Joseph Dietzgen

Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit

 

IV. Die Praxis der Vernunft in der Physischen Wissenschaft

c) Kraft und Stoff

Wer unserer Hauptlehre, welche wiederum zu erläutern ist, bis hierher folgte, wird antizipieren, dass die Kraft- und Stofffrage ihre Vermittlung oder Lösung in der Einsieht über das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen findet. Wie verhält sich das Abstrakte zum Konkreten? So stellt sich mit anderen Worten das gemeinschaftliche Problem einerseits derjenigen, welche in spiritueller Kraft und an­dererseits derjenigen, welche in materiellem Stoff den Im­puls der Welt, das Wesen der Dinge, das non plus ultra der Wissenschaft finden zu können glauben.

Liebig, der es besonders liebt, von seiner induktiven Wissenschaft hinüber zur Spekulation abzuschweifen, sagt, im Sinne des Idealismus: „Die Kraft läßt sich nicht sehen, wir können sie mit unsern Händen nicht fassen; um sie in ihrem Wesen und in ihrer Eigentümlichkeit zu erkennen, müssen wir ihre Wirkungen erforschen.“ Wenn daraufhin der Materialist antwortet: „Stoff ist Kraft, Kraft ist Stoff, kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff“, so be­stimmen offenbar beide das Verhältnis nur negativ. Auf Jahrmärkten fragt der Prinzipal den Harlekin: Harlekin, wo warst Du? – Bei den anderen. – Wo waren die anderen? – Bei mir. — Wie dort zwei Antworten mit einem Inhalt, so haben wir hier zwei Parteien, welche mit differenten Worten sich in einer unbestrittenen Sache herumzanken. Und um so lächerlicher ist der Streit, je ernsthafter er ge­nommen wird! Wenn jener die Kraft vom Stoff unter­scheidet, so will er damit nicht leugnen, dass die wirkliche Erscheinung der Kraft unzertrennlich an Stoff gebunden ist. Wenn der Materialist behauptet, dass kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff ist, so will er damit nicht leugnen, was der Gegner behauptet, dai3 Kraft und Stoff different sind.

Der Streit hat seinen guten Grund, seinen Gegenstand, aber der Gegenstand kommt im Streite nicht zum Vor­schein. Er wird vor den Parteien instinktiv verhüllt, um sich nicht die gegenseitige Unwissenheit gestehen zu müssen. Jeder will dem anderen beweisen, dass seine Erklärungen nicht ausreichen, ein Beweis, der von beiden hinreichend dargetan wurde. Büchner gesteht in den Schlußbetrach­tungen zu „Kraft und Stoff“, dass das empirische Material nicht ausreiche, um bestimmte Antworten auf transzendente Fragen geben, um diese Fragen positiv beantworten zu können, dagegen, sagt er ferner, „reicht es vollkommen aus, um sie negativ zu beantworten und die Hypothese zu ver­bannen“. Mit anderen Worten heißt das: die Wissenschaft des Materialisten reicht zu dem Beweise aus, dass der Gegner nichts weiß.

Der Spiritualist oder Idealist glaubt an ein geistiges, d. h. gespenstiges, unerklärliches Wesen der Kraft. Die materia­listischen Forscher sind ungläubig. Eine wissenschaftliche Begründung des Glaubens oder Unglaubens ist nirgends vorhanden. Was der Materialismus voraus hat, besteht darin, dass er das Transzendentale, das Wesen, die Ursache, die Kraft nicht hinter der Erscheinung, nicht außerhalb des Stoffes sucht. Darin jedoch, dass er einen Unterschied zwischen Kraft und Stoff verkennt, das Problem leugnet, bleibt er hinter dem Idealismus zurück. Der Materialist pocht auf die tatsächliche Untrennbarkeit von Kraft und Stoff und will für die Trennung nur einen „äußerlichen, aus den systematischen Bedürfnissen unseres Geistes her­vorgegangenen Grund“ gelten lassen. Büchner sagt, „Natur und Geist“, Seite 66: „Kraft und Stoff voneinander ge­sondert sind für mich nichts weiter als Gedankendinge, Phantasien, Ideen ohne Wesenheit, Hypothesen, welche für eine gesunde Naturbetrachtung gar nicht vorhanden sind, weil alle Erscheinungen der Natur durch eine solche Trennung alsbald dunkel und unverständlich werden.“ Wenn jedoch Büchner, statt mit „naturphilosophischen“ Redensarten, mit irgendeiner Fachwissenschaft sich pro­duktiv beschäftigt, wird seine Praxis alsbald beweisen, dass die Trennung der Kräfte von den Stoffen keine „äußerliche“, sondern eine innerliche, d. h. wesentliche Notwendigkeit ist, welche allein uns befähigt, die Erschei­nungen der Natur zu erhellen und zu verstehen. Obgleich der Verfasser von „Kraft und Stoff“ sich das Motto wählt: „Now what I want is – facts“ – so versichern wir doch, dass die Devise mehr ein gedankenloses Wort als eine ernste Meinung ist. So grobkörnig ist der Materialismus nicht, dass es ihm pur um Tatsachen geht. Tatsachen gibt die Natur in unendlicher Fülle. Jene facts, die Büchner sucht, geben gar kein spezifisches Merkmal seines Begehrens ab. Solche Tatsachen will auch der Idealist. Nach Hypothesen verlangt kein Naturforscher. Was alle Bebauer der Wissenschaft gemeinschaftlich wollen, sind nicht so­wohl Tatsachen, als Erklärungen oder Erkenntnisse von Tatsachen. Dass es der Wissenschaft – Büchners „Natur­philosophie“ nicht einmal ausgenommen — nicht um leib­liche Stoffe, sondern um geistige Kräfte geht, dass für die Wissenschaft der Stoff nur Nebensache ist, um durch ihn Kräfte zu ermitteln, wird auch der Materialist nicht be­streiten wollen. Die Trennung von Kraft und Stoff „ist aus dem systematischen Bedürfnis unseres Geistes hervor­gegangen.“ Sehr wahr! Aber so, wie überhaupt die Wissen­schaft aus dem systematischen Bedürfnis unseres Geistes hervorgeht.

Der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff ist so alt wie der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus. Die erste Vermittlung vollbrachte die Phantasie, durch den Glauben an Geister, welche sie allen natürlichen Erschei­nungen als deren geheimes ursächliches Wesen substituierte. Viele besonderen Geister hat nun die Wissenschaft in neuerer Zeit dadurch ausgetrieben, dass sie an Stelle phan­tastischer Dämonen wissenschaftliche, d. h. generelle Er­klärungen setzte. Wenn es uns gelungen ist, den Dämon des reinen Geistes zu erklären, wird es uns nicht schwer, den besonderen Geist der Kraft überhaupt durch die gene­relle Erkenntnis ihres Wesens auszutreiben und somit auch diesen Gegensatz zwischen Spiritualismus und Mate­rialismus wissenschaftlich zu vermitteln.

Am Gegenstande der Wissenschaft, am Objekt des Geistes ist Kraft und Stoff ungetrennt. In der leibhaften Sinnlich­keit ist Kraft Stoff, ist Stoff Kraft. „Die Kraft läßt sich nicht sehen.“ Ei doch! das Sehen selbst ist pure Kraft. Das Sehen ist soviel Wirkung des Gegenstandes als Wirkung des Auges, eine Doppelwirkung, und Wirkungen sind Kräfte. Wir sehen nicht die Dinge selbst, sondern ihre Wir­kungen auf unsere Augen: wir sehen ihre Kräfte. Und nicht nur sehen läßt sich die Kraft, sie läßt sich hören, riechen, schmecken, fühlen. Wer wird leugnen, dass er die Kraft der Wärme, der Kälte, der Schwere zu fühlen vermöge? Wir führten bereits den Ausspruch des Professor Koppe an: „Die Wärme selbst vermögen wir nicht wahrzunehmen, wir schließen nur aus ihren Wirkungen auf das Vorhandensein dieses Agens in der Natur.“ Mit anderen Worten heißt das, wir sehen, hören, fühlen nicht die Dinge, sondern ihre Wir­kungen oder Kräfte.

Ebenso wahr, wie sich sagen läßt, ich fühle den Stoff und nicht die Kraft, läßt sich umgekehrt sagen, ich fühle die Kraft und nicht den Stoff. In der Tat, am Objekt, wie ge­sagt, ist beides ungetrennt. Vermöge der Denkkraft aber trennen wir an den neben- und nacheinander folgenden Er­scheinungen das Allgemeine vom Besonderen. Aus den ver­schiedenen Erscheinungen unseres Gesichts z. B. abstra­hieren wir den allgemeinen Begriff des Sehens überhaupt und unterscheiden ihn als Sehkraft von den besonderen Gegenständen oder Stoffen des Gesichts. Aus sinnlicher Vielfältigkeit entwickeln wir mittelst der Vernunft das All­gemeine. Das Allgemeine mannigfaltiger Wassererschei­nungen, das ist die vom Stoff des Wassers unterschiedene Wasserkraft. Wenn stofflich verschiedene Hebel gleicher Länge dieselbe Kraft besitzen, ist es wohl augenscheinlich, dass hier die Kraft nur soweit vom Stoff verschieden ist, als sie das Gemeinschaftliche verschiedener Stoffe darstellt. Das Pferd zieht nicht ohne Kraft, und die Kraft zieht nicht ohne Pferd. In der Tat, in der Praxis ist das Pferd die Kraft, ist die Kraft das Pferd. Aber dennoch mögen wir die Zug­kraft von anderen Eigenschaften des Pferdes als etwas Apartes unterscheiden oder mögen das Gemeinschaftliche verschiedener Pferdeleistungen als allgemeine Pferdekraft abtrennen, ohne uns deshalb einer andern Hypothese schuldig zu machen, als wenn wir die Sonne von der Erde unterscheiden; obgleich in der Tat die Sonne nicht ohne Erde, die Erde nicht ohne Sonne ist.

Die Sinnlichkeit ist uns nur durch das Bewußtsein ge­geben, aber das Bewußtsein setzt dennoch die Sinnlichkeit voraus. Die Natur, je nachdem wir sie, vom Standpunkt des Bewußtseins, als bedingungslose Einheit, oder, vom Standpunkt der Sinnlichkeit, als unbedingte Mannigfaltig­keit gelten lassen, ist grenzenlos vereint und grenzenlos ge­trennt. Wahr ist beides: Einheit und Vielheit, doch jedes nur unter gewissen Voraussetzungen, relativ. Es kommt darauf an, ob wir vom Standpunkt des Allgemeinen oder des Besonderen, ob wir mit geistigen oder mit körperlichen Augen umschauen. Mit geistigen Augen gesehen, ist der Stoff Kraft. Mit körperlichen Augen gesehen, ist die Kraft Stoff. Der abstrakte Stoff ist Kraft, die konkrete Kraft ist Stoff. Stoffe sind Gegenstände der Hand, der Praxis. Kräfte sind Gegenstände der Erkenntnis, der Wissenschaft.

Die Wissenschaft ist nicht beschränkt auf die sogenannte wissenschaftliche Welt. Sie reicht über alle besonderen Klassen hinaus, gehört dem Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe. Die Wissenschaft gehört dem denkenden Men­schen überhaupt. So auch die Trennung zwischen Kraft und Stoff. Nur die stumpfsinnigste Leidenschaft kann sie prak­tisch verkennen. Der Geizhals, der Geld anhäuft, ohne seinen Lebensprozeß zu bereichern, vergißt, dass die vom Stoff verschiedene Kraft des Geldes das wertvolle Element ist; er vergißt, dass nicht der Reichtum als solcher, nicht die schlechte silberne Materie, sondern ihr geistiger Gehalt, die ihr inwohnende Fähigkeit, Lebensmittel zu kaufen, es ist, was das Streben nach ihrem Besitz vernünftig macht. Jede wissenschaftliche Praxis, d. h. jedes Tun, welches mit voraus bestimmtem Erfolge, mit durchschauten Stoffen agiert, bezeugt, dass die Trennung von Stoff und Kraft, wenn auch mit dem Gedanken vollzogen, also ein Ge­dankending, doch deshalb keine leere Phantasie, keine Hypothese, sondern eine sehr wesentliche Idee ist. Wenn der Landmann sein Feld düngt, geht er insofern mit reiner Düngkraft um, als es gleichgültig ist, in welchem Stoffe, ob in Kuhmist, Knochenmehl oder Guano sie sich verkörpert. Beim Abwägen eines Warenballens wird nicht der Stoff der Gewichtsstücke, das Eisen, Kupfer oder der Stein nicht, sondern die Schwerkraft pfundweise gehandhabt.

Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, welche gleichsam im Stoffe ihren Spuk treiben, die wir nicht sehen, nicht sinnlich wahrnehmen und dennoch glauben sollen, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern Spekulanten, d. h. Geisterseher. Doch ebenso kopflos ist andererseits das Wort des Materialisten, das die intellektuelle Scheidung zwischen Kraft und Stoff eine Hypothese nennt.

Damit diese Scheidung nach Verdienst gewürdigt sei, damit unser Bewußtsein die Kraft weder spiritualistisch ver­flüchtigt noch materialistisch verleugnet, sondern wissen­schaftlich begreift, dürfen wir nur das Unterscheidungs­vermögen überhaupt oder an sich begreifen, d. h. seine ab­strakte Form erkennen. Der Intellekt kann nicht ohne sinnliches Material operieren. Um zwischen Kraft und Stoff zu unterscheiden, müssen diese Dinge sinnlich ge­geben, müssen erfahren sein. Auf Grund der Erfahrung nennen wir den Stoff kräftig, die Kraft stofflich. Das zu be­greifende sinnliche Objekt ist also ein Kraftstoff, und da nun alle Objekte in ihrer leiblichen Wirklichkeit Kraft­stoffe sind, besteht die Unterscheidung, welche das Unter­scheidungsvermögen daran vollbringt, in der allgemeinen Art und Weise, der Kopfarbeit, in der Entwicklung des Allgemeinen aus dem Besonderen. Der Unterschied zwischen Kraft und Stoff summiert sich unter den allgemeinen Unterschied des Konkreten und Abstrakten. Den Wert dieser Unterscheidung absprechen, heißt also den Wert der Unterscheidung, des Intellekts überhaupt verkennen. Benennen wir die sinnlichen Erscheinungen Kräfte des allgemeinen Stoffs, so ist dieser einheitliche Stoff nichts weiter als die abstrakte Allgemeinheit. Verstehen wir unter der Sinnlichkeit die verschiedenen Stoffe, so ist das Allgemeine, welches die Verschiedenheit einbegreift, be­herrscht oder durchzieht, die das Besondere erwirkende Kraft. Ob Kraft, ob Stoff genannt, das Unsinnliche, das, was die Wissenschaft nicht mit den Händen, sondern mit dem Kopf sucht, das Wesenhafte, Ursächliche, Ideale, höhere Geistige ist die Allgemeinheit, welche das Besondere umfaßt.

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2007