Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

1. Einige sozialistische „Vorfahren“

KARL KAUTSKY, DER HAUPTTHEORETIKER der Zweiten Internationale, begann sein Buch über Thomas Morus mit der Bemerkung, die zwei großen Gestalten, welche die Geschichte des Sozialismus einleiten, seien Morus und Thomas Müntzer, und diese beiden „folgen einer langen Linie von Sozialisten, von Lykurg und Pythagoras bis zu Platon, den Gracchi, Catalina, Christus ...“

Dies ist eine sehr beeindruckende Liste von frühen „Sozialisten“, und wenn wir seinen politischen Standort berücksichtigen, sollte Kautsky in der Lage gewesen sein, einen Sozialisten zu erkennen, wenn er einen sah. Das Faszinierendste an dieser Liste ist die Tatsache, dass sie bei näherer Betrachtung in zwei ganz verschiedene Gruppen auseinander fällt.

Auf Grund des von Plutarch verfassten Leben des Lykurg vereinnahmten die frühen Sozialisten ihn als Gründer des spartanischen „Kommunismus“ – das ist der Grund, warum Kautsky ihn auflistet. Aber wie von Plutarch beschrieben, stützte sich das spartanische System auf die Gleichverteilung des Landes im Rahmen von Privateigentum; es war keineswegs sozialistisch. Das „kollektivistische“ Gefühl, das vielleicht bei der Beschreibung des spartanischen Regimes entsteht, kommt aus einer anderen Richtung: der Lebensweise der spartanischen herrschenden Klasse selbst, die als permanente, disziplinierte Garnison unter Belagerungszustand organisiert war; und hinzugefügt werden muss die den Heloten (Sklaven) auferlegte terroristische Herrschaft.

Ich kann nicht verstehen, wie ein moderner Sozialist etwas über das lykurgische Regime lesen kann, ohne das Gefühl zu haben, keinesfalls auf einen Vorläufer des Sozialismus zu treffen, sondern auf einen Vorläufer des Faschismus. Darin liegt ein ganz beträchtlicher Unterschied! Aber wie konnte es geschehen, dass der führende Theoretiker der Sozialdemokratie ihn nicht bemerkt hat?

Pythagoras gründete einen Eliteorden, der als politischer Flügel des Landadels gegen die plebejisch-demokratische Bewegung vorging: Er und seine Partei wurden schließlich durch einen revolutionären Volksaufstand gestürzt und vertrieben. Kautsky scheint auf der falschen Seite der Barrikaden zu stehen! Überdies herrschte innerhalb des pythagoreischen Ordens ein Regime der totalen autoritären Herrschaft und der Reglementierung. Trotzdem entschied sich Kautsky, Pythagoras als sozialistischen Vorfahren zu betrachten, weil er glaubte, dass die organisierten Pythagoreer in Gütergemeinschaft lebten. Selbst wenn es so gewesen wäre (und Kautsky fand später heraus, dass es nicht stimmte), hätte diese Tatsache den pythagoreischen Orden genauso kommunistisch gemacht wie jedes Kloster. Wir müssen auf Kautskys Liste einen zweiten Vorfahren des Totalitarismus ankreiden.

Der Fall von Platons Republik ist wohl bekannt. Das einzige Element von „Kommunismus“ in seinem Idealstaat für die kleine Elite der „Wächter“, die die Bürokratie und die Armee bilden, ist die Vorschrift, in klösterlicher Gemeinschaft zu konsumieren; dabei wird aber vorausgesetzt, dass das umgebende Gesellschaftssystem sich auf Privateigentum stützt und keineswegs sozialistisch ist. Und – hier finden wir es wieder – Platons Staatsmodell heißt Regierung durch eine aristokratische Elite, und er betont in seiner Begründung, dass Demokratie unvermeidlich zum Verfall und Ruin der Gesellschaft führe. Platons politisches Ziel war tatsächlich die Rehabilitierung und Reinigung der herrschenden Aristokratie, um die demokratische Flut bekämpfen zu können. Ihn als sozialistischen Vorfahren zu bezeichnen, beinhaltet eine Vorstellung von Sozialismus, die jede Form demokratischer Kontrolle unbedeutend macht.

Auf der anderen Seite hatten Catalina und die Gracchi keine kollektivistischen Ansätze. Ihre Namen werden verbunden mit volksdemokratischen Massenaufständen gegen das Establishment. Sie waren eindeutig keine Sozialisten, aber sie waren auf der Seite des Volks im Klassenkampf der Antike, auf der Seite der Volksbewegung von unten. Der Theoretiker der Sozialdemokratie scheint keinen Unterschied zu sehen.

Hier in der Vorgeschichte unseres Themas gibt es zwei Arten Gestalten, die bereit stehen, in den Pantheon der sozialistischen Bewegung aufgenommen zu werden. Es gibt die Gestalten mit einem Hauch des (angeblichen) Kollektivismus, die trotzdem durch und durch elitär, autoritär und antidemokratisch waren; und es gibt die Gestalten ohne jede Spur des Kollektivismus, die aber mit demokratischen Klassenkämpfen verbunden waren. Es gibt eine kollektivistische Tendenz ohne Demokratie, und es gibt eine demokratische Tendenz ohne Kollektivismus, aber noch nichts, das diese beiden Strömungen zusammenführt.

Erst mit Thomas Müntzer, dem Führer des revolutionären linken Flügels der deutschen Reformation, finden wir die Andeutung einer solchen Verschmelzung; eine gesellschaftliche Bewegung mit kommunistischen Ideen (Müntzers), die auch in einem tief greifenden demokratischen Kampf von unten stand. Genau im Gegensatz dazu steht Sir Thomas Morus: Die tiefe Kluft zwischen den beiden Zeitgenossen führt zum Kern unseres Themas. In Utopia beschreibt Morus eine vollständig reglementierte Gesellschaft, die eher an Orwells 1984 als an eine sozialistische Demokratie erinnert, durch und durch elitär, sogar Sklaven haltend, ein typisches Beispiel für Sozialismus von oben. Es erstaunt nicht, dass von diesen beiden „sozialistischen Vorfahren“, die an der Schwelle der modernen Welt stehen, der eine (Morus) den anderen (Müntzer) verabscheute und die Henker unterstützte, die den anderen und seine Bewegung ermordeten.

Was also war die Bedeutung von Sozialismus, als er geboren wurde? Von Anfang an war er in die zwei Seelen des Sozialismus gespalten, und zwischen ihnen gab es Krieg.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003