Antonio Gramsci


Arbeiterdemokratie

(21. Juni 1919)


Ohne Unterschrift; geschrieben in Zusammenarbeit von Antonio Gramsci und Palmiro Togliatti, L’Ordine Nuovo, 21. 6. 1919, Jg. I, Nr. 7.
In: Antonio Gramsci, L’Ordine Nuovo 1919–1920, Turin 1954, S. 10–13.
Ins Deutsche übersetzt von Maria-Louise Döring.
In: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980, S. 38–42.
Transkription: Achim Bigus.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Für jeden Sozialisten, der ein starkes Gefühl für die historische Verantwortung hat, die auf der arbeitenden Klasse und der Partei lastet, die das kritische und handelnde Bewusstsein von der Mission dieser Klasse ist, erwächst heute eine quälende Frage.

Wie können die ungeheuren gesellschaftlichen Kräfte, die der Krieg entfesselt hat, beherrscht werden? Wie können sie diszipliniert und wie kann ihnen eine politische Form gegeben werden, die die Kraft in sich hat, sich normal zu entwickeln und sich kontinuierlich zu ergänzen, bis sie zum Gerüst des sozialistischen Staates wird, in dem sich die Diktatur des Proletariats verkörpern wird? Wie kann man eine Verbindung von der Gegenwart zur Zukunft schaffen, wobei die dringenden Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden müssen und zugleich nutzbringend daran gearbeitet wird, um die Zukunft zu gestalten und sie „vorwegzunehmen“?

Diese Schrift soll ein Ansporn zum Nachdenken und Handeln sein; sie soll eine Aufforderung für die besten und bewusstesten Arbeiter sein zu überlegen, wie jeder innerhalb seines Kompetenzbereiches und bei seiner eigenen Tätigkeit an der Lösung des Problems mitarbeiten kann, indem er die Aufmerksamkeit der Genossen und der Verbände auf dessen Inhalt lenkt. Nur aus einer gemeinsamen und solidarischen Aufklärungsarbeit, aus Überzeugungs- und gegenseitiger Erziehungsarbeit wird die konkrete Aufbauarbeit entstehen.

Potentiell besteht der sozialistische Staat schon in den Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens, die für die ausgebeutete arbeitende Klasse charakteristisch sind. Diese Einrichtungen miteinander zu verbinden, sie zu koordinieren und sie in einer Abstufung von Kompetenzen und Befugnissen einzuordnen, sie bei Beachtung ihrer notwendigen Unabhängigkeit und ihres Aufbaus stark zu konzentrieren bedeutet, schon jetzt eine echte Arbeiterdemokratie in wirksamer und aktiver Gegenüberstellung zum bürgerlichen Staat zu schaffen, die bereits jetzt darauf vorbereitet wird, den bürgerlichen Staat in allen seinen Hauptfunktionen bei der Verwaltung und Beherrschung des Nationalreichtums abzulösen.

Die Arbeiterbewegung wird heute von der sozialistischen Partei und dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund geführt. Die Ausübung der gesellschaftlichen Macht der Partei und des Gewerkschaftsbundes erfolgt gegenüber den werktätigen Massen teils indirekt kraft ihres Prestiges und der Begeisterung, teils durch autoritären Druck, ja sogar durch Untätigkeit. Die Sphäre des Prestiges der Partei erweitert sich täglich, sie zieht bis jetzt noch nicht erforschte Schichten des Volkes heran, sie ruft bei Gruppen und Individuen, die bis jetzt abseits vom politischen Kampf standen, Zustimmung und den Wunsch hervor, nutzbringend für den Anbruch des Kommunismus zu arbeiten. Es ist notwendig, diesen unorganisierten und chaotischen Energien Gestalt und dauerhafte Ordnung zu geben, sie zu absorbieren, zu gestalten und zu potenzieren und aus der Klasse des Proletariats und Halbproletariats eine organisierte Gesellschaft zu machen, die sich erzieht, die Erfahrungen sammelt und sich ein Verantwortungsbewusstsein für die Pflichten aneignet, die den an die Macht gelangten Klassen obliegen.

Die Sozialistische Partei und die Berufsgewerkschaften können die gesamte werktätige Klasse nur durch eine Jahre und Jahrzehnte andauernde Kleinarbeit erfassen. Sie werden nicht unmittelbar mit dem proletarischen Staate identisch sein; in der Tat existieren sie – unabhängig vom Staat – in den kommunistischen Republiken auch weiterhin als vorantreibende Einrichtung (die Partei) oder zur Kontrolle und anteiligen Durchführung der Aufgaben (die Gewerkschaften). Die Partei muss auch weiterhin das Organ der kommunistischen Erziehung sein, der Herd des Glaubens, der Bewahrer der Theorie, die höchste Macht, die die organisierten und geordneten Kräfte der Arbeiter- und Bauernklasse in Übereinstimmung bringt und zu ihrem Ziel führt. Gerade um diese Aufgabe gründlich durchzuführen, kann die Partei nicht die Tür für eine Invasion neuer Mitglieder aufreißen, die nicht an Verantwortung und Disziplin gewöhnt sind.

Aber das gesellschaftliche Leben der werktätigen Klasse ist reich an Einrichtungen, es gliedert sich in vielfältige Aktivitäten. Diese Einrichtungen und Aktivitäten muss man nun entwickeln, komplex organisieren und in ein breitgefächertes und beweglich gegliedertes System stellen, das die gesamte werktätige Klasse aufnimmt und ordnet.

Der Betrieb mit seinen Inneren Kommissionen [1], die sozialistischen Klubs und die Bauerngemeinschaften sind die Zentren des proletarischen Lebens, in denen direkt gearbeitet werden muss.

Die Inneren Kommissionen sind Organe der Arbeiterdemokratie, die man von den Einschränkungen befreien muss, die ihnen von den Unternehmern auferlegt wurden, und denen man neues Leben und neue Energie geben muss. Heute schränken die Inneren Kommissionen die Macht des Kapitalisten in der Fabrik ein und üben Schieds- und Disziplinarfunktionen aus. Nach ihrer Entwicklung und Qualifizierung werden sie morgen die Organe der proletarischen Macht sein müssen, die den Kapitalisten in allen seinen Leitungs- und Verwaltungsfunktionen ablöst.

Schon von jetzt an müssten die Arbeiter an die Wahl umfassender Delegiertenversammlungen gehen, die unter den besten und bewusstesten Genossen ausgewählt werden und unter den Losungen „Alle Macht in den Betrieben den Betriebskomitees“ und „Alle Macht im Staat den Arbeiter- und Bauern-Räten“ stattfinden sollen.

Ein weites Feld für konkrete revolutionäre Propaganda würde sich für die in der Partei und den Klubs des Stadtbezirks organisierten Kommunisten eröffnen. Im Einverständnis mit den städtischen Parteisektionen müssten die Klubs eine Erfassung der Arbeiter des Gebiets durchführen, sie müssten der Sitz des Rates der Betriebsdelegierten des Stadtbezirkes werden, das Zentrum, das alle proletarischen Energien des Stadtbezirks miteinander verknüpft und konzentriert. Das Wahlsystem könnte entsprechend der Größe des Betriebes variieren; man müsste jedoch versuchen, auf fünfzehn in Kategorien unterteilte Arbeiter einen Delegierten zu wählen (wie man es in den englischen Betrieben macht), um damit bei stufenweisen Wahlen ein Komitee von Fabrikdelegierten aufzustellen, welchem Vertreter des gesamten Arbeitskomplexes (Arbeiter, Angestellte; technische Kräfte) angehören. Im Komitee des Stadtbezirks müsste man darauf orientieren, auch Delegierte anderer Kategorien von Werktätigen einzubeziehen, die im Stadtbezirk wohnen: Kellner, Kutscher, Straßenbahner, Eisenbahner, Straßenkehrer, Privatangestellte, Verkäufer, usw.

Das Stadtbezirkskomitee müsste der legitime und repräsentative Ausdruck der gesamten Arbeiterklasse im Stadtbezirk sein, es müsste in der Lage sein, die Wahrung einer Disziplin zu garantieren, deren Gewalt ihm spontan übertragen wurde, und imstande sein, die sofortige und vollständige Arbeitsniederlegung im ganzen Stadtbezirk anzuordnen.

Die Stadtbezirkskomitees sollten zu Stadtbezirkskommissariaten erweitert werden, die von der Sozialistischen Partei und von den Berufsverbänden kontrolliert werden und ihrer Disziplin unterworfen sind.

Ein solches System der Arbeiterdemokratie (durch entsprechende Bauernorganisationen ergänzt) würde den Massen Gestalt und dauerhafte Ordnung geben, wäre eine großartige Schule für politische und Verwaltungserfahrung und würde die Massen bis zum letzten Mann einbeziehen, sie an Zähigkeit und Ausdauer gewöhnen sowie daran, sich als Streitmacht im Felde zu betrachten, die einen festen Zusammenhalt braucht, wenn sie nicht aufgerieben und versklavt werden will.

Jede Fabrik würde ein oder mehrere Regimenter dieser Armee mit ihren Korporalen, ihren Verbindungsdiensten, mit ihrem Kommando stellen, Gewalten, die durch freie Wahl übertragen und nicht autoritär aufgezwungen sind. Durch Versammlungen im Betrieb und durch die ständige Propaganda- und Überzeugungstätigkeit, die von den bewusstesten Mitgliedern entfaltet wird, würde man eine radikale Verwandlung der Arbeiterpsychologie erreichen; die Masse würde besser vorbereitet und zur Machtausübung befähigt werden, und es würde sich ein konkretes und wirksames Bewusstsein von den Pflichten und Rechten des Genossen und des Werktätigen verbreiten, das spontan aus der lebendigen und historischen Erfahrung entstanden ist.

Wir haben es schon gesagt: Diese schnell hingeworfenen Notizen haben nur das Ziel, zum Nachdenken und zur Aktion anzuspornen. Jeder Aspekt des Problems verdiente es, breit und tiefgehend behandelt zu werden, dazugehörige Erläuterungen und entsprechende Ergänzungen zu erhalten. Aber die konkrete und vollständige Lösung der Probleme des sozialistischen Lebens· kann nur aus der kommunistischen Praxis kommen: aus der gemeinsamen Diskussion, die das unterschiedliche Bewusstsein der Menschen verändert, es gleichstimmt, einander annähert und es mit aktiver Begeisterung erfüllt. Die Wahrheit zu sagen, zusammen zur Wahrheit zu gelangen, heißt, eine kommunistische revolutionäre Aktion durchzuführen. Die Formel „Diktatur des Proletariats“ muss aufhören, eine bloße Formel zu sein, eine Gelegenheit, revolutionäre Phrasen zu dreschen. Wer das Ziel erreichen will, muss auch die Mittel dazu anwenden wollen. Die Diktatur des Proletariats ist die Errichtung eines neuen, typisch proletarischen Staates, in dem die institutionellen Erfahrungen der unterdrückten Klasse zusammenfließen, in dem das gesellschaftliche Leben der Klasse der Arbeiter und Bauern zu einem ausgedehnten und stark organisierten System wird. Diesen Staat improvisiert man nicht: Die bolschewistischen Kommunisten haben acht Monate daran gearbeitet, die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ zu verbreiten und sie zu konkretisieren. Und doch waren die Sowjets den russischen Arbeitern schon seit 1905 bekannt. Die italienischen Kommunisten müssen aus der russischen Erfahrung lernen, um Zeit und Mühe zu sparen: Das Werk des Wiederaufbaus wird viel Zeit und viel Arbeit an sich erfordern, so dass ihm jeder Tag und jede Tat gewidmet werden müssten.
 

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Fußnote

1. Die „Inneren Kommissionen“ in den Turiner Betrieben wurden während des ersten Weltkrieges von den Unternehmern und den reformistischen Gewerkschaftsführern dazu mißbraucht, im Interesse der Erhöhung der Rüstungsproduktion mit den Betriebsleitungen zusammenzuarbeiten. Auf Grund der Propaganda der um Gramsci und die Wochenschrift L’Ordine Nuovo gescharten Gruppe von Sozialisten wurden sie zu Kampforganen der Arbeiterklasse. Die Betriebskomitees wurden aus Delegierten der verschiedenen Betriebsabteilungen gebildet.


Zuletzt aktualisiert am 20. April 2020