Henryk Grossmann


Eine neue Theorie über Imperialismus
und die soziale Revolution [1]

(1928)


Aus Grünbergs Archiv (Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung), Nr.13, 1928, S.141-192. [2]
Vielen Dank an Rick Kuhn, der den Text uns zur Verfügung gestellt hat.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vorbemerkung

Äußerlich gliedert sich das Buch von STERNBERG, das den Gegenstand der folgenden Abhandlung bildet, in einen theoretischen und in einen historisch-beschreibenden Teil, in denen empirische Tatsachen vor-geführt werden aus der Entwicklung des Kapitalismus innerhalb des englischen Imperiums und Indiens, sowie in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika. Die innere Gliederung ist so gedacht, daß aus den ökonomischen Grundelementen des Kapitalismus in dessen imperialistischer Phase (Surplusbevölkerung, Arbeitslohn, Krise), durch die Unmöglichkeit der Realisation von Mehrwert infolge Fehlens eines nichtkapitalistischen Absatzgebietes sich notwendig eine Reservearmee und Sinken des Lohnes, sodann in weiterer Folge der imperialistische Krieg herausbilden und, am diesem vorzubeugen, die sozialistische Revolution.

ST. gibt sich für einen Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung aus und widmet dieser ein besonderes Kapitel. Dabei sollen in dem Buche, das „ein marxistisches sein will“, „die entscheidenden MARXschen Grundgedanken“ bejaht werden und speziell der Gedanke, „daß es gilt, den Sozialismus nicht aus dem Kopf zu bilden, sondern im Kapitalismus selbst die Kräfte aufzuweisen, die ihn herbeizuführen bestimmt sind“ (S.7). So versichert der Verf. bescheiden, sein Buch sei „eine Fortsetzung des M.schen Kapitals“ (S.8). Bald aber besinnt er sich. Er will kein bloßer Vollender sein. Durch den Drang der historischen Situation sieht er sich vielmehr gezwungen, ein Bahnbrecher zu werden. Denn aus dem M.schen System sei nichts zurückgeblieben, was würdig wäre, fortgesetzt zu werden. Habe doch M. sein Buch unter einer Voraussetzung konzipiert, „die ihm die Erkenntnis wesentlicher Zusammenhänge verschließen mußte“ (S.22): nämlich, daß es keine nichtkapitalistischen Märkte gibt ST. aber weiß, daß „seit Beginn der kapitalistischen Produktion der nichtkapitalistische Raum eine entscheidende Rolle gespielt bat“ (S.8). Es wird darnach also begreiflich, daß M. ein absolut falsches Bild des Kapitalismus gegeben hat und geben mußte, daß folglich sein ganzes System falsch ist, daß jeder Stein seines Baues durch den Tatbestand des nichtkapitalistischen Raumes berührt wird: die Akkumulation des Kapitals selbst ebensowohl wie die Krise im Kapitalismus, die industrielle Reservearmee, der Arbeitslohn, die Arbeiterbewegung und vor allem die Revolution (S.9). Dieselben Probleme, die M. behandelt hat, „werden aufs stärkste modifiziert“ (S.8).

Schon diese Feststellungen ST.s zeigen, daß hier mit dem M.schen Namen ärgster Mißbrauch getrieben wird, indem in ST.s Schrift sämtliche Lehren M.s als falsch erklärt und bekämpft werden. „Auf die Übereinstimmung mit dem historischen M. – erklärt er – verzichte ich“ (S.9). Ist aber auch kein einziger der M.schen Grundgedanken zurückgeblieben, so soll doch der lebendige M. auf ST.s Seite stehen.

Nun ist die wirkliche Gliederung von ST.s Buch, dessen wirklicher Schwerpunkt, ganz anders als er glauben machen will. Was ihm vorschwebt, ist „Außenpolitik, Soziologie und Ökonomie ... zu einem geschlossenem System“ zusammenzufügen (S.246). Vom Boden der materialistischen Geschichtsauffassung heißt das nichts anderes, als daß die Wandlungen der Außenpolitik ans denen der Ökonomie zu erklären sind. Davon ist aber bei ST. keine Rede. Sein Buch ist vor allem eine politische Tendenzschrift, welche die Notwendigkeit der Revolution an die Spitze stellt, jedoch nicht im Sinne eines notwendigen Endergebnisses des durch den Klassenkampf beherrschten geschichtlichen Prozesses, sondern der Revolution im Sinne des kategorischen ethischen Postulats, als einzigen Mittels zur Errettung der Menschheit vor ihrem Absturz in die Geschichtslosigkeit Die Ökonomische „Begründung“ steht mit der politischen Revolutionsthese in gar keinem inneren Zusammenhang und wurde der letzteren zu dekorativen Zwecken hinzugefügt, um ihr einen Schein der Wissenschaftlich zu geben. Alle Phrasen von der Wichtigkeit .des soziologischen Raumes (!) der materialistischen Geschichtsauffassung“ im Kapitalismus können dies nicht verschleiern.

Es ist für ST. charakteristisch, daß er ganz unter dem Eindrucke der revisionistischen Kritik des M.schen Systems steht und, wenn auch um eine ganze historische Epoche verspätet, unmittelbar an die Gedankengänge und die Kritik des Revisionismus anknöpft. In einem besonderen Kapitel, „Die Selbstaufhebung des Revisionismus“, wendet er sich zwar gegen die Theorie des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus. Dies kann uns aber über sein inneres Verhältnis zum Revisionismus nicht täuschen. ST. ist über dessen Horizont nicht hinausgegangen und wandelt vollständig in seinen Fußstapfen. Nirgends auch nur ein selbständiger Gesichtspunkt, überall die Aufrollung der seit 30 Jahren sattsam bekannten Kritik einzelner M.scher Theorien und Ergebnisse: mag es sich um die von BERNSTEIN behauptete Abschwächung der Krisen im Kapitalismus, um die wachsende Dezentralisation des Besitzes im Gegensatz zur steigenden Konzentration der Betriebe, um die Abschwächung der Klassengegensätze, um die Besserung der Lage der Arbeiterklasse, um die wachsende Zahl der Kapitalmagnaten, die Zunahme der Zahl der kleinbürgerlichen Elemente wie der Bauernbetriebe handeln. In allen diesen Fragen lehnt sich ST. an BERNSTEIN an und fällt ex post sein Urteil zugunsten des Revisionismus. „Er (BERNSTEIN) hatte recht, wie überhaupt in vielen seinen empirischen Feststellungen gegenüber denen, die M.-Orthodoxie trieben“ (S.246). – „Ich erkenne alle diese Tatbestände unumwunden an und halte es für verfehlt, sie in Einklang zu bringen mit den Ausführungen, die der historische M. selbst gemacht hat“ (S.255).

Man sieht, ST. „anerkennt“ etwas mehr als bloß die „Tatbestände“ allein. Denn nebenbei mag das M.sche System zwar vielleicht genial sein, ist aber mit den Tatsachen der Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen. Jedoch suum cuique. Hatte der Revisionismus ans seinen Feststellungen die Rechtfertigung seiner friedlich opportunistischen Praxis abgeleitet, so umgekehrt ST., dessen Originalleistung darin besteht, aus den gleichen Tatsachen die Unabwendbarkeit der imperialistischen Kriege zu folgern und die Revolution als einziges Vorbeugungsmittel gegen den Krieg zu predigen. So unterscheidet sich ST. vom Revisionismus zwar in seinen Schlußfolgerungen und praktischen Vorschlägen, theoretisch jedoch steht er auf demselben Boden und geht von denselben Voraussetzungen aus. Daher derselbe Ausgangspunkt seiner „Probleme“ und dieselbe „theoretische“ Einstellung in seinem Verhältnis zur M.schen Forschung sowie dieselbe Unkenntnis der fundamentalsten Voraussetzungen von M.s Analyse, folglich dasselbe Kleben an der Oberfläche und die gleiche Unbeholfenheit, ja Unvermögendheit, diese empirischen Tatsachen ins M.sche System, in irgend ein theoretisches System überhaupt, einzufügen. ST. gibt denn auch das M.sche System preis. Was er außer den Tatsachen noch „anerkennt“, ist die M.sche Methode; und er will mit ihr die Tatsachen „systematisch einbauen“ (S.246), – nicht in das M.sche, sondern in sein eigenes System. Denn: „durch den Einbau verschiebt sich die gesamte Analyse des kapitalistischen Prozesses“. Das heißt aber nichts anderes, als daß ST. sich die Aufgabe stellt, das M.sche System mit der M.schen Methode umzustürzen, M. durch ihn selbst zu schlagen. Diese Zielsetzung ST.s macht es nötig, sein methodisches Vorgehen sowohl, als auch die von ihm als entscheidend angeführten Tatsachen genau nachzuprüfen.
 

I. Die Sternbergschen „Tatsachen“ und die Marxsche Forschungsmethode.

Welche Tatsachen sind mit M.s System nicht in Einklang zu bringen?

In diesem Punkt übernimmt ST. die Behauptung des Revisionismus und FRANZ OPPENHEIMERs: daß nach M. die Mittelschichten rapide zusammenschmelzen. OPPENHEIMER formuliert sie bekanntlich so:

Die M.sche Prognose beruht bekanntlich (sic!) auf der Annahme, daß unter der Wirkung der kapitalistischen Konkurrenz die Mittelstände rapide zusammenschmelzen, daß nicht nur Handwerk, Kleinhandel und Bauernstand durch Verwohlfeilerung der kapitalistisch hergestellten Ware niederkonkurriert und ins Proletariat hinabgeschleudert werden, sondern daß die gleiche Konkurrenz auch unter den Kapitalisten selbst wie die Pest wütet, sie massenhaft hinrafft, bis zuletzt nur noch eine winzige Zahl von Kapitalmagnaten übrigbleibt.[3]

So auch ST. M. habe sich die sozialistische Revolution zu leicht, zu einfach vorgestellt und die gegenrevolutionären Elemente unterschätzt. „Ihre Zahl ist eine unvergleichlich größere als M. es angenommen hatte, annehmen konnte“ (S.339).

Wo und wann aber hat M. dies verschuldet?

Als Beweis gilt ST. das M.sche – Reproduktionsschema! Es wird mit aller Exaktheit graphisch in der Gestalt einer industriellen Pyramide dargestellt, wo die Klassenschichtung bei M. äußerst vereinfacht erscheint und bloß aus zwei Klassen besteht: die, kleine Spitze der Pyramide wird gebildet durch die dünne Schicht der Kapitalisten, den ganzen übrigen Raum nimmt die Masse der Arbeiterschaft ein, welche auf der Linie A–C steht, d.h. als Lohn bloß die Reproduktionskosten der Arbeitskraft im Sinne des physischen Existenzminimums erhält. Zwischen den beiden Klassen ist ein leerer Raum. Der Revisionismus aber hat zwischen dem Proletariat und dem Großkapitalisten eine zahlreiche Masse von Zwischenschichten: kleinere Geldkapitalisten, Rentner, den „neuen Mittelstand“ (Angestellte) entdeckt und wir wissen, daß ST. diese Tatsachen „unumwunden anerkennt“ und sie in einer zweiten korrigierten Pyramide in den Raum zwischen den genannten zwei Hauptklassen graphisch einschiebt, als unableugbaren Beweis der Primitivität des M.schen Systems, welches davon keine Notiz nahm (S.346). Und stolz auf diese Analyse erklärt ST.: „Es hat sich ergeben, daß zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat sich sehr bedeutende Zwischenschichten erhielten, bzw. neubildeten“ (S.354). Mutatis mutandis gilt dasselbe von der M.schen „landwirtschaftlichen Pyramide“. Zwischen die beiden einzigen Klassen, die nach ST. M. kennt – das ländliche Proletariat und die Großgrundbesitzer – schiebt er pathetisch ernst den nochmals entdeckten Klein-, Mittel- und Großbauer ein! (S.346)

Demgegenüber ist zu sagen, daß die ST.sche Darstellung von M.s Lehre eine Karikatur ist. Die angebliche „landwirtschaftliche Pyramide“ M.s ist ST.s Erfindung, und zwar nicht bloß vom Standpunkt der „M.-Philologie“, sondern auch weil mit dem Grundgedanken der M.schen Lehre unvereinbar. In M.s theoretischem System des Kapitalismus gibt es weder noch kann es eine besondere „landwirtschaftliche“ Pyramide geben, und zwar aus dem Grunde, weil die Landwirtschaft vollständig unter das Kapital untergeordnet ist, und die kapitalistische Agrikultur bloß einen Zweig der Industrie bildet und so den „Weizen usw. produziert, wie der Fabrikant Garn oder Maschinen“ (M.). Das festzustellen ist kein bloßer Streit um Worte. Es handelt sich vielmehr um die wichtige Folgerung, daß im reinen Kapitalismus dem landwirtschaftlichen Proletariat keine Großgrundbesitzer, wie ST. behauptet, sondern Kapitalisten, Unternehmer gegenüberstehen, d.h. daß es keine besondere landwirtschaftliche Pyramide gibt. Nur die Pächter erfüllen eine aktive Funktion im Produktionsprozeß und erzielen wie die übrigen Kapitalisten den Durchschnittsprofit, – während die Großgrundbesitzer außerhalb der Produktion stehen und bloß eine Eigentumskategorie darstellen, die an sich mit den Arbeitern nichts zu tun hat. Die moderne reine kapitalistische Grundrente ist lediglich ein Überschuß des Preises über den Durchschnittsprofit, hat also den kapitalistischen Betrieb zur Voraussetzung. Der Zweck M.s war, die dem Kapitalismus eigentümlichen Kategorien in reiner Form herauszudestillieren: Profit, Grundrente, Arbeitslohn. Daher die Reduktion des komplizierten kapitalistischen Mechanismus auf seine einfache Grundform.

Freilich wußte M., daß die empirische Wirklichkeit sich nicht unmittelbar mit der reinen schematischen Analyse deckt, daß sie äußerst kompliziert ist und neben dem kapitalistischen Pächter und Arbeiter noch allerlei Zwischenklassen aufweist, neben dem „reinen“ Großgrundbesitzer noch den Grundeigentümer, der die Bebauung für eigene Rechnung betreibt (Kap. III/2, 338); dass überall noch die Klein- und Parzellenwirte massenhaft vorhanden sind. M. verweist auf den Bauernstand in Schweden, die französischen und westdeutschen Bauern. „Das freie Eigentum des selbstwirtschaftenden Bauern ist offenbar die normalste Form des Grundeigentums für den kleinen Betrieb“ (Kap. III/2, 341).

Daher kommen in der Wirklichkeit die theoretischen Kategorien der Grundrente, des Durchschnittsprofits etc., nie rein vor. Überall stoßen wir auf Mischformen. Möglicherweise umfaßt die empirische „Rente“ des Großgrundbesitzers und was man so im täglichen Leben nennt, außer der eigentlichen Rente noch einen Teil des Profits und sogar von Arbeitslohn (Kap. III/2, 164, 280). Durch seine theoretische Analyse schuf aber M. das begriffliche Werkzeug, vermittels dessen der komplizierte Tatsachenknäuel der Wirklichkeit verstanden, d.h. auf reine Kategorien gebracht werden kann. Die Theorie, die reinen Kategorien, wie sie im Schema vereinfacht Ausdruck finden, dienen dazu, die Wirklichkeit zunächst „rein und frei von allen verfälschenden und verwischenden Beisätzen zu betrachten“. Nachher ist es aber „ebenso wichtig für das Verständnis der praktischen Wirkungen des Grundeigentums ... die Elemente zu kennen, aus denen diese Trübungen der Theorie entspringen“ (Kap. III/2, 164).

Tut man das, dann sieht man nicht nur die Tatsache, daß sich der Bauer neben dem Großbetrieb erhalten kann, sondern auch, warum er sich trotz produktionstechnischer Inferiorität erhalten konnte. Denn der kapitalistische Großbetrieb muß aus dem Preis der Agrarprodukte sämtliche drei Preiselemente bestreiten: den Arbeitslohn, den Durchschnittsprofit, sowie die Grundrente. Dagegen erscheint „als absolute Schranke für den Kleinbauer als kleinen Kapitalisten nichts als der Arbeitslohn, den er sich selber zahlt, nach Abzug der eigentlichen Kosten. Solange der Produktenpreis ihm den Lohn deckt, wird er sein Land bebauen und dies oft bis herab zu einem physischen Minimum des Arbeitslohnes“ (Kap. III/2, 889). D.h. daß der Kleinbauer nicht einmal den ganzen Normallohn erzielt, weil ihm der Boden „als sein Hauptproduktionsinstrument erscheint, als das unentbehrliche Beschäftigungsfeld für seine Arbeit und sein Kapital“. Wenn somit ST. behauptet, in der M.schen „landwirtschaftlichen Pyramide“ stünden sich bloß die Arbeiter und Großgrundbesitzer gegenüber, so beweist er nur, daß er weder von der M.schen Forschungsmethode noch von der modernen Grundrente oder dem Agrarproblem überhaupt auch nur eine Ahnung hat; ja nicht einmal die rein mechanische Stoffkenntnis des M.schen Kapital hat, das er ja fortsetzen und korrigieren will. Im Zusammenhang damit sei bemerkt, daß bei ST. überall noch die malthusianisch-ricardische Anschauung vorherrscht. Für ihn existiert „nur in der Industrie das Gesetz der steigenden Erträge“ (S.15). Ebenso nimmt er in der Landwirtschaft das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages an! Es gehört zu den schönsten und bis auf den heutigen Tag unübertroffenen Leistungen von M., im Kapital und in den Mehrwerttheorien, im Gegensatz zur „flachen Auffassung“ von RICARDO und MALTHUS nachgewiesen zu haben, daß die angeblichen „natürlichen“ Schranken der Produktion, womit die bürgerliche Ökonomie sich das Steigen der Preise der Agrikulturprodukte und Steigen der Grundrente erklärte, (Wachsen der Bevölkerung und fortschreitende relative Unfruchtbarkeit des Bodens) nicht ans der „Natur“, sondern aus den gesellschaftlichen Einrichtungen entspringen, also gesellschaftliche Schranken sind. M. zeigte, daß die Grundrente vielmehr entsteht, obwohl der Boden immer produktiver wird. Das in der Industrie in Maschinen angelegte fixe Kapital verbessert sich nicht durch den Gebrauch, sondern wird verbraucht und verschlechtert. „Die Erde dagegen, richtig behandelt, verbessert sich fortwährend. Ihr Vorzug (beruht darauf), daß sukzessive Kapitalanlagen Vorteile bringen können, ohne daß die früheren verloren geben.“ Abgesehen davon besteht der Vorsprung der Agrikultur darin, daß „die Erde selbst als Produktionsinstrument wirkt, was bei einer Fabrik, wo sie nur als Unterlage ... fungiert, nicht ... der Fall ist“ (Kap. III/2, 814. Vgl. auch den Brief von M. an ENGELS vom 7.1.1851).

Trotzdem aber werden im Kapitalismus die Produktivkräfte des Bodens nicht voll ausgenutzt. Die Entwicklung der Industrie und der Landwirtschaft geht notwendig ungleichmäßig vor sich. Die Rückständigkeit dieser Agrikultur ist schon dadurch bedingt: 1. daß das Kapital nur dann in der letzteren angewandt werden kann, wenn es außer Zahlung des gewöhnlichen Lohns und des Durchschnittsprofits imstande ist, noch darüber hinaus eine Rente zu zahlen. „Das Grundeigentum ist hier eine Barriere, die keine neue Kapitalanlage auf bisher unbebautem oder unverpachtetem Boden erlaubt, ohne Zoll zu erheben, d.h. ohne eine Rente zu verlangen“. (Kap. III/1, 295); 2. aber hat der Großgrundbesitz, auch wo bereits das Kapital zugelassen wurde, keine Veranlassung, die Produktivkräfte voll zu entwickeln. Die absolute Grundrente ist ein Überschuß des Wertes des Agrarprodukts über die Durchschnittsprofitrate. Während aber jeder Fortschritt in der Industrie, weil er den Produktionspreis ermäßigt, die Rate der Grundrente steigert (Theorien II/1, 279) und so den Grundbesitzern erlaubt, „das ohne ihr Zutun hervorgebrachte Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung in ihre Privattaschen zu stecken“ (Kap. III/2, 169), wirkt jede Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft selbst, indem sie den Wert der Agrarprodukte senkt, in umgekehrter Richtung. D.h. daß die Grundrente sinkt. Selbstverständlich müssen diese kapitalistischen Rentabilitätsfaktoren „eins der größten Hindernisse einer rationellen Agrikultur“ bilden – was jedoch nichts mit dem abnehmenden Bodenertrag zu tun hat Schon PETTY sagt uns (1699), „daß die Landlords seinerzeit die Verbesserungen in der Agrikultur fürchteten, weil dadurch die Preise der Agrikulturprodukte und daher die Grundrenten fallen“ (Theorien II/2, 283).

Erst auf ziemlich fortgeschrittener Stufe der kapitalistischen Entwicklung beginnt die Industrie mit ihren Produkten (Maschinen, künstlichem Dünger usw.) die Landwirtschaft zu durchdringen. Andererseits überseht die Landwirtschaft zur Errichtung von eigenen landwirtschaftlichen Fabriken, wie Zuckerfabriken, Mühlen, Konservierungsfabriken usw., sie sucht Anlehnung an die Banken, welche nun ebenso die Landwirtschaft wie die Industrie kontrollieren. Die Gegensätze zwischen beiden Produktionszweigen verschwinden immer mehr. Die Kommerzialisierung der Landwirtschaft wächst und erst in dieser Phase, die z.B. in Deutschland sich eben zu durchsetzen beginnt, ist die Landwirtschaft gezwungen, durch die Technisierung und Rationalisierung der Produktion die Kosten immer mehr zu vermindern, um unter dem Druck der Konkurrenz des Weltmarktes nicht zu erliegen. Erst jetzt „geht die Produktivität in beiden voran, obgleich in ungleichem Schritt. Aber auf einem gewissen Höhepunkt der Industrie muß die Disproportion abnehmen, d.h. die Produktivität der Agrikultur sich relativ rascher vermehren als die der Industrie“ (Theorien II/1, 230).

ST. weiß von dem allen nichts und spricht Fabeln von dem abnehmenden Bodenertrag kritiklos nach [4], ohne auch nur zu ahnen, welche Probleme und theoretischen Konsequenzen sich hinter seiner Behauptung verbergen, ohne Ahnung vor allem, daß der Satz vom abnehmenden Bodenertrag mit der M.schen Arbeitswerttheorie unvereinbar ist. ST. müßte also folgerichtig diese verwerfen. Und doch meint er (Vorwort), „daß er die M.sche Werttheorie in allen wesentlichen Teilen für richtig“ anerkennt (S.10).

Also er anerkennt die Arbeitswerttheorie und verfällt dennoch in den umgekehrten Wahnsinn der Physiokraten, wonach die menschliche Arbeit nur in der Industrie steigende Erträge liefert, während sie in der Landwirtschaft immer unproduktiver sein soll. Eine schöne Arbeitswerttheorie! Als ob nicht die Arbeit, sondern der Boden produzierte!

Aber ST. hat den Satz vom abnehmenden Bodenertrag zu dem Zweck übernommen, um daraus zu schließen, daß es nur in der Industrie Konkurrenz und Kampf um den Absatz gibt, im Gegensatz zur Landwirtschaft, wo keine Konkurrenz in der spezifischen Art der Industrie herrscht (S.15). Aber wie der Vordersatz, so ist auch die These vom Niohtbesteheu der Konkurrenz in der Landwirtschaft eine bloße Phantasie. Hat ST. nichts vom agrarischen Zollschutz gehört? Davon, wie die ungarischen Agrarier die Einfuhr serbischer Schweine nach Österreich verhinderten, was zum langen Zollkrieg und schließlich auch zum wirklichen Krieg führte, oder davon, daß die deutschen Agrarier gegen den wirtschaftlichen Zusammenschluß Deutschlands mit Österreich-Ungarn waren, weil sie von der Konkurrenz österreichischer und besonders ungarischer Agrarerzeugnisse auf die Preisbildung in Deutschland eine ungünstige Wirkung befürchteten? Weiß er nichts davon, daß dieselben Agrarier nun gegen den Abschluß eines Handelsvertrages mit Polen sind, weil sie die preisdruckende Konkurrenz der polnischen Schweine befürchten? In der Landwirtschaft soll es keine Konkurrenz und keine Überproduktion geben! Aber die schweizerische Landwirtschaft z.B. befindet sich gegenwärtig in einer Krise, und zwar in einer Überproduktionskrise wegen allzuhohen Viehstandes. „Es kam zur Milchschwemme, zu überfüllten Ställen und Käselagern, zu einer Verschlechterung des Fleischmarktes infolge des Überangebotes.“ Und zwar „unterliegt die schweizerische Landwirtschaft ähnlichen Wirkungen wie einzelne Industriezweige, beispielsweise die Uhrenindustrie ... Versah die Schweiz den Weltmarkt jahrzehntelang mit Spezialprodukten, so hat nun das Ausland die schweizerischen Produktionsmethoden übernommen“ und überall wird guter „Schweizer Käse“ erzeugt. „In der Butterqualität übertrifft Dänemark die Schweiz, ebenso ist die Obstverwertung in Kanada und Australien viel höher entwickelt.“ Mit der fortschreitenden Kommerzialisierung der Landwirtschaft ist man auf den Export angewiesen. „Will die schweizerische Landwirtschaft den Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt bestehen, ... so hilft nur noch der billigere Preis“, derselbe billige Preis, den die Grundbesitzer als Klasse so sehr fürchten.

Die Politik der hohen Lebensmittelpreise entspricht nur einem gewissen Anfangsstadium der Landwirtschaft. Ihr folgen die übersetzten landwirtschaftlichen Bodenpreise, daher die Bodenverschuldung wie ein Schatten. Die hohen Agrarzölle nützen nichts, wenn man von der Versorgung des Binnenmarktes zum Export übergeht Man denkt jetzt in der Schweiz an die Dumpingpreisen. [5]

Schon auf diesen, vom eigentlichen Akkumulationsproblem scheinbar so entfernten Gebiet offenbart sich als tiefste Ursache aller Irrtümer ST.s seine absolut malthusianische Auffassung. In der Landwirtschaft kennt er weder Überproduktion noch Konkurrenz, daher auch keinen Expansionsdrang wegen des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag. Wird die industrielle Produktion durch die Krisen, also durch Zwang zu Expansion beherrscht, so, weil nur in ihr das Gesetz der steigenden Erträge gilt. Den letzten Grund aller kapitalistischen und imperialistischen Expansion sieht eben ST.s Diagnose in dem naturgegebenen Unterschied zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit. Schließlich sollen wir der Natur dankbar sein, daß sie die agrarische Produktion karger ausgestattet hat, da sonst Überproduktion und Krisen sowie Expansion noch stärker würden.

So falsch ST.s Behauptung ist, M. habe in der landwirtschaftlichen Pyramide keine Mittelschichten berücksichtigt, so auch alle seine übrigen „Tatsachenfeststellungen“ bezüglich der M.schen „industriellen Pyramide“.

„Nach dem M.schen Schema – versichert ST. – steht der immer kleiner werdenden Zahl der Kapitalmagnaten die immer größere des industriellen Proletariats gegenüber ... Zuletzt sind in der von ökonomischen Krisen durchschüttelten Wirtschaft nur noch die wenigen Kapitalmagnaten zu expropriieren“ (S.339). Und weiter: „Nach M. war im Zeitpunkt der Revolution ... zwischen Bourgeoisie und Proletariat ein leerer Raum. Die Mittel-schichten fehlten“ (S.354). Auch hier korrigiert ST. die M.sche Vorstellung, indem er die Existenz zahlreicher kleinerer Kapitalisten, Händler, Rentiers, Angestellten, Handwerker usw. feststellt und daraus folgert, daß „die Haltung dieser Zwischenschichten für das Gelingen der sozialistischen Revolution entscheidend sein kann“ (S.355). Nun hat bereits 1899 ROSA LUXEMBURG gegen BERNSTEIN konstatiert: Die M.sche Analyse „setzt für die Verwirklichung des sozialistischen Endzieles... kein absolutes Verschwinden der Kleinkapitale bzw. das des Kleinbürgertums als Bedingung der Realisierbarkeit des Sozialismus voraus. [6] Und nun, nach einem Menschenalter wärmt ST. jene Absurdität wieder auf – um auf ihr seine Theorie der kommenden Revolution aufzubauen! Der Weg zur proletarischen Revolution – so schreibt er – ist daher „unendlich schwieriger und qualvoller, als M. es angenommen hatte ... die konterrevolutionären Kräfte sind zu stark, die Sozialisierungsreife zu gering“ (S.303). Und der Beweis? Das M.sche Schema! Dieses ist also nach ST. eine Wiedergabe der empirischen Wirklichkeit! Jenes Schema, das bei M. nur ein vorläufiges Erkenntnisstadium im Annäherungsverfahren ist.

Bei M. bilden die Kapitalisten und Arbeiter die einzigen Klassen, die im kapitalistischen Produktionsprozeß fungieren und daher den spezifischen Charakter dieses Prozesses, das Kapitalverhältnis, begründen, während die bürgerlichen Selbstproduzenten als solche Überreste früherer wirtschaftlicher Formationen außerhalb des Kapitalverhältnisses verbleiben. Will man das Wesen des Kapitalismus verstehen, so muß man zunächst die Analyse auf den „reinen“ Kapitalismus, ohne die trübenden Beste fremder Formationen, beschränken, also bloß jene zwei Klassen berücksichtigen, die begriffmäßig „den Rahmen der modernen Gesellschaft“ konstituieren (Kap. III/2, 157). In weiterer Annäherung an die Wirklichkeit muß aber nachträglich dieser Rahmen mit allen übrigen empirischen Klassen und Schichten gefüllt werden. Denn– heißt es bei M.– „die Sache erscheint in Wirklichkeit verwickelter, weil Teilnehmer an der Beute, dem Mehrwert des Kapitalisten ..., auftreten“ (Kap. II, 407). „Die wirkliche Konstitution der Gesellschaft besteht keineswegs aus den Klassen der Arbeiter und industrieller Kapitalisten.“ (Theorien II/1, 264.) Es sind noch verschiedene Mitzehrer am Mehrwert, „daher bringt die Art, wie sie ihre Revenue verausgeben, und der Umfang der letzteren sehr große Modifikationen ... im Zirkulations- und Reproduktionsprozeß des Kapitals hervor“. (Ebenda) Diese nachträgliche Modifikation der vorläufigen schematischen Analyse ist gerade bei M. sorgsamst durchgeführt, alle Zwischenschichten, ihre Bedeutung und Funktion im kapitalistischen Mechanismus sind, wenn auch in zerstreuten Bemerkungen, doch mit staunen-erregender Klarheit nicht aus statistischen Kompendien, sondern aus der Natur dieses Mechanismus charakterisiert. Und es war die ganze theoretische Unbeholfenheit des Revisionismus nötig, um das alles zu Übersehen und die Welt mit der Entdeckung der „Zwischenschichten“ zu beglücken. Und nur ST.s Ahnungslosigkeit in der entscheidend wichtigen Frage der M.schen Untersuchungsmethode läßt ihn jene „Entdeckung“ neuerdings machen und daraufhin ein neues Anti-MARX-Buch verfassen!

Es würde zu weit fuhren, hier das quid pro quo ST.s in allen Details aufzuzeigen, den methodologischen Aufbau des M.schen Werkes zu verfolgen und die Rolle zu zeigen, welche den von M. angeblich übersehenen Elementen in dessen System zukommt. Nur angedeutet sei daher bloß, daß den wesentlichsten Bestandteil des M.schen Systems die Zusammenbruchs-Theorie, der Nachweis des notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus, bildet. Die erwähnten Klassen und Schichten stellen bloß die Abschwächung der Zusammenbruchstendenz dar. Das sind theoretische Auffassungen über welche eine Diskussion möglich und erwünscht ist. Worauf ein Schriftsteller vom Range M.s Ansprach erheben darf, ist, daß die elementarsten Ergebnisse seiner Analyse und die von ihm angeführten, leicht feststellbaren Tatsachen nicht entstellt oder karikiert werden. Gerade hier aber kann man sich nicht genug scharf gegen ST.s Methode oder vielmehr seine Verballhornungen wenden. Sie hier ganz richtigzustellen, ist unmöglich. Aber es soll doch mindestens eine kurze Konfrontierung bezüglich jener Tatsachen erfolgen, die M. nach ST. nicht vorausgesehen hat und vom Standpunkt seines Systems nicht voraussehen konnte.

Die Existenz der Kleinbauern wurde bereits erwähnt. Im Handel wirkte die M.sche Konzentrationstendenz, behauptet ST., schwächer, infolgedessen wuchs sein Anteil an der Gesamtbevölkerung zeitweilig noch schneller als der der Industrie, die Zahl der Selbstständigen nahm zu, und die Zahl der Angestellten wächst schneller als die der Arbeiter (S.345, 441/2). Wo aber M. die von ST. formulierte Anschauung vorgetragen hat, wird nicht gesagt. Das Schema? Wird dort etwa die Abnahme des Handels, der Selbstständigen usw. behauptet? Das Schema zeigt uns etwas noch Entsetzlicheres! Es „nimmt ... direkten Verkauf ohne Zwischen-kauft des Kaufmanns an, weil letztere verschiedene Momente der Bewegung verdeckt“ (Kap. II, 88), mit einem Wort eine Abstraktion von dem Kaufmann! Da nach ST. das Schema die Widerspiegelung der Wirklichkeit darstellt, folgt daraus, um mit ST. zusprechen, daß M. sein Kapital – „unter einer Voraussetzung konzipierte, die ihm die Erkenntnis wesentlicher Zusammenhänge verschließen mußte“, oder m.a.W. daß er von der Existenz des Handels und der Bedeutung des Kaufmannskapitals nichts wußte! Weiß man freilich, daß das Schema bloß eine vorläufige Vereinfachung ist, so findet man alsbald bei M. auch die nachträgliche Korrektur – samt dem wachsenden Anteil des Handels an der Gesamtbevölkerung, der zunehmenden Zahl der Selbständigen und Angestellten, ohne daß M. für diese seine Feststellung auch nur einer einzigen empirischen Zahl bedurfte. „Der Warenhandel als Funktion des Kaufmannskapitals – heißt es– entwickelt sich immer mehr mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion“ (Kap. II, 88). In der handwerksmäßigen Produktion produzierte man für den Selbstgebrauch oder für die Kunden, ohne daß das Produkt in den Handel kam (Kap. III 1, 294). „Der Umfang, wie die Produktion in den Handel eingeht, durch Hände der Kaufleute geht, hängt ab von der Produktionsweise, und erreicht sein Maximum in der vollen Entwicklung der kapitalistischen Produktion, wo das Produkt nur noch als Ware ... produziert wird“ (Kap. III/1, 309). „Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise wird alle Produktion Warenproduktion, und fällt daher alles Produkt in die Hände der Zirkulationsagenten“ (Kap. III/1, 294). Aber nicht nur der relative Anteil des Handels wächst. Ebenso entwickelt sich der Großhandel: „Wie die kapitalistische Produktionsweise große Stufenleiter der Produktion voraussetzt, so auch notwendig große Stufenleiter des Verkaufs“ (Kap. II, 87). Einerseits erfolgt im Handel die Konzentration, „weil im Handel viel mehr als in der Industrie dieselbe Funktion, ob im großen oder im kleinen verrichtet, gleichviel Arbeitszeit kostet Daher zeigt sich auch die Konzentration im Kaufmannsgeschäft historisch früher als in der industriellen Werkstatt.“ Es kommt hinzu, daß die „Transportkosten, die ... in das Kaufmannsgeschäft eingehen, mit der Zersplitterung wachsen“ (Kap. III/1, 279). Es wächst die Zahl der Geschäfte, also auch der Angestellten: „Im Maß wie sich die Produktionsstufe erweitert, vermehren sich die kommerziellen Operationen.“ Es wird dadurch Anwendung kommerzieller Lohnarbeiter nötig (Ebenda, 283). Andererseits aber wächst trotzdem der Kleinhandel: Das nicht oder halb fungierende Kaufmannskapital wächst mit der ... Leichtigkeit der Einschiebung in den Kleinhandel, mit der Spekulation“ (Ebenda, 295). Mit dem Entstehen von Aktien- und Genossenschaftswesen endlich erfolgt sowohl im Handel wie in der Industrie die Scheidung des Kapitalisten vom industriellen und kommerziellen Manager, so „daß die Arbeit der Oberleitung, ganz getrennt vom Kapitaleigentum, auf der Straße herumläuft ..., mit der Bildung einer zahlreichen Klasse industrieller und kommerzieller Dirigenten“ (Ebenda, 373/5). Was die Industrie anbelangt, schreibt ST.: „Der immer größer werdenden Zahl des Proletariats steht nicht die immer kleiner werdende der Kapitalmagnaten gegenüber, sondern eine stets wachsende Schicht TOD kleinen und kleinsten Geldkapitalisten, die mit Zinsen abgespeist werden ... Dazu kommt, daß ... sich eine reine Rentnerklasse herausgebildet hat.“ „Sie wirkt konterrevolutionär“ (S.343). Das sind die „Tatsachen“, die für die Konsequenzen der M.schen Lehre so verhängnisvoll sein sollen und die mit den Ausführungen des historischen M. in Einklang zu bringen verfehlt ist.

Die Zahl der Kapitalmagnaten wird also nach M. kleiner. Beweis? Schema. Aber das Schema zeigt vereinfachungshalber bloß zwei Produktionssphären mit Riesenkapitalen, die immer mehr der Konzentration unterliegen. Unter dieser Voraussetzung wird die Zahl der Kapitalisten tatsächlich immer kleiner. Aber M. zeigt, daß die Wirklichkeit eben nicht bloß ans zwei Produktionssphären besteht. In der empirischen Welt dringt das Kapital in immer neue Sphären ein. „Zugleich reißen sich Ableger von den Originalkapitalen los und funktionieren als neue selbständige Kapitale ... Mit der Akkumulation des Kapitals wächst daher ... die Anzahl der Kapitalisten“ (Kap. I, 642). Der „historische M.“ sagt aber noch mehr. Das Schema ist aus Vereinfachungsgründen auf Basis der Bargeldzahlungen, also unter Ausschaltung des Kredits, konstruiert. M. versäumt aber nicht, nachher die Rolle des Kredits zu zeigen. Dieser bewirkt oft, „daß ein Mann ohne Vermögen sich ... in einen Kapitalisten verwandeln kann“. Hier ist also eine weitere Quelle, ans der die Zahl der aktiven Kapitalisten durch eine Reihe „neuer Glücksritter“ stets vermehrt wird. Dieser Umstand „befestigt die Herrschaft des Kapitals selbst, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften ans der gesellschaftlichen Unterlage zu rekrutieren“ (Kap. III/2, 140).

Aber die Rentnerklasse, die Zwischenschichten? Von diesen ist gewiß im „Schema“ keine Rede, weil in ihm alle Kapitalisten zunächst als Gesamtklasse behandelt werden, daher kein Platz für die Einteilung der Kapitalisten in Geldleihende, also müßige und aktive Kapitalisten vorhanden war. Nachträglich werden sie aber berücksichtigt und ihre Funktion exakt bestimmt. Daß M. sie nicht übersehen hat, muß auch ST. zugeben, indem er ein M.zitat aus dem III. Bande des Kapital vorbringt. Da er aber in Unkenntnis der M.schen Untersuchungsmethode, sich nicht erklären kann, warum diese Elemente im Schema nicht vorkommen, schließt er, daß sie offenbar für M. von geringer Bedeutung waren, und versieht das erwähnte Zitat mit der charakteristischen Bemerkung: die Rentnerklasse „begann sich in England schon zu M.s Zeiten zu entwickeln und er nimmt auch von ihr Notiz“. Aber, fügt ST. gleich hinzu, ihr „Umfang im Hochkapitalismus ist ungleich bedeutsamer“ (S.343). Also zu M.s Zeit, d.h. wohl in der Entstehungszeit des Kapital, d.h. um die 70 er Jahre „begann“ sich diese Klasse zu entwickeln (!) und M. nimmt von ihr nur „Notiz“, ohne jedoch ihre spätere Bedeutung zu ahnen, habe also die Bedeutung des Zins- und Wucherkapitals im Kapitalismus nicht genug gewürdigt!

Soll man solche Behauptungen Überhaupt noch ernst behandeln oder annehmen, ST. habe die einschlägigen Kapitel im III. Bd. des Kapital nie zu Gesicht bekommen? Der „historische Marx“ zeigt uns aber, wie im Frankreich von 1848, „wo die Staatsrente den bedeutendsten Gegenstand der Spekulation und die Börse den Hauptmarkt für die Anlegung des Kapitals bildet, das sich anf eine unproduktive Weise verwerten will ... eine zahllose Masse von Leuten aus allen bürgerlichen und halbbürgerlichen Klassen an der Staatsschuld, am Börsenspiel, an der Finanz beteiligt sein muß“, wie „mit der Staats Verschuldung notwendig die Herrschaft des Staatsschuldenhandels, der Staatsglanbiger, der Bankiers, der Geldhändler, der Börsenwölfe“ entstanden ist (Klassengegensätze in Frankreich [1920], S.83/84.) In Kapital wird dann gezeigt, wie mit der Staatsschuld die Klasse der müßigen Rentner geschaffen wird, die sich stets bereichert und vermehrt, „Ohne daß sie dazu nötig hatte, sich der von der industriellen und selbst wucherischen Anlage unzertrennlichen Mühewaltung und Gefahr auszusetzen“, daß weiterhin „die Staatsschuld .. den Handel mit negoziablen Effekten aller Art, die Agiotage, emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie“ (Kap. I, 781). Der „historische M.“ lehrt, daß in England bereits zu Ende des 17. Jahrhunderts „eine Brut von Bankokraten, Finanziers, Rentiers, Maklern, Stockjobbers und Börsenwölfen auftauchte“ und am Anfang des 19. Jahrhunderts, also zwei Generationen vor der Entstehungszeit des Kapital, zu einer sozialen Bedeutung gelangte, die der Aufmerksamkeit der Ökonomen nicht entgehen konnte. Sie wurde bereits 1833 von G. RAMSAY nicht nur „festgestellt“, sondern als eine notwendige Begleiterscheinung der Kapitalakkumulation dargestellt „Wie ein Volk fortschreitet in der Entwicklung des Reichtums, entsteht und wächst immer eine Klasse von Leuten..., die vom bloßen Zinslehen können ... Diese Klassen haben eine Tendenz, mit dem wachsenden Reichtum des Landes sich zu vermehren ... Wie zahlreich ist nicht die Klasse der Rentiers in England.“ Und die „Notiz“ des „historischen Marx“ besteht nicht bloß darin, daß er diese Schilderung RAMSAYs zweimal (Kap. III/1, 346, und Theorien III, 414) ausführlich wiedergibt, sondern noch darin, daß er die Rolle der Geldakkumulation untersucht und aus der Tatsache der wachsenden Zahl der Rentner und Kapitalisten „eine Tendenz zum Fallen des Zinsfußes ableitet“ (Kap. III/1. 346). Wer von diesen Dingen nichts weiß, wie ST., der soll zunächst eich die Anfangs-gründe des Marxismus aneignen, bevor er ihn reformieren will.

M. (Theorien II/2, 353) zeigt uns, wie mit der Akkumulation des Kapitals „die nicht von der Arbeit direkt lebenden Klassen und Unterklassen sich vermehren, besser als früher leben“; ferner, daß „aus der Geschichte von 1815 bis 1847 zu ersehen ist, daß monied interest zum größten Teile ... im Kampfe um die Korngesetze unter den Alliierten des landed interest gegen das manufactnring interest sich befand“ Und er fügt (ebenda II, 318) erklärend hinzu, daß unter „monied claß“ der Engländer die Geldverleiher, die von Zins leben, Bankiers, Wechselmakler etc., versteht. M. war es endlich, der gegen RICARDO den Vorwurf erhoben hat: RICARDO habe vergessen, „die beständige Vermehrung der zwischen Arbeitern ..., Kapitalisten und Grundeigentümern ... in der Mitte stehenden Mittelklassen hervorzuheben, die ... die soziale Sicherheit und Macht der oberen Zehntausend vermehren“ (ebenda, 368). Und doch soll derselbe M. in den Irrtum RICARDOs verfallen?

Aber hinter diesen Einwänden ST.s steckt mehr als bloß die Unkenntnis von M. Ist es doch gerade einer der Leitgedanken des M.schen Hauptwerkes, daß je mehr die Bourgeoisie „aus der aktiven Produktionstätigkeit ausscheidet“, je mehr sie sich zu einer parasitären Rentnerklasse entwickelt, „sie mehr und mehr überflüssig, ... wie seinerzeit der Adel, eine bloß Revenuen einstreichende Klasse wird.“ [7] ST. muß diesen Sachverhalt entstellen, da er sonst kein Feld für seine Entdeckungen hätte. Er bemerkt daher: „Aber diese Tendenzen (zur Bildung der Mittelschichten usw.), die in der Zeit der Abfassung des M.schen Kapital erst im Entstehen waren, sind für die Gestaltung des Hochkapitalismus entscheidend“ (S.259). Also sie sollten erst in den 70er Jahren entstehen, während M. ihre Entstehungszeit zu Ende des 17. Jahrhunderte nachweist und zeigt, daß sie bereits im Kampf um die Korngesetze eine bedeutende Rolle spielten. Nicht genug damit, treibt ST. 100 Seiten später die Karikatur des M.schen Gedankens noch auf die Spitze mit der graphisch dargestellten Behauptung, daß nach der M.schen Klassen-Pyramide überhaupt keine Mittelschichten bestehen, sondern daß zwischen dem Proletariat und den wenigen Kapitalmagnaten ein leerer Raum sich befindet (S.346)!

Nach ST. ergab sich die Entwicklung des M.schen Schemas als notwendige Konsequenz seiner falschen methodologischen Voraussetzung, daß kein nichtkapitalistischer Raum besteht Nur unter dieser Voraussetzung – behauptet ST. – setze sich die Gesetzmäßigkeit des M.schen Schemas, d.h. das Verschwinden der Mittelschichten durch, weil eben keine abschwächenden Gegentendenzen, die durch den nichtkapitalistischen Baum geschaffen werden, vorhanden sind. Haben wir im obigen gezeigt, daß bei M. die Zahl der Mittelschichten unabhängig vom nichtkapitalistischen Raum wächst und dieses Wachstum sich gerade aus der inneren Gesetzmäßigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst ergibt, so haben wir damit einen der Grundpfeiler der M.schen Ausführungen als unhaltbar aufgezeigt und zugleich den unverzeihlichen Leichtsinn und die Oberflächlichkeit aller jener, die ohne Kenntnis der Grundelemente der M.schen Forschungsmethode und unfähig über den engen Horizont des flachen Empirismus hinauszugehen, mit naiver Überlegenheit auf die primitivsten „Tatsachen“ verweisen, die M. angeblich nicht berücksichtigt hat Und diese grundfalsche, stets wiederholte Behauptung wird als längst „anerkannte“ Wahrheit dargestellt, welche die Unvereinbarkeit des M.schen Systems mit der empirischen Wirklichkeit einwandfrei bekräftigt.
 

II. Die Sternbergschen Schlußfolgerungen, oder Wie man Revolution macht

Die Frage nach dem Gründe der Stachen Entstellungen und Unterschiebungen im Verhältnis zu M. führt uns zum Hauptthema des Buchs, zu ST.s Revolutionsthese, mit der die Analyse des Imperialismus, entgegen aller Erwartung, in keinem inneren Zusammenhang steht, wie gleich gezeigt werden soll.

Welche Schlußfolgerungen zieht ST. ans der Tatsache des Bestehens der Mittelschichten?

Diese Frage berührt das Problem der Taktik, das bei ST. eine große Rolle spielt M. habe auch dieses Problem und dessen Wichtigkeit für die sozialistischen Parteien verkannt. Erst ST. korrigiert ihn und lehrt, daß es „von einer Bedeutung ist, die es nie ans dem System des historischen M. gewinnen konnte“ (S.355). Nun hat offenbar ST. entweder selbst nie die politischen Schriften von M. gelesen, oder er spekuliert auf die Ignoranz gläubiger Leser. Seit dem Kommunistischen Manifest, seit dem berühmten Zirkular der Zentralbehörde des Kommunisten-Bundes vom März 1850, und dann in einer Reihe glänzender politischer Schriften wie Die Klassenkämpfe in Frankreich, Der achtzehnte Brumaire, Die Revolution und Konterrevolution in Deutschland, wie später in den Schriften und Briefen über die Internationale Arbeiterassoziation und die Pariser Kommune hat M. die Probleme der proletarischen Taktik, die Rolle und Aufgabe des Proletariats in den kommenden Revolutionen, das Verhältnis zu den Mittelschichten, sowie endlich den Charakter der proletarischen Revolutionen selbst geschildert. Dort wird auf das Bauerntum und das städtische Kleinbürgertum hingewiesen, als auf die „Klasse, ... die in jeder modernen Revolution von höchster Bedeutung ist[8], und schließlich nachgewiesen, wie und unter welchen Bedingungen „Bauern, Kleinbürger, die Mittelschichten überhaupt, neben das Proletariat treten“, sich von den herrschenden Klassen loslösen und allmählich zur „Auflehnung gegen die Bourgeoisdiktatur, zum Bedürfnis einer Veränderung der Gesellschaft“, endlich zur „Gruppierung um das Proletariat als die entscheidende revolutionäre Macht“ getrieben werden. [9] Und nach all dem ST.s Versicherung: „im System des historischen M.“ bestehe für die richtige Würdigung der Taktik keine Möglichkeit!

Was hat nun M. übersehen und ST. entdeckt?

In ST.s Art zeigt sich die grobe Simplifizierung aller wirklichen Probleme der Taktik. Ans dem komplizierten, gewaltigen Fragenkomplex greift er eine einzelne, die Zeitpunktfrage, heraus und baut darauf den eigentlichen Gehalt seines Buches auf.

Es war seinerzeit BERNSTEIN, der die Befürchtung aussprach, das Proletariat könnte zu früh die politische Macht zu ergreifen versuchen. ST. oktroyiert nun die BERNSTEINsche Auffassung M. auf. Nach M. führt parallel mit der wachsenden Betriebskonzentration eine aufsteigende Entwicklungslinie zur Revolution, die sich am Endpunkt dieser Linie „automatisch“ einstellt. ST. folgert daraus, daß „im M.schen System die Revolution zu früh, nie zu spät kommen kann“ (S.355). Sein „Gegensatz zu M.“, seine Entdeckung besteht nun in der Verbesserung dieser angeblichen M.schen Auffassung dahin, daß die Revolution – auch „zu spät“ kommen kann. Er siebt nämlich voraus, daß in künftigen ..imperialistischen Kriegen die Kapitalverwüstung ganz ungeheuere Dimensionen annimmt“ (S.331). Tritt das aber ein – und hier beginnt die Glanzleistung ST.s – „dann besteht die gerade, einfache Entwicklungslinie des M.schen Systems nicht. Imperialistische Kriege können die Folge haben, die Sozialisierungsreife zurückzuschrauben“ (S.331).

Nach M. war die Zeit für die Revolution, in der ST.schen Interpretation, gegeben, wenn die Produktivkräfte objektiv zur Vergesellschaftung reif geworden sind. In diesem Augenblick besaß das Proletariat „automatisch“ auch das nötige Klassenbewußtsein! Die Revolution „mußte sich nach M.s System aus der immer stärkeren Konzentration (!) ergeben“ (S.332). Nach ST. muß »ich diese Sozialisierungsreife nicht ergeben. Der imperialistische Krieg kann den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise verhindern, „kann Euramerika geschichtslos machen“ (S.332). Was darunter zu verstehen ist, hat ST., trotz der entscheidenden Wichtigkeit dieses Begriffs in seinem „System“ und der damit ausgesprochenen Bedrohung der Kulturmenschheit, nirgends auch nur angedeutet. Oder soll der Hinweis auf das Schicksal Roms und Ägyptens genügen? Die Entwicklung der Menschheit werde durch den Krieg zurückgeschraubt! Heißt dies etwa Verlangsamung des Tempos? Dann wäre der Sieg des Sozialismus zwar verzögert, aber an sich nicht zu bezweifeln. ST. negiert indeß die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus. Dieser muß nicht kommen. Das kann aber nur unter der Voraussetzung zutreffen, daß der Antrieb zur Entwicklung der Produktivkräfte und damit des gesamten gesellschaftlichen Überbaues, von einem bestimmten Tag an, ein für allemal unterbrochen, daß von keinen neuen Werkzeugen und Maschinen, von keinen neuen Arbeitsmethoden und chemischen Verfahren mehr die Rede ist usw. Die gegenwärtig erreichte Stufe der Technik würde dann, freilich auch nur dann petrifiziert, und dann allerdings auch der gesamte Überbau zum Stillstand gebracht.

Erst wenn man sich das vergegenwärtigt, wird die Tragweite der Vervollständigung und Fortsetzung der materialistischen Geschichtsauffassung durch ST.s „Geschichtslosigkeits“-Begriff klar. Die Fortsetzung der M.schen materialistischen Geschichtsauffassung besteht eben darin, daß man sie einfach ausschaltet. Aber wir wissen, daß die Menschheit als Ganzes in ihrem Streben nach Entfaltung der Produktivkräfte nicht aufgehalten werden kann, und daß das relative Zurückbleiben einzelner Nationen in gewissen Geschichte-Perioden selbst nur ein Symptom der Entwicklung neuer Produktivkräfte ist. Der wirtschaftliche Niedergang der Länder im Gebiete des Schwarzen Meeres seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ist z.B. nur der Ausdruck der Verschiebung der Welthandelsstraßen durch die Entdeckung Amerikas und die damit erfolgte gewaltige Steigerung der Produktivkräfte.

Daß der Krieg Zerstörungen mit sich bringt, soll nicht bestritten werden. ST.s Behauptung aber, daß diese Zerstörungen die Sozialisierungsreife zurückschrauben können, widerspricht den Erfahrungen sowie der inneren Natur des Kapitalismus. Entweder wird die Zerstörung so groß, daß sie die Basis des Produktionsapparates selbst ergreift, dann zersetzt sich aber der gesamte kapitalistische Mechanismus und zwischen die Klassen schieben sich die Barrikaden ein. Im anderen Fall verarmt zwar die Gesellschaft durch die Verwüstungen, aber darin liegt gerade der Antrieb zur forcierten Entwicklung der Produktivkräfte, zu gewaltiger Konzentrations- und Rationalisierungsbewegung, wie wir sie jetzt in Deutschland erleben. Denn das ist auf kapitalistischer Basis die einzige Möglichkeit, sich im Konkurrenzkampf gegen andere reichere Kapitalmächte zu bewähren. Tatsächlich hat der Weltkrieg trotz seiner Verwüstungen überall die bereits vorher vorhandenen Konzentrations- und Zusammenschlußtendenzen beschleunigt und potenziert. LENIN hat das bereits 1915 festgestellt. [10] Es genügten wenige Jahre, um die Vorkriegsentwicklungsstufe einzuholen und zu überholen. Der Absturz in die Geschichtslosigkeit ist eine naive inhaltlose Phrase. Nimmt man aber mit ST. die Möglichkeit an, die Menschheit könne durch den nächsten imperialistischen Krieg in die Geschichtslosigkeit gestürzt werden, so bleibt zu ihrer Rettung nichts übrig, als dem nächsten Krieg durch eine Revolution zuvorkommen.

Hier zeigt sich der weitere „Fortschritt“ ST.s über M. hinaus. Der Zeitpunkt für die Revolution, behauptet ST., war für M. unwesentlich. „Im M.schen System konnte nie der entscheidende Zeitpunkt für eine Revolution verpasst werden“ (S.333). Aus ST.s „System“ ergibt sich aber, daß er eben „verpaßt“ werden kann. „Die Revolution kann durchaus zu spät kommen“ (S.333), in einem Zeitpunkt, „an dem das Versinken der aktiv-imperialistischen Staaten in die Geschichtslosigkeit nicht mehr aufgehalten werden kann“ (S.358). M.a.W., die „Probleme der Taktik“ reduzieren sich bei ST. auf die Frage – des Zeitpunktes der Revolution. „Damit gewinnt die Frage des Zeitpunktes der sozialistischen Revolution eine Tragweite, wie sie sie niemals im M.schen System erlangen konnte“ (S.333). „Daher wird der Zeitpunkt der Revolution das entscheidende Problem“ (S.355). „Da die Revolution zu spät kommen kann, wird die Taktik zur entscheidenden Frage, denn sie bestimmt den Augenblick des Losbrechens“ (S.358), und es ergibt sich daher die Notwendigkeit, „daß der Zeitpunkt der Revolution ... auch mit Rücksicht auf den imperialistischen Krieg gewählt werden muß“ (S.347).

Ist die „Wahl“ des Zeitpunktes zum Losbrechen die „entscheidende Aufgabe“, so wird es interessant zu erfahren, ob und an welche Bedingungen ST. diesen Zeitpunkt knüpft, endlich wer ihn bestimmen soll.

Nach ST. sind ja doch die konterrevolutionären Kräfte zu stark, die Sozialisierungsreife zu gering, die Mittelschichten zahlreich und an Zahl zunehmend. Kurz, die objektiven Bedingungen, „das Klassenverhältnis ist also im Zeitalter des Imperialismus für die Revolution ein weitaus ungünstigeres, als es M. annehmen konnte“ (S.346), und es verschlechtert sich noch immer weiter.

Aber nicht nur die objektiven Bedingungen. „Das Schaurige, das Teuflische dieser historischen Situation ist, daß die objektiven Bedingungen, die zum Imperialismus, zum Kriege ... fuhren, gleichzeitig das Klassenbewußtsein der Klasse getrübt haben und noch weiter trüben, die allein imstande ist, die Welt vom Verhängnis zu befreien (S.351).

Soll das etwa heißen, daß mangels sowohl der objektiven wie der subjektiven Bedingungen der Revolution auf die Revolution verzichtet werden muß? „Gewiß ist erfolgreiche Revolution nur möglich, wenn die Kräfte des antiimperialistischen Blocks stärker sind, als die des imperialistischen“ (S.352). Aber sie sind nach ST. eben schwächer. Von seinem Standpunkt aus muß er also entweder auf die Revolution verzichten, oder den Weg zeigen, auf dem der antiimperialistische Block stärker werden kann. Nun kennzeichnet es ST.s Logik, daß er einen dritten Weg einschlägt. Die objektiven Bedingungen werden für die Revolution ungünstiger? ST. verzichtet auf die ökonomischen Bedingungen und begnügt sich mit dem „Minimum“ an Sozialisierungsreife. Aber dieselben objektiven Bedingungen trüben auch das Klassenbewußtsein ? Man verzichtet auch auf dieses, soweit es eben durch die ökonomischen Verhältnisse bedingt ist. Aber die „schaurige Situation“ dauert noch an. Was tun? Muß nicht ST. zeigen, was an die Stelle der M.schen Auffassung zu setzen ist? Statt eine offene Antwort zu geben, erhebt ST. an diesem Punkt seines Gedankenganges – und das ist auch eine Antwort - den Vorwurf gegen M.: daß bei diesem „die Intellektuellen kaum von Bedeutung für die Gestaltung des historischen Prozesses“ sind (S.351). Mit billigem Pathos mahnt er die Intellektuellen auf die Seite der Bekämpfer des Kapitalismus zu treten (S.315–320). Aber auch mit den Intellektuellen zusammen ist die zahlenmäßige Übermacht der Konterrevolution nicht beseitigt „Nicht nur sind die kapitalistischen, die imperialistischen Kräfte stärker, sondern die antikapitalistischen, die antiimperialistischen Kräfte selbst sind bedroht, bedroht infolge der Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiterschaft im Imperialismus“ (S.353). Nach der M.schen Auffassung treiben die objektiven Bedingungen zum notwendigen Untergang des Kapitalismus, zum Zusammenbruch und zur Revolution. „Denn kommen musste sie,“ sagt ST. (S.356). Daher nach M. „die immanente Notwendigkeit des Sozialismus“ (S.348). Aber ST. negiert ja diese Notwendigkeit. Seine Antwort auf die Frage nach dem Wege zur Revolution lautet also einfach und klar: man dekretiert sie! „Wenn die kapitalistische Entwicklung sich nach dem M.schen Schema vollzogen hätte ..., die sozialistische Revolution ... käme mit 90% Wahrscheinlichkeit ... Angesichts der Gefahren imperialistischer Kriege kann eine sozialistische Revolution auf die 90% Wahrscheinlichkeit nicht warten.“ Sie „muß sich auch mit einer geringeren Wahrscheinlichkeitsquote abfinden“ (S.354). Basta! Credo quia absurdum! Das will ST. an Stelle der M.schen Lehre von den objektiven Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und von dem sich ans denselben ergebenden Klassenkampf setzen! Aber in seinem Unterbewußtsein lebt noch der Rest eines Gefühls für die Lächerlichkeit seiner Entdeckung. Stat magni nominis umbra! Um von der Wucht des M.schen Genius nicht zermalmt zu werden, muß ST. dessen „immanente Notwendigkeit“, also die objektive 100%ige Sicherheit des Sozialismus, an dieser Stelle und um dieses Vergleiches halber in eine 90%ige „Wahrscheinlichkeit“ verwandeln! Wenn er eine kleinere Wahrscheinlichkeitsquote als M. verlangt, so ist der Vergleich mit M. nunmehr dennoch schon leichter. Beide Auffassungen über das Werden der Revolution sind auf dieselbe Fläche gebracht. Der Unterschied betrifft nur mehr die wenigen Prozent Revolutionswahrscheinlichkeit. Immerhin aber bleibt für ST. das Verdienst, daß er als Erster eingesehen hat, daß man sich schon mit einer kleineren Wahrscheinlichkeit begnügen kann und darf. Il me faut du nouveau, n’en fût-il point au monde!

Das erforderliche Perzent der Wahrscheinlichkeit für die Revolution nennt ST. nicht. Da jedoch nach ihm die konterrevolutionären Kräfte gegenwärtig stärker sind, so betragen die revolutionären Elemente jedenfalls weniger als 50%. Auch das genügt ihm, da er sich ja mit dem Minimum an Sozialisierungsreife begnügen will. Die Frage nach diesem Minimum ist zwar kompliziert, aber „für Europa kann man die Behauptung wagen, daß das Minimum an Sozialisierungsreife rein technisch gegeben ist“ (S.337). Woran es zur Revolution noch fehlt, ist das richtige Bewußtsein, soweit es durch die Ökonomik bedingt ist, weil es – wie wir wissen – durch die objektiven Bedingungen „getrübt“ wird. Da man aber „nicht warten kann“, so muß man ein von den ökonomischen Bedingungen losgelöstes Bewußtsein schaffen. Man denke an die „Bedeutung der Intellektuellen für die Gestaltung des historischen Prozesses“!

Die Überwindung des durch die ökonomischen Bedingungen getrübten Bewußtseins ist die eigentliche Aufgabe der Partei! „Die Partei hat ... eine weit bedeutsamere Funktion, als sie sie im System von M. erhalten konnte“ (S.352) ... Hier liegt die ungeheure Aufgabe der Partei in den Ländern des aktiven Imperialismus. Sie hat ... die Trübung des Klassenbewußtseins der Arbeiterschaft zu überwinden ..., den historischen vergänglichen Charakter der A–D-Linie, der Schonzeit, aufzuweisen“ (S.353). Sie hat „hier einzusetzen, hier sich nicht in Tagespolitik ... zu verzetteln ... hier mit eiserner Notwendigkeit daran festzuhalten, daß das Ziel alles sei“ (S.353). Wohlgemerkt, dies alles rein voluntaristisch – obwohl die objektiven Bedingungen in entgegengesetzter Richtung arbeiten.

Jetzt betrachten wir erst die ST.sche materialistische Geschichtsauffassung. Trotz der materialistischen Bedingtheit der Geschichtsentwicklung, keine Notwendigkeit des Sozialismus; trotz ihrer die Möglichkeit des Herabsinkens in Geschichtslosigkeit, – in der die Menschen offenbar sozusagen unabhängig von den ökonomischen Bedingungen in der Luft hängen; trotz ihrer endlich das Klassenbewußtsein geformt unabhängig und in Gegensatz zu den ökonomischen Bedingungen durch die Partei und die Intellektuellen – jedoch abseits von aller Tagespolitik!

Bei ROSA LUXEMBURG stand die ökonomische Analyse der nichtkapitalistischen Absatzmärkte im engsten inneren Zusammenhang mit dem Werden des Sozialismus. Die Durchkapitalisierung der Kolonialländer, die Unmöglichkeit, den .Mehrwert im rein kapitalistischen Raum zu realisieren, führte objektiv zum notwendigen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Der Sozialismus ergab sich bei ihr aus dem Entwicklungsgang der Wirtschaft. Wenn ST. sich als ein Vollender darstellen will des Gedankens von ROSA LUXEMBURG, so muß auch hier ein arger Mißbrauch des Namens der großen Kämpferin festgestellt werden. Halt man eine „zu späte“ Revolution und das Herabsinken in die Geschichtslosigkeit für möglich, negiert man die objektive Notwendigkeit des Sozialismus, so negiert man nicht weniger als das Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus selbst. „Die immanente Notwendigkeit des Sozialismus“ – heißt es bei ST. – „wie sie M. und ENGELS gesehen haben, besteht in dieser Weise nicht“ (S.348). „Die sozialistische Produktionsweise ergibt sich durchaus nicht mit Notwendigkeit“ (S.325). Wenn jedoch der Sozialismus nach ST. nicht mit Notwendigkeit kommen muß, so kann er dennoch kommen. Seine Verwirklichung hängt aber von der „Wahl“ des Zeitpunkts zum Losbrechen ab, von der Stellungnahme der Intellektuellen und von der Einhämmerung des „richtigen Bewußtseins“ abseits vom Klassenkampf. M.a.W. wir erhalten so, um mit ROSA LUXEMBURG zu reden, eine Begründung des Sozialismus durch „reine Erkenntnis“, d.h. eine idealistische Begründung, vom Schreibtisch aus, nach dem vorausahnenden Wort ROSA LUXEMBURGs „einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfs“.

Damit ist der Sozialismus, der seinerzeit den Weg von der Utopie zur Wissenschaft durchgemacht hat, glücklich wieder von der Wissenschaft zur Utopie zurückgekehrt. Unabhängig von den im Kapitalismus wirkenden Kräften und vielmehr in Gegensatz zu ihnen wird der Sozialismus von rein subjektiv-voluntaristischen Momenten abhängig gemacht – trotzdem ST. ja meint, „daß es gilt, den Sozialismus nicht aus dem Kopf zu bilden, sondern im Kapitalismus selbst die Kräfte aufzuweisen, die ihn herbeizuführen bestimmt sind“ (S.7).

Bisher haben sich nur die bewußten Gegner des Marxismus bemüht, die geschichtlich-objektive Notwendigkeit des Sozialismus – also die wesentliche Basis des wissenschaftlichen Sozialismus – zu widerlegen. Auch hierin sehen wir ST. nur BERNSTEIN wiederkäuen. „Die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung – sagt BERNSTEIN [11]ist die Frage nach dem Grade der geschichtlichen Notwendigkeit.“ Er bekämpft nun der „Geschichte ehernes Muß“. „Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange?“ fragt er. Je höher die Entwicklung, um so mehr „beeinflussen neben den rein ökonomischen Mächten auch andere das Leben der Gesellschaft, und verändert sich auch das Walten dessen, was wir historische Notwendigkeit nennen ... Der heute erreichte Stand ökonomischer Entwicklung läßt den ideologischen und insbesondere den ethischen Faktoren einen größeren Spielraum selbständiger Betätigung“. Und BERNSTEIN gibt weiter zu (a.a.O., S.179), daß er tatsächlich den Sieg des Sozialismus „nicht von dessen immanenter ökonomischer Notwendigkeit“ abhängig macht, sondern von der „intellektuellen und moralischen Reife der Arbeiterklasse selbst“, also von ethischen Faktoren, von der Einsicht, daß der Sozialismus erwünscht sei! KANT wird gegen M. angerufen. Das alles, weil BERNSTEIN den Gegensatz zur materialistischen Geschichtsauffassung offen zugibt. ST.s höhere Originalität aber zeigt sich darin, daß er in einem Atemzug sich zur materialistischen Geschichtsauffassung bekennt und gleichzeitig sie verneint, dabei jedoch den „lebendigen Marx“ auf seiner Seite zu haben versichert.

Nichts kann die Verworrenheit ST.s und zugleich seine Naivität besser charakterisieren, als seine Vorstellung von zwei Auffassungen über das Werden der Revolution. Der angeblich M.schen Auffassung, daß die Revolution „abgewartet“ werden maß, bis die wirtschaftliche Situation reif ist, stellt er die „eigene“ entgegen, wonach die Revolution rein voluntaristisch erfolgen soll. So möge denn demgegenüber die Stimme eines Fachmannes in Revolutionsangelegenheiten und Marxisten zugleich zitiert werden. Die Marxisten – sagt LENIN 1915 – wissen wohl, daß die Revolution nicht „gemacht“ werden kann, daß sie ans den objektiv (unabhängig vom Willen der Parteien und Klassen) reif gewordenen Krisen und Umwälzungen der Geschichte erwachsen ... [12] Der Marxismus beurteilt die Interessen auf Grund der Klassengegensätze und des Klassenkampfes, die sich in Millionen von Tatsachen des Alltagslebens äußern ... Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel, daß eine Revolution unmöglich ist ohne revolutionäre Situation ...Für den Ausbruch der Revolution ist es gewöhnlich nicht genügend, daß die „Unterschichten nicht wollten“, sondern, noch erforderlich, daß die Spitzen nicht konnten, d.h. daß für die herrschenden Klassen die objektive Unmöglichkeit entsteht ihre Herrschaft in unveränderter Form zu behaupten. Zweitens „eine außergewöhnliche Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen“. Ohne diese objektiven Veränderungen, die unabhängig sind vom Willen nicht nur einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch einzelner Klassen, ist eine Revolution – nach der allgemeinen Regel – unmöglich. Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen wird auch als revolutionäre Situation bezeichnet. Erst als weitere Bedingung subjektiven Charakters tritt nicht bloß daß „revolutionäre Bewußtsein“ hinzu, (das übrigens durch keine bloße Einhämmerung des Endziels in die Köpfe ohne eine revolutionäre Situation herstellbar ist), sondern was ganz anderes ist, „die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen,“ was eine Organisation des einheitlichen Willens der Massen und lange Erfahrungen im Klassenkampf des Alltags voraussetzt. „Dies sind die marxistischen Ansichten über die Revolution, die wiederholt entwickelt und von allen Marxisten als unstreitig anerkannt wurden.“ [13]

Und noch eins! Derselbe ST. der alle Notwendigkeit des geschichtlichen Geschehens, daher auch des Sozialismus negiert, anerkennt sie doch für zwei Ereignisse. In einer gewissen Phase des Kapitalismus „ist der Vorstoß in nichtkapitalistische Territorien eine immanente Notwendigkeit, unabhängig von dem Wollen der herrschenden Schicht“ (S.268); und zweitens, „daß der Imperialismus zu Kriegen zwischen den einzelnen aktiv-imperialistischen Staaten fahren muß“ (S.266), daß „der Krieg mit immanenter Notwendigkeit folgt“ (S.300) – „und daß infolgedessen der Geschichtsverlauf in jedem Falle ein anderer sein muß, als M. es voraussagte“ (S.266). Daß hierin ein Widerspruch liegt zur Behauptung, es gebe in der Geschichte keine Notwendigkeit der Entwicklung, darüber ist sich ST. nicht klar, wie er überhaupt von der Konsequenz seines eigenen Standpunktes nicht viel hält und es vorzieht, mit LAFONTAINE zu sagen: Diversité, c’est ma devise! Wir werden daher später zeigen, wie dieser Widerspruch bei ST. entstanden und wie der Satz von der „immanenten Notwendigkeit“ des Krieges in sein Buch gelangt ist.

Alles in allem kann man ST.s Revolutionstheorie charakterisieren als den Versuch eines Intellektuellen, der bisher dem Marxismus fernstand, sich selbst die Grundbegriffe der marxistischen Lehre vom Endsieg der Arbeiterklasse begreiflich zu machen. Ein Versuch, der als Symptom für die geistige Krise bestimmter Intellektuellenschichten interessant sein mag, sich aber durch absolute Verständnislosigkeit des Klassenkampfs auszeichnet und in der grotesken Form einer Korrektur und Fortsetzung des „historischen“, vorderhand noch unbegriffenen Marxismus auftritt. Unter dem Eindruck der russischen Revolution, jedoch ohne deren notwendigen Mechanismus zu verstehen, will man letzten Endes die Revolution durch die Betonung des Voluntarismus beschleunigen und gelangt so zu einem Gemisch von alten blanquistischen Traditionen mit anarcho-kommnnistischen Elementen.
 

III. Die ökonomische Begründung

Wir konnten bisher die wesentlichen Elemente des ST.schen „Systems“ rekonstruieren, ohne daß wir auf dessen in den ersten drei Kapiteln gebotene theoretische Begründung zurückzugreifen brauchten. Sie bildet ein dekoratives Anhängsel, ohne inneren Zusammenhang mit dem Hauptthema und ist daher ohne Schaden für dessen Wiedergabe zu vernachlässigen. Aber ST. legt gerade auf diese Kapitel (Surplusbevölkerung, Lohn und ökonomische Krise) besonderes Gewicht und sieht in ihnen einen wesentlichen Fortschritt über M. So sei denn auch seine Mehrwert- und Lohnlehre geprüft.

Wir haben oben die Tatsachen betrachtet, die ST. – dem Revisionismus kritiklos folgend – als mit der M.schen Lehre unvereinbar ansieht Es gibt aber noch eine weitere bisher von mir nicht erwähnte Tatsache, die ST. ebenso aus der Fassung bringt, wie sie seinerzeit auch für die Entstehung des BERNSTEINschen Revisionismus von ausschlaggebender Wichtigkeit war. „Bei M. – sagt ST. – standen die Worte, daß der Akkumulation des Kapitals die Akkumulation des Elends entspricht. Aber die Empirie zeigte das Gegenteil: Der Akkumulation des Kapitals entsprach die Erhöhung des Arbeitslohns“ (S.247). Der über jede „Marx-Philologie“ erhabene ST. meint offenbar, sie sei nur dann zulässig, wenn es gilt, den M.schen Gedanken zu verzerren. „Bei M. standen die Worte“ von der Akkumulation des Elends. Dies genügt ST., um die M.sche Lohntheorie als eine absolute Verelendungstheorie zu charakterisieren, die mit der empirischen Tatsache der Lohnerhöhung nicht in Einklang zu bringen ist. Daher müßten die von den Revisionisten festgestellten Tatbestände der Lohnerhöhung „von radikaler Seite“ entweder geleugnet oder totgeschwiegen werden. „Zuletzt – sagt ST. – verlegte man sich auf Verlegenheitserklärungen wie die relative Verelendungstheorie“ (S.247). Und von oben herab fügt er hinzu: „Wenn man nun M. damit zu retten versucht, daß man den klaren Sinn seiner Worte verdreht und von einer relativen Verelendung der Arbeiterklasse spricht ..., so ist das nicht nur eine Entstellung des eindeutigen Wortlautes sondern gleichzeitig die Preisgabe der M.schen Methode“ (S.63).

ST. der immer nur ein Resonanzboden fremder Gedanken ist, schreibt hier nur wörtlich HERKNER ab, der gleichfalls bloß eine KAUTSKYsche Verdrehung darin sieht, „wenn man um den M.schen Gedanken zu retten, betont, es brauche die zunehmende Ausbeutung keine Verschlechterung der Lage einzuschließen“. Auch HERKNER wendet sich mit überlegenem Spott gegen eine „derartig theoretisch konstruierte Verelendung“. [14]

Daß die bürgerliche Ökonomik sich seit jeher durch eine absolute Unkenntnis der von ihr bekämpften M.schen Lehre auszeichnete, kann nicht verwundern. Daß sie sich aber auch in einer marxistischen Schrift findet, muß Staunen erregen. Statt von der Entstellung des M.schen Wortlautes zu sprechen, möge ST. sich doch erst einmal mit diesem Wortlaut bekannt machen und die ausführliche Darstellung des Begriffs der relativen Verelendung – nicht bei KAUTSKY, sondern – in Marxens Lohnarbeit und Kapital nachlesen! [15]

Indes ist der Begriff des relativen Lohns nicht erst von M. sondern bereits von RICARDO [16] entwickelt worden. Rechnet doch M. (Theorien III, 28) diesen Begriff eines Lohns, der zwar absolut steigt, aber im Verhältnis zum produzierten Wert und Mehrwert abnimmt, zu „den größten Verdiensten RICARDOs ... Es ist dieses ökonomisch wichtig, in der Tat nur ein anderer Ausdruck für die wahre Theorie des Mehrwerts. Es ist ferner wichtig, für das soziale Verhältnis beider Klassen“. Und an anderer Stelle heißt es: „Es ist möglich, daß in Gebrauchswerten ... der Arbeitslohn steigt bei steigender Produktivität und doch dem Werte nach fällt und umgekehrt. Es ist eines der großen Verdienste RICARDOs, den relativen Arbeitslohn betrachtet und als Kategorie fixiert zu haben. Bisher wurde der Arbeitslohn immer nur einfach betrachtet, der Arbeiter daher als Tier. Hier aber wird er in seinem sozialen Verhältnis betrachtet. Die Stellung der Klassen zueinander ist mehr durch die proportionellen Löhne bedingt als durch die absolute Masse der Löhne“ (Theorien II/1, 141). Wir werden später zeigen, welche schwerwiegenden Konsequenzen sich bei ST. ans der Mißachtung der „wichtigen Doktrin“ (Theorien II/1, 53) vom relativen Lohn notwendig ergeben, weil ja der „relative Lohn“ im engsten logischen Zusammenhang mit dem M.schen „relativen Mehrwert“ steht. Versteht man jenen nicht, so auch unmöglich die tragende Achse des M.schen Systems, die Mehrwertlehre. Nichts kann besser die geistige Krise, ja den Verfall der bürgerlichen Ökonomik charakterisieren als die Tatsache, daß ein Jahrhundert nach RICARDO, dessen Grundbegriff von HERKNER und ST. als eine KAUTSKYsche Erfindung zur „Rettung“ von M. gestempelt wird.

RICARDO aber folgend entwickelt M.: „Was den Fonds angeht, woraus die Kapitalisten und Grundeigentümer ihre Revenue ziehen, andererseits den Fonds, woraus ihn die Arbeiter ziehen, so ist zunächst das Gesamtprodukt dieser gemeinsame Fonds... Das wichtigste ist, welche aliquoten Teile jede der Parteien ... zieht.“ Und er zeigt, „daß der Fonds, woraus die Arbeiter ihre Revenue ziehen, nicht absolut vermindert wird sondern nur relativ im Verhältnis zum Gesamtergebnis ihrer Produktion. Und das ist das einzig Wichtige zur Bestimmung des aliquoten Teiles, den sie von dem von ihnen selbst geschaffenen Reichtum sich aneignen“ (Theorien II/1, 358).

Gäbe ST. zu, daß ans der M.schen Lohnlehre sich die Tatsache der Lohnerhöhung und Besserung der Lage der Arbeiterklasse zwanglos erklären läßt, so würde seine These von der „Schonzeit“ und von dem Zusammenhang zwischen Lohnerhöhung und kapitalistischem Vorstoß in den nichtkapitalistischen Raum vollständig überflüssig. Damit er also ein Feld für seine theoretischen Entdeckungen hat, muß er vorerst die M.sche Lehre entstellen und nach HERKNERs, OTHMAR SPANNs und anderer bürgerlicher M.töter Beispiel die M.sche Lohntheorie als Verelendungstheorie darstellen. Welches ist nun die ST.sche Lohntheorie, dieses Glanzstück seiner theoretischen Analyse.

Um dies zu ermessen, muß man vorerst sehen, was er von der M.schen Mehrwerttheorie zu sagen weiß.

Wie entsteht nach M. der Mehrwert? Die Antwort liegt bereits in der exakten Formulierung der Bedingungen des Problems. Der Mehrwert entsteht und muß erklärt werden können auf Basis des Wertgesetzes, also unter der Annahme von dessen absoluter Geltung, d.h. daß sowohl die durch die Arbeit produzierten Waren wie die Ware Arbeitskraft selbst stets zu ihren Werten verkauft werden müssen. Sowohl der Warenverkäufer wie der Arbeiter erhalten für ihre Waren den ganzen Wert, keine Preiszuschläge oder Abzüge finden statt, und dennoch muß der Kapitalist „am Ende des Prozesses mehr Wert herausziehen, als er hineinwarf ... Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!“ (Kap. I, 148).

Wem ist diese Stelle des Kapital unbekannt! Und was bedeutet sie? Sie bedeutet, daß die Entstehung des Mehrwerts, „die Verwandlung des Geldes in Kapital auf Grundlage der dem Warenaustausch immanenten Gesetze zu entwickeln ist, so daß der Austausch von Äquivalenten, als Ausgangspunkt gilt“ (Kap. I, 142). Dadurch wird die Konkurrenz, das Spiel von Angebot und Nachfrage, ans der Analyse ausgeschieden. D.h. die M.sche Analyse wird unter der Fiktion durchgeführt, daß die Preise mit den Werten übereinstimmen, oder, wie M. sagt, daß die Waren zu ihren Werten verkauft werden. Wie konnte M. zu einer solchen Annahme gelangen? Sehen wir ja doch die Preise in Wirklichkeit durch die Konkurrenz stets stärkstens beeinflußt. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß die wechselnden Preise – je nach der Lage des Marktes – stets um einen bestimmten Preis, also um den relativ permanenten, den wir Wert nennen, oszillieren, so daß der Preis durch die Formel Pr = w × (n/a) ausgedrückt wird, wo Pr Preis, w Wert, a Angebot und n Nachfrage bedeutet. Obwohl der Wert der Wollstrümpfe z.B. 8 beträgt und größer sein kann als der Wert der Strümpfe ans Kunstseide, der bloß 5 beträgt, kann trotzdem der Preis der Wollstrümpfe in einem gewissen Zeitpunkt bei gesunkener Nachfrage – etwa der ½ der normalen – niedriger sein als der von Seidenstrümpfen, da 8 × ½ = 4. Ist umgekehrt in demselben Zeitpunkt die Nachfrage nach Kunstseidestrümpfen über ihre Normalhöhe gewachsen und betrüge z.B. 2/1, so wird sich der Preis der Kunstseidestrümpfe auf 5 × 2/1 = 10 stellen. Hat es also einen Sinn für die Analyse zwei Waren zu nehmen, die in so grundverschiedenen Situationen auf dem Markte sich befinden? Will ich die Schwere der Körper messen und vergleichen, so darf ich sie nicht unter verschiedenen Bedingungen, also in der Luft und im Wasser beobachten. Die erste selbstverständliche Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Analyse ist, daß die zu erforschenden Objekte unter gleichen Bedingungen untersucht werden. Für unser Problem heißt das, daß die Analyse der Preise unter der Bedingung vorzunehmen ist, daß Nachfrage und Angebot für sämtliche Waren gleichmäßig stark sind, also a = n oder 1/1, daher unberücksichtigt bleiben können. Das besagt aber, daß der Pr = w ×  1/1 oder Preis = Wert.

Tatsächlich führt M. seine Analyse unter der Voraussetzung, die dem Kapital zugrunde liegt, daß die beiden Waagschalen des Angebotes und der Nachfrage sich das Gleichgewicht halten, d.h. daß die Konkurrenz ausgeschaltet ist, also daß das Wertgesetz, d.h. „der Austausch von Äquivalenten als Ausgangspunkt gilt“. Dies ist die einzig wissenschaftlich mögliche Methode. Und erst unter dieser Voraussetzung wird gefragt, warum z.B. der Preis (Wert) der Woll- und Kunstseidestrümpfe sich wie 8 : 5 verhält. Und weiters, wie unter solchen Bedingungen, wo die Konkurrenz ausgeschaltet ist und sämtliche Waren, also auch die Ware Arbeitskraft zu ihren Werten als Äquivalente verkauft werden, der Mehrwert entstehen kann? Es gibt keinen Marxisten in der Welt, der die berühmten M.schen Ausführungen vom Schein der Konkurrenz nicht kennte und nicht wüßte, daß die Konkurrenz für sich allein ohne die ihr zugrunde liegende Wertbasis nicht imstande ist, die Grandphänomene des Kapitalismus zu erklären, der nicht wüßte, daß in der Stellungnahme zur Konkurrenz die theoretische Scheidungslinie des Marxismus von der Vulgärökonomie liegt.

Für ST. gilt dies aber nicht. Er erklärt vielmehr alles durch die Konkurrenz – wobei er den Leser täuschen zu können glaubt, wenn er sie umtauft und das altbekannte Allheilmittel jeder Vulgärökonomie als „Surplusbevölkerung“ oder als „Überkompensation der Reservearmee durch den Vorstoß in den nichtkapitalistischen Raum“ auftreten laßt, die Surplusbevölkerung weiter in eine „indogene“ und „exogene“ usw. einteilt, und so den Mangel an Gedanken durch den Reichtum an Wortbildungen ersetzen will.

Sehen wir näher zu. Wie entsteht der Mehrwert, die Mehrarbeit im Kapitalismus, fragt ST. Letztere existierte auch in der Antike und im Feudalismus. Wodurch unterscheidet sich also der Kapitalismus von den früheren Gesellschaftsordnungen? Die Antwort ST.s lautet, daß früher die Mehrarbeit eine soziologische Kategorie war, weil der Sklave und der Leibeigene gezwungen waren, über die notwendige Arbeit hinaus Mehrarbeit zu leisten. Im Kapitalismus ist aber diese eine nationalökonomische Kategorie, weil hier der „freie“ Arbeiter sie leistet. „Wer aber zwingt den freien Arbeiter zur Mehrarbeit? fragt ST. „Wer zwingt ihn noch weiter zu arbeiten, wenn er... die „notwendige“ Arbeit geleistet hat?“ Nach ST. die – industrielle Reservearmee, die Surplusbevölkeruug, die Tatsache nämlich, daß infolge der Surplusbevölkerung „zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen“ (S.47). – Das soll M. behauptet haben. Die Mehrarbeit wird im Kapitalismus geleistet „nach M. durch die ständige Reproduzierung einer „industriellen Reservearmee ... Nur wenn eine Surplusbevölkerung freier Arbeiter besteht, ist der Arbeiter genötigt, Mehrarbeit zu leisten, gibt es eine C–B-Linie“ (d.h. einen Mehrwert) (S.16). Daß die Kardinalbedingungen des Problems gerade darin bestehen, die Entstehung des Mehrwerts zu erklären, obwohl keine Konkurrenz besteht, keine Surplusbevölkerung auf den Preis der Ware Arbeitskraft drückt – davon bat ST. keine Ahnung und wiederholt in unzähligen Varianten immer wieder dasselbe (S.50, 84, 585, 605). Statt zu den Grundelementen von M.s Mehrwertslehre vorzudringen, bleibt ST.s Analyse an der Oberfläche kleben. Daher ist für ihn die „entscheidende Frage“, durch welchen Prozeß eine Surplusbevölkerung freier Arbeiter geschaffen wird, welcher er ein ganzes Kapitel widmet.

Freilich ist die Frage der Reservearmee „wichtig“. Aber gerade das erste Kapitel, wo ST. sie erörtert, zeigt, wie er das Wesen und die Funktion der M.schen Reservearmee absolut verkennt Ihre Bildung durch den technischen Fortschritt als Folgeerscheinung des Kapitalismus in allen seinen historischen Phasen, wird mit der Voraussetzung desselben, mit der Scheidung des selbständigen Produzenten von seinen Produktionsmitteln, also mit der erstmaligen – wenn auch immer wiederkehrenden – Schaffung der Proletarier verwechselt und unter dem gemeinsamen Namen der Surplusbevölkerung zusammengefaßt, daher dann die dem Kapitalismus eigentümliche Tendenz zur „Freisetzung“ der Arbeiter verwischt. Aber die Surplusbevölkerung ist nach ST. wichtig, weil sie die notwendige Bedingung für die Entstehung des Mehrwerts ist! Bier folgt ST. wörtlich OPPENHEIMER, der die „Reproduktion des Kapitalverhältnisses“ bei M. durch die Existenz einer Surplusbevölkerung entstehen läßt. [17] ST. spricht von den entscheidenden Zusammenhängen (S.590) zwischen Mehrwert und Surplusbevölkerung. „Da zwei Arbeiter (unter dem Druck der Surplusbevölkerung) einem Meister nachlaufen, so hat dieser ... die Möglichkeit, den Preis der Arbeit ungefähr auf die Reproduktionskosten herabzudrücken, realisiert also (!) einen Mehrwert“ (S.591). Warum leistet der Arbeiter „Mehrarbeit“? „Die Antwort kann nur die Analyse der Surplusbevölkerung geben“ (S.585). Und hier zeigt sich, wie tief ST. in malthusianischen Vorstellungen steckt, obwohl er dies durch einen gegen MALTHUS gerichteten Exkurs (S.585ff.) zu verschleiern sucht. Er meint, „alle Mehrwerttheorien müßten auf einer Bevölkerungstheorie basieren (S.585)... MALTHUS bildet also die ... Voraussetzung jeder bürgerlichen Analyse des Mehrwerts“ (S.593). Der ganze Unterschied zwischen M. und der bürgerlichen Theorie insbesondere MALTHUS’ reduziert sich bei ST. darauf, „daß alle bürgerlichen Theorien demzufolge ohne MALTHUS gar nicht dargelegt werden können. Nur wenn die natürliche Surplusbevölkerung es veranlaßt, daß zwei Arbeiter einem Meister nachlaufen, nur dann ist es möglich, vom Mehrwert zu sprechen (S.585) ... MALTHUS will und muß die Surplusbevölkerung des Kapitalismus als natürliches Phänomen aufweisen“ (S.597). Die M.sche Mehrwerttheorie beruht nach ST. – auch auf der Surplusbevölkerung, mit dem Unterschied bloß, daß diese Übervölkerung nicht natürlich, sondern ökonomisch, durch die Expropriation der Selbstproduzenten, sowie durch die Bildung der eigentlichen industriellen Reservearmee bedingt ist, also ein historisches Phänomen ist (S.597).

Bisher wurde allgemein als die M.sche Mehrwertlehre aufgefaßt, daß der Mehrwert durch das grundlegende Kapitalverhältnis begründet ist, d.h. durch das Monopol der Kapitalistenklasse an Grund und Boden sowie an den produzierten Produktionsmitteln. „Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen“ (Kap. I, 219). Durch dieses Monopol ist anderseits die Arbeiterklasse, weil sie von allen sachlichen Arbeitsbedingungen geschieden, gezwungen, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. „Es ist diese Scheidung zwischen Arbeitsbedingungen hier und Produzenten dort, die den Begriff des Kapitals bildet“ (Kap. III/1, S.228). Und der Begriff des Kapitals ist mit seiner Verwertung, mit der Produktion des Mehrwerts identisch. „Das Klassenverhältnis ist also schon vorhanden, schon vorausgesetzt, in dem Augenblick, wo beide in dem Akt G-A (A–G von seiten des Arbeiters) sich gegenübertreten ... Dies Verhältnis ist damit gegeben, daß die Bedingungen zur Verwirklichung der Arbeitskraft – Lebensmittel und Produktionsmittel – getrennt sind als fremdes Eigentum von dem Besitzer der Arbeitskraft(Kap. II, 8). In dieser Scheidung liegt „der Zwang zur Mehrarbeit“, – und diesen Zwang übt das Kapital aus (Theorien II/1, 126). Das Kapital, nicht die Surplusbevölkerung! Denn diese Scheidung ist von der Konkurrenz der Arbeiter ganz unabhängig. Sie ist die Voraussetzung für die Existenz der Arbeit als einer Lohnarbeit. Auch wenn nicht zwei Arbeiter einem Meister, sondern umgekehrt zwei Meister einem Arbeiter nachliefen, würde der Arbeiter höchstens einen höheren Lohn erhalten, aber er wäre dennoch gezwungen, Mehrarbeit zu leisten, der Mehrwert wurde nicht verschwinden. Denn wie kann der Arbeiter anders leben, als daß er, unabhängig vom Bestände einer Surplusbevölkerung, sich verkauft, also im voraus sich verpflichtet, Mehrarbeit zu leisten für die Erlaubnis, Überhaupt die notwendige Arbeit für sich leisten zu können! ST. fragt, was ihn hierzu zwingt, nachdem (!) er die notwendige Arbeit für sich geleistet hat. Aber das Problem besteht ja gerade darin, wie der Arbeiter die notwendige Arbeit für sich leisten kann, da ihm die Arbeitsbedingungen fehlen, wie sie einst den leibeigenen Bauern eigneten. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft, „um sich die nötigen Lebensmittel zu sichern“. Seine Arbeit und Mehrarbeit „ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu können“, stellt M. fest. [18] Und ein andermal [19] heißt es: „die kapitalistische Produktion beruht auf der Scheidung der sachlichen Produktionsbedingungen von den persönlichen, und daß schon dadurch die Grundlagen der Verteilung, somit auch die Teilung des jährlichen Wertprodukts (in Lohn und Mehrwert) gegeben seien. Denn „der Lohnarbeiter hat nur die Erlaubnis, für sein eigenes Leben zu arbeiten, d.h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten arbeitet“.

Tatsächlich wissen wir, daß den Ausgangspunkt der M.schen Analyse die Annahme bildet, daß keine Surplusbevölkerung besteht, daß also die Arbeitskraft stets zu ihrem Werte verkauft wird und dennoch der Mehrwert entsteht. Es ist beschämend noch heute, 60 Jahre nach dem Erscheinen des Kapital sich über diese grundlegende Voraussetzung der M.schen Analyse auseinandersetzen zu müssen mit einem Schriftsteller, der über die verwickeltsten Erscheinungen des Kapitalismus und der M.schen Lehre – unter Berufung noch dazu auf sie! – urteilen will, ohne über sie im geringsten orientiert zu sein. Kann es dann wundernehmen, daß ST. auch die M.sche Lohnlehre mißverstehen muß und daher an ihre Stelle als eigene „verbesserte“ Theorie eine setzt, die als einzigen Erklärungsgrund der Lohnhöhe wiederum die banale Konkurrenzweisheit ausgibt?

M.s größtes Verdienst ist, daß er die Werttheorie – welche bei RICARDO ihre Geltung auf sämtliche Waren mit Ausschluß der Arbeitskraft beanspruchte – auch auf diese Ware erstreckte. Dadurch wurde die gefährliche Lücke der RICARDOschen Lehre behoben (Theorien II/1, 115) und sämtliche Tauscherscheinungen wurden unter das gemeinsame Prinzip des Arbeitswertes subsumiert. Bekanntlich besteht dieses Wertprinzip darin, daß sich der Wert der Waren durch die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt Mag der Wert in Zeit und Ort variieren, zu gegebener Zeit ist er eine exakt bestimmte, fixe Größe: bestimmt durch die notwendige Arbeitszeit. Die momentanen Marktpreise schwanken zwar je nach den Marktverhältnissen, aber sie sind eben als Preise nicht durch die Arbeitszeit bestimmt. Sie oszillieren immer um den Wert, als das konstante Zentrum, als den permanenten Preis. Steigen die Preise über den Wert, wenn Mangel an Waren herrscht, so wird die Produktion erweitert und sinken die Preise wieder auf ihren durch die Arbeitszeit bestimmten Wert. Das Umgekehrte findet statt, wenn die Preise wegen Überproduktion unter ihren Wert fallen. Dauernd können die Preise über ihren Wert nur bei Monopolwaren steigen, wobei aber notwendig andere Waren unter ihrem Werte verkauft werden müssen. Gesellschaftlich betrachtet ist die Höhe der Preise in ihrer Gesamtheit nur durch den Wert, also durch die Größe der Arbeitszeit erklärbar. – Diese Arbeitszeit ist die notwendige Basis und Voraussetzung, von der erst die Schwankungen der Konkurrenz verstanden werden können und ohne welche die Konkurrenz allein nichts erklärt. Für die Ware Arbeitskraft gilt zwar dieser Preis- und Wertmechanismus nicht buchstäblich (M. zeigt exakt die Unterschiede), aber die wesentlichen Bestandteile bleiben bestehen und die Lohntheorie ist bei M. nur eine Sonderanwendung seiner Werttheorie auf die Ware Arbeitskraft Ohne die Wertbasis ist die M.sche Lohntheorie, also „die Grundlage des ganzen Systems“ (Theorien II/1, 119) aufgehoben und das ganze auf dem Wertgesetz aufgebaute M.sche System hinfällig (Kap. III/1, 394).

Daraus ergibt sich, daß auch der Lohn, d.h. der Wert der Arbeitskraft, durch die – rar Reproduktion der Arbeitskraft notwendige – Arbeitszeit bestimmt ist und sein muß. Dieser Lohn mag in Zeit und Ort variieren – jeweils ist er durch die zur Reproduktion der Arbeitskraft nötige Arbeitszeit fix umschrieben, also exakt bestimmt, und von den durch die Konkurrenz hervorgerufenen Marktschwankungen unabhängig, ja Voraussetzung dieser Schwankungen. Wir haben somit eine Doppelbewegung. Einerseits oszillieren die Marktpreise der Arbeitskraft je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt um den Wert oder die Reproduktionskosten der Arbeitskraft als relativ konstantes Zentrum; anderseits hat dieses Zentrum selbst seine Eigenbewegung in kürzeren oder längeren Perioden. Während die erste Bewegung der Marktpreise von der Konkurrenz abhängt und für die Theorie gleichgültig ist, ist die Bewegung der Basis durch die Arbeitszeit bedingt, also in jedem gegebenen Moment eine konstante, fixe Größe, z.B. auf der Linie A–B ausgedrückt durch die Größe A–C.

―――――――― C ―――――――― B

Nur soweit diese Größe jeweils fix ist, also in einem exakt bestimmten und durch die Größe der Arbeitszeit berechenbaren Punkt (z.B. C) endet, hat sie eine Bedeutung für die Theorie, stellt das relativ feste in der Flut der Veränderungen vor, weil dieser Punkt C den permanenten Preis abgrenzt, um den die vorübergehenden Marktpreise oszillieren.

Von diesem Streben M.s nach dieser fixen Wertbasis des Arbeitslohnes findet sich bei ST. keine Spur. Was er als die M.sche Lohntheorie ausgibt, ist eine banale Konkurrenztheorie, die nur die Oszillationen sieht und nicht die Basis, um die sie erfolgen. ST. fragt: „Zwischen welchen Grenzen bewegt sich der Wert der Arbeitskraft?“ (S.52). In dieser Formulierung des Lohnproblems folgt er buchstäblich OPPENHEIMER [20], der gleichfalls fragt: „Wie lange kann der Preis der Arbeit fortfahren zu steigen, ohne daß seine Erhöhung den Fortschritt der Akkumulation stört?“ ST. meint: nach Marx ist „der Wert der Ware Arbeitskraft gleich den zu ihrer Reproduktion notwendigen Lebensmitteln“ (S.54), wobei ST. die Reproduktionskosten als untere Grenze versteht, die mit dem physischen Existenzminimum identisch ist, oder, wie er sagt, „Reproduktionskosten im wortwörtlichen Sinne“ sind (S.334, besond. 492) ... Die Grenze nach oben wird niemals mit „genauer Deutlichkeit (von M.) formuliert ... Bei diesem ist also nichts über die Grenze gesagt, bis zu der der Arbeitslohn im kapitalistischen System steigen kann“ (S.53). „Der Wert der Ware Arbeitskraft ist also nach M. (!) in gewisser Weise elastisch“ (S.57). ST. ahnt nicht einmal, daß mit diesen Worten die M. sehe Werttheorie preisgegeben ist. Von der oberen und unteren Grenze, zwischen denen der Lohn sich bewegt, kann man nur beim Preise, nicht aber beim Werte der Arbeitskraft sprechen. Die Preissteigerungen oder Preissenkungen haben aber immer nur vorübergehenden Charakter und interessieren daher die Theorie nicht. Die zur Produktion der für den Arbeiter notwendigen Lebensmittel dagegen erforderliche Arbeitszeit ist in jedem gegebenen Zeitpunkt eine durch den Stand der Technik gegebene Größe, folglich ist auch der Wert der Arbeitskraft nicht elastisch, sondern vielmehr gleichfalls exakt bestimmt. Und nur soweit er dies ist, hat die Werttheorie überhaupt Sinn und Berechtigung. Denn welchen Sinn hätte eine Werttheorie, wenn der Maßstab, mit dem ich alle Größen messen will, selbst veränderlich wäre? Wäre der Wert der Arbeitskraft in einem gewissen Moment wirklich „elastisch“ – wie ST. behauptet –, dann könnte er nicht durch die Arbeitszeit bestimmt sein – weil diese im gegebenen Moment fix ist, und wäre die M.sche Arbeitszeitwerttheorie hinfällig. M. sagt: „Der im Ankauf der Arbeitskraft vorgeschossene Kapitalwert ist ein bestimmtes Quantum vergegenständlichter Arbeit, also konstante Wertgröße, wie der Wert der gekauften Arbeitskraft“ (Kap. I, 196). Lehnt ST. die M.sche Lohnlehre ab, so müßte er konsequent auch die M.sche Wertlehre ablehnen. Es beweist nur seine Konfusion, daß er jene verwirft und trotzdem versichert, diese in allen wesentlichen Punkten zu akzeptieren!

Warum muß aber ST. die Reproduktionskosten der Arbeitskraft in einem gegebenen Zeitpunkt in Gegensatz zu M. als „sehr elastische Linie“ (S.62) darstellen? Der Lohn steigt faktisch, soweit er Reallohn, wenn auch nicht gleichmäßig und nicht allgemein. So stößt ST. auf die Schwierigkeit, diese Steigerung durch die Größe der Arbeitszeit zu erklären, die als jeweils fixe gedacht ist. So läßt er die Werttheorie fallen, und verzichtet darauf, die Lohnhöhe durch die Länge der Arbeitszeit zu erklären. Den rettenden Ausweg erblickt er darin, die Steigerung des Lohnes dadurch zu erklären, daß er eine Ausdehnung des Lohnes über die Reproduktionszeit, also über den Wert der Arbeitskraft annimmt. Dabei denkt er sich diese Steigerung nicht als momentane Erhöhung des Preises der Arbeitskraft über dessen Reproduktionskosten oder Wert (momentane, durch die Konkurrenz hervorgerufene Preisabweichungen vom Wert sind für die Theorie gleichgültig), sondern als dauernde Steigerung des Lohnes über den Wert (!) d.h. über die Reproduktionskosten. „Ausdrücklich ist also zu betonen – sagt er – daß M. bei dieser ganzen Analyse niemals auf den Fall eingeht, daß die Arbeiterschaft sich eine Lohnerhöhung à la longue erkämpft, daß ihr Standard auf die Dauer über den Reproduktionskosten steht“ (S.55). Dieses Kunststück gerade bringt ST. fertig! Aber dauernde Lohnerhöhungen über die Reproduktionskosten sind eben keine Preisschwankungen mehr, die doch um den Wert der Arbeitskraft oszillieren, sondern es können darunter nur dauernde Werterhöhungen der Arbeitskraft verstanden werden. Die ST.sche Behauptung kommt somit darauf hinaus, daß der Wert der Arbeitskraft dauernd über ihrem Wert stehen kann, oder daß das Wertgesetz zu barem Unsinn wird.

Nie wurde Banaleres prätentiöser vorgetragen und die Konfusion wird nur verständlich durch Ignoranz. Es ist 1. falsch, mit ST. den M.schen Begriff der Reproduktionskosten mit dem physischen Existenzminimum zu identifizieren. Nach M. sind sie an keinen bestimmten Lebensstandard geknüpft. Die hohe Lebenshaltung des englischen Arbeiters stellt ebenso nur die für den englischen Arbeiter notwendigen Reproduktionskosten dar, wie der niedrige Lohn diejenigen eines chinesischen Kulis. Die Lebenshaltung kann sich heben, die Reproduktionskosten dabei sinken. Diese sind zwar jeweils eine fixe Größe, aber diese variiert in Ort und Zeit M. hat nachgewiesen, daß diese Reproduktionskosten, soweit sie Reallohn, also eine gewisse Masse von Lebensmitteln darstellen, sich mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus ganz unabhängig von jeder Konkurrenz notwendig erhöhen, d.h. einerseits für den englischen Arbeiter höher sind als für den chinesischen, anderseits aber in England selbst die Tendenz zum Steigen aufweisen. „Je produktiver ein Land gegen das andere auf dem Weltmarkt, um so höher sind die Arbeitslöhne in ihm, verglichen mit den anderen Ländern. Nicht nur der nominelle, sondern der reelle Arbeitslohn in England ist höher als auf dem Kontinent“ (Theorien II/1, 169). –

Diese Erhöhung heißt also nicht, wie das ST. ausdrückt, daß der Lohn, also der Wert der Arbeitskraft, sich über die Reproduktionskosten A–C erhebt – da die Reproduktionskosten bei M. mit Wert identisch sind – sondern daß die Reproduktionskosten selbst sich erhöhen, also die Linie A–C größer wird. Nicht D hat sich über den Punkt C erhoben – was nur eine momentane Preisabweichung sein könnte, als dauernd gedacht aber ein theoretischer Unsinn ist – sondern die Linie A–C ist (bis zu dem ST.schen Punkt D) gewachsen. Allein sie ist abgeschlossen nicht durch einen Punkt D über die Reproduktionskosten C hinaus, sondern durch den neuen Punkt C, durch den neuen Wert der Arbeitskraft, was nichts anderes beißt, als daß die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit sich geändert hat.

Bei diesem Sachverhalt entsteht 2. vom Standpunkt der M.schen Lohn-lehre die Frage, welche Faktoren den Wert der Arbeitskraft, d.h. seine Reproduktionszeit (die Länge A–C), modifizieren ? Bei ST. wird auf der Linie A–B die Steigerung des Lohnes von C auf D einfach durch die Existenz der nichtkapitalistischen Länder bewirkt. Denn nur soweit ein solcher Raum vorhanden, ist die Realisation des Mehrwerts, also auch die Kapitalakkumulation, folglich die steigende Nachfrage nach den Arbeitern möglich, die den Lohn über die Reproduktionskosten hinaustreiben kann. So ist der nichtkapitalistische Raum für den hier behandelten Fragenkomplex „von entscheidender Bedeutung“. Wir haben indes früher gezeigt, daß der Versuch, die Änderungen der Warenpreise lediglich durch das Spiel von Nachfrage und Angebot zu erklären, überhaupt die Möglichkeit jeder wirklichen Erklärung ausschließt. Übrigens würde die Erklärung der Lohnsteigerung während längerer Perioden durch die gestiegene Nachfrage nach Arbeit eine Preisbewegung voraussetzen, die von der Größe der Arbeitszeit unabhängig ist, also die Preisgabe der M.schen Wertlehre bedeuten. Tatsächlich besteht das wahre Lohnproblem bei M. darin: wie der Reallohn erhöht werden kann, unabhängig vom wechselnden Spiel des Angebots auf Seite der Unternehmer oder der Arbeiter. D.h. wie er erhöht werden kann, obwohl die Ware Arbeitskraft stets zu ihren Reproduktionskosten, also zu ihrem Werte verkauft wird! Gerade in dieser Problemformulierung schon liegt das Originelle der M.schen Lohnlehre.

Alle bisher dargelegten Verzerrungen ST.s sind nur möglich infolge Nichtbeachtung und Nichtverstehens des methodologischen Verfahrens von M. Unter den vielen vereinfachenden Fiktionen der M.schen Analyse befindet sich auch die Fiktion einer konstanten Intensität der Arbeit, d.h. daß unter diesen Umständen die konstante Arbeitsmenge zu ihrer Reproduktion auch eine konstante, gegebene Masse von Lebensmitteln erheischt. Unter dieser Voraussetzung muß, wenn wir eine steigende Produktivität der Arbeit annehmen, der Wert dieser Lebensmittel fallen, also sich nach links vom Pnnkt C in der Richtung gegen A verschieben. Aber diese ganze Deduktion hat bei M. selbstverständlich nur einen vorläufigen Charakter, um zunächst die Analyse nicht allzu sehr zu komplizieren. M. vergißt indes nicht gegen RICARDO hervorzuheben, daß dieser die tatsächlich wachsende Intensität nicht berücksichtigt, seine Analyse „nur unter der Voraussetzung (führt), daß der Arbeitstag intensiv ... eine konstante Größe ist“ (Kap. III/1, 222). M. betont, daß die Annahme, daß v konstant bleibt, „zur Vereinfachung“ gemacht wird (Kap. III/1, 26) – „während in Wirklichkeit, Wechsel in der ... Intensität“ den Arbeitsprozeß begleitet (Kap. I, 537). Selbstverständlich muß nachträglich die vorläufige Annahme korrigiert werden, und das geschieht auch in Kapital ausführlich.

Tatsächlich zeigt M., daß die Steigerung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft, also der Lohnhöhe, sich notwendig auch bei Ausschaltung jeder Konkurrenz ans der durch den kapitalistischen Produktionsprozeß bedingten beständigen Steigerung der Intensität der Arbeit ergibt (Kap. I, 417). Der Arbeiter kann intensivere Arbeit nur dann leisten, wenn er sich besser ernährt, kleidet und geistig erholt, in geordneten häuslichen Verhältnissen wohnt Folglich ist die erheischte Masse von Lebensmitteln keine gegebene Größe, sondern sie wächst mit der Intensität der Arbeit Daher auch, was dasselbe bedeutet, wächst der Reallohn. Der Punkt C verschiebt sich nach rechts, die Linie A–C wird größer. Die Tendenz zur Steigerung des Reallohns ist somit eine selbstverständliche, aus dem Mechanismus der kapitalistischen Produktion sich ergebende Erscheinung, wie zugleich eine Konsequenz des M.schen Lohngesetzes, ohne daß man zu ihrer Erklärung einer ad hoc-Theorie vom nichtkapitalistischen Raum oder einer sonstigen Hilfskonstruktion bedürfte. „Selbst bei gegebenen Grenzen des Arbeitstags mag ein Steigen der Lohne notwendig werden, um nur den bisherigen normalen Wert der Arbeit aufrechtzuerhalten. Durch gesteigerte Verdichtung der Arbeit kann der Arbeiter dazu gebracht werden, in einer Stunde so viel Lebenskraft zu verausgaben, als er früher in zwei Stunden ausgab.“ [21]

Es braucht hier nicht erst betont zu werden, daß die Intensitätssteigerung der Arbeit scharf von der der Produktivität zu unterscheiden ist. Ebensowenig wie daß jene sich faktisch nicht nur auf die qualifizierten Arbeiter beschränkt. Der moderne kapitalistische Betrieb ist ein Mechanismus, der seine sämtlichen Glieder in ein gesteigertes Produktionstempo zwingt. Wird mehr Baumwolle versponnen, so werden auch mehr Hallen Baumwolle entladen, und mehr Garn verpackt. [22]

Bisher haben wir die ST.sche Lohntheorie nur unter dem Gesichtspunkt der Lohnhöhe des Reallohns betrachtet. Sie ist nun noch von der Seite der Profitgröße zu prüfen.

Wie ST. die Problemstellung in der Lohntheorie von OPPENHEIMER entlehnt hat, so auch die weitere mit der Lehre M.s unvereinbare Vorstellung, daß die Steigerung des Lohns auf Kosten des Profits erfolgt.

Es wurde im vorangehenden gezeigt, daß nichts irreführender ist, als wenn ST. das Wachsen des Reallohns – (gemessen in Gebrauchswerten) – auf der Linie A–B von C auf D verschiebt,

———————— C — D ——————— B

wodurch der kapitalistische Mehrwert kleiner wird, sich von C–B auf D–B reduziert. Eine Auffassung, würdig eines BASTIAT oder seines modernen Nachbeters, YVES-GUYOT. „Alle Faktoren – meint ST. – die den Standard der Arbeiterschaft erhöhen, die die A–D-Linie herbeiführen... haben (die) Wirkung, daß sie den imperialistischen Vorstoß verstärken, weil ja Steigerung des Arbeitslohns Sinken des Profits bedeutet“ (S.271).

Damit wird die M.sche Mehrwertlehre preisgegeben und ST. fällt in der Erkenntnis des kapitalistischen Mechanismus weit hinter RODEBERTUS zurück. Er folgt eben wieder OPPENHEIMER, der die M.sche Lohn- und Wertlehre dahin deutet, daß die nicht nur nominelle Lohnsteigerung „auf Kosten des Profits“ erfolgt. [23] Kur unter einer Voraussetzung jedoch kann eine Lohnsteigerung Sinken des Profits bedeuten: wenn die Produktivität der Arbeit konstant wäre. Dann wäre auch ihr Wert konstant und die Lohnerhöhung würde eine vorübergehende Preissteigerung der Arbeitskraft über ihren Wert, also eine Verminderung des Profits bedeuten – eine vorübergehende Konkurrenzerscheinung des Marktes, die uns nicht zu interessieren braucht dort, wo wir von den dauernden Lohnsteigerungen sprechen. Da aber, soweit von den dauernden Entwicklungstendenzen die Rede ist, die Produktivität der Arbeit nicht als konstant angenommen werden kann, so muß der gestiegene Reallohn infolge der erhöhten Produktionskraft der Arbeit dem Werte nach fallen, weil er nie proportionell mit der Entwicklung der Produktivkraft wächst. Folglich muß trotz Steigerung des Reallohns der Profit wachsen. Die Mehrwertrate, der Exploitationsgrad der Arbeit, wird trotz Steigerung der Reallöhne nicht kleiner, sondern wächst mit der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit. In diesem groben Schnitzer ST.s zeigen sich die Folgen der Tatsache, daß ST. die Lehre vom relativen Arbeitslohn als KAUTSKYsche Erfindung geringschätzig ablehnt. So wird es selbstverständlich, daß auch seine graphische Lohndarstellung auf den Abschnitten einer Linie irreführen muß. Der Wert des Arbeitstages stellt sich vor und nach der Lohnsteigerung infolge der Veränderung in der Produktivkraft in verschiedenen Mengen von Gebrauchswerten dar und muß daher richtigerweise in zwei gesonderten Linien dargestellt werden.

Fall 1:

A |—————— C ——————| B

Fall 2:

A |————————— C —————————|—————————| B

Im zweiten Fall ist der Reallohn A–C – als Gebrauchswert – um die Hälfte gewachsen. Während er aber im Fall 1 ½ des Gesamtwerts ausmachte, bildet er im Fall 2 bloß 1/3. Der Mehrwert C–B ist im letzteren Fall gewachsen. Der Wert der Arbeitskraft ist gefallen und fällt immer mehr mit der Entwicklung der Produktivkraft, trotz fortschreitender Zunahme des Reallohns. Es kennzeichnet ST.s Oberflächlichkeit, daß er die Unterscheidung des Lohns als Wert vom Lohn als Gebrauchswert nicht durchführt und also die Steigerung des Lohns mit dem Sinken des Profits identifiziert!

Erst diese elementaren Feststellungen erlauben die ganze Verworrenheit ST.s zu beurteilen, wie sie sich sowohl in der Fragestellung als in der Beantwortung folgendermaßen ausdrückt: Auf die wörtlich von OPPENHEIMER (Das Grundgesetz, S.40) übernommene Frage: „wie hoch der Arbeitslohn steigen könne, ohne den Fortschritt der Akkumulation zu stören,“ ergibt sich nach ST. „absolut eindeutig ans dem M.schen System“ die Antwort: „Der Arbeitslohn kann steigen, solange der Arbeiter nicht akkumulieren kann (!), d.h. solange im Bruch Kapital/Arbeit der Nenner nicht verringert wird“ (S.22).

ST. meint also, wieder mit OPPENHEIMER (a.a.O., S.36, 39), „daß die Arbeiter akkumulieren (!) können.“ Wenn dies nirgends geschehen, so nur, weil das Kapital „seine Arbeiterschaft gehindert (habe), die Grenze zu überschreiten durch fortwährende Schaffung von Surplusbevölkerung“ (S.22). Ohne solche könnte demnach nach ST. die Arbeiterklasse den Lohn so erhöhen, daß der Kapitalismus aufgehoben wäre. Nur die Übervölkerung ist die Ursache der Existenz des Kapitalismus! Dieser Unsinn folgt übrigens direkt aus ST.s Auffassung von der Entstehung des Mehrwerts. Die Tatsachen zeigen aber etwas ganz anderes. Nirgends in der kapitalistischen Welt ist es den Arbeitern gelungen zu akkumulieren. Die Kapitalistenklasse ist ausschließliche Eigentümerin der Produktionsmittel geblieben, und die Macht dieses Eigentums gibt ihr auch die Macht, das Kapitalverhältnis immer zu reproduzieren. Denn dank der Scheidung der Produktionsbedingungen von der Arbeitskraft vermag das Kapital stets dem Arbeiter alles abzunehmen, was über die notwendigen Lebensmittel hinausgeht. Der Arbeiter ist daher auf die Dauer nur auf diese angewiesen, er bekommt nie mehr, als was zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist – was jedoch nichts mit dem physischen Existenzminimum zu tun hat und die Steigerung des Reallohns durchaus nicht ausschließt. Ware es anders, würde die Steigerung über die notwendigen Lebensmittel länger dauern und der Preis der Arbeitskraft über deren Wert steigen und so die Profite senken, so wurden die Kapitalisten durch Rationalisierung, technische Verbesserungen usw. einen Teil der Arbeiter aus der aktiven Armee ausschalten. Durch den Druck der gewachsenen Reservearmee mußte der Lohn sinken und zwar auf die Dauer auf das Niveau des Wertes der Arbeitskraft. Warum haben also die Unternehmer diese Rationalisierung und Technisierung der Wirtschaft nicht verstärkt und ließen seit Mitte des 19. Jahrhunderts ruhig die Löhne steigen? Konnte nicht die gesteigerte Nachfrage nach Arbeit infolge des „Vorstoßes“ in nichtkapitalistische Markte durch Rationalisierung sogar überkompensiert werden? Darauf hat ST. keine Antwort In Wahrheit aber ist es nicht geschehen, weil dieser gewachsene Lohn dennoch nur ein notwendiger war. Und er ist deshalb „notwendig“, weil er auf die Dauer weder Abzüge zuläßt, noch der Arbeiter über ihn hinaus etwas bekommt. Trotz Steigens also des Reallohns vermag der Arbeiter nicht zu akkumulieren. Die Vorstellung, als ob die Lohnerhöhung die Profite zum Sinken bringen und demnach die Lohnsteigerung zur Bedrohung oder gar Aufhebung des Kapitalismus fuhren könnte, ist grundfalsch. Sie übersieht, daß Steigen des Reallohns und des Profits sich ganz gut vertragen und daß denn auch tatsächlich parallel zur Entwicklung des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Profite gewaltig gestiegen sind und weiter steigen.

Aber noch sonderbarer als die Lohn- und Profittheorie ST.s ist seine Nutzanwendung aus ihr. Er sieht in der Erhöhung der Reallöhne eine Tendenz zur Abschwächung der inneren Unabsetzbarkeit des Mehrwerts, weil durch die „gesteigerte Kaufkraft“ der Arbeiter einem Teil des Kapitals „der Absatz im Inlande geschaffen“ wird (S.271). Freilich, verdient der Industriearbeiter 8 M, so kann er mehr kaufen, als wenn er nur 6 M verdient. Hat er aber 6 M verdient, wo sein Wertprodukt 12 M betrug, so konnte er dessen Hälfte abkaufen. Beträgt sein Wertprodukt nun 32 M, so kann er trotz Lohnsteigerung auf 8 M bloß ¼ abkaufen, und es ist irreführend zu behaupten, daß die Kaufkraft der Arbeiterschaft im historischen Verlauf des Kapitalismus gestiegen ist. Auch wenn man sogar zugeben wollte, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts die Reallöhne in den kapitalistischen Hauptländern allgemein um 70–100% gewachsen sind, ist doch nicht zu vergessen, daß gleichzeitig die Produktivität sich verzehn- und verhundertfacht hat. Sogar in der Landwirtschaft verdoppelten sich die Ernteerträge z.B. in Deutschland 1879–1913 [24], nachdem bereits in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts nach SOMBARTs Schätzung durchschnittlich die Ertragssteigerung bei Weizen 50%, bei Roggen, Gerste, Hafer um 100%, bei der Fleischproduktion noch mehr betragen hatte. Im ganzen nimmt SOMBART an, daß sie in Deutschland im 19. Jahrhundert zumindest das Doppelte und vielleicht das Dreifache ausmacht – nach DELLBRÜCK sogar das Vierfache – und zwar ohne entsprechende Vermehrung der ländlichen Bevölkerung. [25] Wie rapid die Produktivität der industriellen Arbeit gewachsen, ist massenhaft bezeugt In den Roheisen-, Stahl- und Walzwerken wurde sie in dem einen Jahrzehnt 1881/85-1895/96 infolge der Mechanisierung der Betriebe mehr als verdoppelt, und z.B. im Phönix-Konzern entfielen pro Arbeiter 1884/85 an Halbzeug- und Fertigwaren 23,9 T., dagegen 1895/96 54,1 T. = eine Steigerung von 126%. [26] Nach den Untersuchungen des amerikanischen Arbeitsministeriums von 1925 hat sich die Produktivität pro Arbeitsstunde in den Stahl- und Walzwerken gegen 1899 auf das 2½fache erhöht; in der Gummiindustrie 1914–1925 auf mehr als das Dreifache (100 : 311); im Hochofenbetriebe fast aufs Doppelte, nachdem sich bereits 1899–1909 die Produktion mehr als verdoppelt hatte. In der Petroleumraffinerie betrug die Steigerung 73%; in der Baumwollspinnerei 1911–1916 45,4% und 1916–1925 91,8%. In der Weberei sind die Zunahmezahlen 1911–1916 10%, 1916–1925 29,4%; in den Jahren 1914/25 in der Zementindustrie 47,8%, Lederindustrie 28,2%, Getreidemühlenindustrie 39%, Automobilindustrie mehr als 200%. Diese Zahlen geben die Steigerung der Produktenmenge, wobei keine Rücksicht genommen ist auf die wesentlich erhöhte Qualität. [27] Das bedeutende, ja stürmische Tempo im Kohlenbergbau im Lauf der letzten 13 Jahre illustrieren die folgenden Angaben: „Der durchschnittliche monatliche Schichtförderanteil pro Kopf der Kohlen- und Gesteinhauer im Ruhrkohlenbergbau betrug: 1918 1,845; 1924 1,907; 1925 2,100; Januar 1926 2,270; Mai 1926 2,883; September 1926 2,910.“ „Die Tagesleistung je Arbeiter in der deutschen Roheisen- und Rohstahlproduktion ist seit dem Januar 1925 bis zum November 1926 um 24 bzw. 38% gestiegen.” [28]

Was bedeutet demgegenüber eine Steigerung des Reallohns bestenfalls um 100% während eines ganzen Jahrhunderts, wobei große Schichten der Arbeiterklasse von ihrer Steigerung ausgeschlossen waren? Der Anteil des Arbeitslohns am gesamten Jahresprodukt ist trotz Lohnsteigerung gefallen. Die Kaufkraft der Arbeiterklasse ist also gefallen, nicht gestiegen. ST.s Versuch, in der „gesteigerten Kaufkraft“ der Arbeiterschaft ein Absatzgebiet für einen Teil des sonst unabsetzbaren Mehrwerts zu erblicken, steht auf dem theoretischen Niveau HENRY FORDs. Wäre das richtig, so würde es wohl am ratsamsten für die Kapitalisten sein, den Lohn so hoch zu steigern, daß der gesamte sonst unabsetzbare Mehrwert „realisiert“ wird!

Im 19. Jahrhundert erfolgt nach ST. eine allgemeine Lohnerhöhung, was nach ihm mit dem Sinken der Profite identisch ist. Aber gleichzeitig soll die Zahl der Geldkapitalisten, der Rentner, der Bankiers, der, Kaufleute und andere Zirkulationsagenten sowie anderer unproduktiver Arbeiter der Zirkulationssphäre (die ja keine Werte schaffen) gewachsen sein. Es müßte sich also die Lage dieser Elemente äußerst verschlimmert haben. Sinkende Profite und Zunahme der Anteilnehmer! In einem Atem aber behauptet wieder ST., daß die Zahl der Reichen allgemein zugenommen hat (S.257). Obwohl die Profite sanken? M. dagegen zeigt uns, daß die erwähnten Schichten wachsen, zugleich aber auch die Quelle, ans der sie leben: nur der wachsende Mehrwert erlaubt und ermöglicht die Zunahme der Zahl der Kapitalisten und ihrer Mitzehrer am Mehrwert und gestattet ihnen ihren Luxus beständig zu steigern.

Obwohl die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit durch Intensitätssteigerung den Lohn erhöht, „verhindert sie nicht, daß die Revenue (der Kapitalisten) beständig wächst, dem Werte und der Quantität nach ... Die nicht von der Arbeit direkt lebenden Klassen und Unterklassen vermehren sich, leben besser als früher, und ebenso vermehrt sich die Zahl der unproduktiven Arbeiter“ (Theorien II/2, 353). Daß die tatsächlichen Verhältnisse dies bestätigen, ist nicht schwer zu zeigen. SCHULTZE-GÄVERNITZ weist in seinem Buche über den britischen Imperialismus auf den mit der Rentnerklasse „wachsenden Troß des häuslichen Gesindes (bin). Die große Zahl der Dienstboten fällt dem Festländer in die Augen“ (S.323); ebenso der wachsende Luxus (S.361). „Im engen Zusammenhang ... steht endlich die zunehmende Bedeutung des inneren Marktes, wogegen die auswärtigen Harkte wenigstens relativ zurücktreten ... Englands Export geht pro Kopf zurück“ (S.324 321).

Man sieht, nur die M.sche Lohn- und Mehrwertlehre vermag die Steigerung der Reallöhne und das gleichzeitige Sinken der Kaufkraft der Arbeiter, trotzdem aber auch das Wachsen des Profits, somit der Zahl der Nichtproduzenten und der unproduktiven Arbeiter, also die wachsende Bedeutung des inneren Marktes einheitlich zu erklären. Soviel ist sicher, daß jene zahlreichen Theoretiker, die, wie z.B. OPPENHEIMER, die M.sche Lohntheorie als Verelendungstheorie charakterisieren, in ihr das hier erwähnte methodologische Verfahren bei der Behandlung des Lohnproblems, sowie den Faktor der steigenden Intensität nicht bemerkten“.. [28a] ST. bildet hierin keine Ausnahme. Es ist für ihn charakteristisch, daß er zwar alle möglichen M.zitate über die Bestimmung des Arbeitslohnes bringt, nicht aber die wichtigen methodologischen Ausführungen M.s hierüber und auch M.s wichtige Ausführungen über die Einwirkung der steigenden Intensität der Arbeit auf die Lohnhöhe nicht einmal bemerkt hat!

ST.s Lohntheorie ist aber auch sonst höchst seltsam. Wir haben gesehen, wie nach seiner Meinung die Realisation des Mehrwerts, daher auch die Akkumulation des Kapitals ohne die nichtkapitalistischen Absatzmärkte unmöglich wäre; daher müßten auch die Löhne niedrig bleiben, die Reservearmee entstehen. Erst der imperialistische Vorstoß in den nichtkapitalistischen Raum ermöglicht es, den Mehrwert zu realisieren und zu akkumulieren – die Lohnsteigerung ist die Folge des imperialistischen Vorstoßes. Das ist ja nach ihm seine große Entdeckung, die ihm erlaubt, die Lohnsteigerung zu erklären, während diese vom Standpunkt der M.schen Lohnlehre unerklärbar sein soll. Aber dann hören wir etwas ganz anderes. Die Erhöhung des Standards der Arbeiter, also die Lohnerhöhung, hat „die Wirkung, daß sie den imperialistischen Vorstoß verstärkt, weil ja Steigerung des Arbeitslohns Sinken des Profits bedeutet“ (S.271). Die Lohnerhöhung ist bei dieser Argumentation nicht mehr die Folge des imperialistischen Vorstoßes, sondern seine Ursache. Die Lohnsteigerung die durch den imperialistischen Vorstoß zunächst erst erklärt werden sollte, wird selbst zur Erklärung dieses Vorstoßes – und so dreht sich ST. im Kreise, wie eine Katze, die ihren eigenen Schatten fangen will.

Nur in einem Falle könnte nach der M.schen Lohnlehre die Ware Arbeitskraft dauernd einen Preis über ihrem Werte erzielen; wenn sie nämlich während des ganzen Zeitraums, für den von ST. die Lohnsteigerung in Westeuropa behauptet wird, also ungefähr seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in ungenügender Menge vorhanden, also eine Monopolware gewesen wäre, nie Arbeitslosigkeit herrschte. Daß dies tatsächlich der Fall war, wird indes schwerlich jemand zu behaupten wagen. Damit bricht die tragende Säule der ST.schen Darstellung in sich zusammen.

Wenn wir indessen nach dem Sinn der positiven ST.schen Darstellung des Lohnproblems, also darnach fragen, was ST. an die Stelle der von ihm abgelehnten M.schen Lohntheorie setzt, so lautet die Antwort kurz: die Konkurrenz! Sei der nichtkapitalistische Raum vorhanden, so die Möglichkeit der Realisation des Mehrwerts, der Akkumulation, also dessen steigende Nachfrage nach Arbeit. Mangele dieser Raum, so treten entgegengesetzte Wirkungen ein: entstehe Surplusbevölkerung, also steigendes Angebot an Arbeitskraft. Sich an F. OPPENHEIMERS irrtümliche Darstellung von M.s Lohnlehre anlehnend, drückt ST. die Lohnbestimmung durch den Bruch L = K/A ans, wonach also die Höhe des Lohns durch das Schwanken der beiden Waagschalen: Nachfrage des Kapitals K und Angebot der Arbeiterklasse A, also durch die Konkurrenz bestimmt wird. Der einzige Unterschied dieser Leistung ST.s gegenüber den zahlreichen anderen Vulgärtheoretikern, die zur Konkurrenz Zuflucht genommen haben, um die Lohnhöhe zu erklären, besteht bloß darin, daß bei ihm die Bewegung der beiden Waagschalen K und A nicht bloß durch die Marktverhältnisse des kapitalistischen Landes, sondern auch durch den nichtkapitalistischen Raum bedingt ist. Was das historische Verdienst M.s gegenüber RICARDO ausmacht und was die notwendige Voraussetzung und den Ausgangspunkt aller Konkurrenz bildet: die Bestimmung der Wertbasis der Arbeitskraft, ihrer Reproduktionskosten, läßt ST. bewußt fallen. „Wenn man die Theorie der Surplusbevölkerung in den Mittelpunkt stellt – schreibt er – dann ergibt sich die geringe Bedeutung, die werttheoretische Auseinandersetzungen für unser Problem haben“ (S.64). Also nicht der Wert bildet den Mittelpunkt, sondern die Surplusbevölkerung, die Konkurrenz!

Als Schüler OPPENHEIMERS meint ST. in der Formel L = K/A die M.sche Theorie wirklich ausgedruckt zu finden, also durch eine Konkurrenztheorie die er nur besser ausgestalten will und zu diesem Zweck in sie den nichtkapitalistischen Raum einbezieht. Denn es war OPPENHEIMER, der M.s Lohntheorie als eine Lohnbruchtheorie, also als eine Variante der SMITH-RICARDOschen Lohnfondstheorie darstellte! Nach SMITH wird der Lohn bestimmt durch die Nachfrage des Kapitals auf dem Arbeitsmarkt und durch das Arbeitsangebot, also in Symbolen ausgedruckt, durch den Bruch L = K/A, in dessen Zähler das Gesamtkapital, in dessen Nenner die Arbeiterzahl steht Die RICARDOsche Variante will den Zähler verkleinern durch Spaltung des Gesamtkapitals in fixes und zirkulierendes, und behauptet, daß nur das letztere Nachfrage nach Arbeit ausübe, daher das fixe Kapital F ausgeschieden werden müsse. Daher L = (K − F)/A. M. geht nach Darstellung OPPENHEIMERs in derselben Richtung weiter, indem er aus dem Zähler noch den Teil des zirkulierenden Kapitals ausscheidet, der für die Beschaffung von Roh- und Hilfsstoffen dient, und den M. mit dem fixen Kapital als „konstantes“ Kapital c zusammenfaßt und nur den übrigbleibenden Kapitalrest, das variable Kapital v, Nachfrage nach Arbeitern ausüben läßt. Die M.sche Lohnformel lautet somit nach OPPENHEIMER L = (K − c)/A = v/A. ST. folgt diesem kritiklos, wenn er auch nachlässig K/A schreibt, was wir indes nicht buchstäblich nehmen und daher annehmen wollen, daß er in den Zähler nicht das Gesamtkapital, sondern bloß das variable gestellt haben wollte.

Diese Abhängigkeit ST.s von OPPENHEIMER hat sich an ihm schwer gerächt Es ist gerade das Verdienst M.s, gezeigt zu haben, daß die Konkurrenz uns zwar die Abweichungen von einer gegebenen Basis erklären kann, nie aber diese Basis selbst, daß daher jede wahrhafte Theorie vor allem die letztere feststellen muß. „Es ist eine Methode – sagt darüber M. – am von den die Konkurrenz begleitenden Variationen, zu den Grenzen dieser Variationen zu kommen“ (Kap. III/1, 348). Diese M.sche Basis der Lohnbestimmung – den Faktor der Reproduktionskosten rhat OPPENHEIMER aus seiner Formel weggelassen. M.s Lohnformel lautet nämlich L = r × (v/A), wobei jedoch M., da er von der Statik ausgeht und daher = A oder 1/1 setzt, den Bruch v/A vernachlässigen kann, so daß der Lohn bei ihm durch den Koeffizienten r, d.h. durch die Reproduktionskosten oder den Wert der Arbeitskraft bestimmt ist, der von der Konkurrenz ganz unabhängig ist. Die Konkurrenz, das Verhältnis von v/A allein für sich, kann uns nichts erklären, weil es selbst nichts bedeutet Wenn dies Verhältnis in England für die Arbeiter ungünstiger ist als in Belgien, also im ersteren das Angebot der Arbeiter größer ist, z.B. 2/5, während es in Belgien bloß 3/2 ausmacht, d.h. die Nachfrage größer als das Angebot ist, so können wir nichts über die tatsächliche Lohnhöhe wissen, solange wir nicht die Reproduktionskosten der Arbeit kennen, auf welche dieser Bruch bezogen werden muß. Beträgt also der Faktor r für England 10, für Belgien bloß 2, so wird trotz „Surplusbevölkerung“ dort der Lohn dennoch höher sein als in Belgien. In England beträgt er nämlich 10 × (2/5) = 4, in Belgien dagegen trotz günstiger Verhältnisse für die Arbeiter: 2 × (3/2) = 3.

Wir sehen: Zunächst wird von ST. der Faktor r, die von der Konkurrenz unabhängige Wertbasis weggeleugnet und M.s Lehre als reine Konkurrenzlehre dargestellt, um sie dann so kastriert als unhaltbar zu erklären und durch eine „verbesserte“ Konkurrenztheorie zu ersetzen. Aber ob nun eine gewöhnliche oder verbesserte Konkurrenztheorie, sie ist eine solche und haftet an der Oberfläche der Erscheinungen, ohne deren Grundlage, die Wertbasis zu verstehen.

Der nichtkapitalistische Baum und die durch ihn bewirkte größere Nachfrage nach Arbeit vermag ebensowenig wie irgendein anderer Konkurrenzfaktor eine allgemeine und länger dauernde Lohnsteigerung zu erklären. Jede solche längere Lohnerhöhung infolge einer gesteigerten Nachfrage wäre leicht zu überwinden gewesen. Stärkere Rationalisierung, bessere Maschinen, Kapitalausrüstung usw. (gerade anwendbar, sobald der nichtkapitalistische Baum die Realisation des Mehrwerts erlaubt) müßten die gesteigerte Nachfrage nach Arbeit wieder kompensieren, eine Reservearmee schaffen. Der Lohn müßte auf das frühere Niveau oder gar unter dasselbe sinken. Warum haben -also die Kapitalisten diese Möglichkeit nicht ausgenutzt und fünf Jahrzehnte hindurch „vorgezogen“, höhere Löhne zu zahlen? Auf diese Präge kann ST. keine Antwort geben. Die M.sche Lehre von der Intensität der Arbeit zeigt uns dagegen, daß der Lohn sich eben – à la longue – unter ein gewisses Niveau nicht herabdrücken läßt, wenn nicht zugleich auch die Arbeitsleistung herabgedrückt werden soll! Die Höhe der Wertbasis der Arbeitskraft ist eben von den veränderlichen Konkurrenzfaktoren, folglich auf die Dauer von den willkürlichen Machtgelüsten der Kapitalisten-Klasse unabhängig, sondern ist eine objektiv gegebene Größe, die von der jeweiligen Stufe der kapitalistischen Entwicklung, von der Intensität der Arbeit, daher auch vom entsprechenden Wert der Arbeitskraft abhängt So erleben wir die merkwürdige Tatsache, daß in England, Überall, wo die Arbeitsintensität mit der besseren technischen Ausrüstung der Betriebe gewachsen ist [29], trotz des verlorenen Bergarbeiterstreiks, trotz der größten Niederlage, die je in der Geschichte der Arbeiterbewegung zu verzeichnen war, die Löhne gestiegen und nicht gefallen sind! So betrug die Erhöhung in Cannock Chase 5%, in Leicestershire 6%, in Nottinghamshire und Nord-Derbyshire sogar 23%; in Warwickshire blieb der Lohn unverändert. [30] Ähnliches ist auch in Deutschland zu beobachten. Trotz der Rationalisierung in der Eisenindustrie und der wachsenden Masse der Arbeitslosen konnte der Druck auf die Beschäftigten deren Lohn nicht herabmindern. Im April betrug das Monatseinkommen des Arbeiters auf einem größeren Hüttenwerk durchschnittlich 163 Mk., im September 195 Mk. und im Dezember 198,5 Mk. [31]

Aber ST. hat neben dem Lohnkapitel noch eine zweite Glanzleistung, das „Krisenkapitel“, wo das eigentliche Problem, der Imperialismus, das für die Existenz des Kapitalismus unentbehrliche Bestehen des nichtkapitalistischen Raumes und folglich die Expansion oder der kapitalistische „Vorstoß“ in den nichtkapitalistischen Raum, der Kampf um dessen Verteilung behandelt wird. M. hat, nach ST., die Rolle dieses Raumes überhaupt nicht bemerkt, weil er nur den „reinen“ Kapitalismus analysierte, also von der Annahme ausging, daß der Kapitalismus die alleinherrschende Produktionsform ist, es keine äußeren Märkte gibt.

Daß M. das annahm, ist zwar richtig. Aber das war bloß eine Arbeitshypothese, ähnlich den anderen, die wir schon kennen gelernt haben. Selbstverständlich führt M. nachträglich die notwendige Korrektur ein, und die Rolle der Außenmärkte wird also von M. nachträglich in sein System eingebaut und beleuchtet. In seiner methodologischen Unbeholfenheit ahnt ST. hiervon nichts. Während ROSA LUXEMBURG, die gleichfalls diesen methodischen Zusammenhang bei M. übersehen bat, sich die angebliche Nichtbeachtung der Außenmärkte durch M. wenigstens so erklärte, daß sie auf den unvollendeten Charakter des M.schen Werkes hinwies, verfällt ST. auf die seltsame Idee, M. als blind herumtappenden Lunatiker darzustellen. Er versichert allen Ernstes, M. habe das Kapital unter der Voraussetzung konzipiert, daß es keine Außenmärkte gebe, „die (daher) M. die Erkenntnis wesentlicher Zusammenhänge verschließen mußte“ (S.22). Und erst ROSA LUXEMBURG habe „als erste die Zusammenhänge erkannt“ (S.23). Als Beweise werden ausführlich die M.schen vereinfachenden fiktiven Annahmen zitiert und sodann selbstzufrieden konstatiert: „M. hat den Kapitalismus untersucht unter einer methodischen Voraussetzung, die bisher noch nie bestanden hat“ (S.23, 303). Eine solche Analyse arbeitet mit Voraussetzungen, „die nicht bewiesen sind (!), mehr als dies, deren Realisierung (!) unwahrscheinlich ist“ (S.301). Als ob M. an die Realisierung seiner Voraussetzungen gedacht hätte! Dabei kommt ST. nicht einmal in den Sinn zu fragen, welchen methodologischen Zweck M. mit seinen Annahmen verfolgt hat. Schrieb doch M. wiederholt und mit Nachdruck: „Kapitalistische Produktion existiert überhaupt nicht ohne auswärtigen Handel“ (Kap. II, 469). Und an anderer Stelle: „Die kapitalistische Produktionsweise ist nur möglich auf der Basis des auswärtigen Handels und des Weltmarktes. Dieser ist also sowohl Voraussetzung als Resultat der kapitalistischen Produktion“ (Theorien III, 801). Hätte sich ST. gefragt, warum M. die Elemente übergangen hat, die er selbst in der empirischen Wirklichkeit feststellte, so hätte er sofort bemerkt, daß M. dieses Verfahren einschlug als bewußte Reaktion gegen den Vorläufer ROSA LUXEMBURGs, gegen den Theoretiker der „dritten Personen“, die außerhalb des Kapitalismus stehen und für dessen Überproduktion einen Absatz schaffen, gegen MALTHUS. Um die Scheinlösungen der Theorie der äußeren Absatzmärkte darzutun und die wirkliche Bolle der Außenmärkte klarzumachen, wird zunächst scharfsinnigst die Theorie der „dritten Hände“ zunichte gemacht und die MALTHUSsche Frage: „Wo sollen die Käufer herkommen, die dem Kapitaluten den Mehrwert abnehmen?“ erledigt (Theorien III, 11–13, 36–51). Das Problem selbst wird dann positiv in zweistufigem Verfahren behandelt. Zunächst wird der reine Kapitalismus ohne Außenmärkte analysiert und sodann die Funktion dieser Märkte. Was also bei M. eine bloß vorläufige Annahme, ein Erkenntnisstadium ist, das wird von ST. als das endgültige Ergebnis der M.schen Analyse dargestellt. Daher sieht er nicht die nachträgliche Korrektur M.s und ist für ihn erst ROSA LUXEMBURG – hundert Jahre nach MALTHUS – die theoretische Entdeckerin der Außenmärkte.

Beruht doch ST.s ganzes Buch nur auf der stetig wiederholten Behauptung, M. habe bloß den „reinen“ Kapitalismus untersucht, den nichtkapitalistischen Raum aber nicht behandelt. Sie bricht daher in sich zusammen, da das Gegenteil nachgewiesen erscheint Hat ja M. bereits in Zur Kritik (1859) den „Weltmarkt“ als einen der sechs Teile bezeichnet, die er zu behandeln gedachte, und obwohl der Aufbau des Werkes geändert wurde, der Gegenstand selbst ist geblieben und M. ist zum Problem der nichtkapitalistischen Länder öfters zurückgekehrt. Er war es auch, der, als JOHN ST. MILL tatsächlich von der Annahme ausging, daß die kapitalistische Produktion bereits die herrschende sei, gegen ihn einwendete: „Seltsame optische Täuschung, überall einen Zustand zu sehen, der bis jetzt nur ausnahmsweise auf dem Erdball herrscht“ (Kap. I, 529).

ST. wiederkaut hier wieder nur fremde Gedanken und will gegen M. den Vorwurf wenden, den M. gegen MILL erhoben hat. Diese ganze Verwirrung rührt einfach daher, daß ST. nie zu unterscheiden weiß, wo M. unmittelbar die Wirklichkeit darstellt, und wo er demselben Ziel schrittweise mit Zuhilfenahme vorläufiger Annahmen sich nähert.

Warum hat nun M. von den Außenmärkten zunächst abgesehen? Gerade die Polemik gegen MALTHUS gibt uns darüber Aufschluß. MALTHUS – viel konsequenter als ROSA LUXEMBURG – läßt den unabsetzbaren Mehrwert, für den er neue Käufer sucht, so absetzen, daß er eine spezielle Klasse von dritten Personen – Grund-, Staats- und Kirchenrentnern – gefunden hat, „die Käufer sind, ohne Verkäufer zu sein“ (Theorien III, 13). Steht man aber auf dem Boden der normalen Handelstransaktionen, wo für jede verkaufte Ware von gegebenem Werte eine andere von demselben Wert als Äquivalent empfangen wird, so kann von keinem „Absatz“ einer Überschüssigen Produktenmenge gesprochen werden. Am Schluß der Transaktion steht man eben dort, so man am Anfang derselben war: der Mehrwert sowohl als Gebrauchswert wie als Wert verbleibt innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft selbst, kein Atom desselben wurde in das nichtkapitalistische Land „abgesetzt“. Höchstens kann unter der Annahme eines Verkaufs der Waren zu ihren Werten der Gebrauchswert ans einer Naturalform in eine andere geändert werden. Wie wichtig dies auch sonst sein mag, mit dem Problem der Ausfindung neuer Käufer, neuer Kaufkraft hat das nichts zu tun. In weiterer Analyse zeigt endlich M., daß gerade im Welthandel die dem Reproduktionsschema zugrunde liegende fiktive Voraussetzung des Verkaufs der Waren zu ihren Werten nicht besteht; daß das reichere, entwickeltere Land stets seine Waren über ihrem Wert verkauft und daher ans dem Weltmarkt mehr Wert herauszieht, als es in ihn hineingeworfen hat. Die Funktion der nichtkapitalistischen Märkte, ist somit nach M. eine direkt entgegengesetzte, als dies ROSA LUXEMBURG und ihr folgend ST. behauptet. Nach LUXEMBURG droht dem Kapitalismus der Zusammenbruch infolge von Produktion an unabsetzbarem Mehrwert, der nur in nichtkapitalistischen Raum abfließen kann. Der Kapitalismus, dessen einziger Zweck die Jagd nach Mehrwert ist, leidet daran, daß er „zuviel“ an Mehrwert hat! Kann man sich eine Lösung vorstellen von größerer Inkonsequenz?

In Wirklichkeit – und das ist der Grundgedanke der M.schen Zusammenbruchslehre– reicht der Mehrwert nicht aus, um von einer gewissen Stufe der Kapitalakkumulation an das Kapital zu verwerten. Das ist die absolute Überakkumulation, daher das notwendige Ende der kapitalistischen Produktion, der Zusammenbruch: das Kapital kann seine einzige Funktion, die Kapitalverwertung, nicht ausüben. Der Tod des Kapitalismus ist hier eine logische Konsequenz seiner Natur, der Jagd nach Mehrwert. Gelingt es also dem Kapitalismus, durch den Außenhandel die Waren Über ihrem Werte zu verkaufen, gelingt es ihm überhaupt, von außen her mehr Mehrwert zu erzielen, dann wird die Verwertung des Kapitals ermöglicht – der Zusammenbrach verschoben, also die Tendenz zum Zusammenbruch abgeschwächt und M. zählt eine ganze Reihe solcher Abschwächungsmomente auf.

Um nur eines derselben anzuführen, sei der Kapitalexport erwähnt In der Darstellung ROSA LUXEMBURGs wie ST.s wird er als Tatsache erwähnt, aber man weiß nicht, wie ihn in das „System“ eingliedern, ohne in schreiendsten Widerspruch zu geraten. Der Kapitalismus leidet an Überfülle von Mehrwert, weil für diesen keine Abnehmer vorhanden sind. Aber durch den Kapitalexport nach nichtkapitalistischen Ländern wird dort ein neuer Mehrwert produziert und nach den altkapitalistischen Ländern gebracht! In Wirklichkeit hat der Kapitalexport die Aufgabe, die nicht genügende Verwertung des Kapitals zu beheben, also die Zusammenbruchstendenz abzuschwächen.

Erst dieser methodische Zusammenhang zwischen Zusammenbruchstendenz und Abschwächungsmomenten, die sich aus dem Weltmarkt ergeben, zeigen uns, welch wichtige, wenn auch ganz andere Rolle, als das ROSA LUXEMBURG annahm, M. dem Außenhandel zudachte, und wie er diese Rolle bis in die letzten Details schilderte. Es zeugt nur von dem unglaublich niederen Niveau der bisherigen M.forschung, wenn dieses Zentralproblem des M.schen Systems bisher unbeachtet blieb.

Hat es unter solchen Umständen einen Sinn, mit ST. um die Probleme des Imperialismus zu streiten? Es sind die verwickeltsten Erscheinungen des Weltmarkts, die zu ihrem Verständnis die volle Kenntnis des M.schen Systems voraussetzen. Im vorigen wurde aber gezeigt, daß ST. über die elementarsten Erscheinungen wie Über die Grundbegriffe M.s die verworrensten Auffassungen hat. Was würde man von den Qualitäten eines Physikers sagen, der gegen GALILEI einwendete: dieser habe den Fall der Körper im luftleeren Baum untersucht, also „unter einer methodischen Voraussetzung, die bisher nicht verwirklicht war“, die „nicht bewiesen ist und deren Realisierung unwahrscheinlich ist“! Kann man darnach mit ST. darüber streiten, ob die Realisation des Mehrwerts möglich oder ein unabsetzbarer Rest notwendig ist? Bildet doch für die Profit- und Lohnbewegung des M.schen Reproduktionsschemas die M.sche Profit- und Lohntheorie die notwendige Voraussetzung. Wie kann also ST. selbst irgendwelche Schlüsse ans diesem Schema über die Entwicklung des Kapitalismus ziehen, nachdem er die Elemente, auf denen das Schema aufgebaut ist, als falsch bezeichnet hat.

Als Kuriosum werde noch aus der Fülle der Irrtümer ST.s ein Beispiel herausgegriffen:

Nach der Revolution und der Expropriierung der Rentnerklasse wird sich auch die Notwendigkeit der Abschaffung der für den Luxusbedarf arbeitenden Rentnerindustrien, also eine Umstellung eines Teils der Industrie, ergeben. „Für die Übergangszeit – schließt daraus ST. – sinkt daher die Produktivität der Arbeit“ (S.344) Denkt sich ST. überhaupt etwas dabei?

Den Kernpunkt von ST.s Theorie des Imperialismus bildet das Kapitel Der imperialistische Krieg. Ohne irgendeinen eigenen neuen Gedanken bewegt sich ST. auch hierbei in den Fußstapfen Anderer. Auch OPPENHEIMER [32] beklagt sich nicht mit Unrecht, von ihm ausgiebig geplündert worden zu sein, ohne genannt zu werden. Wir haben gesehen, wie ST. der Reibe nach alle wesentlichen Grundlagen des „historischen“ MARX verwirft. Was er als seine positive Theorie ausgibt, ist nur eine Anleihe bei den „wertfreien“ Theoretikern wie BERNSTEIN, GRAZIADEI, TUGAN-BARANOWSKY, die alle sich gleichfalls dadurch von der Werttheorie zu „befreien“ wußten, daß sie sämtliche Erscheinungen des Kapitalismus durch die Machtverhältnisse und die Konkurrenz zu erklären versuchten. Ähnliche „Anleihen“ macht ST. auch in bezug auf den Hauptpunkt seiner Darlegungen: den imperialistischen Krieg, dessen geschichtliche Unvermeidlichkeit sowie den Ursachenkomplex, der zu ihm führt.

Es war LENIN [33], der 1915 die pazifistische Illusion bekämpfte: als ob internationale oder sonstige Kartelle die friedliche Entwicklung zwischen den Völkern fördern konnten. Er zeigt insbesondere die Unrealisierbarkeit des von HOBSON erwogenen Gedankens der Gründung eines „Verbandes der Westmächte, einer europäischen Föderation der Großmächte“ zur Aufteilung und Ausbeutung Chinas und anderer Kolonialgebiete (S.105). Nebst diesen „Vereinigten Staaten von Europa“ (S.106) zum Zwecke der Ausbeutung der Kolonialländer führt LENIN noch ein ähnliches Projekt G. HILDEBRANDs an, der die „Vereinigten Staaten Westeuropas“ (ohne Rußland) zur gemeinsamen Aktion gegen die Neger Afrikas usw. bilden will (S.107). Alle solchen pazifistischen Illusionen, meint LENIN, zerschellen an den „Gegenwirkungen“, die die imperialistischen Mächte zum Kriege treiben (S.106). Um dies zu zeigen, analysiert er die gegenwärtige Phase des Imperialismus. Kolonialpolitik und Imperialismus, sagt er, hätten auch vor dem neuen Stadium des kapitalistischen Imperialismus bestanden. Aber er verweist auf die charakteristischen Momente des Monopol-Imperialismus (S.82) und entwickelt im Kapitel über die „Teilung der Welt unter den Großmächten“ den Gedanken, die Periode von 1876 bis 1900 kennzeichne sich durch die Aufteilung Afrikas und Polynesiens, und „die Kolonialpolitik der kapitalistischen Länder (habe) das Ansichreißen der unbesetzten Länder auf unserem Planeten beendet“ (S.76). Dies bedeute nicht, daß fernerhin „eine Neuverteilung unmöglich’ wäre – im Gegenteil, Neuverteilungen sind möglich und unvermeidlich“ (S.76). Aber sie seien nur noch möglich „als Übergang von einem Eigentümer zum anderen, aber nicht von Herrenlosigkeit zum Besitzer“ (S.77). Dies bedeute aber „einen verschärften Kampf um die Kolonien“ – Krieg. Denn die Teilung des Kolonialbesitzes 1876–1900 „ging sehr ungleichmäßig vor sich ... Frankreich (habe) (der Fläche nach) beinahe dreimal so viel Kolonien erworben, als Deutschland und Japan zusammengenommen“, obwohl die drei Staaten an Fläche und Bevölkerung ziemlich gleich seien (S.81). Aber die wirtschaftliche Entwicklung sei nicht für alle Staaten gleichmäßig „Wir finden unter den sechs (Haupt)-Ländern einerseits junge, ungeheuer schnell fortschreitende kapitalistische Länder, wie Amerika, Deutschland und Japan; dann Länder der alten kapitalistischen Entwicklung, die in der letzten Zeit viel langsamer sich entwickelten als die ersteren, so England und Frankreich“ (S.81.) So wachse mit der wirtschaftlichen Entwicklung die Disproportionalität der Kolonialverteilung. Daher seien die Kriege unvermeidlich. Doch die Teilung der Welt werde jetzt nach keinem anderen Schlüssel als dem Kapital, der Macht vorgenommen. „Die Macht aber – schließt LENIN – wechselt mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung,“ (S.75), folglich kann die Disproportionalität zwischen der alten Territorialverteilung und den neuen Machtverhältnissen nur mittels Krieges sich vollziehen (S.75).

ST. eignet sich diesen Grundgedanken LENINs buchstäblich, jedoch ohne Quellenangabe an und verwässert ihn bloß durch Überreiche Phraseologie, und konstatiert seinerseits mit dem Pathos eines Apostels, der erstmals noch nie ausgesprochene Wahrheiten verkündet: „Ich werde zeigen, daß ... der Imperialismus zu Kriegen zwischen den einzelnen aktiv imperialistischen Staaten fahren muß“ (S.266).

Auch ST. beschäftigt sich mit verschiedenen Formen des friedlichen Zusammenwirkens kapitalistischer Staaten behufs Ausbeutung und Aufteilung der Kolonien, vom einfachen Kartell bis zu den Vereinigten Staaten Europas – Paneuropa – als einer Burgschaft des Friedens. „Es ist kein Zufall – meint er –, daß sich nicht in früheren Epochen eine Europa-A.-G. zur Bewirtschaftung der Kolonien ergeben hat“ (S.290). Der bürgerliche Pazifismus glaubt an solche Möglichkeiten. „Kein Wunder, da (er) in umgekehrter Proportion zur Kenntnis der Ökonomie steht“ (S.291). Nämlich „in pazifistischen Kreisen liebe man es, den Völkerbund mit einem Kartell zu vergleichen, um zu zeigen, daß durch (ihn) der Ausgleich der Interessengegensätze der verschiedenen imperialistischen Staaten erreicht werden kann. Das sei eine Illusion, und „gerade am Beispiel des Kartells (lasse) sich die völlige Unmöglichkeit eines dauernden friedlichen Ausgleiches der imperialistischen Gegensätze nachweisen“ (S.286).

Auch ST. stellt fest, daß der heutige Imperialismus sich von dem der früheren Epochen in wichtigen Punkten, trotz vieler Berührungspunkte (S.267 bis 268), unterscheide. Und zwar sei „die Epoche vor dem Kriege 1914–18 gekennzeichnet durch die Verwandlung des herrenlosen nichtkapitalistischen Baumes in kolonialen, durch die Stellung der herrenlosen nichtkapitalistischen Territorien unter die Herrschaft eines bestimmten aktiv imperialistischen Staates“ ... „Eine solche Umwandlung ist heute nicht mehr möglich ... Diese Phase ... geht ihrem Ende entgegen“ (S.280, gesperrt im Original). Hieraus zieht ST. ebenso wie LENIN die wichtigsten Konsequenzen. Vor allem die Verschärfung der Gegensätze unter den imperialistischen Staaten. Der Krieg sei kein „zufälliges einmaliges Ereignis“. „Seine Notwendigkeit ist in der kapitalistischen Struktur der Staaten begründet Die in der frühkapitalistischen Epoche erfolgte Verteilung nichtkapitalistischer Territorien sei „in keiner Weise proportional der Expansionsnotwendigkeit“ (S.296/99). Vielmehr weise die industrielle Entwicklung einzelner kapitalistischer Länder „die stärksten Unterschiede auf (S.291). Bei der Kolonialverteilung sei „Deutschland am schlechtesten gestellt“ im Verhältnis zu seiner kapitalistischen Entwicklung und Expansionsnotwendigkeit (S.282). Im Kapitalismus könne diese Disproportionalität friedlich nicht behoben werden. Auch der Völkerbund könne sie durch keine Neuverteilung auf die Dauer beseitigen. Er könne „nichts anderes tun, als den status quo als entscheidend für die Verteilung ansehen“. (Aber) „der Kapitalismus sei dynamisch“ (S.286). Nach welchem Schlüssel kann (der Völkerbund) den einzelnen Staaten Kolonien, Mandate, Einflußsphären zuweisen? Niemals nach der imperialistischen Expansionsnotwendigkeit, sondern nach der militärischen, politischen, ökonomischen Machtfülle. „Die Krise, die diese disparaten Elemente zusammenschweißt, ist der Krieg“ (S.284. Vgl. auch S.294, 299).

Allerdings hält es ST. doch für geboten, vorsichtsweise hinzuzufügen: Auch hier sind die Tatbestände bekannt, ja im einzelnen zuweilen überraschend richtig gesehen worden“ (S.266). ST. seinerseits will aber freilich mehr als bloß die Tatbestände“ geben. Er will vielmehr die ökonomischen Zusammenhänge und die Konsequenzen aus ihnen – „systematisch verankern“ (S.266). Wobei er sich hütet, zu sagen, wer denn vor ihm schon „überraschend richtig gesehen“ habe. Denn würde er LENIN nennen, so könnte man bald die Quelle ersehen, aus der ST. seine ganze Weisheit und Tatsachenkenntnis nebst ihren Konsequenzen geschöpft hat.

Nun ist auch klar, wieso ST., der die Notwendigkeit des Sozialismus wie die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung überhaupt negiert, dennoch „die mathematische Notwendigkeit“ (S.286) des Krieges zugibt. Der Widerspruch erklärt sich einfach ans der Entlehnung der Gedanken LENINs und deren mechanischen Aufpfropfung auf den Baum der eigenen Erkenntnis ST.s.

Und dasselbe gilt von ST.s Theorie der sozialistischen Revolution.

BUCHARIN hat bereits 1922 in seiner Rede zum Programm der 3. Internationale sich gegen diejenigen gewendet, welche die sozialistische Revolution ablehnen, bis zur Zeit, wo der Sozialismus bereite im Kapitalismus ausgereift ist: BUCHARIN schlug dem Kongresse vor, „die Frage der spezifischen Merkmale der Ausreifung des Sozialismus in der kapitalistischen Gesellschaft in das Programm einznbeziehen und betonte gegenüber der klassischen Stelle des M.schen Kapital von „der Ansreifung des Kapitalismus innerhalb der Feudalherrschaft“ „den prinzipiellen Unterschied“ in bezng auf den Übergang von Kapitalismus zum Sozialismus. Er zeigt, daß so im Kapitalismus „der Sozialismus niemals ausreifen kann, auch unter den günstigsten Verhältnissen nicht. Es ist unmöglich, sagt er, daß schon im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiterklasse die Produktion beherrscht ... „Und das Proletariat ... kann das alles erst erlernen, wenn es die Möglichkeit dazu hat, d.h. schon die Diktatur des Proletariats verwirklicht hat.“ „Die Revisionisten, die keine Revolution wollen, behaupten, daß schon im Schoße des Kapitalismus dieser Prozeß des Hineinwachsens vor sich geht Wir behaupten, er fängt nach der Diktatur des Proletariats an.” [34]

Auch diesen Gedanken eignet sich ST. wörtlich an, verarbeitet ihn zu einem ganzen Kapitel und vergißt wieder die Quelle zu zitieren. „Die sozialistische Revolution – schreibt er – ist wesensverschieden von jeder Revolution, die die Geschichte bisher gekannt hat“ (S.322). „Eine Analogie der französischen Revolution zu einer sozialistischen wäre nur dann gegeben, wenn sich bereits im Kapitalismus sozialistische Produktionsweise herausbilden würde“ (S.324). Aber sie kann sich nicht bilden. Folglich, da dies nicht möglich ist, ist die sozialistische Revolution wesensverschieden von jeder vorhergehenden. Sie ist nicht eine Sanktionierung vorangegangener wirtschaftlicher Umwälzungen, sondern die Umwälzung selbst (S.325). Den Satz: „Niemals kann sich im Kapitalismus sozialistische Produktionsweise bilden“ hebt ST. mit Fettdruck hervor und zieht ans ihm den gleichen Schluß wie BUCHARIN, daß zur sozialistischen Produktion nur die Revolution fuhrt (S.326), vier Jahre nach der Auseinandersetzung auf dem Moskauer Kongreß von 1922, als Eigenentdeckung!

Analoges ist auch von ST.s Theorie des Zusammenhanges zwischen der Existenz des Kapitalismus und dem nichtkapitalistischen Raum festzustellen. ST. tritt nur Gedanken breit, die H. CUNOW bereits vor fast einem Menschenalter auf wenigen Seiten exakt in allen Einzelheiten und Konsequenzen entwickelte, und in das Zentrum der theoretischen Diskussion gestellt hat. [35]

Die M.sche Diagnose der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus – erklärte CUNOW – war richtig, M. irrte bloß in bezug auf das Tempo, weil er die zu seiner Zeit bestehenden Absatzmärkte als gegeben betrachtete. Da der Kapitalismus es aber verstand, in den letzten Jahrzehnten immer neue Kapital- und Industriemärkte zu erobern, so wirkte das abschwächend auf die Zusammenbruchstendenz des Kapitalismus (S.424). Die Ausdehnung der auswärtigen Markte habe „nicht nur der immer wieder ansetzenden Überfülle einen Abzugskanal verschafft“ – m.a.W. die ST.schen Abnehmer des unabsetzbaren Bestes –, sie habe auch dadurch „die Neigung zur Krisenbildung vermindert“, genau so wie ST. nun die krisenmildernde Wirkung des nichtkapitalistischen Raumes betont. Nur dadurch hätten, fährt CUNOW fort, in dieser Phase nebst den Unternehmern auch die Arbeiter, wenn auch nicht im gleichen Maße, ihren Vorteil gehabt. (Das ist also die ST.sche „Schonzeit“.) Ohne Gewinnung äußerer Absatzmärkte würde England „längst vor einem Konflikt zwischen der Konsumtionsfähigkeit seines inneren und äußeren Marktes und der riesigen Steigerung seiner kapitalistischen Akkumulation stehen“ ... Nur die Erweiterung des Kolonialbesitzes mit seinem in den 70er und 80er Jahren ... stetig wachsenden Konsum haben dem englischen Kapital- und Industriemarkt Luft gemacht. (Die ST.sche These vom Zusammenbruch des Kapitalismus mangels von Kolonialbesitz.)

BERNSTEINs Feststellungen – sagte CUNOW weiter – mögen nicht immer falsch sein, aber er wie der Revisionismus Überhaupt „verallgemeinern die in einer bestimmten Phase des Entwicklungslaufs hervortretenden spezifischen Wirkungen der wirtschaftlichen Tendenzen und faßten sie als gleichbleibend in allen Stadien auf“. (Die ST.sche „Verabsolutierung durch den Revisionismus einer bestimmten historischen Phase“ (S.246). – Wobei sich der Revisionismus nicht frage: „ob denn auch die Bedingungen für eine fernere mit der Produktionsentwicklung maßhaltende Ausdehnung des Weltmarktes vorhanden sind“. Allein CUNOW erklärte diese Anschauung für falsch und nur temporär gültig.

Schon jetzt (1898!) sei für die weitere Marktausdehnung „ein gewisses Ende abzusehen“, was nun auch ST.s Echo nachsagt (S. 280). Nach CUNOW seien der Monopolstellung Englands auf dem Weltmarkte in den 70er Jahren in Deutschland und Nordamerika ernste Konkurrenten entstanden, und eine weitere Abbröckelung folgte dank der Industrialisierung Indiens, Japans, Australiens, Rußlands, voraussichtlich bald auch Chinas. Mit dem Problem der Ausdehnbarkeit der Absatzmärkte „häng(e) aufs engste das andere zusammen, ob unsere wirtschaftliche Entwicklung einem Zusammenbruch zutreibt“, dessen Unvermeidlichkeit CUNOW unbestreitbar scheint. „Fraglich kann nur sein, wie lange sich noch die kapitalistische Produktionsweise in den einzelnen Ländern erhalten und unter welchen Umständen sich der Zusammenbruch vollziehen wird.“ Das hänge ab:

  1. vom Mangel an Absatzmärkten und den konkreten Verhältnissen in den einzelnen Ländern;
  2. von dem Grad der Klassengegensätze in den einzelnen Ländern;
  3. von der Finanzlage verschiedener Staaten;
  4. von Komplikationen der fortgeschrittensten Länder, wie z.B. ihrer Kriege untereinander, usw.

CUNOW sah sogar die Möglichkeit eines plötzlichen Zusammenbruchs, „wenn die Krisis als Folge eines bis zu gegenseitiger Erschöpfung geführten europäischen Krieges eintritt“. Im entgegengesetzten Fall werde er nicht plötzlich erfolgen. Das seien übrigens schon praktische Details. Für die Theorie sei das nicht entscheidend. „Ob unsere wirtschaftliche Entwicklung den in ihr wirkenden Tendenzen nach auf eine allgemeine Katastrophe hintreibt, das ist der Kernpunkt der ganzen Frage.“

Soweit CUNOW vor 30 Jahren. Nach ihm wiederholten dasselbe KAUTSKY (1901) und BOUDIN (1907). ROSA LUXEMBURG übernahm dann 1913 diese Theorie buchstäblich und versuchte sie bloß nach der dogmen-historischen Seite zu vertiefen und zugleich theoretisch dadurch auszubauen, daß sie zur Begründung der Notwendigkeit des nichtkapitalistischen Baumes die schematische Analyse des kapitalistischen Reproduktionsprozesses nach dem Beispiele TUGAN-BARANOWSKYs heranzog. Sie brachte so die Theorie zum Abschluß. ST. bringt nun den Mut auf, CUNOWs und ROSA LUXEMBURGs Gedanken als seine zu wiederholen. Tatsächlich hat er die Problemstellung nicht um ein Atom über CUNOW und LUXEMBURG hinaus gefördert. Beruht ja doch auch seine ganze Darstellung nicht wie bei M. auf der allseitigen Analyse der realen Erscheinungen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses in dessen Entwicklung. M. zeigt die Funktion und die Rolle der einzelnen Elemente des kapitalistischen Mechanismus: die lebendige Arbeit, das fixe Kapital, das Geld, die Rohstoffe und Lebensmittel im Kapitalkreislauf, die Art des Ersatzes dieser Elemente dem Werte und dem Gebrauchswerte nach, die Kapitalwanderungen und Verschiebungen innerhalb des kapitalistischen Mechanismus selbst und wie der Kapitalismus durch sie alle hindurch unaufhaltsam seinem Ende entgegengeht. Statt dessen reduziert sich ST.s Analyse, seine „unerschütterliche Position“ einzig und allein darauf, daß in einem unanalysierten schematischen Zahlenbeispiel in der Abteilung II ein „unabsetzbarer Rest“ zurückbleibt!

Wir haben gezeigt, daß der theoretische Teil des ST.schen Buchs ein Brei ist, aus allerlei von fremden Tischen gefallenen Brocken zusammengekocht. ST.s wirklich geistiges Eigentum ist seine Behauptung von der Möglichkeit der Zurückentwicklung des Kapitalismus „in die Geschichtslosigkeit“ nebst der oberflächlichsten M.-Kritik, die je geschrieben worden ist – die aber dennoch unter marxistischer Flagge segeln möchte. ST. versucht, in M.schem Gewande antimarxistische Gedankengange zu verbreiten. Es gilt von ihm, was LENIN von den russischen „Marxisten“ dieser Art sagte: Man beginnt gegen den Marxismus zu kämpfen, ohne gegen seine Grundlagen offen vorzugehen, indem man ihn angeblich anerkennt, aber seinen Inhalt so auslaugt, daß er zu einem für die Bourgeoisie unschädlichen Popanz gemacht wird. [36]

Fußnoten

1. FRITZ STERNBERG, Der Imperialismus, Berlin, Malik-Verlag 1926. gr. 8°. 619 S.

2. Im folgenden werden abgekürzt: MARX in M.; STERNBERG in ST. Das Kapital in Kap.; Theorien über den Mehrwert in Theorien. Der I. Band des Kapital wird zitiert nach der dritten Auflage.

3. Archiv f. Sozialwissenschaft LVII, 499.

4. Man lese z.B. die von KARL BALLOD, Der Zukunftsstaat, 4. Aufl. 1927, S.109, angeführten Tatsachen, „daß die Produktionskosten, auf die Einheit des Produktes gerechnet, mit der Höhe der Flächenerträge nicht zunehmen, sondern abnehmen“, und zwar für Roggen, Gerste und Hafer, wie für Kartoffeln und Zuckerrüben.

5. Vgl. B. GRIMM, in Züricher Bote Revue 1927, S.196/7.

6. Soziale Reform oder Revolution, 2. Aufl. 1908, S. 26.

7. ENGELS, Anti-Dühring (1914), S.171.

8. Revolution und Konterrevolution in Deutschland (1920) S.7.

9. Klassenkämpfe in Frankreich (1920) S.92.

10. Gegen den Strom, S. 144.

11. Die Voraussetzungen des Sozialismus, 1899, S.6ff.

12. Gegen den Strom, Hamburg 1921, S.146, 135, 156. Archiv f. Geschichte d. Sozialismus XIII, hrsg. v. Grünberg.

13. Ebenda, S.185.

14. Die Arbeiterfrage, 8. Aufl. (1922) II, S.316.

15. Berlin (1891) S.25–29.

16. Principles, Chap. I, Sect 7.

17. Das Grundgesetz der M.schen Gesellschaftslehre, Berlin 1903 S.28).

18. Lohnarbeit und Kapital (1891), S.14.

19. M., Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei (1922), S. 27, 80.

20. Das Grundgesetz, S.40.

21. M., Lohn, Preis und Profit (4 Aufl.), S.41.

22. Diese theoretische Erklärung der Lohnsteigerung in allen kapitalistischen Ländern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einer allgemeinen Ursache schließt nicht aus, daß daneben noch andere Momente vorübergehender Natur in derselben Richtung wirken. „Für die Lebenshaltung der europäischen Arbeiterklasse – sagt KAUTSKY, Der Weg zur Macht (1909), S.75 – war von äußerster Wichtigkeit das Sinken der Lebensmittelpreise seit den 70er Jahren. Es erhöhte die Kaufkraft ihres Geldlohnes, milderte die Wirkungen seines Sinkens während der Krise, ließ nach ihrer Überwindung den Reallohn noch rascher ansteigen als den Geldlohn.“

23. Das Grundgesetz, S. 14.

24. Vgl. BALLOD, Der Zukunftsstaat, 4. Aufl., S.86.

25. W. SOMBART, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 1903, S. 413/14.

26. Vgl. W. KUNZE, Der Aufbau des Phönix-Konzerns, 1926, S.40.

27. Deutsche Arbeit, 1927, S. 113.

28. WOYTINSKY, Magazin der Wirtschaft, 1927, S.823.

28a. Es ist kein Widerspruch, wenn die M.sche Lohntheorie dennoch von einer gewissen Phase der Kapitalakkumulation an im Zusammenhang mit der Überakkumulation und der Tendenz zum Zusammenbrach des Kapitalismus annimmt, daß das Steigen des Reallohns zum Stillstand gelangt und schließlich in ein positives Sinken umschlägt. Diese Endphase der Kapitalakkumulation hat M. im Auge, wenn er sagt, „daß im Maß, wie das Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß“ (Kap. I, 664). Trotz aller Verbesserungen der Lage der Arbeiterklasse sogar während längerer Perioden setzt sich schließlich die Verelendungstendenz durch. „Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ (Kap. I, 662). Es würde zu weit fuhren hier diesen Gedanken näher zu begründen.

29. Die Steigerung der Intensität im englischen Bergbau im ersten Quartal 1927 gegenüber der entsprechenden Zeit von 1926 beträgt über 13%. „Wenn man den Durchschnitt des ersten Quartals 1926 gleich 100 setzt, so ist die Förderung jetzt (1927) auf rund 104 gestiegen, während die Belegschaft auf rund 92 gesunken ist.“ (Der Arbeitgeber, 1927, S.191.)

30. Vgl. Schichtenverdienste der Hauer und Hilfsarbeiter (untertags) in den wichtigsten Kohlengebieten Großbritanniens vor und nach dem Streik 1926, in Wirtschaft und Statistik, 1927, Heft l, S.34.

31. Der Arbeitgeber 1927, S. 192. – Wenn in England den meisten Zeitungsnachrichten zufolge der Lohn der Bergarbeiter in den letzten Monaten wieder gesunken ist, so kann dies ohne ernste Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit nur vorübergehend sein.

32. Archiv für Sozialwiss. LVII.

33. Der Imperialismus, Deutsche Ausg. Hamburg 1921, S.74.

34. Vgl. Protok. d. IV. Kongr. d. Komm. Intern. 1922, Hamburg 1922, S.414/15.

35. Vgl. CUNOW, Die Zusammenbruchstheorie in d. Neue Zeit XVII/I (1898), 424/30.

36. LENIN, Gegen den Strom, S.192.


Zuletzt aktualisiert am 16.11.2008