert werden könnte, faßt Rosa Luxemburg selbst ihre Argumentation so zusammen, als hätte sie bewiesen, daß im reinen Kapitalismus überhaupt kein Teil des überschüssigen Mehrwerts realisiert werden kann. (Hierauf hat Fritz Sternberg in seinem Buch Der Imperialismus, Berlin 1926, S.102, hingewiesen).

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003