Antonio Gramsci


Die historische Funktion der Stadt

(17. Januar 1920)


Quelle: Christian Riechers, (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.49-53.
Zuerst veröffentlicht in Ordine Nuovo, 17. Januar 1920.
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Die kommunistische Revolution wird von der Arbeiterklasse vollzogen, vom Proletariat im marxistischen Sinne, von der gesellschaftlichen Schicht, die sich aus den städtischen Arbeitern rekrutiert und von der Fabrik und dem industriellen kapitalistischen System geprägt wurden. So wie die Stadt, als industrieller Organismus und als Organismus zivilisierten Lebens, das Instrument der ökonomischen Kraft des Kapitalismus und der bürgerlichen Diktatur gewesen ist, so wird sie auch das Instrument der ökonomischen Macht des Kommunismus und der proletarischen Diktatur sein. Die Diktatur des Proletariats wird diesen großartigen Apparat der industriellen und intellektuellen Produktion, diese Antriebskraft der Zivilisation vor dem drohenden Zusammenbruch retten. In den Städten, deren Bedeutung gegenüber dem Land immer mehr schwindet, zeigt sich die fortschreitende Auflösung der bürgerlichen Macht, die durch den imperialistischen Krieg und seine Folgen korrumpiert wurde: die Menschen haben Hunger; und angesichts dieses elementaren Bedürfnisses, das nur vom Land befriedigt werden kann, verlieren alle geschichtlichen und geistigen, in der Stadt konzentrierten Errungenschaften ihren Wert und lösen sich in ein Nichts auf. Die proletarische Diktatur wird die Städte vor dem Zusammenbruch retten; sie wird den Bürgerkrieg auf dem Lande entscheidend beeinflussen und die breitesten Schichten der armen Bauern an die Stadt binden; sie wird verhindern, daß diese bewundernswerte Organismen der Zivilisation und des Fortschritts, die modernen Städte, durch die Landbesitzer, die Wucherer des Landes, die die moderne industrielle Zivilisation in undifferenzierter Weise hassen, Stück für Stück ausgeplündert werden.

In der Entwicklung der kommunistischen Revolution wird sich in Italien die gleiche Situation wiederholen wie im Risorgimento oder während der bürgerlichen Revolution; die wirksamen geschichtlichen Kräfte sind heute wie damals vor allem in den beiden Städten Turin und Mailand vertreten, und zwischen den beiden Städten herrschen heute ähnliche Beziehungen. Das Risorgimento hatte seinen Stützpunkt in Mailand. In Mailand und in der Lombardei ballten sich bürgerliche Energien zusammen, die nach Expansion drängten und für die, als Klasse, die Organisation Italiens in einem einheitlichen System eine existenzielle Notwendigkeit war: Einheit der Zölle, der Gewichte und Maße, des Geldes, des Transports, der Seeverbindungen, der Steuern, des bürgerlichen Gesetzbuches. Aber das Mailänder Bürgertum wäre nie fähig gewesen, einen bürgerlichen Staat zu schaffen, nie fähig, sich vom Joch der österreichischen Herrschaft zu befreien: dazu genügte nicht die Barrikade, nicht der individuelle Heroismus, und genügten nicht die Cinque giornate, dazu genügte nicht nur die liberale Stadt Mailand, die von ihrem Österreich-freundlichen Hinterland erdrückt wurde. Die entscheidende geschichtliche Kraft, die einen italienischen Staat zu gründen in der Lage war und die nationale bürgerliche Klasse vereinen konnte, war Turin.

Die Bürger der Provinz Piemont waren nicht so reich und so draufgängerisch wie die Lombarden, aber sie waren diszipliniert, unter einer staatlichen Macht vereint, verfügten über eine eiserne Verwaltungs- und Militärtradition, und durch die Intelligenz ihrer Politiker war es ihnen gelungen, sich in das System des europäischen Gleichgewichts einzuschalten. Der piemontesische Staat verfügte über einen soliden Eroberungsapparat und konnte dadurch die Neubildung Italiens bestimmen, gab dem neuen Staat einen militärischen und administrativen Kern und dem italienischen Volk eine organische Form, seine Form. Turin war das Nervenzentrum dieses mächtigen piemontesischen Systems, Turin vereinte die Bevölkerung Piemont, und diese Stadt war die Schmiede der italienischen kapitalistischen Revolution.

Heute ist Turin keine ausgesprochen kapitalistische Stadt, sondern eine ausgesprochen industrielle, eine ausgesprochen proletarische Stadt. Die Arbeiterklasse in Turin ist festgefügt, diszipliniert, differenziert wie in wenigen Städten der Welt. Turin ist eine einzige Fabrik: seine arbeitende Bevölkerung ist homogen und ist durch die industrielle Produktion miteinander verwachsen.

Eben wegen dieser Einheitlichkeit, gerade weil es durch die Erfahrungen des Klassenkampfes ein lebhaftes Bewußtsein dieser seiner Homogenität, seines festen Gefüges, erworben hatte, war das Turiner Proletariat in der Lage, derart viele Fortschritte bei der Organisation der Massen zum Sowjet-Typ zu machen. Und ein ähnliches Bewußtsein kann auch die gesamte arbeitende Bevölkerung Piemonts erwerben, da auch Piemont – durch seine Tradition von zäher, geduldiger Arbeitsamkeit, durch seinen materiellen und kulturellen, in langen Jahrhunderten politischer Unabhängigkeit und praktischer Selbstregierung akkumulierten Reichtum – einen ausgeprägt ökonomischen Organismus darstellt, einen autonomen ökonomischen Organismus, der fast den gesamten Reichtum, den er konsumiert, auch selbst produziert, und soviel exportiert, daß er nicht allein dem nationalen, sondern auch dem europäischen Leben unentbehrlich ist.

Dieses festgefügte und disziplinierte System industrieller und landwirtschaftlicher Produktion, das vom Kapitalismus genügend ausgestattet ist, um politisch die ganze Nation zu beherrschen (das Phänomen Giolitti ist im Grunde nichts anderes als eine Konsequenz des blinden Vertrauens des italienischen Kapitalismus in die Regierungs- und Herrschaftstradition der piemontesischen Bourgeoisie), nur dieses System kann das Modell staatlicher Organisation liefern, das die ganze Nation umschließt und die Diktatur des Proletariats verkörpert. Der Umstand des ökonomischen Zusammenbruchs Italiens und seine Armut an Naturschätzen werden vom Proletariat, wenn es an die Macht kommt, erhebliche Anstrengungen fordern, damit die Produktivität angehoben wird. Eine Diktatur der Arbeiter wird in Italien nur regierungsfähig und bis zum Kommunismus entwicklungsfähig sein, wenn es der Arbeiter- und Bauernklasse gelingt, sich in einem festgefügten System von Räten zu organisieren, die sich des nationalen Produktions- und Austauschapparats bemächtigen, ein ausgeprägtes Gefühl für ihre ökonomische Verantwortung bekommen und den Arbeitern ein starkes und waches Bewußtsein geben, daß sie Produzenten sind. Die Arbeiterklasse findet as Modell für den nationalen proletarischen ökonomischen Staat in dem regionalen ökonomischen System von Piemont: Es produziert viele Lebensrnittel (Korn, Reis, Kartoffeln, Eßkastanien, Wein), ist reich an natürlicher Elektroenergie, reich an vielfältigen Industrien (Lebensmittelindustrien, Textil- und Bekleidungsindustrie, Metallindustrie, Bauindustrie, Holz-, Gummi-, Leder-, Chemische Industrie etc.).

Wegen ihrer besonderen Struktur und des definierten, durch die kapitalistische Produktionsweise geformten Proletariats, sind Turin und Piemont dazu berufen, in der kommunistischen Revolution und bei der Gründung des Arbeiterstaates die gleiche Funktion auszuüben, die sie bei der kapitalistischen Revolution und bei der Begründung des bürgerlichen italienischen Staates 1866 innehatten.

Aber in der kommunistischen Revolution wird auch Mailand ein Schwerpunkt der Bewegung sein. Die größten finanziellen Kräfte der Bourgeoisie sind in Mailand versammelt, die schwierigsten proletarischen Erfahrungen werden in Mailand gemacht werden müssen. Die riesige Fabrik des kapitalistischen Profits, der bürgerliche Staat, hat dort ihr vitales Zentrum. Von Mailand gehen tausende und Millionen Fäden aus, verteilen sich über das gesamte Territorium der Nation und unterwerfen die Arbeit der Arbeiter und Bauern den Panzerschränken: die kapitalistische Diktatur kann vom Proletariat nur unterdrückt werden, wenn es sich der Bank- und Handelszentralen in Mailand bemächtigt und sie in Instrumente der ökonomischen und politischen Macht des Proletariats umwandelt. Kommunistische Revolution in Mailand bedeutet die kommunistische Revolution Italiens, weil Mailand die eigentliche Hauptstadt der bürgerlichen Diktatur ist.

Die Giustizia, das Wochenblatt aus Reggio Emilia, hat zu Nutzen und Frommen der Konterrevolution einen Abschnitt des Artikels von J. Wanin abgedruckt und kommentiert, der im Ordine Nuovo vom 6.-13. Dezember erschienen war. Es heißt da: „Abgesehen von seltenen Ausnahmen besitzen die kapitalistischen Länder heute einen derart zentralisierten Staatsapparat, daß eine politische Revolution nur als eine Enthauptung dieses Apparates konzipiert werden kann: die Revolution muß in den Hauptstädten stattfinden, wenn sie nicht untergehen will.“ Die Giustizia interessiert sich für Rom als Ausnahme, aber nicht, um den Arbeitern eine Lösung des Problems anzubieten, sondern um sie zu entmutigen, um zu versuchen, sie von der Unmöglichkeit einer italienischen Revolution zu überzeugen, eben weil die Hauptstadt „keine Industriestadt ist und keine proletarischen Wohngebiete sie umgeben“. Aber in Wirklichkeit muß der italienische Staat in Mailand und nicht in Rom enthauptet werden, weil der effektive kapitalistische Regierungsapparat des Landes nicht in Rom, sondern in Mailand seinen Sitz hat. Rom ist die bürokratische Hauptstadt; in Rom muß die proletarische Diktatur nicht gegen die ökonomische Macht der Bourgeoisie, sondern nur gegen die Sabotage der Bürokraten kämpfen: die Rationierung der Lebensmittel und eine gute Truppe bewaffneter Arbeiter werden in Rom der Regierung der italienischen Sowjets den Verwaltungsapparat und die ausreichende Sicherheit verschaffen, um die notwendige Verlegung der bürokratischen Hauptstadt in die ökonomische Hauptstadt durchzuführen. Rom als Stadt hat keine Funktion im gesellschaftlichen Leben Italiens; es wird das harte Gesetz des Arbeiterstaates gegen die Parasiten zu spüren bekommen.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008