Duncan Hallas

 

Gegen den Strom

Die Bewegung der Vierten Internationale und ihre Ursprünge

(1972)


Duncan Hallas, Against the stream, International Socialism 53 (1. Serie), Oktober/Dezember 1972.
Transkription: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Organisation der Internationalen Sozialisten [1] hat ihre ursprünglichen Wurzeln in der Bewegung der Vierten Internationale. Sie erkennt die Nichtgangbarkeit rein nationaler „Wege zum Sozialismus“ und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer revolutionären Internationale an. Es müssen noch immense Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt werden. Über diese Schwierigkeiten und über die Möglichkeiten, sie zu überwinden, kann man eine Menge lernen, wenn man den ersten großen Versuch in dieser Richtung untersucht: Trotzkis Kampf um den Aufbau einer revolutionären Alternative zum Stalinismus und zur Sozialdemokratie ab 1933. Was später daraus wurde, der politische Niedergang und der Zerfall der Vierten Internationale, wollen wir in einem anschließenden Artikel diskutieren.

 

Der 4. August der Kommunistischen Internationale

Eine Organisation, die sich durch den Donner des Faschismus nicht aufrütteln ließ, die sich zahm solch schändlichen bürokratischen Manövern unterwirft, zeigt somit, daß sie tot ist und nicht wiederbelebt werden kann... In unserer ganzen zukünftigen Arbeit werden wir den historischen Zusammenbruch der offiziellen Kommunistischen Internationale zu unserem Ausgangspunkt nehmen.
Trotzki: Es ist notwendig, kommunistische Parteien und eine Internationale von neuem aufzubauen

Die Bewegung der Vierte Internationale wurde aus einer katastrophalen Niederlage der Arbeiterklasse heraus geboren.

Im Januar 1933 gelangte Hitler zur Macht. Innerhalb von Wochen vernichtete er die mächtigste Arbeiterbewegung der Welt, ohne auf Widerstand zu stoßen. Das Umfallen der größten sozialdemokratischen Partei der Welt kam nicht überraschend, denn es entsprach dem bereits am 4. August 1914 eingeschlagenen Kurs der internationalen Sozialdemokratie. Das Umfallen der deutschen Kommunistischen Partei, der größten Mitgliedspartei der Kommunistischen Internationale außerhalb der UdSSR, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

Die Bedeutung dieses Ereignisses liegt weniger in der Niederlage als solcher, sondern vielmehr in der vollkommen fehlenden Kampfbereitschaft der Partei. Denn ihr extremer verbaler Radikalismus verband sich mit totaler politischer Passivität. Seit 1928–29 verfolgte die deutsche Partei, wie auch alle übrigen Sektionen der Komintern, die ultralinke Linie der sogenannten „Dritten Periode“, der Periode von „steigenden revolutionären Kämpfen“. In der Praxis bedeutete diese Politik, daß man die Sozialdemokraten zum Hauptfeind erklärte, und dies zu einer Zeit, da der Faschismus gerade in Deutschland eine reale und wachsende Gefahr darstellte. „In der gegenwärtigen Situation wachsender imperialistischer Widersprüche und des sich verschärfenden Klassenkampfes“, erklärte das Zehnte Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) im Jahre 1929, „wird der Faschismus immer mehr zur wichtigsten Stütze der bürgerlichen Herrschaft. In Ländern, in denen starke sozialdemokratische Parteien bestehen, nimmt der Faschismus die besondere Form des Sozialfaschismus, der in zunehmendem Maße der Bourgeoisie als Instrument zur Lähmung der Massenaktivitäten gegen das Regime der faschistischen Diktatur dient.“ [2]

Daraus folgerte man, daß jeder Versuch, die sozialdemokratischen Massenorganisationen und die von ihnen kontrollierten Gewerkschaften zu einer Einheitsfront gegen die Faschisten zu zwingen, vergeblich sei, denn sie selbst waren ja Sozialfaschisten. Das Elfte Plenum der EKKI im Jahre 1931 setzte sogar noch eins drauf mit seiner Verkündung, die Sozialdemokratie sei „der aktivste Faktor und Schrittmacher beim Übergang des kapitalistischen Staates hin zum Faschismus.“ [3]

Diese vollkommene Fehleinschätzung des Wesens des Faschismus, die Annahme, daß sich „starke sozialdemokratische Parteien“ und ein „Regime der faschistischen Diktatur“ gegenseitig vertragen könnten, führte zu der Ansicht, daß Deutschland bereits faschistisch sei, noch bevor Hitler Kanzler wurde. „In Deutschland ... hat die Von Papen-Schleicher-Regierung, mit Hilfe der Reichswehr, des Stahlheims und der nationalen. Sozialisten, eine Form der faschistischen Diktatur errichtet ...“ [4], verkündete das Zwölfte Plenum der EKKI im Jahre 1932.

Trotzki und seine Handvoll Anhänger hatten über die Jahre und mit zunehmender Dringlichkeit gegen diese verbrecherische Linie geschrieben und gewettert. Nach 1930 schlossen sie sich in der Internationalen Kommunistischen Liga zusammen, betrachteten sich aber weiterhin als eine durch die Stalinisten auf bürokratischem Wege ausgeschlossene Kominternfraktion und kämpften nach wie vor um das Ziel, das Regime in der UdSSR und in der Komintern zu reformieren. Sie wiesen weit von sich jeden Gedanken, eine rivalisierende Partei gründen zu wollen.

Alle Blicke müssen auf die Kommunistische Partei gerichtet sein. Wir müssen sie aufklären. Wir müssen sie überzeugen. [5]

Das zentrale Thema ihrer gesamten Propagandaarbeit ist im Titel eines der berühmtesten Flugblätter Trotzkis zusammengefaßt: Für eine Einheitsfront gegen den Faschismus. Aber trotz aller Brillanz und Geschlossenheit in der Argumentationslinie Trotzkis hielt die deutsche Partei mit ihrer Viertelmillion Mitglieder und ihren sechs Millionen Wählerstimmen (1932) an ihrem tödlichen Kurs fest. Abgesehen von einigen verzweifelten Manövern fünf Minuten vor zwölf leistete sie Stalins verhängnisvoller Lehre von der „Dritten Periode“ und vom „Sozialfaschismus“ bis zum bitteren Ende Gefolgschaft. Sie wurde dann mitsamt den „Sozialfaschisten“, den Gewerkschaften, und allen übrigen politischen, kulturellen und sozialen Organisationen, die die deutsche Arbeiterklasse im Laufe von sechzig Jahren geschaffen hatte, widerstandslos zerschlagen.

1931 hatte Trotzki Deutschland „den Schlüssel zur internationalen Lage“ genannt.

Von der Richtung, die die Lösung der deutschen Krise nehmen wird, hängt nicht allein das Schicksal Deutschlands selbst ab (was auch schon eine ganze Menge ist), sondern das Schicksal Europas, das Geschick der ganzen Welt für kommende unzählige Jahre. [6]

Seine Voraussage hat ins Schwarze getroffen. Die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse verwandelte die Weltpolitik. Das Versagen der Kommunistischen Partei, die den Widerstand nicht einmal zu organisieren versuchte, war nicht weniger ein Schlag in die Magengrube, als es die Kapitulation der Sozialdemokratie im Jahre 1914 gewesen war. Es war der 4. August der Komintern.

 

 

Auf der Suche nach einem neuen Zimmerwald

Bis jetzt haben uns diese linken sozialistischen Organisationen unsere Weigerung, mit der Komintern zu brechen und unabhängige Parteien aufzubauen, vorgehalten. Diese scharfe Meinungsverschiedenheit ist nun durch den Marsch der Ereignisse beigelegt worden ... Die Bolschewiki-Leninisten müssen eine offene Diskussion mit den revolutionären sozialistischen Organisationen aufnehmen. Als Grundlage für die Diskussion werden wir die elf Punkte vorschlagen, die von unserer Vorkonferenz angenommen wurden.
Trotzki: Es ist notwendig, kommunistische Parteien und eine Internationale von neuem aufzubauen

Im April 1933 trat das Präsidium der EKKI zusammen und verkündete:

Nachdem wir nun den Bericht von Genossen Heckert über die Situation in Deutschland gehört haben, erklärt das Präsidium der EKKI, daß die politische und organisatorische Linie, die das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands unter der Führung Thälmanns bis zur hitlerschen Machtergreifung und im Augenblick derselben verfolgte, vollkommen richtig war. [7]

Weiter stellte es fest:

Trotz faschistischen Terrors wird die revolutionäre Flut in Deutschland steigen; der revolutionäre Widerstand der Massen gegen den Faschismus wird zwangsläufig wachsen. Die Errichtung der offen faschistischen Diktatur, die alle demokratischen Illusionen unter den Massen zerstört und sie vom sozialdemokratischen Einfluß befreit, beschleunigt das Marschtempo Deutschlands in Richtung auf die proletarische Revolution. [8]

Diese irrsinnige Einschätzung trieb Trotzki zur Schlußfolgerung, daß die Komintern nun unwiederkehrbar bankrott war, und daß neue Parteien und eine neue Internationale geschaffen werden mußten. Einige Monate noch widersetzte er sich der Ansicht, daß eine Reform in der UdSSR selbst nicht mehr möglich war. In einem Artikel zur Erklärung dieser fundamentalen Veränderung der Linie der Linken Opposition schrieb er:

Unter der Voraussetzung günstiger interner und vor allen Dingen internationaler Bedingungen kann das Gebäude des Arbeiterstaates auf der sozialen Grundlage der Sowjetunion ohne eine neue Revolution regeneriert werden. [9]

In der Tat, diese Ansicht bildete einen zentralen Bestandteil der Analyse der UdSSR als einem „degenerierten Arbeiterstaat“, wie sie von Trotzkisten bis dato vertreten wurde. Im Sommer 1933 war dies allerdings noch ein Problem für die Zukunft. Denn die unmittelbar drängende Frage war: Welche Kräfte stehen zur Verfügung, die die Basis für eine neue Internationale hergeben können, und was sollte ihre programmatische Grundlage sein?

Die IKL hatte ihr Elf-Punkt-Programm im Februar 1933, unmittelbar nach Hitlers Sieg, endgültig formuliert. Es handelte sich im Grunde genommen immer noch um das Programm einer Fraktion, die sich mit der Orientierung und der Politik einer weitaus größeren Organisation auseinandersetzte. Es faßte die Erfahrungen des zehnjährigen Kampfes der Linken Opposition gegen den Stalinismus in der UdSSR und auf internationaler Ebene zusammen:

Die Internationale Linke Opposition stellt sich auf den Boden der ersten vier Kongresse der Komintern. Das heißt nicht, daß sie sich vor jedem Buchstaben der dort getroffenen Entscheidungen beugt, die oftmals einen zeitlich begrenzten Charakter hatten und deren praktische Konsequenzen in mancherlei Hinsicht durch die spätere Praxis widerlegt wurden. Aber alles in allem bleiben die grundlegenden Prinzipien (das Verhältnis zum Imperialismus und zum bürgerlichen Staat; das Verhältnis zur Bauernschaft und zu allen unterdrückten Nationen; die Sowjets; die Arbeit in den Gewerkschaften; der Parlamentarismus; die Politik der Einheitsfront) sogar heute noch der höchste Ausdruck der proletarischen Strategie in der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus.

Die Linke Opposition verwirft die revisionistischen Entscheidungen des 5. und des 6. Weltkongresses und hält eine radikale Neuformulierung des Programms der Komintern, in der das marxistische Gold durch die zentristische Legierung vollkommen entwertet wurde, für nötig.

In Übereinstimmung mit dem Geist und dem Sinn der Entscheidungen der ersten vier Kongresse, und in der Fortsetzung dieser Entscheidungen, stellt die Linke Opposition folgende Prinzipien auf, entwickelt sie theoretisch und führt sie praktisch durch:

  1. Die Unabhängigkeit der proletarischen Partei, immer und unter allen Bedingungen; Verurteilung der Kuo Min-tang Politik von 1924–28; Verurteilung der Politik des anglo-russischen Komitees; Verurteilung der stalinschen Theorie der Zweiklassenparteien (Arbeiter und Bauern) sowie der ganzen Praxis, die auf dieser Theorie beruht; Verurteilung der Politik des Amsterdamer Kongresses, auf dem die Kommunistische Partei in einem pazifistischen Sumpf aufgelöst wurde.
     
  2. Anerkennung des internationalen, und folglich des permanenten Charakters der proletarischen Revolution; Ablehnung der Theorie des Sozialismus in einem Land sowie der sie ergänzenden Politik des Nationalbolschewismus in Deutschland (Plattform der „Nationalen Befreiung“).
     
  3. Anerkennung des Sowjetstaates als einen Arbeiterstaat trotz der wachsenden Degeneration des bürokratischen Regimes. Bedingungsloser Befehl, daß jeder Arbeiter den Sowjetstaat gegen den lmperialismus sowie gegen eine interne Konterrevolution zu verteidigen hat.
     
  4. Verurteilung der Wirtschaftspolitik der Stalin-Fraktion, sowohl in der Periode des ökonomischen Opportunismus zwischen 1923 und 1928 (der Kampf gegen „Überindustrialisierung“; das Alles-Setzen-auf-die-Kulaken), als auch in der Periode des ökonomischen Abenteuertums zwischen 1928 und 1932 (überstrapaziertes Tempo der Industrialisierung, durchgängige Kollektivierung, administrative Liquidierung der Kulaken als Klasse). Verurteilung der kriminellen bürokratischen Legende, wonach „der Sowjetstaat bereits in das Stadium des Sozialismus eingetreten ist“. Anerkennung der Notwendigkeit einer Rückkehr zu der realistischen Wirtschaftspolitik des Leninismus.
     
  5. Anerkennung der Notwendigkeit einer systematischen kommunistischen Arbeit in den proletarischen Massenorganisationen, insbesondere in den reformistischen Gewerkschaften; Verurteilung der Theorie und Praxis der Roten Gewerkschaftsorganisation in Deutschland und ähnlicher Konstruktionen in anderen Ländern.
     
  6. Ablehnung der Formel „Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ als besonderes Regime, das sich von der Diktatur des Proletariats gestützt auf die aktive Teilnahme der Bauern und unterdrückten Massen ganz allgemein etwa unterscheiden soll; Ablehnung der antimarxistischen Theorie des „Hineinwachsens“ der demokratischen Diktatur in eine sozialistische.
     
  7. Anerkennung der Notwendigkeit, die Massen unter dem Banner von Übergangslosungen zu mobilisieren, die der konkreten Situation in dem betreffenden Land entsprechen, insbesondere unter dem Banner von demokratischen Losungen, insoweit es sich um einen Kampf gegen feudale Beziehungen, gegen nationale Unterdrückung oder gegen verschiedene Arten der offen imperialistischen Diktatur (Faschismus, Bonapartismus, etc.) handelt.
     
  8. Anerkennung der Notwendigkeit einer entwickelten Einheitsfrontpolitik in Bezug auf die Massenorganisationen der Arbeiterklasse, sowohl die gewerkschaftlichen als auch die politischen, einschließlich der Sozialdemokratie als Partei. Verurteilung der ultimativen Losung „nur von unten“, die in der Praxis die Ablehnung der Einheitsfront und folglich die Weigerung, Sowjets zu bauen, beinhaltet. Verurteilung der opportunistischen Anwendung der Einheitsfrontpolitik, wie im anglo-russischen Komitee geschehen (Block mit den Führern ohne die Massen und gegen die Massen); doppelte Verurteilung der Politik des gegenwärtigen deutschen Zentralkomitees, die die ultimative Losung „nur von unten“ mit einer opportunistischen Praxis im Falle parlamentarischer Abkommen mit den Führern der Sozialdemokratie verbindet.
     
  9. Ablehnung der Theorie des Sozialfaschismus und der gesamten damit verbundenen Praxis, die einerseits dem Faschismus und andererseits der Sozialdemokratie dient.
     
  10. Kampf um die Wiedervereinigung der revolutionären Kräfte der Weltarbeiterklasse unter dem Banner des internationalen Kommunismus. Anerkennung der Notwendigkeit, eine echte kommunistische Internationale aufzubauen, die fähig ist, obengenannte Prinzipien anzuwenden.
     
  11. Anerkennung der Parteidemokratie nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat; schonungslose Verurteilung des stalinschen „Volksabstimmungs“-Regimes (das Gängeln des Willens und des Denkens der Partei, die Herrschaft der Usurpatoren, die gezielte Abschottung der Partei vor Informationen, etc.)

Diese grundsätzlichen Prinzipien, die wir hier aufgezählt haben und die von grundlegender Bedeutung für die Strategie des Proletariats in der gegenwärtigen Periode sind, versetzen die Linke Opposition in eine Position der unversöhnlichen Gegnerschaft zur stalinistischen Fraktion, die derzeit die UdSSR und die Kl beherrscht. Die Anerkennung dieser Prinzipien auf der Basis der Beschlüsse der ersten vier Kongresse der Komintern ist eine unverzichtbare Bedingung für die Aufnahme von einzelnen Organisationen, Gruppen und Personen in die Verbindung der Internationalen Linken Opposition. [10]

Die tatsächlichen Kräfte, die der IKL in jener Zeit zur Verfügung standen, waren winzig. Die spanische Gruppe, die in ihren Reihen die national bekannten ehemaligen KPF-Führer Nin und Andrade zählte, operierte in einem Land, in dem sich eine vorrevolutionäre Situation entwickelte. Diese Gruppe schied aber bald wieder aus der IKL aus und vereinigte sich mit der rechten kommunistischen Gruppierung unter der Führung von Maurin, um die Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit (POUM) zu gründen, die Ende 1935 7.000 Mitglieder in ihren Reihen zählte. Der Preis für diese Vereinigung war die Annahme der maurinschen Position, die auch die der Komintern war, wonach die kommende spanische Revolution eine bürgerlich-demokratische sein werde, und die proletarische Revolution nicht auf der Tagesordnung stehe. Dieser Schritt zementierte den Bruch Nin und Trotzki, der bereits 1934 in der Frage des Entrismus in die Sozialistische Partei entstanden war. Trotzki hatte keine Wahl. Die Perspektive der POUM war im Grunde die gleiche, die die chinesische KP in den Jahren 1925-27 in die Katastrophe geführt hatte. „Ein falscher Ausgangspunkt inmitten einer Revolution“, schrieb er, „wird im Laufe der Ereignisse unweigerlich in die Sprache der Niederlage übersetzt.“ Auch in diesem Falle sollte Trotzki recht behalten.

Die Tatsache blieb, daß die IKL ihre einzige europäische Sektion verloren hatte, der es in der unmittelbaren Zukunft vergönnt sein würde, in einer realen revolutionären Situation zu intervenieren. Ihre größte Sektion, die griechische Archeo-Marxistische Organisation, die 1930 2.000 Mitglieder zu den ihren zählte, war nicht wirklich trotzkistisch, und spaltete sich, nachdem sie die angeblich „zentristischen“ Tendenzen der IKL an den Pranger gestellt hatte, nach rechts ab. [11]

Die wichtigste übrigbleibende Sektion, die französische, hatte nicht mehr als 200 Mitglieder und war durch die rivalisierenden Fraktionen um Naville und Molinier hoffnungslos gespalten und von der Arbeiterklasse effektiv isoliert. Es existierten kleine Gruppierungen in Belgien, Großbritannien, Polen und der Tschechoslowakei, der Rest waren nur Emigranten, Individuen oder kleine Exklusivzirkel.

In Asien konnten die chinesischen Trotzkisten, die gleichsam von der Kuomintang und von den Stalinisten verfolgt und unterdrückt wurden, keine effektive Organisation aufbauen. In den übrigen Teilen des Kontinents bestanden bestenfalls kleine Gruppen von Intellektuellen. Die Vietnamesen, die später zu einer relativ großen Gruppe heranwuchsen, waren zu jener Zeit noch Emigranten in Paris.

Afrika war, mit Ausnahme der Union von Südafrika, vollkommen blank. Und die zugängliche Literatur über Südamerika enthält kaum Hinweise auf etwaige Aktivitäten dort.

Nur in den USA gab es einen realen Kern. Die amerikanischen Trotzkisten waren dazu bestimmt, für die nächsten zwanzig Jahre etwa die stärkste und stabilste Komponente der internationalen Bewegung zu bilden. 1933 waren sie noch sehr klein. 1931 hatten sie bloß 154 Mitglieder gezählt, aber sie waren den meisten Europäern qualitativ überlegen. Sie besaßen eine potentielle Stärke, die sehr bald in den Streiks von Minneapolis 1934 zum Vorschein kam.

Die zahlenmäßige Schwäche der IKL war nicht das einzige Problem. Schon früher hatte Trotzki das Unvermögen der deutschen Sektion bemerkt, einmal „zehn einheimische Fabrikarbeiter zu rekrutieren“. [12] Über die französische Sektion in den frühen 30er Jahren schrieb Craipeau:

Die Pariser Region [der Ligue Communiste – d. h.] umfaßte einen hohen Anteil von verantwortlichen Kommunisten, die schon lange Zeit bei der Sache gewesen waren und deshalb von ihrer Basis abgetrennt waren. Die Vorherrschaft der Intellektuellen war nicht überraschend. Für den normalen Arbeiter mußten die Diskussionen über das anglo-sowjetische Komitee oder über die Kuomintang als vollkommen abstrakt erscheinen. Sie hatten andere Sorgen. [13]

Sogar die Amerikaner, die in dieser Hinsicht viel besser waren, litten unter „einer Menge dilettantischer, kleinbürgerlich gesinnter Leute“. [14] Ihr bestbekannter Führer, J.P. Cannon, beklagte sich:

Alle Leute von diesem Schlage besitzen ein gemeinsames Merkmal: Sie mögen ohne Limit, ohne Ende diskutieren. Die New Yorker Ortsgruppe der trotzkistischen Bewegung war in jenen Tagen nichts anderes als ein Kochtopf voller Diskussionen ... Abgetrennt von der Vorhut der Kommunistischen Bewegung und ohne Kontakt mit der lebendigen Arbeiterbewegung, waren wir auf uns allein gestellt und ohne äußeren Schutz vor dieser Invasion. [15]

Trotzki hatte nicht die Illusion, daß eine neue Internationale mit diesen geringen Kräften aufgebaut werden könne. Wie Lenin, der sich – bei aller Kritik – an den Anstrengungen der linken Sozialdemokraten zur Wiederanknüpfung der internationalen Verbindungen in den Jahren 1915 und 1916 in Zimmerwald und Kienthal beteiligte, so orientierte auch Trotzki nun die IKL auf die verschiedenen sozialdemokratischen und zentristischen Gruppierungen hin, die sich außerhalb der Zweiten und Dritten Internationale befanden. Die britische ILP, die erst kürzlich ihre Mitgliedschaft in der Labour Party aufgekündigt hatte, berief im Sommer 1933 eine Konferenz in Paris ein, um die neu eingetretene Situation nach Hitlers Sieg zu diskutieren. Vierzehn Parteien und Gruppierungen, darunter auch die IKL, nahmen daran teil. Auf dem rechten Flügel war die Norwegische Arbeiterpartei (NAP), eine links-sozialdemokratische Massenorganisation, die dann kaum zwei Jahre später die Regierung Seiner Norwegischen Majestät bildete. Die NAP war 1920 der Komintern beigetreten und hatte sie 1923 wieder verlassen. Am anderen Extrem war die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), eine linke Abspaltung der deutschen Sozialdemokratie, die jetzt, als Auslandsorganisation, immer mehr unter den Einfluß von ehemaligen Mitgliedern des rechten Flügels der Kommunistischen Partei Deutschlands geriet. Lediglich vier der teilnehmenden Organisationen, die IKL selbst, die SAP und zwei holländische Gruppierungen (die RSP und die OSP), konnten dazu bewogen werden, einen Aufruf für eine neue Internationale zu unterschreiben. Wie Pierre Frank bemerkte, betrachtete man die Pariser Konferenz als ein neues Zimmerwald. [16]

Es entwickelte sich allerdings keine breite linke Strömung, die den Grundstein für einen weiteren Aufbau hätte hergeben können. Die in Paris vertretenen Parteien und Gruppen wurden alle, mit Ausnahme der IKL, sehr bald nach rechts gezogen, als sich die Komintern von der „Dritten Periode“ hin zur „Einheitsfront“ zu bewegen begann.

Die Pariser „Erklärung der Vier“, die an sich niemals eine trotzkistische Plattform im engeren Sinne gewesen war, wurde von ihren nichttrotzkistischen Paten bald als peinlich empfunden.

Das einzige positive Ergebnis von Paris war der Zusammenschluß der zwei holländischen Gruppen zur Revolutionären Sozialistischen Arbeiterpartei (RSAP) der Niederlande. Die beherrschende Figur dieser Partei, die eine kleine aber reale Basis in der Arbeiterklasse besaß, war der altgediente Kommunist Heinrich Sneevliet, der wichtige politische Differenzen zu Trotzki hatte und wenige Jahre darauf seine Organisation aus der Bewegung um eine Vierte Internationale hinausführte und die spanische POUM unterstützte. Die SAP-Führer, Walscher, Fröhlich und Schwab, schlugen ebenfalls und sogar noch schneller diese Richtung ein. Trotzkis Bemühungen um eine Einigung mit den sinowjewistischen Splittergruppen, insbesondere mit der deutschen Auslandsgruppe um Maslow-Fischer und mit der Treint-Gruppe in Frankreich, fruchteten ebensowenig. Ein Jahr nach der Pariser Konferenz waren die Trotzkisten genauso isoliert wie zuvor. Der Versuch, den Kern einer neuen Internationale aus den bestehenden linken Fragmenten zu schaffen, war gescheitert. Eine neue Strategie tat not.

 

 

Die französische Wende

Erst gestern noch führte Doriot den Kampf um die Einheitsfront an, die er – auf seine Art – in Saint-Denis auch verwirklichte. Morgen, im Falle einer Vereinbarung zwischen beiden Bürokratien, werden die Massen in Doriot ein Hindernis, einen Spalter, einen Saboteur der Einheitsfront erblicken.
Trotzki: Die Liga ist mit einer entscheidenden Wende konfrontiert

Die Perspektive, als linke Opposition in diesem Milieu der sich nach rechts bewegenden zentristischen Organisationen, die in Paris vertreten waren (und die sich kurze Zeit darauf größtenteils in der „Internationalen Arbeitergemeinschaft“ (IAG), und später im „Internationalen Komitee der Revolutionären Sozialistischen Einheit“ bzw. Londoner Büro zusammentaten) zu operieren, ließ keine Hoffnung auf eine revolutionäre Internationale in der nahen Zukunft zu und hätte womöglich gar die Trotzkisten in den Niedergang und in die Auflösung der zentristischen Parteien verwickelt. Aber angesichts ihrer vollkommenen Isolierung von der Komintern standen die „IAG“-Parteien den Trotzkisten wohl doch am nächsten – umso mehr, da angesichts ihrer Schwäche ein unabhängiger Kurs sowieso ausgeschlossen zu sein schien.

Ein grundlegenderes Problem waren die langanhaltenden und tiefen Auswirkungen der deutschen Niederlage, die ein massives Streben nach Einheit unter klassenbewußten Arbeiteraktivisten mit sich brachte, so daß der Ruf nach Gründung neuer Parteien und einer neuen Internationale, in anderen Worten nach einer erneuten Spaltung, auf taube Ohren fiel. Die Trotzkisten hatten der Losung der Arbeitereinheitsfront gegen den Faschismus den Weg gebahnt. In dem Maße, wie diese Losung in den sozialistischen Parteien nach 1933 an Boden gewann, und die Komintern ihre Position änderte, fanden sich die trotzkistischen Vorkämpfer ohne Einfluß wieder, denn auf einmal schienen sie die Spalter zu sein.

Im Februar 1934 zerschlugen die österreichischen Klerikalreaktionäre die Sozialdemokratische Partei und errichteten eine militär-klerikale Polizeidiktatur mit faschistischen Zügen unter Dollfuß. Im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants ergaben sich die österreichischen Sozialdemokraten nicht ohne Kampf. Nach anfänglichem Zögern entschlossen sie sich schließlich zum Griff nach den Waffen als Mittel der Selbstverteidigung und wurden erst nach einem resoluten Widerstand niedergeworfen. Die Februar-Kämpfe übten einen tiefen Einfluß auf die übrigen sozialdemokratischen Parteien aus. Authentische linke Sozialdemokraten begannen nun, die Möglichkeit eines friedlichen, parlamentarischen Weges zum Sozialismus anzuzweifeln und von Revolution zu reden.

Im gleichen Februar veranstaltete die faschistische Croix de Feu eine Straßenschlacht und einen Angriff auf das französische Parlament in einem Versuch, die allgemeine Empörung über Korruption auf Regierungsebene (die Stavisky-Affaire) für sich auszunutzen, die Daladier-Regierung zu stürzen und den Weg für eine Diktatur freizumachen. Der beinahe Erfolg dieses Ansturms provozierte einen Generalstreik in Paris am 12. Februar, in dem die Kämpfer der Kommunistischen Partei Seite an Seite mit den „Sozialfaschisten“ demonstrierten. Auf diese Aktion folgte dann sehr bald die Aufgabe der „Dritten Periode“.

Denn, angesichts der faschistischen Offensive, ließ die Führung der Französischen Kommunistischen Partei, mit dem Einverständnis Moskaus, die Theorie des „Sozialfaschismus“ fallen und beschloß auf dem Ivry-Kongreß von 1934, einen Pakt mit den französischen Sozialisten (SFIO) anzustreben. Auf der gleichen Konferenz wurde der Kommunistische Bürgermeister von Saint-Denis, Doriot, aus der Partei ausgeschlossen, weil er es gewagt hatte, die neue politische Linie „vorzeitig“ zu vertreten. Die neue Linie wurde allerdings keineswegs von irgendwelchen Maßnahmen zur Demokratisierung der inzwischen durch und durch stalinisierten Parteien begleitet. Im Juli wurde ein Abkommen zwischen der PCF und der SFIO über eine Aktionseinheit gegen den Faschismus unterzeichnet. Beide Parteien erklärten ihr Einverständnis, für die Dauer des Abkommens auf gegenseitige Angriffe zu verzichten. Mit ähnlichen Vorschlägen trat man bald an andere sozialdemokratische Parteien heran. In Frankreich leitete das Abkommen einen Aufschwung der Selbstaktivität und der Begeisterung in der Arbeiterklasse ein, die in den kommenden Jahren sowohl auf der politischen als auch auf der ökonomischen Front zum Durchbruch kam.

Die französischen Trotzkisten waren fortan gänzlich ohne Einfluß. Ihre Hauptforderung schien nun erfüllt zu sein. Sie kritisierten zwar mit aller Schärfe die gefährliche und prinzipienlose „Amnestie auf Gegenseitigkeit“ in Sachen Kritik zwischen den beiden Bürokratien, konnten sich aber jetzt sogar unter den fortgeschrittensten Arbeitern kein Gehör mehr verschaffen. Pierre Frank erinnert sich:

Das sympathische Entgegenkommen [in der Frage der Einheitsfront – d. h.], auf das wir zum Teil in der KP und noch viel mehr in der SFIO trafen, und das uns ermöglichte, eine beträchtliche Zahl von Arbeitern, darunter oftmals ehemalige KP-Mitglieder, zu rekrutieren – all dieses sympathische Wohlwollen war uns verlorengegangen. [17]

Unter diesen Umständen schlug Trotzki eine für die damalige Zeit radikal neue Taktik des Eintritts in die SFIO vor: die sogenannte „französische Wende“. Es hatte allerdings schon einige Präzedenzfälle gegeben. Trotzki hatte bereits den Vorkämpfern der britischen Trotzkisten, der Balham-Gruppe, geraten, in die ILP einzutreten. Es handelte sich aber um eine sehr neue und sehr kleine Gruppe – ihre Resolution auf dem KP-Kongreß von 1932 gegen ihren Ausschluß aus der Partei fand nur dreizehn Unterzeichner und die ILP war damals eine bedeutende Sektion des „Neuen Zimmerwalds“, die sich links von der Labour Party abgespalten hatte. Es scheint, daß er auch der Handvoll österreichischer Trotzkisten empfohlen hat, in die sozialdemokratische Partei einzutreten. Diese Fälle betrachtete man aber als Ausnahmen, und zumindest das britische Beispiel war nicht gerade ermutigend. Die Mehrheit der Kommunistischen Liga Großbritanniens lehnte die Empfehlung der IKL ab, und eine Spaltung fand statt – die erste unter vielen, die im Laufe der Jahre die Bewegung um eine Vierte Internationale in Großbritannien wie eine Plage heimsuchten.

Die „Französische Wende“ stieß auf Widerstand in allen Sektionen der IKL. In vielen, wenn nicht gar in den meisten, war die Mehrheit der Mitgliedschaft dagegen. Die Kritiker wiesen auf den ersten Programmpunkt: „Unabhängigkeit der proletarischen Partei, immer und unter allen Umständen“, und sie brandmarkten jede Form von „Liquidierung“ in die Sozialdemokratie, wollten mit Rosa Luxemburgs „stinkendem Leichnam“ nichts zu tun haben, warnten vor der propagandistischen Ausschlachtung eines solchen Schritts durch die Stalinisten und argumentierten, daß „der Eintritt in die SFIO fast automatisch die Aufgabe der Losung der Vierten Internationale bedeutet“. [18]

Einige dieser Kritiken waren nicht grundlos. Ihre Verfechter besaßen aber keine glaubhafte Alternative. Da es ausgeschlossen war, auf irgendeine Reform der Kommunistischen Parteien zu hoffen, da die IAG-Parteien nach rechts driftende Zentristen waren (darunter befand sich die RSAP, die es mit beiden Lagern hielt), da die trotzkistische Bewegung sehr klein war, und die faschistische Drohung eine reale und gegenwärtige Gefahr darstellte, war es absolut notwendig, kurzfristig nach Masseneinfluß zu suchen. Unabhängige Propagandagruppen konnten dies unmöglich leisten. Durch den Eintritt in eine sich nach links bewegende Sozialdemokratie wäre dies aber vielleicht erreichbar. Der Vorschlag, daß die „Ligue Communiste“ der SFIO beitrete, wurde nach der Lostrennung des rechten Flügels der „Neo-Sozialisten“ unter Führung von Marcel Deat (der Roy Jenkins seiner Zeit) gemacht, wodurch sich das Schwergewicht dieser Partei nach links verschob. Dieser besondere Umstand spielte am Anfang eine Rolle in der Argumentation.

Es gab auch einen anderen Gesichtspunkt. Die trotzkistischen Gruppen – von geringfügigen Ausnahmen abgesehen – bestanden größtenteils aus Intellektuellen und Studenten. „Zu viele Studenten. Zu wenige Arbeiter. Die Studenten sind zuviel mit sich selbst beschäftigt, zuwenig mit der Arbeiterbewegung“ [19], schrieb Trotzki im Sommer 1934. Auf dieses Problem kam man immer wieder zu sprechen. Die SFIO zählte 1934 circa 130.000 Mitglieder, verglichen mit den 30.000 Mitgliedern der PCF, und war bis zu einem gewissen Grad im Arbeitermilieu vertreten. Dies galt noch mehr für die belgische und britische Labour Parteien. Und in dem Maße, wie erkannt wurde, daß „die Lösung... in der Mobilisierung der Studenten für die Knochenarbeit der Rekrutierung von Arbeitern liegt“ [20], in dem Maße auch verloren die besonderen Umstände des französischen Falles an Bedeutung. Sogar in den USA, wo die SP mit einer Massenorganisation gar nichts gemein hatte, entschloß man sich schließlich zum Eintritt.

Angesichts späterer Entwicklungen ist es vielleicht notwendig, an dieser Stelle hervorzuheben, daß die Taktik des „Entrismus“ eine kurzfristige war. Man vertrat die Perspektive, die besten der sich nach links bewegenden Arbeiter um ein revolutionäres Programm zu scharen, dann eine Spaltung herbeizuführen und die revolutionäre Partei zu gründen. Eine solche Herangehensweise erforderte natürlich spezifische Programme, die sich vom Programm der IKL deutlich abhoben. Das bekannteste dieser Programme, Trotzkis eigenes Aktionsprogramm für Frankreich, erschien 1934. Es war der Vorgänger des späteren Übergangsprogramms.

Es gelang Trotzki schließlich, seine Anhängerschaft mitzuziehen, was allerdings nicht ohne wiederholte Spaltungen vor sich ging. Die ideologische Einheitlichkeit der Bewegung, auf die er soviel Betonung gelegt hatte, bot offensichtlich keinen Schutz gegen Zwietracht, sobald praktische Fragen kontroverser Natur gelöst werden mußten.

Die „Französische Wende“, obwohl sie als rein taktisches Manöver vorgestellt wurde, bedeutete in Wahrheit eine Änderung der strategischen Orientierung. Sie beinhaltete zwar nicht die Aufgabe der Forderung nach einer neuen Internationale, wie viele Kritiker fälschlicherweise behaupteten. Allerdings verschob sie diese Forderung zwangsläufig von der Sphäre der unmittelbaren Aktion in die der Propaganda. Insofern war diese Neuorientierung nichts weiteres als die bloße Anerkennung der Wirklichkeit. Denn die „Erklärung der Vier“ hatte es nicht vermocht, neue Kräfte anzuziehen. Solche Kräfte waren aber lebenswichtig. Der „Entrismus“ eröffnete zumindest grundsätzlich die Möglichkeit, diese Kräfte zu gewinnen.

Die Taktik schlug fehl. Das entscheidende französische Beispiel wird von Pierre Frank folgendermaßen zusammengefaßt:

Während der ganzen Anfangsphase wurden die Aktivitäten der bolschewistischen-leninistischen Gruppe in der SFIO mit bemerkenswerter politischer Klarheit durchgeführt. Dadurch wurden zahlreiche junge Leute angezogen, insbesondere die ganze Tendenz der Sozialistischen Jugend, die in die Reihen der Organisation unter dem Namen „Jeunesses Socialistes Révolutionaires“ aufgenommen wurde und ihre Mitgliedschaft damit erheblich verjüngte. Andererseits fand unser Austritt aus der SFIO – zur Zeit, als die Volksfront im Entstehen war – unter sehr unglückseligen Umständen statt, denn die gleichzeitig stattfindende Spaltung der Bolschewiki-Leninisten führte dazu, daß ein Teil der Gewinne, die wir durch den Eintritt erzielt hatten, wieder verlorengingen. [21]

In Wirklichkeit waren die Trotzkisten sowohl vor ihrem Eintritt, als auch während ihrer Mitgliedschaft in und nach ihrem Ausschluß aus der SFIO (infolge des Mulhouser Kongresses von 1935) gespalten gewesen. Die Naville-Gruppe (die den Eintritt erstmals abgelehnt hatte, sich spaltete und dann doch eintrat) und die Molinier-Gruppe (die von vornherein für den Eintritt gewesen war) führten von nun an ein jeweils unabhängiges Dasein unter den Namen POI und PCI; es kam zwar vorübergehend zu einer Wiedervereinigung, auf die dann aber weitere Spaltungen folgten.

Trotzki behauptete 1935, daß „sich unsere Sektion dank des Eintritts von einer Propagandagruppe in einen revolutionären Faktor ersten Ranges verwandelt hat“. [22] Das war falscher Optimismus. Weit davon entfernt, gar ein Faktor zweiten oder dritten Ranges zu sein, spaltete sich die Bewegung in unzählige einander widerstreitende Fraktionen. Sogar Frank gibt zu, daß „die Fragmentierung der französischen Trotzkisten einmal ein solches Ausmaß erreichte, daß sich die Internationale zu der Erklärung gezwungen sah, keine Verantwortung für deren Aktionen mehr übernehmen zu können“. [23]

Die auf dem 1938er „Weltkongreß“ angenommene Resolution „Über die Aufgaben der französischen Sektion“ malte ein düsteres Bild von der offiziellen Sektion, der POI: „Amateurhaftigkeit, Fehlen einer ernsthaften Parteiverwaltung, eines normal funktionierenden Kassenwesens, eines stabilen Herausgeberkreises der Lutte Ouvrière ... Verwirrung und Demoralisierung an der Basis... Unfähigkeit, neue Mitglieder zu rekrutieren ... die Mitgliedsbeiträge werden entweder gar nicht entrichtet oder, falls doch, ist das nur Zufall“. [24]

Ein zweiter Eintritt, der natürlich erneute Spaltungen mit sich brachte, wurde 1938 in eine neu entstandene zentristische Organisation unternommen: in die PSOP, deren Kern die linke Seine-Föderation der SFIO gewesen war, die mit der Blum-Führung gebrochen hatte. Dieser Versuch vermochte es ebensowenig, das Kräfteverhältnis zu verschieben oder die soziale Zusammensetzung der trotzkistischen Grüppchen anzuheben.

Pierre Frank behauptet, daß in anderen Fällen, „insbesondere Belgien und den Vereinigten Staaten, der Entrismus bessere Ergebnisse erzielte“. Zumindest im Falle der USA ist diese Behauptung fraglich. Nach der Lostrennung des rechten Flügels der Sozialistischen Partei der USA, der die Sozialdemokratische Föderation gründete, hatte die linksgerichtete Militant-Gruppe eine dominierende Stellung in der Partei erlangt. Die Trotzkisten, die sich bereits 1934 mit einer „einheimischen“ linken Organisation vereinigt hatten, um die „Arbeiterpartei“ zu gründen, traten 1936, nach einem heftigen internen Streit und der dazugehörigen Spaltung, in die SP ein. Nach monatelangem intensivem Fraktionskampf und der Gewinnung „einiger hundert Mitglieder“ [25] größtenteils aus der Sozialistischen Jugend wurden sie im September 1937 wieder ausgeschlossen. Dieser Zuwachs an jungen, meistens studentischen Mitgliedern, wurde allerdings 1940 größtenteils wieder zunichte gemacht, als das größte Kontingent der Rekruten aus der SP die Reihen der Abern-Burnham-Shachtman Fraktion auffüllte, die sich von der Mutterpartei (SWP-USA) auf einer „Anti-Führungs“-Plattform und wegen der russischen Frage abspaltete.

Die „Französische Wende“ hatte also ihr Ziel – die Schaffung von ernsthaften Organisationen, die ein gewisses Maß an Einfluß in der Arbeiterbewegung besitzen und die Basis für eine neue Internationale hätten bilden können – verfehlt.

Dieses Versagen war aber nicht absolut. Franks Hinweis auf die heilvolle Erneuerung der Mitgliedschaft ist gültig, denn der relativ große Mitgliederverlust im Zuge der vielen Spaltungen war nicht nur von Nachteil.

Jede Partei der Arbeiterklasse, jede Fraktion in ihrer Anfangsphase macht eine Zeit der reinen Propaganda durch – schrieb Trotzki gegen Ende 1935 – Die Periode ihres Bestehens als marxistischer Zirkel prägt unweigerlich die Gewohnheit einer abstrakten Herangehensweise an die Arbeiterbewegung. Derjenige, der es nicht rechtzeitig schafft, über die Grenzen dieser eingeschränkten Existenz hinauszutreten, verwandelt sich in einen konservativen Sektierer. [26]

Diejenigen, die niemals etwas anderes als Kleingruppenpolitik erlebt hatten, waren besonders anfällig für diese Krankheit. Viele Gegner der „Französischen Wende“ waren von ihr infiziert. Diese Sektierer hielten das „Innenleben“ einer Fraktion aufrecht, konzentrierten sich auf ihre Kritik am „Zentrismus“ der Trotzkisten und entfernten sich immer weiter von der Wirklichkeit. Der Fall der Oehler-Gruppe in den USA ist zufälligerweise besonders gut dokumentiert: Als militante Gegner des Entrismus stritten sie sich heftig über „Prinzipien“fragen, spalteten sich wiederholt, handelten neue Vereinigungen mit anderen winzigen Sekten aus, schufen ihre schattenhafte „Internationale Kontaktkommission“, lösten sich schließlich in eine Schar von mikroskopischen Cliquen auf, die jede nach dem Namen ihres Führers bekannt war – die Stammiten, Marleniten, Meinoviten und die restlichen –, bevor sie endgültig in der Vergessenheit versanken. [27]

Außerdem war das Versagen der „Französischen Wende“ nicht primär das Ergebnis irgendwelcher Fehler, die von der bestmöglichen Führung hätten vermieden werden können. Außerordentlich ungünstige Entwicklungen in der Weltlage und in den verschiedenen Arbeiterbewegungen waren die Hauptfaktoren. Um diese zu verstehen, ist es notwendig, nochmals auf die Ereignisse in Rußland und die Politik der Kommunistischen Internationale einzugehen.

 

 

Der Terror und die Volksfront

Jeder ehrgeizige, korrupte oder ehrsüchtige Verräter innerhalb der Sowjetunion ist angeheuert worden, um die Drecksarbeit des Kapitalismus und des Faschismus zu verrichten. An vorderster Front all dieser Zerstörungen, Sabotageakte und Ermordungen steht der faschistische Agent Trotzki. Aber die Verteidigungslinien des sowjetischen Volkes sind stark. Unter der Führung unseres bolschewistischen Genossen Yezhov sind die Spione und Zerstörer vor der Welt entlarvt und ihrem Urteil zugeführt worden ... Wir drücken unser volles Vertrauen in unsere Bruderpartei der Sowjetunion und ihren großen Genossen Stalin, in Genosse Yezhovs Entschlossenheit, die letzten Überreste der anti-sowjetischen Konspiration auszumerzen, aus ...
Bericht des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Großbritanniens auf dem 15. Kongreß 1938

Am 1. Dezember 1934 wurde S. M. Kirow, der stalinistische Boß der Leningrader Region, von einem jungen Mann namens Nikolaiew erschossen. Zwei Wochen später wurden Sinowjew, Kamenew und andere ehemalig führende Mitglieder der KPdSU verhaftet. Die großen Säuberungen, im Zuge derer Stalin die meisten prominenten Mitglieder aller Parteiflügel tötete, hatten begonnen. Im Laufe der nächsten fünf Jahre wurden nicht nur die Oppositionellen und ehemaligen Oppositionellen, sondern auch die meisten stalinistischen Kader der ersten Stunde im Zuge umfassender Hinrichtungen ausgeschaltet. Durch Chruschtschows Rede vor dem 20. Kongreß wurde bekannt, daß die Mehrheit der auf dem 17. Kongreß von 1934 gewählten Mitglieder des Zentralkomitees verhaftet und erschossen wurden, und daß die Mehrheit der Kongreßdelegierten selbst, die natürlich alle Stalinisten waren, in den darauffolgenden Jahren ebenfalls verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ unter Anklage gestellt wurden. [28]

In den drei großen Schauprozessen zwischen 1936-1938 wurden ehemalige prominente Parteiführer dazu gebracht, einzugestehen, daß sie auf Befehl Trotzkis eine Verschwörung angezettelt hatten mit dem Ziel, die Wirtschaft zu ruinieren und mit Hilfe Hitlers und des japanischen Kaisers den „Kapitalismus wiederzuerrichten“. Bereits 1931 hatte Stalin geschrieben:

Manche sind der Meinung, daß der Trotzkismus eine bestimmte Richtung des Kommunismus sei... Es ist wohl überflüssig darauf hinzuweisen, daß eine solche Sicht des Trotzkismus von Grund auf falsch und schädlich ist. In Wahrheit ist der Trotzkismus die Speerspitze der konterrevolutionären Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Kommunismus. [29]

Die Anklage wurde jetzt erweitert und lautete nun, daß Trotzki und seine Anhänger direkt faschistische Agenten seien, die „entlarvt“ und aus der Arbeiterbewegung vertrieben werden müßten. Eine massive Lügenkampagne wurde von den Kommunistischen Parteien ins Leben gerufen, wobei sie Flankenschutz durch zahlreiche neugewonnene „liberale“ und sozialdemokratische Mitläufer erhielten. Diese Kampagne hielt über zwanzig Jahre an und trug dazu bei, zehntausende kommunistische Mitstreiter gegen eine marxistische Kritik am Stalinismus zu impfen und die Trotzkisten weiter in die Isolation zu treiben.

Die Kommunistischen Parteien bewegten sich im Gleichschritt mit der zunehmenden Unterdrückung innerhalb der UdSSR und der Intensivierung der Verleumdungskampagne gegen den „Trotzki-Faschismus“ rapide nach rechts. Die Linie der Einheitsfront der Arbeiterparteien gegen den Faschismus wich sehr bald der Linie der Volksfront gegen den Krieg. Der siebte (und letzte) Weltkongreß der Komintern von 1935 rief nach einer „Volkseinheitsfront im Kampf um Frieden und gegen die Kriegstreiber. Der Kampf um den Frieden eröffnet die großartigsten Möglichkeiten für die Schaffung der breitesten Einheitsfront. All diejenigen, die an der Aufrechterhaltung des Friedens interessiert sind, sollten in diese Einheitsfront einbezogen werden.“ [30]

Unter denen, die „am Frieden interessiert“ waren, befanden sich natürlich die imperialistischen Sieger von 1918, insbesondere die britische und französische herrschenden Klassen. Diese bildeten nun den wirklichen Angelpunkt der stalinschen Diplomatie, bei der die Komintern als bloßes Hilfsmittel eingesetzt wurde. Die UdSSR war dem Völkerbund, jenem Instrument der Siegermächte von 1918, den Lenin den „Bund der Imperialistischen Banditen“ nannte, beigetreten. Als Beruhigungspille für die alten Kader der Kommunistischen Parteien, die immerhin eine Grundausbildung in Klassenpolitik, revolutionärem Defätismus und kompromißloser Gegnerschaft zu „ihren eigenen“ herrschenden Klassen erhalten hatten, wurde extra eine neue Theorie aus dem Boden gestampft. Es handelte sich um die (inzwischen vertraute) Theorie, wonach „progressive“ Staaten gegen „reaktionäre“ Staaten unterstützt werden müssen.

Heute gleicht die Situation nicht der von 1914 – erklärte das EKKI im Mai 1936. – Jetzt sind nicht nur die Arbeiterklasse, die Bauernschaft und das gesamte schaffende Volk entschlossen, den Frieden aufrechtzuerhalten, sondern auch die unterdrückten Länder und schwachen Nationen, deren Unabhängigkeit durch den Krieg bedroht ist ... In der gegenwärtigen Phase sind eine Anzahl kapitalistischer Staaten ebenfalls besorgt um die Aufrechterhaltung des Friedens. Daher die Möglichkeit, eine breite Front der Arbeiterklasse, aller schaffenden Menschen und ganzer Nationen gegen die Gefahr des imperialistischen Krieges“ zu schaffen. [31]

Im Mai 1935 wurde der französisch-sowjetische Vertrag unterzeichnet; im Juli 1935 trafen die KP und die SFIO eine Vereinbarung mit der Radikalen Partei, dem Rückgrat der französischen bürgerlichen Demokratie; und im April 1936 gewannen diese drei, in der „Front Populaire“ auf einer Wahlplattform der „kollektiven Sicherheit“ und der Reform zusammengeschlossenen Parteien die Nationalwahlen.

Die KP rückte die Losung „Für ein starkes, freies und glückliches Frankreich“ in den Mittelpunkt ihrer Kampagne und gewann 72 Parlamentssitze, womit sie zu einem zentralen Faktor in der parlamentarischen Mehrheit des SFIO-Führers und Volksfrontpremierministers Leon Blum aufrückte. Maurice Thorez, Generalsekretär der KPF, konnte behaupten:

Mit einem kühnen Schlag haben wir unseren Feinden die Dinge wieder weggenommen, die sie uns zuvor gestohlen und mit Füßen getreten hatten. Wir holten uns die Marseillaise und die Trikolore zurück. [32]

Als auf den Wahlsieg der Linken eine massive Welle von Streiks und Fabrikbesetzungen folgte – an denen allein im Juni 1936 sechs Millionen Arbeiter beteiligt waren – taten die ehemaligen Verfechter der „steigenden revolutionären Kämpfe“ ihr Bestes, um die Bewegung in engen Grenzen zu halten und sie auf der Basis der Zugeständnisse der Matignon-Vereinbarungen (in erster Linie die 40-Stundenwoche und bezahlter Urlaub) zu beenden. Gegen Ende des Jahres forderte die Kommunistische Partei, die sich nun rechts von ihren sozialdemokratischen Verbündeten befand, eine Erweiterung der „Volksfront“ in eine „Französische Front“ und verlangte die Aufnahme einiger rechter Konservativen, die, aus nationalistischen Motiven heraus, stark anti-deutsch eingestellt waren.

Die Französische Partei legte sich als erste für diese Politik ins Zeug, weil die französische Allianz so zentral für Stalins Außenpolitik war. Diese Linie wurde aber sehr bald von der gesamten Komintern übernommen. Als im Juni 1936 die spanische Revolution, als Reaktion auf Francos versuchte Machtergreifung, ausbrach, tat die spanische KP (als Teil der spanischen Volksfront, die nach dem Wahlsieg vom Februar zur Macht gelangt war) ihr möglichstes, um die Bewegung im Rahmen der „Demokratie“, sprich Kapitalismus, zurückzuhalten. Mit Hilfe der russischen Diplomatie, und natürlich auch der Sozialdemokraten, gelang ihr das schließlich auch. „Es ist vollkommen falsch,“ erklärte der Herausgeber der kommunistischen Tageszeitung, Jesus Hernandez, „daß die gegenwärtige Arbeiterbewegung etwa das Ziel verfolge, nach Beendigung des Krieges die proletarische Diktatur zu errichten... Wir Kommunisten wollen als erste diese Unterstellung zurückweisen. Was uns bewegt, ist allein der Wunsch, die demokratische Republik zu verteidigen.“ [33]

Bei der Durchsetzung dieser Linie zerrten die Kommunistische Partei und ihre bürgerlichen Verbündeten die Politik der republikanischen Regierung immer weiter nach rechts; im Laufe des lang hinausgezogenen Bürgerkriegs drängten sie zuerst die POUM und dann den linken Führer der Spanischen Sozialistischen Partei aus der Regierung. Die „Verteidigung der republikanischen Ordnung unter Achtung des Privateigentums“ [34] führte zu einer Terrorherrschaft im republikanischen Spanien gegen die Linken – symbolhaft dafür waren der Mord an Nin und die Kämpfe in Barcelona. Diesen Terror rechtfertigte man mit Hilfe einer Verleumdungskampagne ohnegleichen gegen alle linken Kritiker, die man als „Agenten Hitlers und Francos“ hinstellte. Trotzki faßte die spanischen Ereignisse mit grimmiger Trefflichkeit so zusammen:

Die republikanischen Militärführer sorgten sich mehr um die Unterwerfung der sozialen Revolution als um das Erringen von Siegen. Die Soldaten verloren das Vertrauen in ihre Führer – und die Massen in die Regierung; die Bauern wandten sich ab, die Arbeiter wurden erschöpft, eine Niederlage folgte auf die andere, die Demoralisierung wuchs im Gleichschritt. [35]

Trotz der Tatsache, daß „das spanische Proletariat am ersten Tag der Revolution nicht unter dem russischen Proletariat von 1917, sondern über ihm stand ... Indem sie sich die Aufgabe setzte, das kapitalistische Regime zu retten, verurteilte sich die Volksfront zur militärischen Niederlage.“

Die extreme Rechtswende der Komintern war den Vierten Internationalisten jedoch nicht von besonderem Nutzen. In der ersten Phase der allgemeinen Begeisterung für die neugewonnene Einheit konnten die Kommunistischen Parteien enorme Gewinne verbuchen: Die französische Partei wuchs von 30.000 Mitgliedern im Jahre 1934 auf 150.000 Ende 1936 – zusätzlich zu den 100.000 Mitgliedern der Kommunistischen Jugend; die spanische Partei, die in der Schlußphase der „Dritten Periode“ (1934) weniger als tausend Mitglieder gehabt hatte, erreichte 35.000 Mitglieder im Februar 1936 und 117.000 im Juli 1937. Die neuen Rekruten wurden durch ihr Glauben, daß die Trotzkisten – und auch die Zentristen – tatsächlich faschistische Agenten seien, gegen jede Kritik von links abgeschottet. In der dann darauffolgenden Periode des Zusammenbruchs der Volksfronten schuf die allgemeine Demoralisierung ein außerordentlich ungünstiges Klima für Revolutionäre.

Tatsache ist, daß es Stalin gelang, vermittels der Komintern die gesamte Arbeiterbewegung mitsamt der Sozialdemokratie weit rechts von ihren Positionen des Jahres 1934 zu zerren. Die Trotzkisten mußten gegen immens starke Strömungen schwimmen. Daß sie überhaupt als revolutionäre Tendenz überlebten, war unter den Umständen an sich schon eine großartige Leistung. Dieses schreckliche Dilemma, dieser Widerspruch zwischen dem Ziel und den Mitteln, zwischen der Dringlichkeit, die Niederlagen wieder rückgängig zu machen, und den schwachen Kräften, die dafür zur Verfügung standen, war jedoch akuter denn je.

 

 

Das verzweifelte Pokern

Politisch gesehen machen wir keine Fortschritte. Ja, dies ist eine Tatsache, die die allgemeine Verfaulung der Arbeiterbewegungen in den letzten fünfzehn Jahren widerspiegelt... Unsere Lage ist jetzt unvergleichlich schwieriger als die irgendeiner anderen Organisation zu irgendeiner anderen Zeit, denn wir haben vor uns den schrecklichen Verrat der Kommunistischen Internationale, die aus dem Verrat der Zweiten Internationale geboren wurde. Die Degenerierung der Dritten Internationale ging so rasch und so unerwartet vonstatten, daß die gleiche Generation, die ihre Gründung miterlebt hat, jetzt uns erlebt und sagt: „Aber das haben wir schon einmal gehört“
Trotzki: Kämpfen gegen den Strom

Das war die Lage im September 1938: Das „Neue Zimmerwald“ war tot. Die „Französische Wende“ hatte ihr strategisches Ziel verfehlt. Faschistische und halbfaschistische Regimes kontrollierten den größten Teil Europas. Ein neuer Weltkrieg stand offenbar unmittelbar bevor. In den noch verbleibenden bürgerlichen Demokratien war die Arbeiterbewegung vollkommen vom Sozialpatriotismus, ob in sozialdemokratischer oder stalinistischer Gestalt, beherrscht. Unter diesen hoffnungslos schwierigen Umständen wird eine neue Internationale ausgerufen – nicht als Zielsetzung, sondern als eine Tatsache.

Warum? 1935 hatte Trotzki die Idee, daß „die Trotzkisten die Vierte Internationale nächsten Donnerstag ausrufen wollen“ als „dummes Geschwätz“ abgetan. [36] Kaum ein Jahr später schlug er genau das vor: die Ausrufung einer neuen Internationale. Bei dieser Gelegenheit gelang das ihm noch nicht, seine Anhänger zu überzeugen. 1938 hatte er es aber inzwischen geschafft.

In der Zwischenzeit hatte allerdings keine wesentliche Veränderung in der Stärke oder im Einfluß der revolutionären Linken stattgefunden. In seinem Vorwort zum offiziellen Protokoll der Gründungskonferenz der Vierten Internationale (später „Erster Weltkongreß“ genannt) schrieb Max Schachtmann:

Die Delegierten vertraten direkt elf Länder – die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die Sowjetunion, Italien, Lateinamerika, Polen, Belgien, Holland und Griechenland. [37]

Er selbst vertrat eine sehr kleine, aber immerhin reale Partei, die amerikanische Sozialistische Arbeiterpartei (SWP), die, bei einiger Übertreibung, 2.500 Mitglieder in ihren Reihen zählte. Shachtman war aber wahrscheinlich der einzige in dieser Position. Auf die Situation in Frankreich sind wir bereits eingegangen. Die britische Sektion war ein Zusammenschluß von kleinen Sekten, die extra für die Konferenz von einem SWP-Vertreter zusammengeschustert worden war und nach wenigen Jahren in der Bedeutungslosigkeit versank – die einzige britische Gruppierung, die etwas Lebendigkeit an den Tag legte, die Internationale Liga der Arbeiter, war nicht vertreten und wurde sogar denunziert, weil sie sich „auf dem Weg der prinzipienlosen Cliquenwirtschaft befindet, der sie nur in den Sumpf führen kann“. [38] Die Sektion der UdSSR war physisch ausgerottet worden und wurde jetzt von „Etienne“, einem stalinistischen Polizeispion, „vertreten“. Deutschland und Italien waren von Mitgliedern winziger Auslandsgruppen vertreten. Die Holländer waren eine kleine Abspaltung der RSAP-Jugendorganisation. Die Polen – die sich gegen die Ausrufung der Internationale aussprachen – besaßen keine unabhängige Organisation, wie der Konferenzbeschluß zu Polen aufzeigt. Und die Griechen waren eine Splittergruppe zwischen der „Vereinigten Internationalistischen Kommunistischen Organisation“ und der „Internationalen Kommunistischen Liga“, die beide anscheinend nicht viel taugten. Die belgische Organisation, in den Worten der SWP „unsere stärkste proletarische Sektion in Europa“, mag vielleicht einige hundert Mitglieder gezählt haben. Auch wenn man alle Fragmente hinzuzählt, die nach Schachtmann dazugehörten („es gab eine relativ große Anzahl von anderen, die aus einer Reihe von rechtlichen und praktischen Gründen keine Delegierten schicken konnten“), ist die Gesamtsumme immer noch sehr bescheiden, in der Tat, nicht viel größer, als sie es bereits 1933 gewesen war.

Pierre Franks Erklärung für die Gründung einer „Internationale“ ohne bedeutsame Sektionen läßt nur den Schluß zu, daß dies als einziger Ausweg gesehen wurde, um die Handvoll Kader zu behalten, die die Bewegung gewonnen hatte.

Warum drängte Trotzki sosehr in dieser Frage? – schrieb Frank. – Warum hat er sie so nachdrücklich in den Vordergrund geschoben, sosehr sogar, daß er im letzten Kapitel seines Übergangsprogramms eine unverhohlene Polemik gegen jene führte, die sich gegen die Ausrufung der Vierten Internationale ausgesprochen hatten? Es war deswegen, weil für ihn der wichtigste Gesichtspunkt nicht die zahlenmäßige Größe unserer Kräfte und auch nicht die Bereitschaft eines mehr oder minder großen Sektors der Arbeiter, unsere Entscheidung zu verstehen, war; es war vielmehr in erster Linie eine Frage der politischen Perspektive und der politischen Kontinuität. Trotzki war sich brennend bewußt, daß sich die Arbeiterbewegung im allgemeinen, und unsere Bewegung im besonderem, auf der Schwelle zu einer extrem schwierigen Periode befand – dem imperialistischen Krieg -, in deren Verlauf wir einem außerordentlichen Druck seitens des Klassenfeindes und mächtigen zentrifugalen Kräften ausgesetzt sein würden. Diese Belastungen könnten eine solch schwache Organisation wie die unsrige sehr leicht zerstören. Rückblickend auf die Entwicklungen in unserer Bewegung während des Krieges kann man sehen, daß ein Reinschlittern in die Kriegsperiode ohne vorherige Gründungserklärung der Vierten Internationale es all den zentrifugalen Kräften [die in jener Zeit in Erscheinung traten] ermöglicht hätte, sich hundert-, gar tausendmal stärker auszuwirken. [39]

Diese Erklärung bezieht sich also auf den internen Zusammenhalt der trotzkistischen Organisationen und überhaupt nicht auf die objektiv vorhandenen Möglichkeiten in der Arbeiterbewegung. Franks Verdienst ist es, zumindest das Problem zu benennen – im Gegensatz zu vielen jüngeren „Trotzkisten“ –, aber seine Argumente halten einer kritischen Überprüfung nicht stand.

Erstens hatte eine internationale trotzkistische Organisation, die IKL, bereits seit 1930 bestanden. Dies war eine ausreichende Garantie für „politische Kontinuität“ – insofern sich eine solche Sache überhaupt durch organisatorische Mittel garantieren läßt -, und da die Ausrufung der „Vierten Internationale“ in der Praxis nichts anderes als die Umbenennung der IKL bedeutete, ist es schwer ersichtlich, welcher zusätzliche Schutz gegen „mächtige zentrifugale Kräfte“ durch diesen Schritt erreicht wurde.

Zweitens hörte bei Kriegsbeginn die „Internationale“ auf zu funktionieren. Wie Frank selbst ausführt, wurde „kurz vor dem Krieg das Internationale Sekretariat nach Amerika verlegt“, und „es gelang ihm nur mit wenigen Ländern im „alliierten Lager“ [und sogar hier unter schwierigsten Umständen], den Kontakt aufrechtzuerhalten.“ [40] Insoweit überhaupt ein internationales Zentrum existierte, übernahm die SWP diese Funktion.

Drittens und vor allem ist es bloß ein nachgeschobenes Argument zu behaupten, daß Trotzki „politische Perspektiven und politische Kontinuität“ etwa unabhängig von Entwicklungen in der Arbeiterbewegung ins Auge faßte. Diese Art Revisionismus war eine spätere Entwicklung. Ganz im Gegenteil, er beschäftigte sich vor allen Dingen mit der Massenbewegung und glaubte, daß es trotz des Scheiterns der beiden vorhergehenden Strategien möglich sei, aus der Krise heraus, die der kommende Krieg unweigerlich hervorrufen würde, Massenorganisationen zu schaffen, vorausgesetzt, man hatte ein Programm und eine Führung. „Die Dritte Internationale brauchte zehn Jahre, um ihr eigenes Programm in den Dreck zu ziehen und sich in einen stinkenden Leichnam zu verwandeln“, erklärte er in einem Artikel zur Feier der Gründungskonferenz.

Zehn Jahre! Bloß zehn Jahre! Gestatten Sie mir, mit einer Voraussage zu schließen: Im Laufe der nächsten zehn Jahre wird das Programm der Vierten Internationale zum Leitsatz für Millionen werden, und diese revolutionären Millionen werden es vermögen, Himmel und Erden zu erstürmen. [41]

Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß für Trotzki der Gedanke an eine von der Arbeiterbewegung losgelöste „Internationale“ Unsinn war. Pierre Franks Argument ist nur durch folgenden Gedankengang zu rechtfertigen: Davon ausgehend, daß „In der Katastrophe des Krieges ... die Masse nach einer Neuorientierung, nach einer neuen Richtung suchen, und sie finden werden“ [42], und daß, so wie Lenin 1914 beinahe vollkommen isoliert gewesen war und 1920 eine große weltweite Bewegung anführte, die Vierte Internationale ebenfalls zu einer großen weltweiten Bewegung werden würde, war es notwendig, der Handvoll Internationalisten Mut und Entschlußkraft einzuflößen. Die Ausrufung der Neuen Internationale hatte aber nicht nur den Zweck, den Trotzkisten den Rücken zu stärken. Sie hatte vielmehr eine konkrete politische Perspektive zum Inhalt.

Diese Perspektive war, wie die Ereignisse zeigten, in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft. Erstens glaubte Trotzki, daß der Kapitalismus in eine endgültige Krise geraten war. Er glaubte zu erkennen nicht nur, daß „die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren“ [43], sondern daß „die Auflösung des Kapitalismus einen extremen Punkt erreicht hat, ebenso die Auflösung der alten herrschenden Klasse. Ein Fortbestehen dieses Systems ist unmöglich.“ [44] Daher sei es den reformistischen Arbeiterparteien verwehrt, irgendwelche Vorteile für ihre Anhänger zu erzielen, „es kann keine Rede von systematischen sozialen Reformen und einer Anhebung des Lebensstandards der Massen sein, wenn jede ernsthafte Forderung des Proletariats, sogar jede ernsthafte Forderung des Kleinbürgertums, unweigerlich die Grenzen der kapitalistischen Besitzverhältnisse und des bürgerlichen Staates sprengt“. [45] Trotzki hätte zweifellos zugestanden, daß eine begrenzte wirtschaftliche Erholung auf zyklischer Basis möglich sei. Aber er schloß die Möglichkeit eines langandauernden Aufwärtstrends aus, wie er die Geburt des Reformismus in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg begleitet hatte. Diese Einschätzung war auch allgemeiner Konsens in der revolutionären Bewegung. In Wirklichkeit aber entfachte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine noch stürmischere Expansionsphase als die in der Periode des klassischen lmperialismus. Dem Reformismus war eine neue Schonzeit. vergönnt.

Zweitens glaubte Trotzki, daß sich die Kommunistischen Parteien mit dem Übergang zur Volksfront sozialdemokratisiert hatten. „Nichts unterscheidet die Kommunisten von den Sozialdemokraten mehr außer ihrer traditionellen Phraseologie, die man unschwer wieder verlernen kann.“ [46] Und drei Jahre später: „Der endgültige Übertritt der Komintern auf die Seite der bürgerlichen Ordnung, ihre zynisch konterrevolutionäre Rolle in der ganzen Welt, insbesondere in Spanien, Frankreich, den Vereinigten Staaten und anderen „demokratischen“ Ländern, schuf außerordentliche zusätzliche Schwierigkeiten für das Weltproletariat.“ [47] Und: „Die Politik der Komintern in Spanien und China heute – die Politik des sich Duckens vor der „demokratischen“ und „nationalen“ Bourgeoisie – beweist, daß die Komintern ebenso unfähig ist, irgendwas dazuzulernen oder sich zu verändern. Die Bürokratie, die zu einer reaktionären Kraft in der UdSSR wurde, kann keine revolutionäre Rolle in der Weltarena spielen.“ [48]

Die Wirklichkeit entpuppte sich aber entgegen Trotzkis Erwartungen als viel komplexer, was eine tiefgreifende Krise in der Bewegung der Vierten Internationale auslöste. Trotzki hatte hier zwar einen grundsätzlichen Trend ausgemacht, aber viel zu knappe Fristen gesetzt. Denn während des „Kalten Kriegs“ nach 1948 kapitulierten die Kommunistischen Parteien keineswegs vor „ihren eigenen“ Bourgeoisien. Ihre Loyalität galt immer noch Moskau. Ihre Politik war zwar nicht revolutionär, aber sie war auch nicht bloß „reformistisch“. Sie behielten eine „linke“ Position der Nichtloyalität gegenüber dem bürgerlichen Staat, was die Schaffung einer revolutionären Alternative außerordentlich erschwerte. In einigen Fällen zerstörten stalinistische Parteien sogar bürgerliche Staaten und ersetzten sie durch Regimes nach russischem Muster. Das bedeutendste Beispiel hierfür war die Chinesische Revolution von 1949. Diese schien die klassische trotzkistische Analyse der stalinistischen Parteien in Frage zu stellen, zumindest was die rückständigen Länder betraf. Denn, betrachtete man sie als eine proletarische Revolution, war die Existenzgrundlage für die Vierte Internationale, nämlich das behauptete grundsätzlich konterrevolutionäre Wesen des Stalinismus, dahin. Betrachtete man sie andererseits als eine Art bürgerliche Revolution – eine „Neue Demokratie“, wie Mao Tse-tung damals behauptete -, dann war es die Theorie der Permanenten Revolution, die anscheinend hinfällig war. Und, ganz abgesehen vom Standpunkt, den man in dieser Frage einnahm: Allein schon die Tatsache, daß diese Revolution stattgefunden hatte, polierte das Bild des Stalinismus für lange Zeit auf.

Drittens glaubte Trotzki, daß Stalins Regime in Rußland höchst instabil sei. Seine Analyse führte ihn zu der Schlußfolgerung: „entweder wird die Bürokratie, die sich in zunehmendem Maße zu einem Organ der Weltbourgeoisie innerhalb des Arbeiterstaates entwickelt, die neuen Besitzverhältnisse zerstören und das Land in den Kapitalismus zurückzerren; oder die Arbeiterklasse wird die Bürokratie niederwerfen und den Weg für den Sozialismus freimachen“. [49] Dies war keine Perspektive auf Jahrzehnte. In einer Stellungnahme gegen Ende 1939 hatte Trotzki an Kritiker seiner Position die Frage gerichtet: „Brächten wir uns nicht womöglich in eine lächerliche Position, wenn wir der bonapartistischen Oligarchie [d. h. der Bürokratie – d. h.] die Auszeichnung ‚neue herrschende Klasse‘ wenige Jahre oder gar wenige Monate vor ihrem ruhmlosen Sturz verleihen würden?“ [50] Das war vor rund dreißig Jahren, und das Regime besteht noch. Und in der Zwischenzeit hat die Bürokratie wohl kaum als „Organ der Weltbourgeoisie“ gedient. Im Gegenteil, trotz ihres grundsätzlich konservativen Charakters hat sie ihre eigenen Interessen sowohl gegen die Arbeiter und Bauern in Rußland selbst als auch gegen mitstreitende herrschende Klassen außerhalb verteidigt. Sie eroberte Osteuropa und verwandelte Staat und Gesellschaft dort in plausible Ebenbilder des russischen Originals. Auch diese Ereignisse hatten eine tiefgreifende Auswirkung auf das Bewußtsein der Weltarbeiterklasse.

Viertens hielt Trotzki sowohl an der Theorie der permanenten Revolution als auch an Lenins Imperialismusanalyse von 1915 fest. Er glaubte deshalb, daß die Kolonialreiche, die die heutige „Dritte Welt“ umfaßten, nur durch Kämpfe unter der Führung der jeweiligen Arbeiterklassen befreit werden könnten. So sei zum Beispiel „die indische Bourgeoisie unfähig, einen revolutionären Kampf anzuführen“ [51], was zweifellos stimmte. Gleichzeitig aber „können die Imperialisten [in diesem Fall die britischen Herrscher Indiens, d. h.] keine ernsthaften Zugeständnisse weder ihren eigenen schaffenden Massen noch den Kolonien machen. Im Gegenteil, sie sind gezwungen, auf eine immer bestialischere Ausbeutung zurückzugreifen“. [52] Es folgte daraus, daß die „Theorie, wonach sich Indiens Stellung kontinuierlich bessern, seine Freiheiten kontinuierlich erweitert, Indien selbst allmählich auf dem Weg friedlicher Reformen den Status einer Dominion erlangen ... [und] später vielleicht sogar die volle Unabhängigkeit erreichen wird. Diese ganze Perspektive ist von Grund auf falsch.“ [53] Das gleiche Argument wurde auf die anderen Kolonien angewandt. Auch hier hatte die relativ friedliche Auflösung der Kolonialreiche eine bedeutende Auswirkung auf das Bewußtsein der Weltarbeiterklasse.

Die Gründung der Neuen Internationale im Vorgriff auf die Gewinnung bedeutsamer, in den Arbeiterklassen verwurzelten Kräfte war ein verzweifeltes Pokern. Dieses Pokern war nur im Rahmen einer ganz besonderen programmatischen Perspektive, wie sie von der Gründungskonferenz (unter der durchaus passenden Überschrift Der Todeskampf des Kapitalismus) angenommen wurde, zu rechtfertigen. Es gab natürlich ernsthafte Begründungen für jedes einzelne Argument Trotzkis. Und es ist auch richtig, daß die sie widerlegenden Faktoren untereinander verknüpft waren, so daß ein einziger Bruch in der Kausalkette sehr wohl zu ganz anderen Ergebnissen hätte führen können. Das Überleben und die Expansion des stalinistischen Regimes zum Beispiel hat die Erwürgung der europäischen revolutionären Bewegungen von 1943–46 enorm erleichtert. Dies wiederum ermöglichte die Wiederbelebung des europäischen Kapitalismus, und damit den Ausbruch des Kalten Krieges und den Beginn der permanenten Rüstungswirtschaft. Diese Faktoren wiederum gestatteten die Aufgabe der Kolonialreiche ohne den verzweifelten Endkampf auf Leben und Tod, den Trotzki, wie zuvor Lenin, für unvermeidlich gehalten hatte. Und so weiter, und so weiter.

Diese Kette wurde aber nicht unterbrochen, und als der „Zweite Weltkongreß der Vierten Internationale“ zehn Jahre nach 1938 wieder zusammentreffen konnte, bestand die Bewegung nach wie vor nur aus einer Ansammlung kleiner Gruppen. Sicher stellte der Kongreß von 1948 mehr dar als der von 1938. Und er stellte wahrscheinlich auch mehr in der Arbeiterbewegung dar als irgendeiner der Nachfolge-„kongresse“ der verschiedenen Körperschaften, die heute den Titel und/oder die Erbschaft der Vierten Internationale für sich beanspruchen. Trotzdem stellte er herzlich wenig dar. Eine grundlegende Neubewertung der Situation und der Perspektiven des Übergangsprogramms wäre notwendig gewesen. Es zeigte sich jedoch, daß die Bewegung, in ihrer Mehrheit, dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Das Resultat war tragisch. Da sie es nicht vermochte, ihre Fehler zu analysieren, war die Bewegung dazu verdammt, nicht nur die alten zu wiederholen, sondern auch neue und noch verhängnisvollere hinzuzufügen.

Als sie es nicht schaffte, sich theoretisch weiterzuentwickeln, degenerierte sie, verfiel bald in verschiedene Fragmente, die in den meisten, aber nicht in allen Fällen, den fundamentalen Inhalt des Trotzkismus unter Beibehaltung seiner Formen über Bord warfen und sich dem Stalinismus, dem Zentrismus der „strukturellen Reformen“, dem vormarxistischen „Dritte-Welt-Sozialismus“ oder dem Narodnikismus [54] anpaßten; die größte Sektion der Nachkriegszeit, die ceylonesische Lanka Sama Samaj Partei, beteiligte sich sogar an einer konterrevolutionären bürgerlichen Regierung. Diesen traurigen Entwicklungen wollen wir uns im nächsten Kapitel widmen. An dieser Stelle ist es notwendig, an die positiven Errungenschaften zu erinnern. Ohne den Kampf Trotzkis und seiner Anhänger unter unglaublich schwierigen Bedingungen wäre die revolutionäre Bewegung heute unvergleichlich schwächer, sowohl in organisatorischer als auch in theoretischer Hinsicht, als sie es ohnehin ist. Wir stehen auf den Schultern dieser Pioniere.

 

 

Anmerkungen

1. Die Bewegung der „Internationalen Sozialisten“ besteht heute aus Organisationen in mehreren Ländern, darunter der SWP in GB.

2. J.Degras (Ed.), The Communist International – Documents, Vol. III., S. 44.

3. Ebenda, S. 159.

4. Ebenda, S. 224.

5. Trotsky, Germany: What Next? in The Struggle Against Fascism in Germany, S. 430.

6. Trotsky: Germany: Key to the Int. Situation, in The Struggle Against Fascism in Germany, S. 121–2.

7. J. Degras, a. a. O., S. 257.

8. Ebenda, S. 262.

9. Trotsky, It Is Impossible to Remain in the Same International with Stalin etc., in The Struggle Against Fascism in Germany, S. 430.

10. The Fundamental Principles of the International Left Opposition, CLGB 1934.

11. Y. Craipeau, Le Mouvement Trotskiste en France, S. 83.

12. I. Deutscher, The Prophet Outcast, S. 206.

13. Y. Craipeau, a. a. O., S. 39.

14. J.P. Cannon: History of American Trotskyism, S. 93.

15. a. a. O., S. 93.

16. Frank: Histoire de la IVe Internationale. Vor kurzem wurde dieses Werk als Serie in Englisch von der Intercontinental Press veröffentlicht. Da ich diese Version benutzt habe, gibt es keine Hinweise auf Seitennummer. Der Autor erzählt uns, er habe „sich an diesem ‚langen Marsch‘ der Trotzkisten seit über vierzig Jahren beteiligt und wurde zuerst 1931 Teil der internationalen Führung der trotzkistischen Bewegung.“ Während dies nicht ganz offen ist – Frank nahm während der 30er Jahre and der von Raymond Molinier geführten Abspaltung teil – stimmt es, daß es wenige Leute, wenn überhaupt, die besser plaziert sind, eine ernsthafte Bewertung des Kampfes um den Aufbau einer revolutionären Alternative zum Stalinismus udn zur Sozialdemokratie seit 1933 zu versuchen. Leider versäumt es das Buch, das zu machen. Es ist eine unkritische Darstellung der Ansichten der Tendenz um Ernest Mandel.

17. P. Frank, a. a. O.

18. Erklärung der Kommunistischen Liga Belgiens, zitiert von Trotsky in Writings 1934–35, S. 958.

19. Trotsky: On the Theses Unity and Youth, in Writings 1934–35, S. 92

20. Ebenda, S. 95

21. P. Frank: a. a. O., Zu jenem Zeitpunkt bezeichneten sich die Trotzkisten „Bolschewik-Leninisten“.

22. Trotsky. A New Turn Is Neccesary, in Writings 1934–35, S. 315.

23. P. Frank, a. a. O.

24. On the Tasks of the French Section in The Founding Conference of the Forth International, S. 96 ff.

25. J.P. Cannon: The Struggle for a Proletarian Party, S. 154.

26. Trotsky: Sectarianism, Centrism and the Fourth Intemational, in Writings 1935–36, S. 26.

27. M. Shachtman: Footnote for Historians, in New International, December 1938.

28. N.S. Khrushchev: Special Report to the 20th Congress of the CPSU, in The Moscow Trials – An Anthology, S. 4 ff.

29. J.V. Stalin zitiert in Deutscher. The Prophet Outcast, S. 171.

30. J. Degras, a. a. O., S. 375.

31. Ebenda, S. 390.

32. Ebenda, S. 384.

33. Quoted in F. Morrow: Revolution and Counter Revolution in Spain, S. 34.

34. Statement of the CC of the Spanish CP, quoted in Morrow, a. a. O., S. 35

35. Trotsky: The Lesson of Spain, S. 21.

36. Trotsky: Centrist Alchemy or Marxism, in Writings 1934–35, S. 274.

37. The Founding Conference of the Fourth International, S. 7.

38. Ebenda, S. 114. Der Kongreß schloß auch „endlich“ die Grupp Molinier-Frank aus. „Es ist deutlicher denn je, daß die gesamte Grage der PCI und der Zeitschrift La Commune keine politische Bedeutung hat, sondern ist einfach die persönliche Frage von R. Molinier und seine Finanzen ...“. S. 108.

39. P. Frank, a. a. O.

40. Ebenda.

41. Trotsky, On the Founding of the Fourth International, in Writings 1938–39, S. 59.

42. Trotsky in einem Brief an Emrys Hughes in Writings 1938–39, S. 147.

43. Trotsky, The Death Agony of Capitalism and the Tasks of the Fourth International, S. 11.

44. Trotsky, The USSR in War, in In Defence of Marxism, S. 9.

45. Trotsky: The Death Agony of Capitalism etc., S. 15.

46. Trotsky: The Comintern’s Liquidation Congress, in Writings 1935–36, S. 11.

47. Trotsky: The Death Agony of Capitalism etc., S. 13.

48. Ebenda, S. 52.

49. Ebenda, S. 47-48.

50. Trotsky: The USSR in War, in In Defence of Marxism, S. 17.

51. Trotsky: India Faced with Imperialist War, in Writings 1938–39, S. 37.

52. ebenda.

53. ebenda.

54. Volkstümelei.

 


Zuletzt aktualisiert am 14. Mai 2021