Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

III. Das Wesen der Dinge

Insofern das Erkenntnisvermögen ein physisches Objekt, ist die Kenntnis desselben eine physische Wissenschaft. In­sofern jedoch wir mittelst dieses Vermögens alle Dinge er­kennen, wird die Wissenschaft desselben zur Metaphysik. Wenn die wissenschaftliche Analyse der Vernunft die ge­wöhnliche Anschauung von ihrem Wesen umkehrt, so zieht diese spezielle Erkenntnis notwendig eine generelle Umkehr unserer gesamten Weltanschauung nach. Mit der Erkennt­nis vom Wesen der Vernunft ist die solange gesuchte Er­kenntnis vom „Wesen der Dinge“ gegeben.

Alles, was zu wissen, verstehen, begreifen, erkennen ist, wollen wir nicht nach der Erscheinung, sondern nach dem Wesen erfassen. Die Wissenschaft sucht hinter dem was scheinbar, das was wahrhaft ist, das Wesen der Dinge. Jedes besondere Ding hat sein besonderes Wesen, welches jedoch nicht dem Auge, nicht dem Ohr, nicht der Hand, sondern nur dem Denkvermögen erscheint. Das Denkvermögen er­forscht aller Dinge Wesen, wie das Auge alle Sichtbarkeit. Wie nun das Sichtbare im allgemeinen in der Theorie des Gesichts, so ist das Wesen der Dinge im allgemeinen in der Theorie des Denkvermögens zu finden.

Wenn hier gesagt ist, dass einer Sache Wesen nicht dem Auge usw., sondern dem Denkvermögen erscheint, so hört es sich allerdings widersprechend an, dass das Entgegengesetzte der Erscheinung, das Wesen, erscheine. Doch in dem­selben Sinne, wie wir im vorhergehenden Kapitel das Gei­stige sinnlich nannten, nennen wir hier das Wesen eine Er­scheinung, und werden im Verlauf näher zeigen, wie jedes Sein ein Schein, wie jeder Schein ein mehr oder minder wesenhaftes Sein ist.

Wir sahen, das Denkvermögen bedarf zum Wirken, um wirklich zu sein, einen Gegenstand, Stoff, Material. Die Wirkung des Denkvermögens erscheint in der Wissenschaft, gleichviel, ob wir das Wort Wissenschaft nur in enger klas­sischer oder in breitester Bedeutung nehmen, wo ausnahms­los jedes Wissen eine Wissenschaft ist. Der allgemeine Gegen­stand oder Stoff der Wissenschaft ist die sinnliche Erschei­nung. Die sinnliche Erscheinung ist -bekanntlich ein un­begrenzter Stoffwechsel. Aus räumlich nebeneinander be­stehenden und aus zeitlich nacheinander folgenden Ver­änderungen des Stoffs besteht die Welt und alles was darin. Sie, die Sinnlichkeit oder das Universum, ist an jedem Ort und zu jeder Zeit eigentümlich, neu, nie dagewesen. Sie ent­steht und vergeht, vergeht und entsteht unter unseren Händen. Nichts bleibt sich gleich, beständig ist nur der ewige Wechsel, und auch der Wechsel ist verschieden. Jeder Teil der Zeit und des Raumes bringt neue Wechsel. Der Materialist zwar behauptet die Beständigkeit, Ewigkeit, Unvergänglichkeit des Stoffes. Er lehrt uns, dass niemals noch ein Gran vom Stoff der Welt verlorengegangen, dass ewig nur die Materie ihre Formen wechselt, ihr eigentliches Selbst aber unzerstörbar alle Vergänglichkeit überdauere. Und doch, trotz dieser Unterscheidung zwischen dem Stoff selbst und seiner vergänglichen Form, ist andererseits der Materialist mehr wie jeder andere geneigt, die Identität von Form und Stoff zu betonen. Wenn er mit Ironie von form­losen Stoffen und stofflosen Formen spricht, hinterher aber von vergänglichen Formen der ewigen Materie redet, so ist klar, dass der Materialismus sowenig wie der Idealismus über das Verhältnis von Form und Inhalt, Erscheinung und Wesen Aufschluß zu geben weiß. Wo finden wir jenen ewigen, unvergänglichen, also formlosen Stoff? In der sinn­lichen Wirklichkeit begegnen wir immer nur geformten ver­gänglichen Stoffen. Stoff ist allerdings überall. Wo etwas vergeht, entsteht etwas. Aber nirgends ist jene einheitliche, sich selbst gleiche, die Form überdauernde Materie prak­tisch entdeckt worden. Auch das chemisch unzerlegbare Element ist in seiner sinnlichen Wirklichkeit nur eine rela­tive Einheit, überhaupt aber, so in der Länge der Zeit, wie in der Breite der Ausdehnung, verschieden, neben- und nach­einander so verschieden, wie irgendein organisches Indivi­duum, das eben auch nur Formen wechselt, aber dem Wesen, dem Allgemeinen nach von Anfang bis zu Ende un­veränderlich dasselbe bleibt. Mein Leib wechselt unaufhör­lich Fleisch und Knochen und alles was an ihm ist, und bleibt immer noch derselbe. Worin besteht nun dieser von seinen veränderlichen Erscheinungen unterschiedene Leib selbst? Antwort: in der Totalität, in der zur Einheit zu­sammengefaßten Summe seiner mannigfaltigen Formen. Die ewige Materie, der unvergängliche Stoff ist wirklich oder praktisch nur da als Summe seiner vergänglichen Erschei­nungen. Der Stoff ist unvergänglich, kann nur heißen, zu allen Zeiten ist überall Stoff. So wahr, wie wir sagen, die Ver­änderungen bestehen am Stoff, der Stoff ist das Bleibende, nur die Veränderungen wechseln, so wahr mögen wir die Sache umdrehen und sagen: der Stoff besteht in Verände­rungen, der Stoff ist das, was wechselt und nur der Wechsel ist das, was bleibt. Die stoffliche Veränderung und der ver­änderliche Stoff sind doch nur verschiedene Phrasen.

In der sinnlichen Welt, in der Praxis ist nichts Bestän­diges, nichts Gleiches, nichts Wesenhaftes, kein „Ding an sich.“ Alles ist Wechsel, alles Veränderung, alles Phantom, wenn man so will. Eine Erscheinung jagt die andere. „Gleichwohl“, sagt Kant, „sind auch die Dinge etwas an sich, denn sonst würde der ungereimte Widerspruch folgen, dass Erscheinung ohne etwas wäre, was erscheint.“ Doch nein! die Erscheinung ist von dem was erscheint nicht mehr und nicht weniger verschieden, wie der 10 Meilen lange In­halt eines Weges vom Wege selbst, oder wie Stiel nebst Klinge vom Messer verschieden sind. Ob wir am Messer auch Stiel und Klinge unterscheiden, so ist doch das Messer nichts außer Stiel und Klinge, Das Wesen der Welt ist ab­solute Veränderlichkeit. Erscheinungen erscheinen — voilà tout.

Der Widerspruch zwischen dem „Ding an sich,“ dem Wesen und seiner Erscheinung findet seine vollständige Lösung in einer vollständigen Kritik der Vernunft, in der Erkenntnis, dass das menschliche Denkvermögen jede will­kürliche Zahl sinnlich gegebener Mannigfaltigkeiten als gei­stige Einheit, als ein Wesen begreift, am Besonderen oder Verschiedenen das Gleichartige oder Allgemeine gewahrt und also alles, was ihm gegenübertritt, als einzelnen Teil eines größeren Ganzen versteht.

Mit andern Worten: die absolut relative, flüchtige Form der Sinnenwelt dient unserer Hirntätigkeit als Materiatur, um durch Abstraktion, nach Kennzeichen des Ähnlichen oder Generellen für unser Bewußtsein systematisiert, ge­ordnet oder geregelt zu werden. Die unbegrenzt mannig­faltige Sinnlichkeit passiert am Geiste, der subjektiven Ein­heit, vorbei und er setzt nun aus dem Vielen das Eine, aus den Teilen das Ganze, aus den Erscheinungen das Wesen, aus dem Vergänglichen das Unvergängliche, aus Akzidenzen die Substanz zusammen. Das Reale, das Wesen oder Ding an sich ist ein ideales, geistiges Geschöpf. Das Bewußtsein weiß aus Verschiedenheiten Einheiten zu summieren. Das Quantum dieser Summation ist willkürlich. Die ganze Vielheit des Universums begreift sich theoretisch als Einheit. Andererseits löst jede kleine abstrakte Einheit sich prak­tisch auf in die unendliche Mannigfaltigkeit einer sinnlichen Erscheinung. Wo finden wir außerhalb des Kopfes eine praktische Einheit? 2/2, 4/4, 8/8, eine endlose Zahl separater Teile ist das Material, woraus der Verstand die mathe­matische 1 anfertigt. Sind dies Buch, oder seine Blätter, die Lettern oder deren Teile Einheiten? Wo fange ich an, und wo höre ich auf? Mit gleichem Rechte mag ich die Bibliothek mit zahlreichen Bänden, Haus und Hof und zuletzt die Welt eine Einheit nennen. Ist nicht jedes Ding ein Teil, ist nicht jeder Teil ein Ding? Ist die Farbe des Blattes weniger eine Sache, wie das Blatt selbst? Vielleicht will man die Farbe nur Eigenschaft und das Blatt Stoff oder Substanz nennen, weil wohl das Blatt ohne Farbe, nicht aber die Farbe ohne Blatt sein könnte. So sicher indes wir durch Schöpfen vom Sandhauf den Sandhauf erschöpfen, so sicher nehmen wir dem Blatte mit seinen Eigenschaften schließ­lich auch allen Stoff oder die Substanz. Wie die Farbe nur eine summarische Wechselwirkung von Licht, Blatt und Auge, so ist auch der „übrige Stoff“ des Blattes nur ein Aggregat verschiedener Wechselwirkungen. Wie unser Denkvermögen dem Blatte die Eigenschaft der Farbe ab­pflückt und sie als „Ding an sich“ fixiert, so mögen wir ferner noch dem Blatte eine beliebige Anzahl Eigenschaften abnehmen, jedoch nicht, ohne dasselbe mehr und mehr seines „Stoffs“ zu entblättern. Die Farbe ist ihrer Qualität nach nicht weniger Stoff oder Substanz, als das Blatt, und das Blatt nicht weniger pure Eigenschaft, als die Farbe. Wie die Farbe Eigenschaft des Blattes, ist das Blatt Eigenschaft des Baumes, der Baum Eigenschaft der Erde, die Erde Eigenschaft der Welt. Die Welt erst ist eigentliche Sub­stanz, Stoff überhaupt, dem gegenüber alle besonderen Stoffe nur Eigenschaften sind. An diesem Weltstoff aber wird es offenbar, dass das Wesen, das Ding an sich im Unterschiede von den Erscheinungen nur ein Gedankending ist.

Das allgemeine Streben des Geistes von den Akzidenzen zur Substanz, vom Relativen zum Absoluten, über den Schein hinaus zur Wahrheit, zur Sache „an sich“ zu ge­langen, offenbart schließlich das Resultat dieses Strebens, die Substanz, als eine vom Gedanken gesammelte Summe von Akzidenzen und somit den Geist oder den Gedanken als das allein substanzielle Wesen, welches aus sinnlichen Mannigfaltigkeiten geistige Einheiten erschafft, die ver­gänglichen Dinge oder Eigenschaft der Welt durch Verbin­dung als ein selbständiges Wesen „an sich“, als absolutes Ganzes erfaßt. Wenn der Geist von Eigenschaften un­befriedigt, fort und fort nach der Substanz fragt, den Schein verwirft und an der Wahrheit, am Wesen, am Ding an sich sucht, wenn sich dann zuletzt diese substanzielle Wahrheit als Summe vermeintlicher Unwahrheiten, als Totalität der Erscheinungen darstellt, so betätigt sich damit der Geist als Schöpfer der Substanz, welcher jedoch nicht aus nichts, sondern Substanzen aus Akzidenzen, Wahr­heiten aus Scheinbarkeiten zeugt.

Gegenüber der idealistischen Vorstellung, dass hinter der Erscheinung ein Wesen versteckt sei, was erscheine, gilt die Erkenntnis, dass dies versteckte Wesen nicht in der Außen­welt, sondern innen im Kopf des Mensehen apart wohnt. Da jedoch der Kopf seinen Unterschied zwischen Schein und Wesen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen nur auf Grund sinnlicher Erfahrung macht, so ist anderer­seits nicht zu verkennen, dass die Unterscheidung begrün­det, dass die erkannten Wesen, wenn nicht hinter, so doch mittelst der Erscheinung da sind, objektiv da sind, dass unser Denkvermögen ein wesentliches, reales Vermögen ist.

Es gilt nicht allein von physischen, es gilt auch von gei­stigen, es gilt metaphysisch von allen Dingen, dass sie das, was sie sind, nicht „an sich“, nicht im Wesen, sondern nur im Kontakt mit anderem, in der Erscheinung sind. In diesem Sinne mögen wir sagen: die Dinge sind nicht, son­dern sie erscheinen, und erscheinen so unendlich mannig­faltig, wie andere Erscheinungen mannigfaltig sind, mit denen Raum und Zeit sie in Kontakt bringen. Der Satz je­doch: „Die Dinge sind nicht, sondern erscheinen“, bedarf, um kein Mißverständnis zuzulassen, den Satz der Er­gänzung: „Was erscheint, das ist“, jedoch nur insoweit, als es erscheint. „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahr­zunehmen“, sagt die Physik des Professor Koppe, „wir schließen nur aus den Wirkungen derselben auf das Vor­handensein dieses Agens in der Natur“. So schließt der Naturforscher, welcher praktisch die Erkenntnis der Sache in emsiger induktiver Erforschung ihrer Wirkungen sucht, jedoch seinem Mangel an Theorie in Sachen der Logik mit dem spekulativen Glauben an ein verborgenes „Ding an sich“ aushilft. Wir, umgekehrt, schließen aus der Unwahr­nehmbarkeit der Wärme selbst auf das Nichtvorhandensein, auf das Nichtansichsein dieses Agens in der Natur, ver­stehen vielmehr die Wirkungen der Wärme als stoffliche Materiatur, aus welcher der menschliche Kopf den Begriff der „Wärme selbst“ geformt hat. Weil die Wissenschaft vielleicht noch nicht vermochte, diesen Begriff zu analy­sieren, sagt der Professor, wir vermöchten den Gegenstand des Wärmebegriffs nicht wahrzunehmen. Die Summe ihrer verschiedenen Wirkungen, das ist die Wärme selbst, die Wärme ganz und gar. Das Denkvermögen erfaßt diese Ver­schiedenheit im Begriff als Einheit. Die Analyse des Be­griffs, die Entdeckung des Gemeinschaftlichen oder All­gemeinen der verschiedensten als warm benannten Er­scheinungen oder Wirkungen ist Sache der induktiven Wissenschaft. Die von ihren Wirkungen separierte Wärme ist jedoch ein spekulatives Ding, gleich Lichtenbergs Messer ohne Stiel und Klinge.

Das Denkvermögen im Kontakt mit den Erscheinungen der Sinnlichkeit produziert die Wesen der Dinge. Es pro­duziert sie jedoch ebensowenig allein, unberechtigt oder subjektiv, wie Auge, Ohr oder irgendein anderer Sinn ihre Eindrücke ohne Objekt zu produzieren vermögen. Wir sehen und fühlen nicht die Dinge „selbst“, sondern nur ihre Wirkungen auf unsere Augen, Hände usw. Die Fähigkeit des Gehirns, aus verschiedenen Gesichtseindrücken das Ge­meinschaftliche zu abstrahieren, läßt uns das Sehen im all­gemeinen von besonderen Gesichten unterscheiden. Das Denkvermögen unterscheidet ein einzelnes Gesicht als Ob­jekt des Gesichts im allgemeinen, es unterscheidet dann auch ferner noch zwischen subjektiven und objektiven Ge­sichtserscheinungen, d. h. Erscheinungen, die nicht nur dem einzelnen, die dem Auge im allgemeinen sichtbar sind. Auch die Visionen eines Geistersehers, oder die subjektiven Eindrücke, zuckende Blitze, leuchtende Kreise, welche ein erregtes Blut das geschlossene Auge sehen läßt, sind dem kritischen Bewußtsein Objekt. Das meilenweit entfernte, im hellen Tageslicht erglänzende Objekt ist qualitativ nicht mehr und nicht minder äußerlich, nicht mehr und nicht minder wahr, als irgendein optisches Trugbild. Auch wer sein Ohr klingen hört, hat, wenn auch kein Schellen­geklingel, immer doch etwas gehört. Jede sinnliche Er­scheinung ist Objekt und jedes Objekt eine sinnliche Er­scheinung. Ein subjektives Objekt ist eine ephemere Er­scheinung und jede objektive Erscheinung doch nur ein vergängliches Subjekt. Der objektive Gegenstand mag äußerlich, entfernter, stabiler, allgemeiner dasein, aber ein Wesen, ein „Ding an sich“ ist er nicht. Er mag nicht nur meinen, er mag auch anderen Augen, nicht nur dem Gesichte, auch dem Gefühl, dem Gehör, dem Geschmack usw., nicht nur dem Menschen, auch anderen Objekten erscheinen, – aber er erscheint doch nur. So wie hier ist er nicht dort, wie heute nicht morgen. Jedes Dasein ist relativ, verhält sich zu anderem, bewegt sich nach- und nebeneinander in verschiedenen Verhältnissen.

Jeder sinnliche Eindruck, jede Erscheinung ist ein wahres, wesenhaftes Objekt. Die Wahrheit ist sinnlich da, und alles, was ist, ist wahr. Sein und Schein sind nur Relationen, aber keine Gegensätze, wie denn überhaupt alle Gegensätze vor unserem Generalisations- oder Denkvermögen verschwinden, weil eben es die Fähigkeit ist, welche alle Gegensätze ver­mittelt, welche in aller Verschiedenheit Einheit zu finden weiß. Sein, der Infinitiv von ist, die allgemeine Wahrheit, ist das allgemeine Objekt, das allgemeine Material des Denk­vermögens. Dies Material ist uns mannigfaltig gegeben, ge­geben mittelst der Sinne. Die Sinne geben uns den Stoff des Weltalls absolut qualitativ, d. h., die Qualität des sinnlichen Stoffs ist dem Denkvermögen absolut mannigfaltig gegeben; nicht im Allgemeinen, nicht im Wesen, sondern nur relativ, nur in der Erscheinung. Aus der Relation, aus dem Kontakt der sinnlichen Erscheinung mit unserem Denkvermögen ent­stehen Quantitäten, Wesen, Dinge, wahre Erkenntnisse oder erkannte Wahrheiten.

Wesen und Wahrheit sind zwei Worte für dieselbe Sache. Die Wahrheit oder das Wesen ist theoretischer Natur. Wir nehmen, wie gesagt, die Welt doppelt wahr, sinn­lich und geistig, praktisch und theoretisch. Die Praxis gibt uns die Erscheinung, – die Theorie das Wesen der Dinge. Praxis ist Voraussetzung der Theorie, Er­scheinung Voraussetzung des Wesens oder der Wahr­heit. Dieselbe Wahrheit erscheint in der Praxis neben-und nacheinander, und ist theoretisch als kompakter Begriff.

Die Praxis, die Erscheinung, die Sinnlichkeit ist absolut qualitativ, d. h., sie hat keine Quantität, keine Grenzen im Raume und in der Zeit, dagegen aber ist ihre Qualität ab­solut mannigfaltig. So unzählig wie die Teile einer Sache, so unzählig sind ihre Eigenschaften. Die Funktion des Denk­vermögens, der Theorie besteht umgekehrt darin, absolut quan­titativ zu sein, Quantitäten nach Willkür, in unbegrenzter Zahl zu schaffen, jede Qualität der sinnlichen Erscheinung als Quantität, als Wesen, als Wahrheit, zu begreifen. Jeder Begriff hat ein Quantum sinnlicher Erscheinung zum Gegen­stand. Jeder Gegenstand kann vom Denkvermögen nur als Quantum, als Einheit, als Wesen oder Wahrheit er- oder begriffen werden.

Das Begriffsvermögen produziert im Kontakt mit der sinnlichen Erscheinung das, was erscheint, was wesenhaft, was wahrhaft, was gemeinschaftlich oder allgemein ist. Der Begriff tut das zunächst nur instinktiv, der wissenschaftliche Begriff ist eine mit Wissen und Willen vollführte Wieder­holung dieser Tat. Die Erkenntnis der Wissenschaft, welche ein Objekt, z. B. die Wärme, zu erkennen begehrt, will nicht die Erscheinung, will nicht hören oder sehen, wie die Wärme hier Eisen, dort Wachs schmelzt, bald wohl, bald weh tut, Eier fest und Eis flüssig macht, wie animalische Wärme, Sonnen- und Ofenwärme verschieden sind. Das alles sind gegenüber dem Denkvermögen nur Wirkungen, Erscheinungen, Eigenschaften. Das Denkvermögen will die Sache, das Wesen, d. h. von dem Gesehenen, Gehörten, Ge­fühlten nur das summarische, allgemeine Gesetz, einen kurzen wissenschaftlichen Auszug. Die Wesen der Dinge können keine sinnlichen, praktischen Gegenstände sein. Die Wesen der Dinge sind Gegenstände der Theorie, der Wissenschaft, des Denkvermögens. Die Erkenntnis der Wärme besteht darin, dass wir an den warmbenannten Erscheinungen das Gemeinschaftliche, das Allgemeine, das Wesen oder die Wahrheit gewahr werden. Das Wesen der Wärme besteht praktisch in der Summe ihrer Erscheinungen, theoretisch in ihrem Begriff und wissenschaftlich in der Analyse dieses Begriffs. Den Begriff der Wärme analysieren heißt das All­gemeine der warmen Erscheinungen entdecken.

Das allgemeine ist das wahre Sein, die allgemeine ist die wahre Eigenschaft einer Sache. Wir bestimmen den Regen wahrhaftiger als naß, denn als fruchtbar, weil er ausgedehnter, allgemeiner netzt und nur dann und wann, hie oder da fruchtbar wirkt. Mein wahrer ist mein beständiger Freund, der mir zeitlebens, wie gestern, so morgen noch, allgemein freundlich gesinnt ist. Zwar dürfen wir nicht an eine ganz allgemeine, an eine absolute Freundschaft glauben, sowenig wie an irgendeine andere absolute Wahrheit. Ganz wahr, ganz allgemein ist nur das Sein überhaupt, das Weltall, die absolute Quantität. Die wirkliche Welt dagegen ist absolut relativ, absolut vergänglich, unendlich scheinbar, eine unbegrenzte Qualität. Alle Wahrheiten sind nur Bestandteile dieser Welt, Teilwahrheiten. Schein und Wahrheit gehn wie hart und weich, wie gut und bös, wie Recht und Unrecht dialektisch zueinander über, ohne dass deshalb ihr Unterschied zerfällt. Auch wenn ich weiß, dass es keinen „an sich“ fruchtbaren Regen, keinen „an sich“ wahren Freund gibt, mag ich deshalb doch einen Regen mit Bezug auf bestimmte Saaten fruchtbar nennen und unter meinen Freunden die mehr oder minder wahren unterscheiden.

Das Allgemeine ist die Wahrheit. Das Allgemeine ist das, was allgemein ist, d. h. Dasein, Sinnlichkeit. Sein ist das allgemeine Kennzeichen der Wahrheit, weil das Allgemeine die Wahrheit kennzeichnet. Nun ist aber das Sein nicht da im Allgemeinen, d. h., das Allgemeine existiert in der Wirk­lichkeit oder Sinnlichkeit nur auf besondere Art und Weise. Die Sinnlichkeit hat ihr wahres sinnliches Dasein in den flüchtigen vielgestaltigen Erscheinungen der Natur und des Lebens. Demnach erweisen sich alle Erscheinungen als relative Wahrheiten, alle Wahrheiten als besondere zeit­liche Erscheinungen. Die Erscheinung der Praxis ist eine Wahrheit in der Theorie, und umgekehrt, die Wahrheit der Theorie erscheint in der Praxis. Gegensätze bedingen sich wechselseitig: Wahrheit und Irrtum sind wie Sein und Schein, wie Tod und Leben, wie Licht und Dunkel, wie alle Dinge der Welt, nur komparativ, nur dem Maß, dem Volumen oder Grade nach verschieden. Selbstverständlich sind doch alle Dinge der Welt weltlich, also eines Stoffs, eines Wesens, einer Gattung, einer Qualität. Mit anderen Worten: Jedes Volumen sinnlichen Scheins bildet in Kontakt mit dem menschlichen Denkvermögen ein Wesen, eine Wahr­heit, ein Allgemeines. Dem Bewußtsein ist sowohl das Staukorn wie die Staubwolke, wie jede größere Masse irdener Mannigfaltigkeit, einerseits ein wesenhaftes „Ding an sich“ und andererseits doch nur ein vorübergehender Schein des absoluten Objekts, des Weltalls. Innerhalb dieses Alls systematisieren und generalisieren sich mittelst unseres Geistes die verschiedenen Erscheinungen willkürlich nach Zwecken. Das chemische Element sowohl wie die orga­nische Zelle ist ein ebenso vielseitiges System wie das ganze Pflanzenreich. Das kleinste wie das größte Wesen teilt sich in Individuen, Arten, Familien, Klassen usw. Diese Syste­matisierung, diese Generalisation, diese Zeugung von Wesen setzt sich aufwärts fort, bis in die Unendlichkeit des Ganzen, abwärts bis in die Unendlichkeit der Teile. Gegenüber dem Denkvermögen werden alle Eigenschaften zu wesenhaften Dingen, alle Dinge zu relativen Eigenschaften.

Jedes Ding, jede sinnliche Erscheinung, wie subjektiv, wie ephemer auch immer, ist wahr, ist ein kleineres oder größeres Quantum der Wahrheit. Mit anderen Worten: die Wahrheit existiert nicht nur im allgemeinen Sein, sondern jedes besondere Sein hat auch seine besondere Allgemein­heit oder Wahrheit. Jeder Gegenstand, sowohl die flüch­tigste Idee wie der ätherische Duft, wie die greifbare Materie, ist ein Quantum mannigfaltiger Erscheinung. Das Denkvermögen macht aus der Mannigfaltigkeit ein Quan­tum, gewahrt im Verschiedenen das Gleiche, im Vielen das Eine. Geist und Materie haben wenigstens das gemein­schaftlich, dass sie sind. Die organische stimmt mit der an­organischen Natur wenigstens darin überein, dass sie materiell ist. Gewiß sind der Mensch, der Affe, der Elefant und das an der Scholle festgewachsene Pflanzentier toto genere verschieden, aber dennoch vereinigen wir noch größere Verschiedenheit unter dem Begriff des Organismus. Wie verschieden auch ein Stein von einem Menschenherzen ist, die denkende Vernunft wird unzählige Ähnlichkeiten zwischen beiden gewahr. Sie stimmen wenigstens in ihrer sachlichen materiellen Natur überein, sind beide schwer, sichtbar, greifbar usw. So groß ihre Verschiedenheit, so groß ist ihre Einheit. So wahr wie Salomon: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, so wahr sagt Schiller: „Die Welt wird alt und wird wieder jung.“ Welches abstrakte Ding, Wesen, Sein, welche Allgemeinheit ist nicht in sinnlicher Existenz mannigfaltig, individuell, allem anderen unähnlich? Sind doch keine zwei Tropfen Wasser einander gleich! Ich bin jetzt ganz und gar nicht mehr derselbe, der ich noch vor einer Stunde war, und die Gleichheit zwischen mir und meinem Bruder ist nur quantitativ, nur dem Grad nach größer als die Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen einer Taschenuhr und einer Auster. Kurz, das Denkvermögen ist absolutes Gattungsvermögen, es bringt unbegrenzt jede Mannigfaltigkeit unter einen Hut; umfaßt, begreift ohne Ausnahme alles zusammen, während die Sinnlichkeit ab­solut alles als verschieden, neu, individuell erscheinen läßt.

Wenden wir diese Metaphysik auf unser Thema, auf das Erkenntnisvermögen an, dann gehören seine Funktionen, wie alle anderen Dinge, zu den sinnlichen Erscheinungen, welche an und für sich alle gleich wahr sind. Allen Äuße­rungen des Geistes, allen Gedanken, Meinungen, Irrungen usw. unterliegt eine gewisse Wahrheit, alle besitzen einen wahrhaftigen Kern. So notwendig der Maler alle Formen seiner Schöpfung der Sinnlichkeit entlehnt, so notwendig sind alle Gedanken Bilder wahrer Dinge, Theorien wahrer Objekte. Soweit Erkenntnisse Erkenntnisse sind, versteht es sich von selbst, dass mit allen Erkenntnissen etwas er­kannt sei. Soweit Wissen Wissen ist, versteht es sich selbst­redend, dass mit jedem Wissen etwas gewußt wird. Es be­ruht das auf dem Satz der Idendität, a = a, oder auch auf dem Satz des Widerspruchs, 100 ist nicht 1000.

Alle Erkenntnisse sind Gedanken. Man darf bestreiten, dass umgekehrt alle Gedanken Erkenntnisse sind. Man mag „erkennen“ als besondere Art des Denkens definieren, als wahres, objektives Denken, im Unterschiede von meinen, glauben oder phantasieren. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass allen Gedanken, trotz ihrer unendlichen Verschieden­heit, doch auch eine gemeinsame Natur zukommt. Dem Denken ergeht es vor dem Forum des Denkvermögens wie allem andern, es wird uniformiert. Wie verschieden auch mein gestriges vom heutigen Denken ist, wie different auch die Gedanken verschiedener Menschen und Zeiten, wie scharf wir auch zwischen Idee, Begriff, Urteil, Schluß, Vor­stellung usw. unterscheiden: insoweit alles das geistige Äußerungen sind, besitzen sie auch ein gleiches, gemein­sames, uniformes Wesen.

Daraus ergibt sich denn, dass die Differenz zwischen wahren und irrigen Gedanken, zwischen erkennen und ver­kennen, wie überhaupt alle Differenz, eine nur relative Gültigkeit hat. Ein Gedanke ist an sich weder wahr noch irrig, er ist eins von beiden nur mit Bezug auf ein bestimmtes gegebenes Objekt. Gedanken, Begriffe, Theorien, Wesen, Wahrheiten stimmen darin überein, dass sie einem Objekt angehören. Objekte überhaupt haben wir kennengelernt als Quanta der mannigfaltigen Sinnlichkeit, „der Welt da draußen“. Ist das Quantum des Seins, das Objekt, was er­kannt, begriffen oder verstanden werden soll, durch den Sprachgebrauch eines Begriffs vorher bestimmt oder be­grenzt, so besteht die Wahrheit in der Entdeckung des All­gemeinen dieser also gegebenen sinnlichen Quantität.

Die sinnlichen Quantitäten, die Dinge der Welt, besitzen alle außer ihrem Scheine auch eine Wahrheit oder hinter der Erscheinung ein Wesen. Die Wesen der Dinge sind so zahllos, wie die Sinnlichkeit nach Raum und Zeit unendlich teilbar ist. Jeder kleine Teil der Erscheinung hat sein eigenes Wesen, jeder besondere Schein seine allgemeine Wahrheit. Die Erscheinung produziert sich in Kontakt mit den Sinnen, die Wesen oder Wahrheiten in Kontakt mit unserem Erkenntnisvermögen. Daher entsteht denn auch für uns die leidige Notwendigkeit, hier, wo uns das Wesen der Dinge als Thema vorliegt, vom Erkenntnisvermögen zu reden, und umgekehrt, mit dem Erkenntnisvermögen Wesen oder Wahrheit der Dinge zu behandeln.

Wie am Anfange gesagt: in dem Kriterium der Wahrheit ist das Kriterium der Vernunft enthalten. Wie die Ver­nunft, so besteht die Wahrheit darin, aus einem gegebenen Quantum der Sinnlichkeit das Allgemeine, die abstrakte Theorie zu entwickeln. Also nicht die Wahrheit überhaupt ist das Kriterium einer wahren Erkenntnis, sondern die­jenige Erkenntnis nennt sich wahr, welche die Wahrheit, d. h. das Allgemeine eines bestimmten Objekts produziert. Die Wahrheit muss objektiv, d. h., sie muss die Wahrheit ihres bestimmten Objekts sein. Erkenntnisse können nicht wahr an sich, können nur relativ, nur mit Bezug auf einen bestimmten Gegenstand, nur auf Grund äußerlicher Tat­sachen wahr sein. Ihre Aufgabe besteht in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Das Besondere ist das Maß des Allgemeinen, das Maß der Wahrheit. Alles was ist, ist wahr, gleichgültig wie viel oder wenig es ist. Ist erst das Sein gegeben, dann folgt dessen allgemeine Natur als Wahrheit. Der Unterschied zwischen dem mehr oder minder Allgemei­nen, zwischen Sein und Schein, zwischen Wahrheit und Irr­tum fällt innerhalb bestimmter Grenzen, unterstellt die Be­ziehung auf ein besonderes Objekt. Ob oder ob nicht eine Er­kenntnis wahr heiße, wird deshalb nicht sowohl von der Erkenntnis als von der Grenze, von der Aufgabe, abhängen, welche sie selbst sich stellte oder die ihr anderswo gestellt wurde. Eine vollständige Erkenntnis ist nur möglich innerhalb gesetzter Schranken. Eine vollkommene Wahrheit ist immer eine vom Bewußtsein ihrer Unvollkommenheit begleitete Wahrheit. Dass alle Körper schwer sind, ist so ganz voll­kommen wahr, weil sich vorher schon der Begriff des Körpers auf schwere Gegenstände beschränkt. Nachdem die Vernunft den Körper überhaupt aus den verschiedensten Gewichten formierte, ist ihre apodiktische Gewißheit über seine allgemeine, unumgängliche Schwere nicht so wunder­bar. Zugegeben, dass es einzig und allein fliegende Tiere waren, von denen wir den Begriff des Vogels abstrahierten, mögen wir sicher sein, dass alle Vögel fliegen, im Himmel, auf Erden und an anderen Orten, auch ohne den Glauben an Erkenntnisse a priori, welche sich durch das Merkmal der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit von den empi­rischen unterscheiden sollen. Wahrheiten sind nur unter Voraussetzungen gültig, und unter Voraussetzungen sind Irrtümer wahr. Dass die Sonne scheint, ist eine wahre Er­kenntnis, wenn sie unter Voraussetzung eines wolkenlosen Himmels verstanden wird. Es ist nicht minder wahr, dass der gerade Stock in fließendem Wasser winklig wird, wenn wir nur diese Wahrheit auf eine optische einschränken. Das Allgemeine innerhalb eines gegebenen Zyklus sinnlicher Er­scheinungen ist Wahrheit. Innerhalb eines gegebenen Kreises sinnlicher Erscheinungen Einzelnes oder Besonderes als das Allgemeine ausgeben heißt irren. Der Irrtum, das Gegenteil der Wahrheit, besteht überhaupt darin, dass das Denk­vermögen oder Bewußtsein unbedachterweise, kurzsichtig, ohne Erfahrung, Erscheinungen eine mehr allgemeine Aus­dehnung beimißt, als die Sinne oder Sinnlichkeit bezeugen, z. B. der wirklichen wahren optischen Existenz voreilig auch eine vermeintliche plastische Existenz zuteilt.

Das Urteil des Irrtums ist ein Vorurteil. Wahrheit und Irrtum, kennen und verkennen, verstehen und mißverstehen, haben im Denkvermögen, im Organ der Wissenschaft, ge­meinschaftlichen Wohnsitz. Allgemeiner Ausdruck sinnlich erfahrener Tatsachen ist der Gedanke überhaupt, Irrtümer einbegriffen. Der Irrtum aber unterscheidet sich dadurch von der Wahrheit, dass er der bestimmten Tatsache, deren Ausdruck er ist, ein weiteres, breiteres, allgemeineres Sein prätendiert, als die sinnliche Erfahrung lehrt. Prätension ist das Wesen des Irrtums. Die Glasperle wird erst unecht, wenn sie eine Muschelperle zu sein prätendiert.

Schieiden spricht vom Auge: „Wenn das erregte Blut, die Adern aufschwellend, die Nerven drückt, so fühlen wir es in den Fingern als Schmerz, wir sehen es im Auge als zuckenden Blitz. Und hierin haben wir den entschiedenen Beweis, dass unsere Vorstellungen freie Schöpfungen unseres Geistes sind, dass wir nicht die Außenwelt so auffassen, wie sie ist, son­dern, dass ihre Einwirkung auf uns nur die Veranlassung wird zu einer eigentümlichen geistigen Tätigkeit, deren Produkte häufig in einem gewissen gesetzmäßigen Zu­sammenhang mit der Außenwelt stehen, häufig aber auch gar nicht damit zusammenhängen. Wir drücken unser Auge und sehen einen leuchtenden Kreis, aber es ist kein leuchtender Körper vorhanden. – Welch eine reiche und ge­fährliche Quelle von Irrtümern aller Art hier fließt, ist leicht zu sehen. Von den neckenden Gestalten der mond­durchglänzten Nebellandschaft bis zu den wahnsinndrohen­den Visionen des Geistersehers haben wir eine Reihe von Täuschungen, die alle nicht der Natur, nicht ihrer strengen Gesetzlichkeit zur Last fallen, sondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrtum unterworfenen Tätigkeit des Geistes gehören. Großer Umsicht, vielseitiger Bildung be­darf es, ehe der Geist sich hier von allen seinen eigenen Irr­tümern losmacht und sie ganz beherrschen lernt. Das Lesen im weiteren Sinne des Wortes erscheint uns so leicht, und doch ist es eine schwere Kunst. Nur nach und nach lernt man, welchen Botschaften der Nerven man vertrauen und danach seine Vorstellungen formen dürfe. Selbst Männer von Wissenschaft können hier irren, irren oft und um so öfter, je weniger sie darüber verständigt sind, wo sie die Quelle des Irrtums zu suchen haben . . . Das Licht, wenn wir es ganz für sich betrachten, ist nicht hell, nicht gelb und blau und rot. Das Licht ist eine Bewegung einer sehr feinen überall verbreiteten Materie, des Äthers.“

Die schöne Welt des Lichtes und Glanzes, der Farben und Gestalten soll kein Wahrnehmen dessen sein, was wirk­lich ist. „Durch das dichte Dach der Weinlaube zittert ein Sonnenstrahl in den heimlich wohltuenden Schatten. Du glaubst, den Lichtstrahl selbst zu sehen, aber weit entfernt davon ist, was du wahrnimmst, nichts als eine Reihe von Stäubchen.“ Die Wahrheit von Licht und Farbe sind „Wellen, die sich in rastloser Folge mit einer Schnelligkeit von 40000 Meilen in der Sekunde durch den Äther jagen“. Diese wahre körperliche Natur des Lichts und der Farbe ist so wenig zu sehen, „dass es vielmehr des Scharfsinns der größten Geister bedurfte, um uns diese eigentliche Natur des Lichts zu enthüllen… Wir finden, dass jeder unserer Sinne nur für ganz bestimmte äußere Einflüsse empfäng­lich ist, und dass die Erregung jedes Sinnes in unserer Seele ganz andere Vorstellungen hervorruft. So stehen zwischen jener äußeren seelenlosen Welt (Ätherschwingungen), welche uns durch die Wissenschaft erschlossen wird, und der schönen (wirklichen, sinnlichen) Welt, in der wir geistig uns finden, die Sinnesorgane als Vermittler.“

Soweit Schieiden, der uns damit ein Beispiel gibt, wie auch unsere Zeit immer noch in Verlegenheit ist um das Ver­ständnis zweier Welten, wie vergeblich man an einer Ver­mittlung sucht zwischen der Welt des Denkvermögens, des Wissens oder der Wissenschaft, die hier durch Ätherschwin­gungen repräsentiert ist, und zwischen der Welt unserer fünf Sinne, vertreten von den hellen, farbigen Lichtern des Auges oder der Wirklichkeit. Wir besitzen daran zugleich ein Beispiel, wie sich der überkommene Rest einer speku­lativen Weltanschauung so kauderwelsch im Munde des modernen Naturforschers ausnimmt. Der konfuse Ausdruck dieser Lage unterscheidet eine „körperliche Welt der Wissenschaft“, in welcher „wir geistig uns finden“. Der Gegensatz zwischen Geist und Sinn, zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, zwischen Wahrheit und Irrtum ist zum Bewußtsein gekommen – doch die Lösung fehlt. Man weiß, was, aber nicht, wo man suchen soll, daher die Konfusion.

Überwindung der Spekulation, der unsinnlichen Wissen­schaft, Erlösung der Sinne, Begründung der Empirie, das ist die große wissenschaftliche Tat unseres Jahrhunderts. Dieser Tat theoretische Anerkennung zollen heißt sich über die Quelle des Irrtums verständigen. Wenn die Philosophie mit dem Geiste Wahrheit, mit den Sinnen Trug zu finden meinte, so haben wir diese philosophische Meinung zu ver­kehren, die Wahrheit mit den Sinnen und die Quelle des Irrtums im Geiste zu suchen. Der Glaube an gewisse Botschaften der Nerven, denen man allein vertrauen dürfe, die man nur nach und nach kennenlernen soll, ohne deren spezifisches Unterscheidungsmerkmal entdecken zu können, ist Aberglaube. Vertrauen wir dreist allen Zeugnissen der Sinne. Da ist nichts Falsches von Echtem zu sondern. Der unsinnliche Geist ist allein der Berücker, wenn er sich unterfängt den Sinnen vorzugreifen, wenn er, der nur die Sinne zu interpretieren hat, ihre Aussagen vergrößert, nachsagt, was ihm nicht vorgesagt wurde. Wenn bei er­regtem Blute oder äußerlichem Drucke das Auge zuckende Blitze oder leuchtende Kreise sieht, sind das sowenig Irr­tümer, als wenn es irgend andere Erscheinungen der Außen­welt wahrnimmt. Den Irrtum begeht unser Bewußtsein, wenn es solche subjektiven Begegnisse a priori für objektive Körper ansieht. Der Geisterseher irrt erst, wenn er seine persönlichen Gesichte für Gesichte überhaupt, als all­gemeine Erscheinung darstellt, voreilig für Erfahrung aus­gibt, was er nicht erfahren hat. Der Irrtum ist ein Vergehen wider das Gesetz der Wahrheit, welches unserem Bewußt­sein vorschreibt, dass es sich der Voraussetzung erinnere, auf Grund deren, der Schranken bewußt sei, innerhalb deren eine Erkenntnis wahr, d. h. allgemein ist. Der Irrtum macht Besonderes zum Allgemeinen, das Prädikat zum Subjekt, die Erscheinung zur Sache. Der Irrtum erkennt a priori, die Wahrheit, der Gegensatz des Irrtums, erkennt gegensätzlich a posteriori.

Die beiden Arten der Erkenntnis, Erkenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori, verhalten sich zueinander wie Philosophie und Naturwissenschaft, letztere im weitesten Sinne des Wortes, als Wissenschaft überhaupt. Der Gegen­satz von Glauben und Wissen wiederholt sich in dem Gegen­satz von Philosophie und Naturwissenschaft. Die speku­lative Philosophie lebte, wie die Religion, im Element des Glaubens. Die moderne Welt hat den Glauben in Wissenschaft verkehrt. Wenn die Herren der politischen Reaktion eine Umkehr der Wissenschaft fordern, so ist damit die Rückkehr zum Glauben gemeint. Der Inhalt des Glaubens ist ein müheloses Akquisit. Der Glaube erkennt a priori. Die Wissenschaft ist eine Arbeit, eine a posteriori errungene Er­kenntnis. Den Glauben aufgeben heißt die Bärenhäuterei aufgeben. Die Wissenschaft auf die Erkenntnis a posteriori einschränken heißt sie mit dem charakteristischen Merk­zeichen der modernen Zeit, mit der Arbeit, schmücken.

Es ist kein naturwissenschaftliches Ergebnis, es ist eine philosophische Unart, dass Schieiden den farbigen Erschei­nungen des Lichtes Wirklichkeit und Wahrheit abspricht, sie Phantasmagorien nennt, die sich der Geist frei er­schaffe. Der Aberglaube an die philosophische Spekulation läßt ihn die wissenschaftliche Methode der Induktion ver­kennen, wenn er „Wellen, die sich in rastloser Folge mit einer Schnelligkeit von 40000 Meilen in der Sekunde durch den Äther schwingen“, als die wirkliche wahre Natur von Licht und Farbe den farbigen Erscheinungen des Lichts entgegensetzt. Die Verkehrtheit wird handgreiflich, indem sie die körperliche Welt der Augen eine „Schöpfung des Geistes“ und die vom „Scharfsinn der größten Geister“ ent­hüllte Ätherschwingung „körperliche Natur“ nennt.

Die Wahrheit der Wissenschaft verhält sich zur sinn­lichen Erscheinung, wie sich das Allgemeine zum Besonderen verhält. Lichtwellen, die sogenannte Wahrheit von Licht und Farbe, repräsentieren nur insoweit „die eigentliche Natur“ des Lichtes, als sie die Allgemeinheit der ver­schiedenen, hellen, gelben, blauen usw. Lichterscheinungen sind. Die Welt des Geistes oder der Wissenschaft findet in der Sinnlichkeit ihr Material, ihre Voraussetzung, ihre Be­gründung, ihren Anfang, ihre Grenze.

Wenn wir gesehen, dass das Wesen oder die Wahrheit der Dinge nicht hinter ihrer Erscheinung, sondern nur mittels derselben, und nicht „an und für sich,“ sondern nur in Relation mit dem Erkenntnisvermögen, nur für die Vernunft da oder wirklich sind, dass nur der Begriff die Wesen von der Erscheinung absondert; wenn wir andererseits gesehen, dass die Vernunft irgendeinen Begriff nicht aus sich, son­dern nur im Kontakt mit der Erscheinung gewinnt, so finden wir an diesem Thema vom „Wesen der Dinge“ die Bestätigung, dass das Wesen des Erkenntnisvermögens ein Begriff ist, den wir von seiner sinnlichen Erscheinung ge­wonnen. Erkennen, dass das Denkvermögen, wenn auch universell in der Wahl seiner Objekte, doch darin be­schränkt ist, dass es eines gegebenen Objektes überhaupt bedarf; erkennen, dass der rechte wahre Denkakt, der Ge­danke mit wissenschaftlichem Ergebnis sich von unwissen­schaftlichem Denken dadurch unterscheidet, dass er sich mit Wissen und Willen an das äußerlich gegebene Objekt bindet; erkennen, dass sich die Wahrheit oder das All­gemeine nicht „an sich“, sondern nur an einem gegebenen Objekt erkennen läßt, dieser so oft variierte Satz enthält das Wesen des Erkenntnisvermögens. Er erscheint wieder am Ende eines jeden Kapitels, weil alle besonderen Wahr­heiten, alle besonderen Kapitel nur dazu dienen sollen, das allgemeine Kapitel von der allgemeinen Wahrheit zu demonstrieren.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007