Gustav Eckstein

Karl Marx: Theorien über den Mehrwert

(5. Juni 1910)


Quelle: Gustav Eckstein, Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Vorwärts, Nr. 129, 27. Jg., 5. Juni 1910, S. 9.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Marx. Theorien über den Mehrwert
Herausgegeben von Karl Kautsky
Stuttgart, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 1910
Band III. Von Ricardo zur Vulgärökonomie. XIV und 662 Seiten
Preis in Leinen gebunden 8 M.

Nun liegt auch der letzte Band der Theorien über den Mehrwert vor, jenes Werkes, das Kautsky mit all der Mühe, Sorgfalt und Selbstverleugnung aus dem nachgelassenen Manuskript Zur Kritik der politischen Oekonomie zusammengestellt hat, wie sie nur das tiefste Verständnis und die höchste Liebe für den großen Meister eingeben können. Damit ist das ökonomische Werk von Karl Marx, soweit ihm überhaupt es auszubauen vergönnt war, abgeschlossen. In der Vorrede zum ersten Band dieses Buches bezeichnete es der Herausgeber nicht als eine Fortsetzung des Kapital, sondern als ein parallel laufendes Werk, und in der Tat ist so auch der ursprüngliche Plan von Karl Marx zum großen Teil verwirklicht worden. In dem einzigen Heft der geplanten Schrift Zur Kritik der politischen Oekonomie, das Marx selbst herausgegeben hat, läßt er jedem theoretischen Kapitel unmittelbar eine historische Skizze der Entwickelung der Theorie folgen. Nun besitzen wir im Kapital die systematische Darstellung seiner ökonomischen Lehre, und die jetzt vollständig vorliegenden Theorien bieten eine Darstellung des Werdeganges wenigstens der grundlegenden Theorien, wie sie in der gesamten ökonomischen Literatur nicht ihresgleichen findet.

Freilich war das Manuskript nicht druckfertig, und Marx selbst hätte es wohl noch einer Umarbeitung unterzogen, wenn er es überhaupt veröffentlichen wollte. Es ist nur natürlich, daß der Herausgeber von allen Aenderungen so weit wie möglich absah, und so kommt es, daß in den Theorien eine Reihe von Ausführungen enthalten ist, die nur Wiederholungen von Darlegungen des Kapital sind. Aber auch diese wird kaum jemand ohne großen Nutzen lesen, da sie die betreffenden Lehren wieder in neuem Zusammenhang und meist auch in neuer Beleuchtung zeigen.

Dafür aber haben wir den großen Vorteil, gerade infolge dieser unveränderten Wiedergabe einer Niederschrift, die in erster Linie den Zweck der eigenen Selbstverständigung verfolgte, einen Einblick in die geistige Werkstatt des Meisters tun zu können, wie ihn seine anderen Werke nicht bieten. Denn wie Marx wiederholt und besonders auch im Vorwort zum ersten Band des Kapital ausgeführt hat, unterscheidet sich seine Form der Darstellung sehr wesentlich von der Form seiner Forschung. Diese ging von der Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen aus und suchte durch immer tiefer dringende Abstraktion die ihnen zugrunde liegenden Gesetze zu finden. Auf diesem Wege gelangte Marx zum Wertgesetz als der Grundlage aller Wirtschaftstheorie, und nun führte er von dieser aus wieder den ganzen wunderbaren Bau seines Systems auf, dessen Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit nun die beste Gewähr für die Richtigkeit des Ausgangspunktes bietet.

Gerade in dem vorliegenden Bande der Theorien zeigt Marx ein Beispiel einer solchen Analyse (S. 676 ff.). Der oberflächlichen Betrachtung scheint der Wert des Produkts in Arbeitslohn, Kapitalprofit und Grundrente zu zerfallen und sich aus diesen wieder aufzubauen. Betrachtet man aber zunächst die Grundrente genauer, so zeigt sich, daß sie lediglich ein Ueberprofit ist, der sich daraus ergibt, daß manche Kapitalisten unter günstigeren Bedingungen arbeiten als die anderen, ohne daß diese Vorzüge durch das Walten der Konkurrenz ausgeglichen werden könnten. Solche Vorteile ergeben sich aus der natürlichen Verschiedenheit in der Fruchtbarkeit des Bodens und in der Ergiebigkeit von Minen, aus dem Vorhandensein natürlicher Wasserkräfte usw. So bleiben also nur Lohn und Profit, von denen der erstere durch die Lebensnotdurft der Arbeiter bestimmt wird, während für den letzteren der Rest dessen übrig bleibt, was die Produktivität der Arbeit dem Rohmaterial, den Maschinen usw. zugesetzt hat. Denn nicht das gesamte Produkt löst sich in jenen drei Revenueformen auf, ein Teil muß das Rohmaterial, die Hilfsstoffe, die Abnutzung der Baulichkeiten und Maschinen usw. ersetzen. Dies zeigt Marx hier wieder in glänzenden Ausführungen (S. 291 ff.), die eine willkommene Ergänzung zu den ungemein wichtigen, aber schwierigen Auseinandersetzungen der letzten Kapitel des 2. Bandes des Kapital bilden.

So ergibt sich also, daß im Arbeitsprozeß nicht nur der Wert dessen erhalten wird, was Marx das „konstante Kapital“ nennt, sondern daß es auch die Produktivität der Arbeit ist, die nicht nur den Lohn reproduziert, sondern auch den Wertüberschuß schafft, der sich in Kapitalprofit und Rente auflost.

Natürlich kann diese rohe Skizze nur Andeutungen des wirkliichen Forschungweges geben. Er führte Marr zur Anerkennung der Arbeitwerttheorie, die damals die englische Oekonomie seit fast zwei Jahrhunderten beherrschte. Dieses Zusammentreffen ist nichts weniger als ein Zufall; denn so schwierig es ist, den heutigen Zuständen der kapitalistischen Welt ihr geheimes Grundgesetz abzutauschen, so einfach war es verhältnismäßig zu den Zeiten Pettys, der zuerst die Arbeitswerttheorie formulierte. Das Handwerk des 17. Jahrhunderts kannte noch keine Maschinerie. Der Wert des Werkzeugs spielte bei der Abschätzung des Produkts um so weniger eine Rolle, als es sich oft durch Generationen forterbte. Die Arbeitsstätte war zugleich Wohnung und war ebenfalls meist vom Vater auf den Sohn im Erbweg gelangt. So war es klar, daß lediglich die Menge Arbeit, die auf die Herstellung eines Produkts verwendet wurde, dieser seinen Wert verlieh, daß sich die Waren daher, abgesehen vom Wert des Materials, im Verhältnis der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit austauschten. Da aber damals noch die Arbeit des Meisters vorherrschte, der selbst auch den vollen Ertrag seiner Arbeit einheimste, machte es im praktischen Ergebnis keinen Unterschied, ob man sagte, der Astert sei abhängig von der Menge Arbeit, die in der Herstellung einging, oder er werde gemessen an der Menge Arbeit, die er kaufen könne. Praktisch kam dies unter den damaligen Verhältnissen auf dasselbe hinaus, und so sehen wir diese beiden Maßstäbe nickt nur bei Petty (1662) nebeneinander auftreten, sondern auch noch 100 Jahre später bei Adam Smith (1775), der sich noch ihres fundamentalen Unterschiedes nicht recht bewußt wird, obwohl er seinen Betrachtungen schon nicht mehr das bloße Handwerk zugrunde legte, sondern die gerade damals aufblühende Manufaktur.

Der erste, der die Bestimmung des Wertes der Waren durch die zu ihrer Herstellung notwendige Arbeitszeit konsequent durchführte, war Ricardo, dessen System infolgedessen zu einem Markstein in der Geschichte der Oekonomie wurde. Seiner Bedeutung entsprechend hat seiner Kritik auch Marx in den Theorien den weitaus größten Raum gewidmet. Die Besprechung und Kritik Ricardos nimmt fast den ganzen zweiten Band dieses Werkes ein. Wer gerade die strenge Konsequenz und der Scharfsinn Ricardos lassen die inneren Widersprüche seines Systems um so deutlicher hervortreten. Wenn der Wert der Waren durch die Arbeit bestimmt war, die in sie einging, so mußte sich auch dieser ganze Wert gegen diese Arbeit austauschen, wenn wirklich stets gleiche Werte zum Tausch gelangten. Statt dessen spaltete sich in der Wirklichkeit dieser Wert in Arbeitslohn, Profit und Rente. Ferner mußte sich aus dem Wertgesetz ergeben, daß der in jedem Betrieb neugeschaffene Wert, der sich als Profit des Unternehmers darstellte, abhängig war von der Anzahl der dort verwendeten Arbeiter. Das stimmte aber offensichtlich nicht mit den Tatsachen überein, denn der Profit steht nicht mit dem Arbeitslohn in einem bestimmten Verhältnis, sondern mit dem gesamten aufgewendeten Kapital.

In den Anfängen der englischen Oekonomie konnten, wie wir gesehen haben, diese Widersprüche noch nicht in Erscheinung treten; denn damals erhielt tatsächlich der arbeitende Kleinmeister fast den ganzen Ertrag seiner Arbeit, zwischen Arbeitsertrag und Arbeitslohn bestand kein wesentlicher Unterschied. Zugleich war auch das konstante Kapital vergleichsweise so klein, und die Profitrate spielte noch eine so geringe Rolle neben der Forderung eines ziemlichen Auskommens für den Meister, daß auch dieser Unterschied nicht hervortrat. Aber inzwischen hatten sich die Verhältnisse mächtig geändert. Seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war das Maschinenwesen stark emporgeblüht und hatte das englische Proletariat in ein namenloses Elend gestürzt. Jetzt bestand ein ungeheurer Abstand zwischen den in einem Betrieb geschaffenen Wert und dem dort bezahlten Lohn, und zugleich trat nun der Unterschied in der organischen Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalien in den Vordergrund. Das eine Kapital, etwa in einem Steinbruch, bestand fast nur in Arbeitslöhnen, in einem anderen hielten die Löhne neben den Auslagen für Rohmaterial, Maschinen, Baulichkeiten usw. eine geringe Rolle, wie etwa im Maschinenbau. Trotzdem erwartete aber jeder Kapitalist einen Profit nicht im Verhältnis zu den gezahlten Löhnen, sondern zum ausgelegten Kapital. Ricardo selbst war diese Schwierigkeit nicht entgangen, besonders als er den Einfluß einer allgemeinen Steigerung der Lohne auf die Preise der Waren untersuchte; aber er betrachtete diese Abweichungen von seinem Gesetz lediglich als Ausnahmen, die dessen allgemeine Geltung nicht beeinflussen konnten.

Hier setzte nun sein Rivale Malthus mit seiner Kritik ein, indem er zeigte, daß in der wirklichen kapitalistischen Welt die Ausnahmen Ricardos die Regel bilden, daß der Preis der Waren stets auch von den Löhnen abhänge, die bei ihrer Herstellung gezahlt werden, wie überhaupt von der Höhe des vorgeschoffenen Kapitals. Statt aber nun zu untersuchen, ob und wie sich diese Abweichungen aus dem Wertgesetz entwickeln lasten, stürzt sich Malthus in die alte Konfusion, indem er den Wert einmal von der zur Herstellung der Ware notwendigen Arbeitszeit abhängen läßt, zugleich aber als seinen Maßstab die Menge Arbeit bezeichnet, die sie „kommandieren“, d. h. kaufen kann.

Mit der Darstellung und Kritik von Malthus politischer Oekonomie beginnt der 3. Band der Theorien, der die Auflösung und zugleich Fortbildung der Ricardoschen Theorien zum Gegenstands hat.

Um der sich aus Ricardos Wertlehre ergebenden Schwierigkeit zu entgehen, daß die Arbeit den ganzen Wert für sich in Anspruch nehmen musse, den sie geschaffen hat, erklärt Malthus den Profit nicht mehr als einen Teil des durch die Arbeit geschaffenen Wertes, sondern all einen Aufschlag auf den Preis, der sich beim Austausch realisiert. Nun ist aber sofort klar, daß durch einen solchen Aufschlag kein Kapitalist gewinnen kann, solange er als Käufer ebensoviel Aufschlag bezahlen muß wie er als Verkäufer gewinnt. Es gibt aber eine Klasse von Verkäufern, die nicht in der Lage sind, ihre Ware über den Wert zu verkaufen, und das sind die Verkäufer von Arbeitskraft, die Arbeiter, die durch das unerbittliche Bevölkerungsgesetz stets auf das Lebensminimum herabgedrückt werden. Dieses Naturgesetz, für das „niemand nichts kann“, ist also die Ursache, daß der Profit der Unternehmer sich realisieren läßt. Doch besteht da noch die Schwierigkeit, daß die Arbeiter gerade infolge ihrer Notlage nicht imstande sind, das um den Profit verteuerte Produkt zu kaufen. Es ist daher eine weitere Klasse von Käufern notwendig, die kaufen, ohne zu produzieren, und diese Klasse bietet sich in den Grundbesitzern und der Staatskirche dar, die dem Herzen Malthus so nahe stehen. Die Ersprießlichkeit dieser Parasiten, ihre wirtschaftliche Notwendigkeit, ist somit bewiesen.

An dieser ganzen Argumentation ist in der Tat soviel richtig, daß die Konkurrenz die Kapitalisten fortwährend zur Steigerung ihrer Produktion zwingt, zur Erzeugung von Werten, die weder sie selbst noch die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter zurückkaufen konnen. Daher die Notwendigkeit von Rentnern, Steuern, Kapitalexport u. s. w., die alle doch die Wiederkehr von Absatzstockungen, von Krisen nicht verhindern können. Malthus hat denn auch deren Notwendigkeit im Gegensatz zu Ricardo erkannt, der in ihnen nur gelegentliche Störungen der gesunden Produktion sah.

Weiter als Malthus geht Torrens in der Verleugnung des Ricardoschen Wertgesetzes. Er läßt dieses nur für das Handwerk gelten, während im entwickelten kapitalistischen System nicht nur die lebendige, sondern auch die akkumulierte Arbeit den Wert bestimmt. Er spricht damit nur den oberflächlichen Schein, der den Profit als natürliches Ergebnis des gesamten aufgewendeten Kapitals erwartet, in doktrinärer Form aus.

Noch weiter in der gleichen Richtung geht Bailey, der das Arbeitswertgesetz ganz aufgibt und den Wert überhaupt nur mehr als ein Verhältnis gelten lasten will. Ricardo und seine Schüler hatten sich die Waren in bestimmten Quantitäten austauschen lasten, weil diese gleichen Wert enthielten. Bailey schreibt ihnen nur deshalb gleichen Wert zu, weil sie sich gegeneinander austauschen. Hier tritt also die Richtung in den Vordergrund, die bei Malthus erst leise angedeutet war, als er den Wert der Waren an der Menge Arbeit maß, die sie kaufen, gegen die sie sich also, austauschen konnten. Bailey vermittelt so den Uebergang von Malthus zur modernen bürgerlichen Oekonomie, die ihren theoretischen Ausdruck in der Grenznutzentheorie findet. Indem Bailey den Wert der Waren nicht mehr durch die in ihnen enthaltene Arbeit bestimmt sein läßt, sondern durch den „Geist“, durch da» Bewusstsein der Austauschenden, zeigte er den Weg, auf dem die heutige professorale Wissenschaft dazu gelangen sollte, die alte abgebrauchte Vulgarökonomie mit einem neuen Mäntelchen zu behängen und „psychologisch zu vertiefen“. Marx hat im vorliegenden Bande der Theorien diese Vulgarökonomie psychologisch erklärt, zu widerlegen brauchte er sie nicht. Wie recht er aber mit seinen Einwänden gegen Baileys Versuch gehabt hat, dem Wert alle Objektivität abzusprechen und ihn in ein reines Verhältnis umzudichten, das beweist gerade jener moderne psychologisch-subjektivistische Ableger der Vulgarökonomie besonders schlagend. Denn wie Marx schon bei der Kritik Bailey vorausgesagt hat, ist es ihr unmöglich, das Phänomen des Geldes zu erklären und ist sie außerstande, die Bewegung der Werte auch nur aufzufassen; darin aber war wenigstens Bailey konsequenter als die meisten seiner neueren Gesinnungsgenossen, daß er selbst die Vergleichung von Werten zu verschiedenen Zeiten für unmöglich und daher unsinnig erklärte. Tatsächlich geht auch gerade aus dieser Vergleichung des Wertes zum Beispiel des Produktes einer nationalen Industrie, am Anfang und Ende eines Jahres mit der größten Deutlichkeit und Klarheit hervor, daß nur die Arbeit es sein kann, die den bereits vorhandenen Werk erhalten und den neuen geschaffen hat.

So ist denn auch der Fortgang der wirtlich wissenschaftlichen Oekonomie nur in der Weiterentwickelung der Ricardoschen Werttheorie zu suchen.

Einen wesentlichen Fortschritt in dieser Richtung bedeutet Ramsay, der zwar sich ähnlich wie Torrens durch das Phänomen der gleichen Profitrate zu dem Glauben verleiten ließ, nicht nur die lebendige Arbeit erzeuge Wert, sondern auch das Kapital selbst, der aber doch zur Klärung der Begriffe dadurch beitrug, daß er zuerst die für die ökonomische Theorie so bedeutungsvolle und fruchtbare Unterscheidung zwischen konstantem und variablem Kapital tatsächlich traf, wenn ihm auch noch immer dieser, für die Wertproduktion wesentliche Unterschied mit dem der Zirkulationssphäre entnommenen Gegensatz zwischen fixem und zirkulierendem Kapital zusamnrenfloß. Aber unter dem letzteren begreift er eben nur den Arbeitslohn, also das, was Marx später, das variable Kapital genannt hat. Dadurch wurde es ihm auch möglich, zuerst den schon lange dunkel gefühlten Gegensatz zwischen der Bestimmung des Profits durch die in einem speziellen Betrieb aufgewendete Arbeit und durch das gesamte aufgewendete Kapital schärfer hervorzuheben. Allerdings löste er dieses Problem noch nicht, aber es ist sein Verdienst, seiner klaren Erkenntnis wesentlich vorgearbeitrt zu haben.

Dieser Lösung selbst kommt Cherbuliez nahe, indem er als erster den von der ganzen Nation erzeugten Mehrwert durch die Konkurrenz auf die einzelnen Kapitalisten nach Maßgabe der von ihnen in der Produktion vorgeschossenen Kapitalien verteilt werden läßt, und so die Gleichheit der Profitrate auf Grundlage des Wertgesetzes erklärt. Was sich bei ihm erst in unklaren und noch vielfach irrigen einzelnen Ausführungen angedeutet findet, das sollte erst im dritten Bande von Marx Kapital in systematischer Ausarbeitung und voller Klarheit hervortreten.

Bildet so Cherbuliez das Mittelglied zwischen der Ricardoschen Schule und der ökonomischen Theorie von Karl Marx, so finden wir bei Richard Jones nicht nur eine sehr interessante Fortbildung der Grundrententheorie Ricardos, sondern auch bedeutungsvolle Ansätze zur materialistischen Geschichtsauffassung. Schon bei Ramsay war, wenn auch noch dunkel, der Gedanke aufgetaucht, daß der Kapitalismus nur eine vorübergehende Form der Güterproduktion sei. Bei Jones tritt diese historische Auffassung scharf hervor, und besonders in seinem Textbook von 1852 finden wir bereits Formulierungen einer Geschichtsauffassung, die sich mit der Marxschen sehr nahe berührt. So zitirrt Marx zum Beispiel folgende Stelle:

„Große politische, soziale, moralische und intellektuelle Veränderungen begleiten die Aenderungen in der ökonomischen Organisation der Gemeinwesen und in den Kräften und Mitteln, seien sie reichlich oder dürftig, mit denen die Aufgaben der Produktion aufgeführt werden. Diese Veränderungen üben notwendigerweise einen beherrschenden Einfluß auf die verschiedenen politischen und sozialen Elemente der Bevölkerung aus, in deren Schoße jene Aenderungen vor sich gehen. Dieser Einfluß erstreckt sich auf den intellektuellen Charakter, auf Gewohnheiten, Gebrauche, Sitten und das Glück der Nationen.“

Die konsequente Fortbildung der klassischen bürgerlichen Oekonomie führte also sowohl zur ökonomischen als zur historischen Theorie von Karl Marx, während die bürgerliche Oekonomie ihre klassischen Vorgänger längst verleugnet hat und für diese höchstens noch ein kühles historisches Interesse aufbringt. Es ist daher, auch abgesehen von seinem überragenden Genie, kein Zufall, daß er die weitaus beste Darstellung ihrer Geschichte geliefert hat. Sie spiegelt seinen eigenen geistigen Werdegang. In der Streitschrift gegen Proudhon Das Elend der Philosophie von 1847 steht Marx ökonomisch noch fast ganz auf dem Standpunkt Ricardos, er macht keinen Unterschied zwischen Arbeit und Arbeitskraft, zwischen fixem und konstantem Kapital. In den 1861–63 verfaßten Theorien über den Mehrwert finden wir bereits sein, ganzes System in allen Teilen aus- und durchgearbeitet. Das Denken, das ihn dazu führte, wurde sicherlich durch das genaue und eingehende Strüdium der Autoren nach Ricardo wesentlich angeregt und gefördert, und so wurde zugleich auch dieses Studium zu mehr als einem historischen, es bedeutete eines der wichtigsten Mittel der Selbstverständigung, und daher rührt das innige Verhältnis zu den behandelten Autoren, das dem Leser der Theorien überall sympathisch entgegentritt. Gerade der letzte Band ist in dieser Hinsicht der interessanteste. Bietet er auch nicht so viel neue Erkenntnisse wie der zweite, der besonders auf die Theorien der Grundrente und der Krisen ganz neues Licht warf, so fuhrt er uns mehr als jeder anders unmittelbar in die geistige Werkstatt der Oekonomie, wir sehen zu, wie sich die Widersprüche des Ricardoschen Systems allmählich entwickeln, und wie sich zugleich ihre Losung im System von Karl Marx vorbereitet.

Lange aber bevor die klassische Oekonomie selbst in die sozialistische Theorie einmündete, wurden ihre Ergebnisse zur Begründung sozialistischer Forderungen herangezogen. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung, welche Marx ebenfalls im dritten Bands seiner Theorien bespricht, ist Thomas Hodgskin.

Doch ist dieser Mann, sein Werk und Lessen Kritik durch Marx so wichtig und interessant, daß wir ihnen eine besondere Besprechung widmen vollen.

Gustav Eckstein


Zuletzt aktualisiert am 21. Februar 2023