Tony Cliff

 

Erdbeben im Osten

(Dezember 1989)


Tony Cliff, Earthquake in the East, Socialist Review, Nr. 126, Dezember 1989.
Deutsche Erstveröffentlichung: Tony Cliff u.a., Die Krise des Staatskapitalismus und der Todeskampf des Stalinismus, London u. Frankfurt/M. 1990, S.14-23.
Übersetzung: Sozialistische Arbeitergruppe (© 1990 SAG und SWP).
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Geschwindigkeit der Entwicklungen in Ost-Europa ist überwältigend. Wie können wir eine so rasante Explosion verstehen? Tony Cliff, Autor des Buchs Staatskapitalismus in Rußland erklärt, warum wir Zeugen des Beginns einer längeren Periode von Erschütterungen sind. Die Ausführungen sind Teil einer kürzlich gehaltenen Reden.

WIR ERLEBEN derzeit eine tiefgreifende Erschütterung der sozialen und politischen Ordnung in Osteuropa. In ihrem Ausmaß erinnert sie an die Jahre 1848 und 1917-18.

1848 gab es Revolutionen in Frankreich, Deutschland, Österreich und Ungarn mit weitreichenden Auswirkungen auf andere Länder. Auf die russische Revolution von 1917 folgte die Revolution in Deutschland, Österreich und Ungarn, die international eine noch größere Auswirkung hatte.

Um die Ursachen für ein Erdbeben zu verstehen, muß man sich die Triebkräfte der Explosion betrachten. Um es mit Marx auszudrücken: wenn eine bestimmte Gesellschaftsordnung zum Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte wird, beginnt die Epoche der sozialen Revolution.

Inwiefern werden die staatskapitalistischen Regime zum Hindernis? In der UdSSR selbst betrug die Jahreswachstumsrate des Bruttosozialprodukts von 1950 bis 1959 5,8 Prozent. In den Jahren von 1970-78 fiel sie auf 3,7 Prozent ab. Im Zeitraum 1980-82 ist sie weiter auf 1,5 Prozent gefallen. Meiner Einschätzung nach gab es in den letzten drei bis vier Jahren eine negative Wachstumsrate.

In der UdSSR ist die Anzahl der Industriearbeiter um fast ein Drittel höher als in den USA. Die Anzahl der in der russischen Großindustrie tätigen Techniker ist um das zweifache höher als in den USA. Die Produktionsleistung ist jedoch nur halb so hoch.

Dreißig Prozent der Bevölkerung der UdSSR sind in der Landwirtschaft tätig, in den USA sind es nur vier Prozent. Aber diese 4 Prozent produzieren genügend Nahrungsmittel sowohl für den Verbrauch der USA als auch für den Außenhandel. Im Gegensatz zu den USA hat die UdSSR im Nahrungsmittelbereich trotz der weit niedrigeren Verbrauchsrate eine negative Handelsbilanz.

Die Krise und die Wirtschaftsflaute der letzten zwei Jahrzehnte scheinen in totalem Widerspruch zu den riesigen Wachstumsraten der Stalin-Ära zu stehen. Stalin erzielte solche riesigen Wachstumsleistungen durch die Förderung der Schwerindustrie und der Investitionsgüterindustrie. Kapitalakkumulation liegt dem System zugrunde – Maschinen zur Herstellung von Maschinen zur weiteren Herstellung von Maschinen.

Das Problem ist, daß trotz dieser Erfolge ein auf Mengenleistung ausgerichtetes System ziemlich starr ist, weil die Betonung auf der Menge liegt.

Vergleichen wir die britische Stahlindustrie. Die Unternehmen haben ihre Standorte im Küstengebiet, weil dadurch die Transportkosten für die schweren Rohstoffe, Kohle und Eisenerz, niedrig gehalten werden. Im Gegensatz dazu befindet sich das Produktionszentrum für Diamanten in Südafrika, während der Weltdiamentenvertrieb in Amsterdam zu Hause ist. Die große Entfernung spielt hier keine Rolle> eben weil Meine Mengen einen hohen Wert haben. In der Stahlindustrie ist das anders.

Das weltgrößte Stahlunternehmen liegt in Magnitogorsk im Ural. Die Gegend ist kohlearm. Die Kohlen werden daher über tausende von Kilometern über Land befördert. Das zweitgrößte Stahlunternehmen in Rußland ist im Donbass in der Ukraine. Kohle ist reichlich vorhanden, Eisenerz aber nicht. Der Erztransport muß tausende Kilometer überbrücken.

Die Transportkosten müssen wohl um 30, 40 oder 50 mal höher sein als der Wert des Endprodukts. Eine ungeheure Verschwendung! Die Stahlpreise werde künstlich niedrig gehalten. Die riesigen Subventionen in diesen Industriebereichen sind zu einer fruchtbaren Last für die ganze Wirtschaft geworden.

Ein weiteres Beispiel für die Irrationalität der russischen Wirtschaft: zwei verschiedene Anlagen stellen einen 12 mm mal 60 mm großen Bolzen her. Die eine verlangt 10 Kopeken; die andere 1,40 Rubel, d.h. vier mal soviel. In Großbritannien beträgt der Preisunterschied zwischen Dash und Persil vielleicht 5 Prozent. Betrüge er 1.300 Prozent, würde das eine der beiden Unternehmen Konkurs machen.

Solange es in der UdSSR eine Ausdehnung der zur Verfügung stehenden Quellen der Produktion gab, solange konnte es Wachstum geben, indem mehr Menschen beschäftigt, mehr Rohstoffe verbraucht und neue Fabriken gebaut wurden.

Wenn es jedoch darum geht, die Intensität der Produktion, die Produktivität der Arbeit zu steigern (die Produktionsleistung je Arbeiter, bzw. je Kapitaleinheit anzuheben, d.h. vom extensiven zum intensiven Wachstum überzugehen) sieht die Sache auf einmal ganz anders aus. Die extensive Methode funktioniert ganz einfach nicht. Man betrachte z.B. was in der Landwirtschaft passiert ist. Die gesamte landwirtschaftliche Produktionsleistung ist während der gesamten Stalin-Ära nicht angestiegen. Beim Tode Stalins im Jahr 1953 war die gesamte russische Landwirtschaftsproduktion etwas niedriger als im Jahr 1928, d.h. vor der Kollektivierung der Landes. Die Kollektivierung ist trotzdem für Stalin erfolgreich gewesen, weil Millionen von Menschen in die Städte ziehen mußten, entsprechend wurden auch Lebensmittel in die Städte gelenkt.

Um die Zufuhr von Nahrungsmitteln vom Land in die Stadt zu ermöglichen, mußten die Bauern in Kolchosen organisiert werden. Man konnte unmöglich 26 Millionen Bauernfamilien kontrollieren, bzw. zur Übergabe des Getreides zwingen, weil sie es einfach versteckt hätten.

Es ist viel einfacher, 200.000 Kolchosen zu verwalten. Aber Stalin befürchtete, daß auch diese nicht kontrollierbar wären. Die jeweils 500 Familien, die in einer Kolchose leben, könnten unter sich abmachen, das Getreide zu verstecken, und behaupten, sie hätten keine 1.000 Tonnen sondern nur 600 Tonnen produziert.

Um die Kolchosen zu aufzubauen, gründete Stalin daher Maschinentraktorstationen. Jede Station überwachte 20 bis 30 Kolchosen. Sie übernahmen das Pflügen und das Ernten.

Der Traktorfahrer kann aber entscheiden, ob er tiefe oder flache Furchen pflügt. Wenn er flache Streifen zieht, kommt er schneller voran und bekommt daher eine höhere Zulage. Es kann keiner seine Arbeit nachprüfen. Wenn die Ernte fünf Monate später schlecht ausfällt, kann ihm niemand die Schuld in die Schuhe schieben. Sowas kann am Wetter liegen.

Im landwirtschaftlichen Bereich ist es Stalin trotz strenger Kontrollen nicht gelungen, die Produktionsleistung anzuheben.

Im Jahr 1959 beliefen sich die Privatparzellen der Kolchosmitglieder auf weniger als 1 Prozent des bearbeiteten Landes. Auf diesen privaten Landstücken wurden keine Maschinen, nicht einmal Pflüge eingesetzt. Es gibt keine jungen Arbeitskräfte, die Arbeitsmethoden sind primitiv. Trotzdem wurden auf diesen Parzellen 1959 46,6 Prozent allen Fleisches, 49,2 Prozent aller Milch und 82,1 Prozent aller Eier des ganzen Landes produziert.

Wenn Gorbatschow die Anzahl der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft von 30 auf 10 Prozent der Bevölkerung senken könnte, bekäme er damit eine große Chance, die industrielle Produktion zu erhöhen. Da er das nicht schafft, muß er den Akzent auf die Erhöhung der industriellen Arbeitsproduktivität legen, und hier beginnen die Probleme.

Perestroika heißt Rationalisierung, heißt die Wirtschaft straffen und, stärken. Thatcher hat im Zeitraum von 1979-81 eine Perestroika in Großbritannien durchgeführt. Sie hat die Anzahl der in der Industrie tätigen Arbeitskräfte um mehr als 20 Prozent verringert. In jedem kapitalistischen Land findet Perestroika statt. In Japan haben die Kapitalisten Fabriken dichtgemacht, sie haben neue eröffnet. Aufgrund der Tatsache, daß Japan eine moderne Wirtschaft hat, ist die Umstrukturierung mit weniger Schrecken verbunden als in Großbritannien. Die russische Wirtschaft bedarf einer noch radikaleren Perestroika als die, die Thatcher durchgeführt hat.

Bei seinem Besuch in London hat der russische Sozialist Boris Kagarlitsky von drei Hauptgruppierungen in der Bürokratie gesprochen.

Eine sagt, wir brauchen Rationalisierung, wir brauchen den Markt und wir müssen die schwedische Sozialdemokratie zum Vorbild machen.

Eine zweite fordert eine noch radikalere Umstrukturierung, sie werden Thatcher-Marktwirtschaftler genannt

Die dritte und größte Gruppierung, die Pinochet-Marktwirtschaffler, behaupteten jedoch, laut Kagarlitsky, Thatcher sei zu milde. Sie schlagen radikalere Maßnahmen vor, wie sie in Chile von General Pinochet durchgeführt wurden.

Kürzlich trat der Betriebsleiter einer Stahlanlage in Kattowitz im britischen Fernsehen auf und sagte: „Wir müssen von Ian MacGregor [ehemaliger Vorsitzender der obersten britischen Kohlebehörde zur Zeit des großen Bergarbeiterstreiks 1984-85] lernen.“ Er forderte einen einschneidenden Abbau von Arbeitskräften und sagte, er freue sich auf die Zeit, da sich jeweils zwei Arbeiter um jede freie Stelle bewerben.

Dementsprechend muß Gorbatschow vorgehen. In Großbritannien sind 20 bis 25 Prozent der gesamten Fertigungskapazitäten in der Industrie vernichtet worden. In Rußland werden sie mehr vernichten müssen. Schätzungen, daß aufgrund von Perestroika vermutlich 16 Millionen arbeitslos werden, sind wahrscheinlich noch untertrieben.

Der erste Widerstand wird sicher von den Bürokraten der betroffenen Fabriken kommen. Um diesen Widerstand zu überwinden, braucht Gorbatschow mehr Öffentlichkeit, mehr Glasnost. Glasnost gerät aber leicht außer Kontrolle. Die Herrschenden verdanken ihre Macht sowohl der Gewalt als auch der geistigen Gefolgschaft der Bevölkerung, sowohl der Peitsche wie des Zuckerbrots. Für sie fangen die Schwierigkeiten an, wenn die Peitsche nicht stark genug und das Zuckerbrot nicht groß genug sind.

Am Ende der Stalinzeit herrschte in Rußland noch Totenstille, was soziale und politische Unruhen anging. Dann, Anfang 1956, kritisierte Chrustschow Stalin und führte eine gewisses Maß an Demokratisierung ein. Acht Monate später fand der ungarische Aufstand statt. Die Arbeiter übernahmen die Fabriken, bildeten Arbeiterräte, zerschmetterten die ungarisch Polizei und das Militär. Chrustschow gab ihnen den Meinen Finger, und sie nahmen gleich die ganze Hand. Daraufhin ließ Chrustschow die Panzer anrollen.

Eine derartige Entwicklung ist nichts Neues. Im Jahre 1855 bestieg Alexander II. den russischen Zarenthron. Er versprach den Bauern die Aufhebung der Leibeigenschaft, Selbstverwaltung der Kommunen und Frauen den Zugang zu den Universitäten. Alexander Herzen, der damalige führende revolutionäre-Demokrat, nannte Alexander II daraufhin einen großen Befreier.

Alexander II. befreite zwar die Bauern von der Leibeigenschaft, gab ihnen aber kein Land. Er gewährte zwar den Kommunen eine Art Selbstverwaltung, nicht aber Autonomie für die Polen, stattdessen setzte er die Armee gegen diese ein.

Das Ergebnis war, daß die Narodniki eine große und aktive Bewegung aufbauten und Alexander II. wurde der erste Zar in der russischen Geschichte, der von Revolutionären 1881 ermordet wurde.

Die heutigen russischen Herrscher haben mit Glasnost insofern Schwierigkeiten, als die neue Offenheit die Menschen dazu ermutigt, weitreichende Forderungen zu stellen. Zum Beispiel die Bergarbeiter von Workuta, die gegen das Gesetz in den Streik getreten sind.

Glasnost erzeugt eine Welle von Zorn und Widerstand, sowohl in Rußland als auch im übrigen Osteuropa.

Der Ausbruch der Krise, die Explosion, erfolgt blitzschnell. Ihre Lösung wird jedoch eine lange Zeit in Anspruch nehmen, weil die Vergangenheit die Gegenwart noch beeinflußt.

Stalin hat der Geschichte einen starken Anstoß gegeben, indem er eine riesige Arbeiterklasse schuf. Die heutige russische Arbeiterklasse ist unvergleichbar größer, gewichtiger und mächtiger als die des Jahres 1917.

Gleichzeitig fand eine massive Rückbildung der Arbeiterklasse statt, was ihre Ideen, ihre Organisation und ihre lebendige Tradition betrifft. Trotzki behauptete, daß die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse als Gedächtnis dient und betonte dabei, daß das Gedächtnis nicht frei in der Luft umherschwebe, sondern in Menschen wohnt. Menschen geben ihre Erfahrungen einander weiter, erzählen sich, was sie in Büchern gelesen haben usw.

Ein Beispiel für den geistigen Rückfall war der schockierende Anblick von Menschen, die auf der Demonstration am 7. November 1989 in Moskau ein Banner mit dem Abbild des Zaren trugen. Noch schlimmer war, wie Demonstranten im Sommer 1989 in Lwow in der Westukraine die blauweißen Banner von Petlura trugen, einem ukrainischen Nationalisten, unter dessen Kommando 1919 150.000 Juden ermordet wurden.

Das Problem ist, daß der echte Kommunismus, Planwirtschaft und die Rote Fahne mit einem repressiven Regime verbunden werden.

Es gibt ein weiteres Problem für Leute wie Boris Kagarlitsky und tausende ähnliche Revolutionäre im übrigen Osteuropa. Ihnen fehlt ein ideologischer Ausgangspunkt – sie müssen praktisch bei Null anfangen, da es keine Tradition gibt.

Der Klärungsprozeß wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Es bedarf einer politischen Differenzierung. Die Kagarlitskygruppe umfaßt Anarchisten und andere mit einer ganzen Menge unterschiedlichster Ideen.

Es dauerte Jahre ehe Marx die Trennung von Bakunin vollzog. Ich kenne heute keine westliche Organisation, sie sowohl Marxisten als auch Anarchisten als Mitglieder umfaßt.

In Rußland bleiben diese Gruppierungen zusammen, weil die politische Differenzierung noch nicht stattgefunden hat.

In mancher Hinsicht entwickelt sich die Arbeiterbewegung sehr rasch, in anderer jedoch äußerst langsam, weil es eine sechzigjährige politische Einöde zu überwinden gilt. Die Aufgabe für Sozialisten besteht darin, andere von Ideen zu überzeugen, die die arbeitenden Massen im Jahre 1917 für selbstverständlich gehalten haben.

Die Arbeiter lernen einige Aspekte des Kampfes oft sehr schnell kennen, ziehen aber nur sehr langsam die politischen Lehren daraus.

Die gedanklichen Widersprüche ergeben sich aus den Widersprüchen der Erfahrungen.

Die russischen Arbeiter haben massive Erfahrungen von Solidarität in den Betrieben gemacht. Grundlegende demokratische Forderungen konnten daher aus dieser Situation hervorgehen. Alle möchten demokratische und gewerkschaftliche Rechte.

Das Problem ist, daß einige wichtige Bindeglieder der Erfahrung fehlen, sobald es sich um Fragen dreht, die über den unmittelbaren Horizont des Betriebs hinausreichen. Hier ist es wichtig, die Anziehungskraft der Marktwirtschaft zu verstehen.

Stellt der russische Arbeiter einen Vergleich mit dem Lebensstandard woanders an, dann bezieht er sich auf Westdeutschland.

Wenn sie die Wohnungslage von Moskau mit der von Kalkutta verglichen, wo hunderttausende Menschen auf den Straße schlafen, würden sie sagen, daß die Marktwirtschaft in Kalkutta nicht funktioniert. Wenn aber der Vergleich mit Westdeutschland angestellt wird, erscheint die Marktwirtschaft als sehr attraktiv.

Als Lenin sagte, daß revolutionäre Ideen den Arbeitern „von außen“ gebracht werden müßten, meinte er von außerhalb ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt. Gegen Rassismus zu kämpfen versteht sich nicht von selbst, ist kein automatischer Prozeß. Man muß dazu über die unmittelbare Erfahrung hinausgehen.

Am 9. Januar 1905 stellte sich Vater Gapon, Priester und Agent des Zaren, an die Spitze des Marsches auf den Winterpalast. Die Menschen wußten nicht, daß er Polizeispitzel war, sie wußten aber, daß er Priester und sogar Gefängnispriester war. Die Demonstranten trugen Heiligenbilder statt roter Fahnen. Statt in Sprechchören den Sturz des Zaren zu fordern, riefen sie „Wir lieben dich, unseren kleinen Vater.“

Die Revolutionäre bildeten eine winzige Minderheit in der Demonstration, höchstens einige hundert. Das Bewußtsein der Massen änderte sich, als die Armee das Feuer auf die Demonstranten eröffnete und 500 Menschen erschoß.

Es war ein großer Sprung von diesen Ereignissen zur Forderung, die später im selben Jahr vom Petersburger Arbeiterrat gestellt wurde nach „Achtstundentag und ein Gewehr“. Die Tatsache, daß die Menschen eine Übergangsperiode mitmachen mußten, heißt noch lange nicht> daß diese 500 Jahre dauern muß. Wie Lenin sagte, verändern sich Arbeiter an einem einzigen Tag der Revolution mehr als sonst während eines ganzen Jahrhunderts.

Sozialisten stehen in Ost-Europa heute vor Riesenproblemen. Selbst diejenigen, die wir Revolutionäre nennen können, werden noch mit Zentristen vermischt sein, die sich nach links entwickeln. Es fehlt noch an klaren Abgrenzungen. Zu erwarten ist, daß sich die Zentristen sicher erst nach links hin bewegen und dann differenzieren.

Die Erfahrungen in Polen zeigen, daß die von der Staatsmacht eingesetzte Gewalt von Mal zu Mal schwächer wird. 1980-1 war die herrschende Klasse bei weitem nicht so selbstbewußt wie 1956. Die russische Armee intervenierte nicht. Es ist keine Frage, daß sie eine Riesenangst davor haben, die 380 000 in der DDR stationierten Truppen in der gegenwärtigen Situation einzusetzen. Sie schlagen also den Weg sowohl der Reform als auch der Unterdrückung ein. Die Bergarbeiter sind in den Streik getreten, und es wird in Eile ein Gesetz verabschiedet, das bestimmt, daß Streiks im Bergbau, bei der Eisenbahn und in Kraftwerken verboten sind. Die Bergarbeiter brachen das Gesetz, aber sie brachen es nicht völlig, weil nur 18 Gruben in Workuta bestreikt wurden.

Der Kampf flackert auf und flaut wieder ab, bleibt nie geradlinig. Das Streikkomitee der Bergarbeiter im Kusbass (Sibirien) war gegen einen Streik, die Arbeiterbasis selbst entschied sich dagegen für den Streik. Ein Differenzierung unter den kämpfenden Arbeitern findet bereits statt.

Die Ereignisse in Osteuropa haben auch tiefgreifende Auswirkungen auf den Westen. Die Leute sagen, daß Thatcher und Kinnock (Labour-Party) Recht hätten, die Marktwirtschaft zu unterstützen, daß die Planwirtschaft nicht funktioniere und daß der Sozialismus ein alter Hut sei.

Ein polnischer Ökonom hat einmal den Kommunismus als den Übergang vom Kapitalismus zum Kapitalismus definiert. Aus westlicher Sicht betrachtet sieht es so aus, als ob der Zufall der Regierung im Osten bedeutet, daß der Sozialismus keine Zukunft hat. Das ist eine massive Verstärkung der Rechten. Das ist besonders wichtig angesichts der verbreiten Illusionen bezüglich des Ostblocks seitens eines Großteils der Linken.

Es kann sich aber alles schnell ändern, wenn in Ost-Europa sich die Arbeiter mit Streiks zu Wort melden. Dann wird deutlich werden, daß der Klassenkampf noch immer der bestimmende Faktor der ganzen Sache ist.

Die Theorie des Staatskapitalismus ist von zentraler Bedeutung. Alle die glauben, daß in Rußland irgendeine Form von Sozialismus herrscht, geraten in Schwierigkeiten.

Sogar Ernest Mandel hat 1956 behauptet:

Die Sowjetunion behält einen mehr oder weniger gleichmäßigen Rhythmus wirtschaftlichen Wachstums bei, Plan für Plan, Jahrzehnt auf Jahrzehnt, ohne daß der Fortschritt der Vergangenheit die Möglichkeiten der Zukunft einschränkt ... alle Gesetze der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie, die eine Verlangsamung der Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wachstums bewirken, sind ausgeschaltet.

Isaac Deutscher hat im gleichen Jahr behauptet, daß innerhalb von zehn Jahren der russische den westeuropäischen Lebensstandard überholen würde.

Wer so etwas geglaubt hat, ist jetzt völlig desillusioniert. Die Annahme, daß Rußland fortschrittlicher sei als das, was normaler Weise als kapitalistisch angesehen wird, ist zerfallen. Die Bedeutung der Theorie des Staatskapitalismus besteht gerade darin, daß sie erklärt, warum die Wirtschaft sich entwickelte, wie sie es getan hat. Die Betonung, daß es sich hier um einen kapitalistischen Akkumulationsprozeß handelt, erklärt sowohl die massiven Wachstumsraten wie auch die Hindernisse für weiteres Wachstum.

Wie ich 1963 schrieb:

Wenn mit dem Begriff der Planwirtschaft eine Wirtschaft gekennzeichnet werden soll, in der alle Teilbereiche in einen gemeinsamen Rahmen eingepaßt und zu einem einzige Rhythmus verbunden werden und in der Reibungsverluste auf ein Minimum reduziert sind und in der vorausschauende Vorsorge über alle wirtschaftliche Entscheidungen herrscht, dann ist die russische Wirtschaft alles andere als geplant. Statt durch einen wirklichen Plan sind die Eingriffe der Regierung durch das Streben geprägt, solche Löcher in der Wirtschaft zu stopfen, die durch die Entscheidungen und Aktivitäten derselben Regierung aufgerissen wurden. Deshalb wäre es auch angemessener von der russischen Wirtschaft als einer bürokratisch gelenkten zu reden als von einer geplanten.

Dies erklärt die Dynamik des Systems, die Kapitalakkumulation, die Schaffung einer Arbeiterklasse. Darin liegt die Stärke des Staatskapitalismus. Gleichzeitig wird es zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte, deren wichtigstes Element die Arbeiter selbst sind.

Zweitens schützt uns die Theorie davor, auf die eine oder andere Weise impressionistische Ansichten zu entwickeln.

Trotz des tiefen Bruchs, den Stalin in der marxistischen Tradition verursacht hat, lebt diese immer noch. Boris Kagarlitsky erzählte von Workuta, wo eine kontinuierliche Tradition existiert zwischen den alten Trotzkisten, die dorthin ins große Arbeitslager verschickt wurden und deren Enkelkindern, die heute Bergarbeiter sind.

Ideen können nicht durch Panzer, nicht durch Gewalt allein zerschmettert werden. Die Ideen Trotzkis können mit einem Fluß verglichen werden. Der Fluß verschwindet von der Oberfläche und taucht dann nach Kilometern wieder an die Oberfläche auf Der Fluß war nicht ausgetrocknet, er hat sich lediglich unter die Erde unserem Blick entzogen.

Das gleiche gilt für Ideen. Wie Trotzki im Jahr 1939 schrieb: „Die Rache der Geschichte ist schrecklicher als die Rache des mächtigsten Generalsekretärs.“ Er hat recht gehabt Trotzki lächelt und Stalin ist tot.

 


Last updated on 22.6.2008