Antonio Gramsci


Gewerkschaften und Räte

(12. Juni 1920)


Quelle: Christian Riechers, (Hrg.): Antonio Gramsci, Philosopie der Praxis, Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1967, S.68-72.
Ursprünglich vewröffentlicht in Ordine Nuovo, 12. Juni 1920.
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Die Gewerkschaft ist nicht die eine oder andere Definition der Gewerkschaft: die Gewerkschaft wird zu einer bestimmten Definition und nimmt eine bestimmte geschichtliche Gestalt an, denn die Kräfte und der Wille der Arbeiterklasse, die sie konstituieren, geben ihr jene Richtung und ihrer Aktion jenes Ziel, die durch die Definition gegeben sind. Objektiv ist die Gewerkschaft die Form, die im kapitalistischen Regime die Ware Arbeit annimmt und nur annehmen kann, wenn sie sich organisiert, um den Markt zu beherrschen: diese Form besteht in einem Amt; es setzt sich aus Funktionären zusammen und Technikern der Organisation (falls sie Techniker sind), also Spezialisten (falls sie Spezialisten sind) in der Kunst, die Kräfte der Arbeiter so zu konzentrieren und zu führen, daß gegenüber der Macht des Kapitals ein für die Arbeiterklasse günstiges Gleichgewicht hergestellt wird. Die Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisation wird durch folgende Tatsachen charakterisiert:

  1. die Gewerkschaft umfaßt eine immer größere Zahl von Arbeitern, das heißt, sie erfaßt mit der Disziplin ihrer Form immer mehr Arbeiter;
  2. die Gewerkschaft konzentriert ihre Form, gestaltet sie allgemeingültiger, um schließlich die Macht der Disziplin und der Bewegung einer Zentralbehörde zu übertragen: die Gewerkschaft trennt sich also von den Massen, die sie diszipliniert hat, entzieht sich dem Spiel der Launen, Anwandlungen und Unbeständigkeiten der großen aufrührerischen Massen. Das befähigt die Gewerkschaft, Verträge abzuschließen, Verpflichtungen einzugehen: sie zwingt den Unternehmer, in seinem Verhältnis zum Arbeiter eine Legalität anzuerkennen, eine Legalität, die durch das Vertrauen des Unternehmers in die Zahlungsfähigkeit der Gewerkschaft bedingt ist, durch das Vertrauen des Unternehmers in die Fähigkeit der Gewerkschaft, die Arbeitermassen zur Respektierung der vertraglichen Verpflichtungen anzuhalten.

Eine industrielle Legalität durchgesetzt zu haben, ist ein großer Erfolg der Arbeiterklasse; aber es ist nicht die letzte und entscheidende Eroberung: die industrielle Legalität hat die materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verbessert, doch sie ist nicht mehr als ein Kompromiß, der notwendig zu ertragen sein wird, solange die Kräfteverhältnisse für die Arbeiterklasse ungünstig sind. Wenn die Funktionäre der gewerkschaftlichen Organisation die industrielle Legalität als einen notwendigen, aber nicht dauerhaften Kompromiß betrachten, wenn sie alle Möglichkeiten der Gewerkschaften einsetzen, um die Kräfteverhältnisse für die Arbeiterklasse günstiger zu gestalten, wenn sie die nötige, umfassende Arbeit geistiger und materieller Vorbereitung in Angriff nehmen, damit die Arbeiterklasse in einem bestimmten Augenblick eine siegreiche Offensive gegen das Kapital eröffnen und es ihrem Gesetz unterwerfen kann – dann ist die gewerkschaftliche Disziplin eine revolutionäre Disziplin, selbst wenn sie sich darum bemüht, daß die Arbeiter die industrielle Legalität respektieren.

Man muß die Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Fabrikrat unter diesem Gesichtspunkt betrachten, das heißt, wie Natur und Wert der industriellen Legalität beurteilt werden.

Der Fabrikrat ist die Negation der industriellen Negation, er hat die Tendenz, sie in jedem Augenblick zu vernichten, er arbeitet unaufhörlich darauf hin, daß die Arbeiterklasse die industrielle Macht erobert, die industrielle Macht von ihr ausgeht. Die Gewerkschaft ist ein Element der Legalität und muß sich vornehmen, daß diese von ihren Mitgliedern respektiert wird. Die Gewerkschaft ist gegenüber den Industriellen verantwortlich, aber nur soweit sie ihren Mitgliedern gegenüber verantwortlich ist: sie garantiert dem Arbeiter und seiner Familie die Kontinuität von Arbeit und Lohn, und das heißt von Brot und Unterkunft. Der Fabrikrat tendiert aufgrund seiner revolutionären Spontaneität dahin, jeden Augenblick den Klassenkrieg zu entfesseln; die Gewerkschaft tendiert wegen ihrer bürokratischen Form dahin, die Entfesselung des Klassenkriegs nicht zuzulassen.

Die Beziehungen zwischen beiden Institutionen müssen zu einer Situation führen, in der nicht durch einen launischen Impuls des Fabrikrates die Arbeiterklasse zurückgeworfen wird und eine Niederlage erleidet. Das heißt, es muß eine Situation geschaffen werden, in der der Fabrikrat die Disziplin der Gewerkschaften anerkennt und sich zu eigen macht und in der der revolutionäre Charakter des Fabrikrates die Gewerkschaft beeinflußt und ein Reagens ist, das die Bürokratie und das gewerkschaftliche Funktionärstum auflockert.

Der Rat wird jederzeit aus der industriellen Legalität ausbrechen wollen: er repräsentiert die ausgebeutete, tyrannisierte, zu knechtischer Arbeit gezwungene Masse und tendiert deshalb dahin, jede Rebellion zu universalisieren, einem jedem seiner Machtakte Gewicht und entscheidende Tragkraft zu verleihen. Die Gewerkschaft ist eine mit der Legalität solidarische und für sie verantwortliche Behörde, sie wird dahin tendieren, die Legalität zu universalisieren und zu verewigen. Die Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Rat müssen zu den Bedingungen führen, die die Überwindung der Legalität und die Offensive der Arbeiterklasse in dem Augenblick ermöglichen, der für die Arbeiterklasse am günstigsten ist, in dem Augenblick, in dem die Arbeiterklasse jenes Minimum an Vorbereitungen erreicht hat, das für einen dauerhaften Sieg unumgänglich ist.

Die Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Rat dürfen ausschließlich in folgendem bestehen: die Mehrheit oder ein beträchtlicher Teil der Wähler des Rates sind gewerkschaftlich organisiert. Jeder Versuch, die beiden Institutionen in einem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis aneinander zu binden, kann nur zur Vernichtung beider führen.

Wenn die Auffassung, der Rat sei ein bloßes gewerkschaftliches Kampfinstrument, zu einer bürokratischen Disziplin und der Möglichkeit der direkten Kontrolle der Gewerkschaft über den Rat führt, so wird der Rat in seiner Eigenschaft als revolutionäre Expansion, und in seiner Eigenschaft als Form der realen Entwicklung der proletarischen Revolution steril, die spontan dahin tendiert, neue Weisen der Produktion, der Arbeit, der Disziplin zu schaffen, das heißt, die kommunistische Gesellschaft zu errichten. Da die Entstehung der Fabrikräte von der Position abhängt, die sich die Arbeiterklasse innerhalb der industriellen Produktion erobert hat, da der Rat eine geschichtliche Notwendigkeit der Arbeiterklasse ist, würde jeder Versuch, ihn der Gewerkschaft hierarchisch unterzuordnen, früher oder später zu einem Kontrast zwischen beiden Institutionen führen. Die Kraft des Rates gründet sich darauf, daß er dem Bewußtsein der Arbeitermasse entspricht, daß er eben dieses Bewußtsein der Arbeitermasse ist, die sich emanzipieren und ihre Freiheit, Geschichte zu schaffen, behaupten will: die ganze Masse nimmt am Wirken des Rates teil und spürt dabei, daß sie etwas ist. Am Gewerkschaftsleben nimmt eine äußerst begrenzte Anzahl der Organisierten teil; die wahre Kraft der Gewerkschaft liegt eben hierin, aber es liegt auch eine Schwäche darin, die nicht ohne äußerst gefährliche Risiken auf die Probe gestellt werden darf.

Wenn andererseits die Gewerkschaft direkt auf den Räten basierte, nicht um sie zu beherrschen, sondern um ihre höhere Form zu werden, so würde sich in der Gewerkschaft die Tendenz der Räte widerspiegeln, jederzeit die industrielle Legalität zu verlassen, jederzeit die entscheidende Aktion des Klassenkrieges zu entfesseln. Die Gewerkschaft würde ihre Fähigkeit verlieren, Verpflichtungen auszuhandeln, würde ihren Charakter als die Kraft verlieren, die die impulsiven Kräfte der Arbeiterklasse diszipliniert und reguliert. Wenn die Organisierten innerhalb der Gewerkschaft eine revolutionäre Disziplin durchsetzen, die von den Massen für den Triumph der Arbeiterrevolution als notwendig erachtet wird und nicht als eine Knechtschaft gegenüber dem Kapital, dann wird der Rat diese Disziplin ohne Zweifel akzeptieren und auch sich zu eigen machen, und die Disziplin wird zur natürlichen Form der Aktionen des Rats. Wenn der Gewerkschaftsapparat zu einem Organ der revolutionären Vorbereitung wird und den Massen so erscheint – aufgrund seiner Aktion, aufgrund der Personen, aus denen er sich zusammensetzt, aufgrund seiner Propaganda –, dann werden die Massen den konzentrierten und absoluten Charakter der Gewerkschaften als große revolutionäre Kraft anerkennen, als eine weitere Bedingung (und eine der wichtigsten) für den Erfolg ihres tief engagierten Kampfes.

In Wirklichkeit aber faßt in Italien der Gewerkschaftsfunktionär die Legalität als ewig auf. Zu oft verteidigt er sie von einem Standpunkt aus, der dem Standpunkt des Eigentümers entspricht. Er sieht in allem, was innerhalb der Arbeiterschaft geschieht, nur Chaos und Willkür: er universalisiert den Akt der Rebellion des Arbeiters gegen die kapitalistische Disziplin nicht als Rebellion, sondern als Materialität eines Aktes, der an und für sich trivial sein kann. Deshalb fand die Geschichte vom Regenmantel des Gepäckträgers die gleiche Verbreitung und wurde von der journalistischen Stupidität auf die gleiche Weise interpretiert wie die Geschichte von der „Sozialisierung der Frauen in Rußland“. Unter solchen Umständen ist die gewerkschaftliche Disziplin lediglich ein Dienst, den man dem Kapital erweist; unter solchen Umständen muß jeglicher Versuch, den Rat der Gewerkschaft unterzuordnen, als reaktionär bezeichnet werden.

Die Kommunisten wollen, daß sich der revolutionäre Akt soweit wie möglich bewußt und verantwortlich vollzieht, daß die Wahl – soweit eine Wahl ist – des Augenblicks, in dem die Arbeiteroffensive eröffnet wird, in den Händen des bewußtesten und verantwortlichsten Teils der Arbeiterklasse liegt, bei denen, die in der Sozialistischen Partei organisiert sind und am aktivsten am Leben der Organisation teilnehmen. Deshalb können die Kommunisten nicht wollen, daß die Gewerkschaft ihre disziplinierende Energie und ihre systematische Konzentration verliert.

Die Kommunisten, die sich in permanent organisierten Gruppen innerhalb der Gewerkschaften und innerhalb der Fabriken konstituieren, müssen in den Gewerkschaften und in den Fabriken die Auffassungen, Thesen und die Taktik der III. Internationale verbreiten, müssen die gewerkschaftliche Disziplin beeinflussen und deren Ziele bestimmen, müssen die Beratungen der Fabrikräte beeinflussen und die Impulse der Rebellion, die sich aus der vom Kapitalismus für die Arbeiter geschaffenen Situation ergeben, zu revolutionärem Bewußtsein und revolutionärem Schaffen steigern. Die Kommunisten der Partei haben das größte Interesse daran, weil auf ihnen die größte geschichtliche Verantwortung lastet, daß sie durch ihre unaufhörliche Aktion eine gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Institutionen der Arbeiterklasse bewirken und eine natürliche Interdependenz, die die Disziplin und die Organisation mit revolutionärem Geist beleben.


Zuletzt aktualisiert am 14.8.2008