Antonio Gramsci


Eine Mahnung

(15. Januar 1921)


Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig 1980, S.86ff.
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Ist es Zufall oder Glück, daß der Parteitag der Italienischen Sozialistischen Partei gerade am Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht beginnt? Wir glauben weder an schicksalhafte Daten noch an ein verhängnisvolles Zusammentreffen in der Geschichte, und wir glauben auch nicht, daß der Geist der Verstorbenen die Macht hat, unter die Lebenden zurückzukehren und sie zu beeinflussen. Aber wenn diejenigen, deren Ende uns in Erinnerung bleibt, „unsere“ Toten sind, jene sind, die mit erhobenen Waffen im Kampfgetümmel fielen, in den verzweifelten Wechselfällen des Kampfes beseelt vom Geiste des Widerstandes, der Erwartung und der Hoffnung – dann spüren auch wir die ewige Lebenskraft dieser Toten, spüren auch wir die Existenz ihres belebenden Geistes unter uns; für diese Toten möchten auch wir fast die Worte des zuversichtlichen christlichen Aberglaubens wiederholen: Sie leben noch und urteilen und warten. In Wirklichkeit sind wir selbst es, die urteilen und warten, aber wir wollen in diesen höchsten Momenten so an unser Wirken und unser Urteil denken, als wären diese von den Lehren beeinflußt, ja gleichsam diktiert, die aus dem Leben jener folgen, die viel mehr als wir für die Durchsetzung und den Sieg unserer Prinzipien gearbeitet haben.

Im Zeichen von Karl Liebknecht wird deshalb der Parteitag von Livorno gut eröffnet. Wer mit diesem Namen Tatsachen und Lehren beschwört, wird ihnen nur eine Mahnung entnehmen können, die mit unserer Erwartung, unserem Vertrauen und unseren Vorsätzen übereinstimmt. Mit dem Tode von Karl Liebknecht im Januar 1919 endete der erste große Vorstoß der Kommunisten Mittel- und Westeuropas in blutigen Opfern. Er hatte den bewaffneten Aufstand des deutschen Proletariats mit der ganzen Autorität seiner Persönlichkeit geleitet, die gegenüber den „halben Figuren“ der Verräter und der Zögernden gewaltig war, und mit einer außergewöhnlichen Präzision des Gedankens und der Ziele, hinter der sein glühender und unerschütterlich zäher Wille stand. Dieser Aufstand war in Wirklichkeit der erste und der einzige große, ernsthafte und erfolgversprechende Versuch, die Entwicklung der europäischen Nachkriegskrise in dem gleichen Rahmen wie die russische proletarische Revolution zu sehen und zu begreifen. Der Aufstand der deutschen Kommunisten schien für einen Moment die Verschmelzung zwischen der siegreichen russischen Revolution und den Anstrengungen der revolutionären Minderheiten der Länder Mittel- und Westeuropas zu verwirklichen. Wenn diese Verschmelzung gelungen wäre, statt sich in einer Reihe von sporadischen Versuchen und im großen, epischen, aber schmerzhaften Aufbegehren eines isolierten Volkes zu erschöpfen, hätte die europäische Revolution ihren natürlichen Ausgang in einer Erhebung des gesamten Proletariats gegen alle Regierungen der Entente gefunden. Deshalb schlug in den tragischen Tagen des Januar 1919 das Herz der ganzen Welt in Berlin, und das Geschick der ganzen Welt schien im Ergebnis der stürmischen Zusammenstöße zu liegen, in denen die Blüte der Proletarier Deutschlands ihr Blut vergoß. Sogar der Name Liebknecht erschien damals allen, konkret und klar, wie in den Kriegsjahren in der Phantasie von Henri Barbusse, als eine lebende Synthese, als ein Symbol; als Synthese und Symbol der proletarischen Erhebung gegen die Schmach, gegen die Greueltaten, gegen die Sklaverei des Krieges und des kapitalistischen Friedens.

Wenn wir aber heute, nach zwei Jahren, an diese Ereignisse zurückdenken, können wir jener symbolischen Darstellung die Erfahrung eines revolutionären Abschnittes hinzufügen, der mit den größten Hoffnungen und der größten Kühnheit begann und der noch nicht beendet ist, obwohl der langsamere und weniger fieberhafte Ablauf der Ereignisse auf einen Tiefstand des Geistes und des Willens zum Aufstand zu deuteten scheint. Heute zeigt sich uns auch die Entwicklung der Ereignisse in der logischen Verkettung von Ursachen und Wirkungen klarer, wir sehen das Opfer von Liebknecht in seiner ganzen Bedeutung, die es nicht nur in der Geschichte der europäischen Revolution, sondern auch in der inneren Geschichte der Herausbildung eines klaren Bewußtseins und einer starken Kampffähigkeit in den Reihen des Proletariats hatte. Wenn wir seines grausamen Todes gedenken, denken wir vor allem daran, daß die Werkzeuge dafür, noch bevor die bürgerliche Klasse sie gebrauchte, von den Verrätern geschaffen wurden, die aus der Partei des Proletariats hervorgegangen waren. Wir gedenken des Märtyrers und Helden, des Menschen, in dessen Leben für einen Moment das Schicksal der gesamten aufbegehrenden Klasse zusammengefaßt war; doch als wichtigste Lehre, die sich nicht auslöschen läßt, dürfen wir nicht vergessen, daß sein Schicksal von denjenigen bestimmt wurde, die den Glauben verloren hatten, die in die feindlichen Reihen übergelaufen waren oder die in den Reihen der Kämpfer geblieben waren, um Zweifel, Unsicherheit und Skepsis zu säen. Der Berliner Aufstand vom Januar 1919 scheiterte, weil er die von den Sozialdemokraten organisierten Kräfte der Reaktion gegen sich hatte; seitdem ist das deutsche Proletariat bis heute daran gehindert worden, sich kraftvoll und mächtig wieder zu erheben, und zwar von denselben, die früher als die Führer des Kampfes erschienen waren und sich dann als Verräter entlarvten, die im Gewand entweder des Theoretikers, des Funktionärs oder des Parlamentariers aufgetreten waren. Erst jetzt, nach einer langen Zeit der inneren Arbeit, nach einer mühsamen Zeit der Befreiung und der Erneuerung, ist die deutsche Arbeiterklasse dabei, ihren Weg wiederzufinden. Und sie findet ihn wieder nach den von Karl Liebknecht vorgezeichneten Richtlinien. Aber wir haben gesagt, daß wir in seinem Namen und in seinem Wirken ein Beispiel für alle Völker sehen; und es ist mehr als ein Beispiel, es ist ein Beweis. Karl Liebknecht hat uns auf die gültigste Weise, nämlich mit seinem Opfer, bewiesen, welche Straße wir gehen müssen und welche Hindernisse dabei zu überwinden sind.

Wird derjenige, der seinen Namen auf dem Parteitag in Livorno heraufbeschwört, die darin liegende Mahnung voll zum Ausdruck bringen?

Im Zeichen seines Namens – und jetzt scheint es uns tatsächlich so, als ob dieses Zusammentreffen schicksalhaft sei – soll die Entstehung der Italienischen Kommunistischen Partei stehen.


Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008