Hal Draper

 

Die zwei Seelen des Sozialismus

 

3. Was Marx leistete

DER UTOPISMUS WAR ZUTIEFST ELITÄR und antidemokratisch, weil er utopisch war – das heißt, er hoffte auf das Rezept für ein vorgefertigtes Modell, das Erträumen eines Plans, der durch Willenskraft zur Realität würde. Vor allem war er durchdrungen von Feindseligkeit besonders gegenüber der Vorstellung einer Umgestaltung der Gesellschaft von unten durch die bestürzende Einmischung Freiheit suchender Massen, selbst da, wo er schließlich Zuflucht zum Werkzeug einer Massenbewegung als Druckmittel auf die Oberen nahm. In der sozialistischen Bewegung, wie sie sich vor Marx entwickelt hatte, kreuzte sich nirgendwo die Linie der sozialistischen Idee mit der Linie der Demokratie von unten.

Diese Kreuzung, diese Synthese, war der große Beitrag von Marx: Im Vergleich dazu ist der ganze Inhalt seines Kapitals zweitrangig. Er fügte den revolutionären Sozialismus und die revolutionäre Demokratie zusammen. Dies ist der Kern des Marxismus: „Das ist das Gesetz; alles andere ist Kommentar.“ Das Kommunistische Manifest von 1848 kennzeichnete das Selbstbewusstsein der ersten Bewegung (mit Engels Worten), deren „Meinung von allem Anfang an war, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muss“.

Der junge Marx durchlief die primitive Stufe wie der menschliche Embryo das Kiemenstadium; oder um es anders zu beschreiben: Eine seiner ersten Impfungen erhielt er, indem er sich mit der am weitesten verbreiteten Krankheit überhaupt, dem Glauben an einen Retterdiktator infizierte. Als Marx zweiundzwanzig Jahre alt war, starb der alte König, und unter dem Jubel der Liberalen bestieg Friedrich Wilhelm IV. angesichts der großen Hoffnungen auf demokratische Reformen von oben den Thron. Nichts dergleichen geschah. Marx kehrte nie zu dieser Vorstellung zurück, die jeden Sozialismus mit ihrer Hoffnung auf Retterdiktatoren oder Retterpräsidenten belastete.

Marx trat der Politik als kämpferischer Redakteur einer Zeitung bei, die das Organ der extremen Linken der liberalen Demokratie des industrialisierten Rheinlands war, und bald wurde er zur führenden Redaktionsstimme einer umfassenden politischen Demokratie in Deutschland. Sein erster veröffentlichter Artikel war eine Polemik zu Gunsten einer uneingeschränkten Freiheit der Presse von jeder staatlichen Zensur. Als die Reichsregierung seine Entlassung erzwang, wandte er sich den neuen, aus Frankreich stammenden sozialistischen Ideen zu. Als dieser Wortführer der liberalen Demokratie zum Sozialisten wurde, betrachtete er das Eintreten für Demokratie immer noch als Hauptaufgabe – aber jetzt hatte diese Demokratie eine tiefere Bedeutung. Marx war der erste sozialistische Denker und Führer, der zum Sozialismus durch den Kampf um die liberale Demokratie kam.

In Manuskriptnotizen von 1844 lehnte er den noch vorhandenen „rohen Kommunismus“ ab, der die Persönlichkeit des Menschen negiert, und vertraute auf einen Kommunismus, der ein „vollendeter Humanismus“ sein würde. Im Jahre 1845 erarbeiteten er und sein Freund Engels eine Argumentationslinie gegen das elitäre Denken einer sozialistischen Strömung, die von einem Bruno Bauer repräsentiert wurde. Im Jahre 1846 organisierten sie die „Deutschen Demokratischen Kommunisten“ im Brüsseler Exil, und Engels schrieb: „In unserer Zeit sind die Demokratie und der Kommunismus eins.“ Und: „Nur die Proletarier können sich wirklich unter dem Banner der kommunistischen Demokratie verbrüdern.“

Indem sie ihren Standpunkt ausarbeiteten, der zum ersten Mal die neue kommunistische Vorstellung mit den neuen demokratischen Bestrebungen verband, gerieten sie in Konflikt mit den bestehenden kommunistischen Sekten wie der von Weitling, der von einer messianischen Diktatur träumte. Bevor sie der Gruppe beitraten, die der Bund der Kommunisten wurde (für den sie das Kommunistische Manifest schrieben), bestanden sie darauf, dass die Organisation von einer elitären Verschwörergruppe der alten Art in eine offene Propagandagruppe umgewandelt werden müsse, dass „alles aus den Statuten entfernt werde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich“ sei, dass der führende Ausschuss von allen Mitgliedern gewählt werden müsse im Gegensatz zur Tradition der „Entscheidungen von oben“. Sie überzeugten den Bund von ihrer neuen Herangehensweise und in einer Zeitschrift, die 1847, einige Monate vor dem Kommunistischen Manifest, herausgegeben wurde, verkündete die Gruppe:

Wir sind keine Kommunisten, welche die persönliche Freiheit vernichten und aus der Welt eine große Kaserne oder ein großes Arbeitshaus machen wollen. Es gibt freilich Kommunisten, welche es sich bequem machen und die persönliche Freiheit, die nach ihrer Meinung der Harmonie im Wege steht, leugnen und aufheben wollen; wir aber haben keine Lust, die Gleichheit mit der Freiheit zu erkaufen. Wir sind überzeugt ..., dass in keiner Gesellschaft die persönliche Freiheit größer sein kann als in derjenigen, welche sich auf Gemeinschaft gründet ... Legen wir alle vereinigt Hand ans Werk ..., um einen demokratischen Staat zu errichten, in dem jede Partei suchen kann, durch Wort und Schrift die Majorität für sich zu gewinnen ...

Das Kommunistische Manifest, das aus diesen Diskussionen entstand, erklärte, das erste Ziel der Revolution sei „die Erkämpfung der Demokratie“. Als sich zwei Jahre später nach dem Niedergang der 1848er Revolutionen der Bund der Kommunisten spaltete, stand er erneut im Streit gegen den „rohen Kommunismus“ des Putschismus, der meinte, man könne die wirkliche Massenbewegung der aufgeklärten Arbeiterklasse durch entschlossene Gruppen von Revolutionären ersetzen. Marx erklärte der Minderheit innerhalb des Bundes:

Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: „Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.“

„Um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen“ – so heißt das Marx’sche Programm für die Arbeiterbewegung im Gegensatz sowohl zu denen, die sagen, die Arbeiter könnten die Macht jeden Sonntag übernehmen, als auch zu denen, die sagen, es sei nie möglich. So entstand der Marxismus im bewussten Kampf gegen die Verfechter der Erziehungsdiktatur, die Retterdiktatoren, die revolutionäre Elite, die kommunistischen Autoritären sowie die menschenfreundlichen Weltverbesserer und bürgerlichen Liberalen. Dies ist der Marxismus von Marx, nicht die karikierte Missbildung, der dieses Etikett von der Professorenschaft des Establishments umgehängt wird, die vor Marx’ kompromisslosem Geist der revolutionären Opposition zum kapitalistischen Status quo zittern, und von den Stalinisten und Neostalinisten, welche die Tatsache verbergen müssen, dass Marx seine Zähne schärfte, indem er Krieg gegen Leute ihrer Sorte führte.

„Marx war es, der schließlich die beiden Vorstellungen von Sozialismus und Demokratie aneinanderkettete“ [2], weil er eine Theorie entwickelte, die diese Synthese zum ersten Mal ermöglichte. Der Kern der Theorie ist diese These: Es gibt eine gesellschaftliche Mehrheit, die das Interesse und die Motivation hat, das System zu ändern, und dass das Ziel des Sozialismus in der Schulung und Mobilisierung dieser Mehrheit bestehen kann. Dies ist die ausgebeutete Klasse, die Arbeiterklasse, von der letztendlich die Triebkraft der Revolution ausgeht. Daher ist ein Sozialismus von unten möglich auf der Basis einer Theorie, die das revolutionäre Potenzial der breiten Massen sieht, auch wenn sie zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten rückständig scheinen. Das Kapital ist letzten Endes bloß die Demonstration der wirtschaftlichen Basis dieser These.

Nur eine solche Theorie des Arbeitersozialismus macht die Fusion des revolutionären Sozialismus und der revolutionären Demokratie möglich. Im Moment diskutieren wir noch nicht unsere Überzeugung, dass dieser Glaube gerechtfertigt ist, sondern bestehen nur auf der Alternative: Alle Sozialisten oder Möchtegernreformer, die diese Alternative verwerfen, müssen zwangsläufig bei irgendeiner Art des Sozialismus von oben enden, sei es die reformistische, utopische, bürokratische, stalinistische, maoistische oder Castro'sche Spielart. Und das tun sie auch.

Fünf Jahre vor dem Kommunistischen Manifest hatte ein frisch bekehrter dreiundzwanzig Jahre alter Sozialist immer noch in der alten elitären Tradition geschrieben: „Wir können unsere Reihen nur aus den Klassen auffüllen, die eine recht gute Bildung genossen haben, das heißt aus den Universitäten und aus der Unternehmerklasse ...“ Der junge Engels lernte etwas Besseres; aber diese überholte Weisheit hat hartnäckig überlebt.

 

Anmerkung

2. Dieses Zitat stammt aus der Autobiografie von H.G. Wells. Als Erfinder einiger der grausamsten Utopien des Sozialismus von oben in der gesamten Literatur denunziert Wells hier Marx für diesen historischen Schritt.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003