Duncan Hallas

 

Die Rote Flut

 

1. Die Anfänge

Indem wir die Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der sich überlebten, offiziellen sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der Dritten Internationale vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ... Unsere Aufgabe besteht darin, die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse zusammenzufassen, die Bewegung von den zersetzenden Beimischungen des Opportunismus und Sozialpatriotismus zu reinigen, die Kräfte aller wirklich revolutionären Parteien des Weltproletariats zu sammeln und dadurch den Sieg der kommunistischen Revolution zu erleichtern und zu beschleunigen.

Manifest des Ersten Kongresses der Dritten Internationale (1919) [1]

DER 4. MÄRZ 1919. Fünfunddreißig Delegierte, die im Kreml zusammengekommen waren, beschlossen mit einer Enthaltung die Gründung der Dritten oder Kommunistischen Internationale – die bald unter dem Namen Komintern bekannt wurde. Es war keine besonders gewichtige oder repräsentative Versammlung. Nur die fünf Delegierten der Russischen Kommunistischen Partei (Bucharin, Tschitscherin, Lenin, Trotzki und Sinowjew) vertraten eine Partei, die sowohl eine Massenorganisation als auch eine wirklich revolutionäre war.

Stange, von der Norwegischen Arbeiterpartei (DNA), vertrat zwar eine Massenpartei, aber die DNA war weit von einer revolutionären Praxis entfernt, wie die Ereignisse bald zeigen sollten. Eberlein, von der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), vertrat zwar eine wirklich revolutionäre Organisation, aber eine vorerst nur wenige Tausend starke. Die meisten anderen Delegierten vertraten sehr wenig bis gar nichts, da sie nur zufälligerweise in Moskau anwesend waren.

Aus diesen Gründen wünschte Eberlein, in Übereinstimmung mit den Anweisungen des Zentralkomitees der KPD, die Versammlung auf Vorarbeiten zu beschränken, auf die Annahme eines vorläufigen Programms usw. Wie er bemerkte, war Westeuropa überhaupt nicht vertreten. Die allgemeine Einschätzung, daß sich die Deutschen in Wahrheit vor einer unverhältnismäßigen Vormachtstellung der Russen fürchteten, ist wahrscheinlich berechtigt, obwohl dieser Standpunkt nicht offen vertreten wurde.

Die Delegierten nahmen es als selbstverständlich an, daß eine „Internationale“ ohne einige tatsächliche Massenunterstützung in einer Reihe von Ländern Unsinn sei. Sinowjew vertrat für die Russen den Standpunkt, daß diese Massenunterstützung in Wirklichkeit bereits existiere. Die Schwäche vieler Delegationen sei nur zufälliger Natur: „Wir haben eine siegreiche proletarische Revolution in einem großen Land ... Sie haben in Deutschland eine Partei, die zur Macht schreitet und in einigen Monaten in Deutschland eine proletarische Regierung bilden wird. Und da sollten wir zögern? Man wird uns nicht verstehen.“ [2]

Von keinem der Delegierten wurde angezweifelt, daß die sozialistische Revolution eine unmittelbare Aussicht für Zentraleuropa und vor allem für Deutschland war. Eberlein selbst hatte gesagt: „Wenn nicht alle Zeichen trügen, dann steht das deutsche Proletariat vor dem letzten entscheidenden Kampf. Die Aussichten für diesen sind, so schwer dieser sein mag, für den Kommunismus doch günstig.“ [3] Lenin, der nüchternste und bedächtigste der Revolutionäre, hatte in seiner Eröffnungsrede gesagt: „...nicht nur in Rußland, sondern auch in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern Europas, wie in Deutschland, ist der Bürgerkrieg zur Tatsache geworden ... die internationale Weltrevolution beginnt und wächst in allen Ländern.“ [4]

Dies war keine Einbildung. Im November 1918 war das deutsche Kaiserreich, bis dahin der mächtigste Staat in Europa, unter den Schlägen einer Massenrevolution zusammengebrochen. Sechs Volkskommissare, drei von ihnen Sozialdemokraten und drei Unabhängige Sozialdemokraten, ersetzten die kaiserliche Regierung. In ganz Deutschland entstanden Arbeiter- und Soldatenräte und übernahmen effektiv die Macht. Zwar setzten die sozialdemokratischen Führer, die diese Räte beherrschten, ihre ganzen Energien zur Wiederherstellung der alten kapitalistischen Staatsmacht ein, mit einer neuen „republikanischen“ Maske. Aber das war umso mehr ein Grund für die Schaffung einer revolutionären Internationale sozialistischer Organisationen mit einer starken zentralisierten Führung, um den Kampf um ein Sowjetdeutschland anzuleiten und zu unterstützen – um ein Deutschland, in dem die Zügel der Macht in den Händen von Arbeiterräten liegen würden, also von Sowjets, um den russischen Namen zu gebrauchen.

Und dieser Kampf schien trotz der blutigen Unterdrückung des Spartakusaufstandes im Januar 1919 voranzuschreiten. „Von Januar bis Mai 1919, mit Ausläufern bis in den Hochsommer hinein, tobte in Deutschland ein blutiger Bürgerkrieg ...“ [5]

Die zweite große zentraleuropäische Macht, Österreich-Ungarn, hatte aufgehört zu existieren. Die revolutionären Erhebungen Ende 1918 hatten es auseinandergerissen. Seine Nachfolgestaaten waren selbst in unterschiedlichem Maße vom revolutionären Fieber erfaßt. Im deutschsprachigen Österreich blieb als einzige effektive bewaffnete Macht die von Sozialdemokraten kontrollierte Volkswehr übrig. In Ungarn wurde am 21. März ein Sowjetstaat gegründet. Alle neuen oder wiedergegründeten Staaten, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und sogar Polen, waren instabil.

In all diesen Ländern spielten die Führer der sozialistischen Parteien eine entscheidende Rolle. Diese Parteien nannten sich selbst „sozialdemokratisch“. Die russischen Bolschewiki entstammten dem konsequent revolutionären Flügel der Sozialdemokratischen Partei Rußlands. Aber die übrigen sozialdemokratischen Parteien Europas waren inzwischen alles andere als revolutionär. Im Namen der „Demokratie“ unterstützte die Mehrheit in Wirklichkeit die Konterrevolution. Die meisten von ihnen beanspruchten für sich, Marxisten und Internationalisten zu sein, und waren es früher auch gewesen. Inzwischen waren sie aber zu einer Hauptstütze des Kapitalismus geworden und benutzten sozialistische Phrasen und den durch ihre jahrelange Agitation gewonnenen Kredit, um die Machtergreifung der Arbeiter oder deren Konsolidierung zu verhindern.

Ihre Versuche, die Zweite Internationale auf einem Treffen in Bern, in der Schweiz, neu zu gründen, wurde als weiterer dringlicher Grund gesehen, die Dritte Internationale auszurufen. Bereits 1914 hatte Lenin geschrieben: „Die II. Internationale ist tot, vom Opportunismus besiegt ... es lebe die ... III. Internationale!“ [6] Nun, 18 Monate nach der Oktoberrevolution in Rußland, konnte der Ruf nach einer neuen Internationale verwirklicht werden. Es hatte fünf Jahre gedauert, Jahre des Krieges, sich vertiefender sozialer Krise, massiver Arbeiterkämpfe und Revolutionen, bis diee notwendigen Bedingungen für die Bildung einer wirklich revolutionären Internationale herangereift waren.

 

 

Die Sozialdemokratie 1914

Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges ... zu verhindern ... Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.

Resolution des Stuttgarter Kongresses der Zweiten Internationale (1907) [7]

DIE ZWEITE INTERNATIONALE war auf einem Kongreß in Paris gegründet worden, der symbolischerweise am 14. Juli 1889 zusammengetreten war – dem hundertsten Jahrestag der Erstürmung der Bastille, die den Ausbruch der großen französischen Revolution markierte. Sie deklarierte sich als Erbe der Internationalen Arbeiter Assoziation (1864-72), in der Marx selbst eine führende Rolle gespielt hatte.

Der Salle Petrelle, in dem [der Kongreß] sich versammelte, war mit rotem Tuch ausgeschlagen und mit roten Fahnen geschmückt. Über der Tribüne prangten in Goldbuchstaben die Schlußworte des Kommunistischen Manifests: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Im Vordergrund verkündete eine Inschrift das Ziel des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse: „Politische und wirtschaftliche Enteignung der Kapitalistenklasse – Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ ... die französische Partei [die Gastgeber] begrüßte den Kongreß mit der Inschrift auf einem Schild an der Tribüne: „Im Namen des Paris von Juni 1848 und März, April und Mai 1871 und des Frankreich von Babeuf, Blanqui und Varlin: Gruß den sozialistischen Arbeitern beider Welten“. In Huldigung der Vorkämpfer der sozialen Revolution zogen die Delegierten nach Schluß des Kongresses ... zum Massengrab der Kommunekämpfer. [8]

Unter dieser scheinbar revolutionären Schirmherrschaft gegründet, diente die Zweite Internationale als ein Brennpunkt, um den herum sich einige große Arbeiterparteien entwickelten, welche sich gewöhnlich den Namen „Sozialdemokratische Partei“ gaben – eine Bezeichnung, die Marx persönlich nicht gefiel, und der er den Namen „kommunistisch“ vorzog. Sie waren bei weitem nicht die einzigen Arbeiterparteien, aber sie waren es, die die Arbeiterbewegung in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg dominierten.

Der Sozialdemokratie im klassischen Sinne war ein relativ kurzes Leben beschieden. Die Deutsche Sozialdemokratische Partei (SPD), das Modell, „Säule und Vorbild“ für die übrigen, war 1875 gegründet worden. Das Erfurter Programm, das sie 1891 annahm, wurde damals für marxistisch gehalten. Zwischen 1878 und 1890 war die SPD als illegale Organisation tätig gewesen, nachdem sie unter Bismarcks Sozialistengesetz verboten worden war. „Auf ihrem ersten Exil-Kongreß im schweizerischen Weyden beschlossen die Sozialisten 1880 einstimmig, die einschränkende Klausel, ihre Ziele ‚mit allen gesetzlichen Mitteln‘ verfolgen zu wollen, aus dem Programm zu streichen... In dieser drückenden Zeit entfremdete sich die städtische Arbeiterklasse immer mehr vom Staat.“ [9]

Das wurde durch die Wahlergebnisse demonstriert. Die SPD war zwar verboten, aber sozialistische Kandidaten (in Wahrheit Kandidaten der SPD) waren in der Lage, sich zur Wahl zu stellen. Trotz eingeschränktem Wahlrecht erreichten sie 1881 zusammengenommen etwa 300.000 Stimmen und 1890 anderthalb Millionen. 1912 erhielt die SPD, eine inzwischen legal geduldete, aber sozial geächtete Organisation, viereinhalb Millionen Stimmen (34 Prozent aller abgegebenen Stimmen) und entsandte 110 Abgeordnete in den Reichstag. 1914 hatte die SPD 1.086.000 eingeschriebene Mitglieder.

In Frankreich errang die 1905 gegründete Vereinte Sozialistische Partei (SFIO – französische Sektion der Arbeiter-Internationale) 102 Sitze bei den Wahlen Anfang 1914. Ein Jahr zuvor hatte die italienische Sozialistische Partei (PSI) ein Viertel aller abgegebenen Stimmen erhalten und somit 78 Abgeordnete. Die Österreichisch-Ungarische Partei hatte mehr als eine Million Stimmen gewonnen und somit 82 Abgeordnete. Von Skandinavien bis zu den Balkanstaaten gewannen marxistische sozialdemokratische Parteien an Mitgliedern, Stimmen und Abgeordneten. Sogar die Sozialistische Partei in den USA (gegründet 1901) gewann bis 1912 125.000 Mitglieder und 800.000 Stimmen; sie hatte „56 Bürgermeister, 160 Ratsmitglieder und 145 Ratsherren ... acht fremdsprachige und fünf englische Tageszeitungen ... Hinzu kamen noch 262 englische und 36 fremdsprachige Wochenzeitungen.“ [10] Schwächere, aber bedeutende Bewegungen entwickelten sich überall, von Großbritannien und Chile bis Spanien, die Schweiz und Uruguay, und alle traten der Zweiten Internationale bei und verpflichteten sich dem sozialistischen Wiederaufbau der Gesellschaft und der kompromißlosen Gegnerschaft zu „nationaler Einheit“ und Krieg.

Es war eine Illusion. Es gab zwar beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, aber im Grunde genommen waren sie pseudo-revolutionäre Parteien (wobei die australische und die britische Arbeiterpartei und die Sozialistische Partei in den USA insofern eine Ausnahme bildeten, als sie weder marxistisches Vokabular noch revolutionäre Ziele für sich beanspruchten). Sie verbanden eine kompromißlose verbale Feindschaft gegen den Kapitalismus mit einer praktischen Tagespolitik, die sich im wesentlichen darauf beschränkte, Mitglieder und Stimmen zu gewinnen. Da sie von jeder Beteiligung an der Staatsmacht ferngehalten wurden und sie eine Ideologie vertraten, die alle Werte der offiziellen Gesellschaft ablehnte, schufen die Sozialdemokraten bis zu einem gewissen Grad eine eigene getrennte Welt. „Es gab keine größere Stadt ohne sozialdemokratische Tageszeitung, ohne Konsumgenossenschaften, ohne Sportvereine und Kulturverbände der Arbeiter.“ [11]

Dieser beeindruckende Apparat war zum Selbstzweck geworden. Es gab keine wirkliche Perspektive, nämlich daß das Erreichen des Sozialismus einen Kampf um die Macht erforderte. Der Sozialismus würde zwangsläufig kommen, als Ergebnis der Widersprüche im Kapitalismus, betonte man immer wieder. Eine Konfrontation mit der Staatsmacht und sogar mit einzelnen Arbeitgebern wurde möglichst vermieden. Als politische Kraft war die Sozialdemokratie im Grunde genommen passiv. Obwohl einige der Parteien, insbesondere die Belgier und die Österreicher, sich bereit gezeigt hatten, das Mittel der politischen Massenstreiks einzusetzen – und eingesetzt hatten –, war dies für den strikt beschränkten Zweck, das Wahlrecht zu erringen beziehungsweise auszudehnen. Die meisten Parteien waren nicht einmal bereit, soweit zu gehen.

Im August 1914 wurde die Illusion zerstört. Die Sozialdemokratie brach zusammen. Die Kombination von extremem verbalem Radikalismus und politischer Passivität in der Praxis war von Massenparteien in kriegsführenden Staaten nicht länger aufrechtzuerhalten. Die Parteiführer standen vor einer einfachen Wahl. Entweder sie hielten an ihren politischen Positionen, ihrem Internationalismus, fest, was Opposition gegen den Krieg bedeutete, und sahen der Rückkehr zu Illegalität, Verfolgung und Gefängnis und der Beschlagnahmung ihrer riesigen Guthaben ins Auge. Oder es hieß, alle Prinzipien, für die sie eingetreten waren, aufzugeben, „ihren eigenen“ imperialistischen Staat zu unterstützen und eine ehrenwerte und zunehmend bedeutende Rolle in der kapitalistischen Gesellschaft einzunehmen. Sie kapitulierten und wurden zu Feldwebeln für die Rekrutierung für den Ersten Weltkrieg. Die Bedeutung dieses Zusammenbruchs kann nicht genug betont werden. Seit dem 4. August 1914 haben die sozialdemokratischen Parteien als Agenten für die herrschende Klasse innerhalb der Arbeiterbewegung gehandelt.

Es gab Ausnahmen. Die Italiener und Amerikaner mußten sich nicht sofort entscheiden, da sich ihre herrschenden Klassen eine Weile neutral im Krieg verhielten. Die Skandinavier und die Holländer blieben bis 1919 in dieser Position. Auf der anderen Seite beharrten die Serben heldenhaft auf ihrem Standpunkt und wurden dafür einer mörderischen Verfolgung ausgesetzt. Die Bulgarische Mehrheitspartei, die sich 1903 von der rechten Minderheit gelöst hatte, stellte sich gegen den Krieg. In Rußland weigerten sich die Bolschewiki und sogar einige der Menschewiki, die zaristische Kriegsmaschine zu unterstützen. Überall sonst waren die Kriegsgegner in einer Minderheit.

Karl Liebknecht, der sich anfänglich als einziger SPD-Abgeordneter im deutschen Reichstag gegen den Krieg aussprach, schrieb: „Der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land! Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht ... Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze! ... Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ [12]

Aber die „Sozialpatrioten“, wie die sozialdemokratischen Unterstützer des Krieges von ihren Gegnern bald genannt wurden, konnten für sich beanspruchen, 1914 die Unterstützung der Masse der politisch bewußten Arbeiter zu haben. Das war die Wahrheit. „Besonders unerwartet kam die patriotische Erhebung der Massen in Österreich-Ungarn“, schrieb Trotzki über die Stimmung in Wien.

Was trieb sie an, fragte er sich. „Der nationale Gedanke? Welcher? Österreich-Ungarn war die Verneinung der nationalen Idee. Nein, die bewegende Kraft war eine andere. Solcher Menschen, deren ganzes Leben, tagaus, tagein, in monotoner Hoffnungslosigkeit verläuft, gibt es viele auf der Welt ... Die Alarmglocke der Mobilisierung dringt in ihr Leben ein wie eine Verheißung. Alles Gewohnte, das man tausendmal zum Teufel gewünscht hat, wird umgeworfen, es tritt etwas Neues, Ungewöhnliches auf. Und in der Ferne müssen noch unübersehbarere Veränderungen geschehen. Zum Besseren? Oder zum Schlimmeren? Selbstverständlich zum Besseren: kann es ... schlimmer ergehen als zu ‚normalen“ Zeiten? ... Der Krieg erfaßt alle, und folglich fühlen sich die Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße.“ [13] Gleichermaßen gab es Massenbegeisterung für den Krieg in London Paris und Berlin.

Aber Revolutionäre, die nicht vorübergehenden Volkshaß und öffentliche Verfolgung aushalten können, sind wertlos. Die Pioniere der Sozialdemokratie hatten zu ihrer Zeit beides ausgehalten. Warum verrieten sie nun ihre eigene Vergangenheit?

Eine Erklärung ist, daß sie es eben nicht taten, daß sich die bedeutendsten Parteien bereits nach dem Stuttgarter Kongreß von 1907 rasch nach rechts bewegten, zu einer Position der Unterstützung „ihrer eigenen“ imperialistischen herrschenden Klassen. Natürlich trifft es zu, daß opportunistische Strömungen innerhalb dieser Parteien am Wachsen waren, und daß sich aktive Tendenzen auf dem rechten Flügel von der Niederlage um die Jahrhundertwende in der Frage der Zusammenarbeit mit „progressiven“ bürgerlichen Parteien und der Teilnahme an „progressiven“ bürgerlichen Regierungen erholten und ihr Haupt wieder erhoben.

Das alles kann aber die Schwere der Anschuldigung des Verrats keineswegs abschwächen oder gar die Tatsache des Verrats aus der Welt schaffen. Denn der außerordentliche Kongreß von Basel, der 1912 gerade wegen der zunehmenden Gefahr eines imperialistischen Krieges einberufen wurde, wiederholte und bekräftigte einstimmig die Stuttgarter Resolution gegen den Krieg.

Wie Sinowjew, damals Lenins engster Mitarbeiter, 1916 schrieb: „Das Basler Manifest wurde in der Erwartung jenes alleuropäischen Krieges geschrieben, der jetzt ausgebrochen ist ... Es gibt den Sozialisten aller Länder ein Aktionsprogramm. Und was sehen wir? Ist dort auch nur der leiseste Gedanke zu finden, daß die Sozialisten irgend eines jener Länder, die in den Krieg hineingezogen wurden, ihr Vaterland verteidigen müssen, oder aber sich an das Kriterium des Defensivkrieges zu halten haben? Nicht ein Wort, nicht der leiseste Hinweis in diesem Sinne! In diesem Dokumente findet man einen Aufruf zur Organisierung des Bürgerkrieges, Hinweise auf die Kommune, auf das Jahr 1905 usw. Aber man findet darin nichts hinsichtlich eines Defensivkrieges ... Der Basler Beschluß war nicht schlechter, sondern besser als der von Stuttgart. Jedes seiner Worte ist eine Ohrfeige für die jetzige Taktik der ‚führenden‘ Parteien der II. Internationale.“ [14]

Das ist im wesentlichen richtig. Die wichtigste Opposition von rechts in dieser Frage auf den verschiedenen Kongressen kam in der Tat von solchen Vertretern wie James Keir Hardie von der Britischen Labour Party, der die Parteien der Zweiten Internationale dazu verpflichten wollte, beim Kriegsausbruch bloß den sofortigen Generalstreik auszurufen!

Ein weiteres Erklärungsmuster ist der fatalistische Charakter der sozialdemokratischen Theorie. Karl Kautsky, der „Papst des Marxismus“ und Haupttheoretiker der SPD, äußerte das in folgenden Worten: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei. Wir wissen, daß unsere Ziele nur durch eine Revolution erreicht werden können, wir wissen aber auch, daß es ebensowenig in unserer Macht steht, diese Revolutionen zu machen, als in der unserer Gegner, sie zu verhindern.“ [15] Eine schöne theoretische Rechtfertigung für Passivität! Der Gedanke, Daß Sozialisten die Arbeiter im Kampf gewinnen müssen, fehlt hier vollkommen. Und das ist kein Zufall.

Für Marx kommt die Praxis vor der Theorie. „Am Anfang war die Tat.“ Die Theorie einer Massenbewegung hat genauso materielle wie auch theoretische Wurzeln. Gegen Ende seines Lebens schrieb John Wesley, der Gründer des Methodismus, in einem bemerkenswerten Vorgriff auf die materialistische Geschichtsauffassung: „Überall werden die Methodisten geschäftstüchtiger und enthaltsamer; daher vermehren sie ihre Güter. Daher steigert sich proportional ... ihre Fleischeslust ... und ihr Lebensstolz. So kommt es, daß, obwohl die Form der Religion bleibt, der Geist rasch verschwindet.“ [16]

Und so war es auch mit der Sozialdemokratie. Eine ganze Schicht von Sozialdemokraten war zu Wohlstand gekommen. 1913 besaßen die SPD und die mit ihr verbündeten Gewerkschaften bereits ein Vermögen im Wert von 90 Millionen Mark. Um es zu verwalten und zu kontrollieren, hatte die Partei „eine Schicht von Parlamentariern, Arbeiterbürokraten und Verwaltungsfunktionären entstehen lassen, die in den Gewerkschaftsorganisationen saßen, den Genossenschaften, den Parteisekretariaten, in den Redaktionen der Parteipresse, als Abgeordnete in den Parlamenten. Sie lebten nicht mehr nur für die, sondern auch von der Arbeiterbewegung.“ [17]

Sie hatten viel mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Lenin betonte einen weiteren bedeutenden materiellen Faktor. „Der Opportunismus wurde im Laufe von Jahrzehnten durch die Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus hervorgebracht, in der die verhältnismäßig friedliche und zivilisierte Existenz einer Schicht privilegierter Arbeiter diese „verbürgerte“, ihnen Brocken von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals zukommen ließ.“ [18] Diese Theorie von der „Arbeiteraristokratie“, die früher von Marx selbst für den besonderen Fall von Großbritannien entwickelt worden war, enthielt einen wichtigen wahren Kern.

Aber sie erwies sich als – eine zu grobe Vereinfachung. „Privilegierte“ Facharbeiter spielten eine bedeutende Rolle in der Antikriegsbewegung. Jene Bewegung begann in dem Maße zu wachsen, wie die Listen der Kriegsopfer und die wirtschaftliche Notlage wuchsen – und beide wuchsen nach 1915 massiv in allen der wichtigsten kriegführenden Staaten.

Die revolutionäre Linke, mit Ausnahme einiger weniger „Ultralinker“, unterschätzte allerdings die Rolle der Arbeiterbürokratien als eine selbständige soziale Schicht. Auf diese Frage wollen wir später zurückkommen.

 

 

Die revolutionäre Flut

Der imperialistische Krieg leitet eine Ära der sozialen Revolution ein. Alle objektiven Bedingungen der jüngeren Vergangenheit haben den revolutionären Massenkampf der Arbeiter auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist die Aufgabe von Sozialisten, jeden Nutzen aus allen legalen Mitteln des Arbeiterkampfes zu ziehen, um ... das revolutionäre Bewußtsein der Arbeiter zu entwickeln ... jede revolutionäre Aktion zu fördern und zu ermutigen, und alles Mögliche zu unternehmen, um den imperialistischen Krieg zwischen den Völkern in einen Bürgerkrieg zu verwandeln ... zur Erringung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und der Verwirklichung des Sozialismus.

Resolution der Zimmerwalder Linken (1915) [19]

DER AUSBRUCH DES KRIEGES schien zunächst die sozialistische Bewegung in zwei Teile gespalten zu haben, die „Sozialpatrioten“, die die große Mehrheit darstellten, und die „Internationalisten“. Es wurde jedoch bald offensichtlich, daß die Bewegung in Wirklichkeit in drei Teile gespalten war. Die Internationalisten selbst waren zwischen dem konsequent revolutionären Flügel und jenem Flügel gespalten, der später das „Zentrum“ genannt wurde.

Die Zentristen vertraten pazifistische oder halbpazifistische Positionen. Sie traten gegen eine Unterstützung „ihrer eigenen“ Regierungen und für Friedensverhandlungen ein. Sie wollten die internationalen Bindungen zwischen den sozialistischen Parteien wiederherstellen, und die besten unter ihnen waren bereit, dies notfalls sogar in der Illegalität zu tun, aber sie sehnten sich viel mehr zurück nach einer Wiedergeburt der alten Internationale als nach dem Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Sie sahen den Krieg als eine verheerende Unterbrechung des „normalen“ politischen Lebens, nicht als eine Gelegenheit für die sozialistische Revolution. Für sie war die Internationale für „Friedenszeiten“ da, für Feiertagsreden am 1. Mai, nicht für den revolutionären Kampf zur Veränderung der Welt.

Im September 1915 gelang es den italienischen und schweizerischen Parteien, eine Konferenz von Antikriegssozialisten in Zimmerwald, in der Nähe von Bern in der Schweiz, zusammenzurufen. Diese beiden Parteien waren vom „Zentrum“ dominiert. Die Schweizer waren neutral (obwohl sowohl pro-deutsche als auch pro-französische Tendenzen in der Partei existierten), und die Mehrheit der italienischen PSI hielt an einer zentristischen Antikriegsposition sogar nach Italiens Eintritt in den Krieg im Mai 1915 fest. Es kamen nicht viele zur Konferenz. „Die Delegierten scherzten selbst darüber, daß es ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen.“ [20]

In Zimmerwald trat die Spaltung zwischen den Zentristen und der Linken offen zu Tage. Neben den zwei einladenden Parteien waren deutsche, französische, schwedische, norwegische, holländische, polnische, russische und weitere Delegierte anwesend. Mit 19 zu 12 Stimmen lehnte die Konferenz die von Lenin eingebrachte Resolution ab, die den Aufruf enthielt, „den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln“. trotzdem bezeichnete Lenin die Konferenz als „den ersten Schritt“ und die Linken, darunter auch die Bolschewiki, stimmten für das Mehrheitsmanifest, veröffentlichten aber auch ihre eigene abgelehnte Resolution. „Die Kapitalisten aller ... Länder behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes ... Sie lügen“ [21], erklärte das Manifest.

„Daß dieses Manifest einen Schritt vorwärts macht zum wirklichen Kampf gegen den Opportunismus, zur Spaltung und zum Bruch mit dem Opportunismus, ist eine Tatsache“ schrieb Lenin. „Es wäre Sektierertum, wollte man darauf verzichten, gemeinsam ... diesen Schritt vorwärts zu machen, solange wir uns die volle Freiheit und die volle Möglichkeit wahren, die Inkonsequenz zu kritisieren und mehr anzustreben.“ [22] Angesichts der 1915 noch herrschenden Stimmung des brodelnden „Patriotismus“, wo jeder Kontakt mit Staatsangehörigen aus dem „Feindeslager“ als Verrat betrachtet wurde, war Zimmerwald ein wirklicher Schritt vorwärts für den sozialistischen Internationalismus.

Auf der folgenden Konferenz 1916 in Kienthal (auch in der Schweiz) nahm die Linke eine härtere Linie ein. „Jeder weitere Schritt der internationalen Arbeiterbewegung auf dem Wege, der in Zimmerwald aufgezeigt wurde, zeigt immer deutlicher die Inkonsequenz der Position der Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz“ stellte eine weitere erfolglose Resolution der Bolschewiki fest. Die Zimmerwalder Mehrheit, führte die Resolution weiter aus, „scheut einen Bruch mit dem Internationalen Sozialistischen Büro [dem vollkommen inaktiven Zentrum der Zweiten Internationale – D.H.] ... Die Sozialchauvinisten und Kautskyaner aller Länder werden versuchen, das bankrott gegangene Internationale Sozialistische Büro wieder zu errichten. Den Sozialisten aber obliegt die Aufgabe, die Massen aufzuklären über die Unvermeidlichkeit des Bruches mit denjenigen, die eine Politik der Bourgeoisie unter der Fahne des Sozialismus treiben.“ [23] Dies war ein Aufruf für einen politischen Bruch nicht nur mit der Rechten, sondern auch mit der Pseudolinken, die den Pazifismus unterstützte und Verhandlungen zwischen den kriegtreibenden Mächten als den Weg zur Beendigung des Kriegs sah.

Die Antikriegsbewegungen konnten inzwischen einige wirkliche Unterstützung für sich verbuchen. Zu Ostern 1916 fand der Dubliner Aufstand gegen den britischen Imperialismus statt. Karl Liebknecht und Otto Rühle, gewählt als Reichstagsabgeordnete für die SPD, hatten mit der SPD gebrochen und agitierten im Reichstag gegen den Krieg. Im Mai 1916 löste die Verhaftung Liebknechts wegen Landesverrats einen Streik von 50.000 Arbeitern in Berlin und eine Welle von Zusammenstößen mit der Polizei aus. Die Vertrauensleute-Bewegung in Großbritannien machte Fortschritt.

Die Februarrevolution 1917 in Rußland war der Anlaß für massenhafte Friedensdemonstrationen sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland und Österreich-Ungarn. In jenem Frühlung spaltete sich die SPD, und die Zentristen, darunter auch der Führer der SPD-Reichtagsfraktion von 1914, Haase, und der Theoretiker Kautsky, gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) auf der Grundlage eines Antikriegsprogramms. Diese Spaltung war allerdings vom rechten Flügel der SPD aufgezwungen worden, und das Antikriegsprogramm war pazifistisch, nicht revolutionär. Die USPD bestand aus einer bunten Mischung von Reformisten, Zentristen und einigen Revolutionären. Die USPD reflektierte die wachsende Opposition gegen den Krieg unter den deutschen Arbeitern, führte sie aber nicht an.

Die Oktoberrevolution in Rußland hatte noch größere Auswirkungen in ganz Europa. Im Januar 1918 entwickelten sich Massenstreiks in Österreich-Ungarn und in Deutschland, nicht für mehr Geld, sondern für Frieden. „Es ging los in der Fabrik Manfred Weiß, in Csepel, in der Nähe von Budapest, bei weitem der größten Munitionsfabrik in Ungarn... Der Streik breitete sich wie ein Lauffeuer aus... Bis zum 16. Januar hatte er die Munitionsfabriken von Niederösterreich erreicht; am 17. trat ganz Wien in den Streik. Wenige Tage später folgten die Berliner Munitionsarbeiter und dann die Metallarbeiter und viele andere Industriezweige im ganzen Reich. Nirgendwo hatte die offizielle Führung zum Streik aufgerufen... Die Bewegung erschütterte die Zentralmächte bis in ihre Fundamente.“ [24]

Mehr als zwei Millionen Arbeiter waren beteiligt, aber die Bewegung konnte eingedämmt werden. Wie bei den großen Meutereien in der französischen Armee von 1917 fehlte auch hier eine geschlossene revolutionäre Führung.

Aber die Meuterei der Matrosen der deutschen Hochseeflotte in Kiel am 4. November 1918 führte zum Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands. „In Kiel gab es nur ein Machtzentrum – den Arbeiter-, Matrosen- und Soldatenrat... Von Kiel aus breitete sich der Aufstand auf Hamburg aus, und in der Nacht des 8. Novembers wurde in Berlin bekannt, daß er mit wenig oder gar keinen Widerstand in Hannover, Magdeburg, Köln, München, Stuttgart, Frankfurt am Main, Braunschweig, Oldenburg, Wittenberg und anderen Städten gesiegt hatte.“ [25] Am 9. November wurde das besonders „zuverlässige“ Vierte Fusilier-Regiment eiligst nach Berlin beordert. Es meuterte. Der Kaiser flüchtete nach Holland. Die deutsche Arbeiter- und Soldatenräte waren an der Macht.

Dieser Punkt muß betont werden. Sie waren an der Macht: keine andere Macht in Deutschland verfügte über eine effektive bewaffnete Kraft. Der Verrat an dieser erfolgreichen Bewegung durch die Führer der SPD (und der USPD) im Namen der „Demokratie“ vertiefte jetzt weiter die Spaltung von 1914. Die Frage, ob die Macht bei den Arbeiterräten oder beim Parlament liegen sollte, war jetzt von zentraler Bedeutung.

 

 

Demokratie und Diktatur

In den Republiken des alten Griechenlands im Altertum, in den Städten des Mittelalters, in den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten hat die Demokratie verschiedene Formen und verschiedene Ausdehnung. Es wäre die größte Albernheit, anzunehmen, daß die tiefste Revolution in der Geschichte der Menschheit, der erste Übergang der Macht aus den Händen der Minderheit der Ausbeuter in die der Mehrheit der Ausgebeuteten, sich im Rahmen der alten bürgerlichen parlamentarischen Demokratie, ohne die größten Umwälzungen, ohne Schaffung neuer Formen der Demokratie, neuer Institutionen, neuer Bedingungen ihrer Anwendung usw. vollziehen kann.

Resolution des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale (1919) [26]

SOWJETS ODER PARLAMENT? Nach der Oktoberrevolution hatte die russische Kommunistische Partei die neugewählte Konstituierende Versammlung aufgelöst, in der der rechte Flügel der Sozialrevolutionären Partei, nominell eine Bauernpartei, die Mehrheit besaß, und hatte sich dafür entschieden, die Macht an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndelegierten zu übergeben. Nach der Novemberrevolution hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die Arbeiter- und Soldatenräte aufgelöst, in denen sie eine Mehrheit besaß, zugunsten der Nationalversammlung, in der sie keine besaß. Die SPD-Führer waren zwar gezwungen, eine (einstimmig verabschiedete) Resolution für die Abschaffung des stehenden Heeres und die Bewaffnung der Arbeiter zu unterstützen – aber das war nur ein Täuschungsmanöver.

In beiden Fällen verbarg sich hinter der Frage der Staatsform in Wirklichkeit die Frage der Klassenherrschaft. Das Herangehen der russischen Kommunistischen Partei führte zur Schaffung eines Arbeiterstaates. Das Herangehen der SPD in Deutschland führte zur Schaffung eines wiederhergestellten bürgerlichen Staates, der Weimarer Republik. Nach der Pariser Kommune hatte Marx geschrieben, daß die Form des Staates in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus „nur die der revolutionären Diktatur des Proletariats sein kann“ War die Losung der SPD-Führung während der Novemberrevolution: „Alle Macht den Räten von Arbeiter- und Soldatendeputierten? Nein. Wir lehnen die Idee der Diktatur einer Klasse ab, solange die Mehrheit des Volkes nicht hinter dieser Klasse steht.“ [27]

Die Sozialdemokraten waren in der Praxis dahingekommen, den Kern der marxistischen Staatstheorie zu verwerfen: daß der Staat „bloß die organisierte Macht einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen“ ist, daß alle Staaten Klassenstaaten sind, daß es so etwas wie einen „neutralen“ Staat gar nicht gibt. Und sie waren noch weitergegangen. Sie waren dahingelangt, ihre eigene ursprüngliche Position zurückzuweisen, wonach die sozialistische Revolution unvermeidlich sei, und wandten sich dem „friedlichen“ parlamentarischen Weg zum Sozialismus zu.

Die Weimarer Republik war jedoch genauso ein Produkt des gewaltsamen Sturzes des vorangegangenen Staates gewesen wie die russische Sowjetrepublik. Das Deutsche Reich war durch meuternde Soldaten und bewaffnete Arbeiter gestürzt worden, nicht durch Wahlen. Das gleiche galt auch für die Nachfolgestaaten von Österreich-Ungarn. Die Revolution war gekommen, trotz der Sozialdemokraten. Nun setzten sie ihre ganzen Energien ein, um den bürgerlichen Staat wiederherzustellen. Die viel weitergehende Umwandlung, die Zerstörung des Kapitalismus, sollte nach den Vorstellungen der sozialdemokratischen Rechten vermittels der gewöhnlichen Mechanismen der bürgerlichen Demokratie erzielt werden, nachdem der bürgerliche Staat mitsamt seiner Armee und seiner Polizei wiederhergestellt worden war!

In Wirklichkeit bedeutete dies die Aufgabe des Sozialismus. Es war für die SPD-Führung politisch und psychologisch unmöglich, dies bereits 1919 zuzugeben. Als sie das schließlich tat, vierzig Jahre später auf dem Bad Godesberger Parteitag von 1959, zog sie damit nur die logischen Schlußfolgerungen ihrer Handlungen von 1914 und 1919. Die Theorie wurde schließlich der Praxis angepaßt.

Die Dritte Internationale bekräftigte in ihrer „Plattform“ von 1919 unzweideutig die marxistische Position. „Der Sieg des Proletariats liegt in der Desorganisation der feindlichen, der Organisation der proletarischen Macht; er besteht in der Zertrümmerung des bürgerlichen, im Aufbau des proletarischen Staatsapparates.“ [28] Vom Sozialismus durch das Parlament konnte keine Rede sein. 1917 hatte Lenin zustimmend Engels’ Aussage zitiert, wonach das allgemeine Wahlrecht „ein Maßstab für die Reife der Arbeiterklasse [ist]. Mehr kann und wird es nie sein im heutigen Staat ...“ [29] „Auch die demokratischste bürgerliche Republik war niemals etwas anderes und konnte niemals etwas anderes sein als eine Maschine zur Unterdrückung der Werktätigen durch das Kapital, ein Werkzeug der politischen Macht des Kapitals, die Diktatur der Bourgeoisie.“ [30]

Die Arbeiterrepublik, auf der Grundlage von Arbeiterräten, war demokratisch. „Das Wesen der Sowjetmacht liegt darin, daß die Massenorganisation gerade der Klassen, welche von den Kapitalisten unterdrückt wurden, d.h. der Arbeiter und Halbproletarier (der Bauern, die keine fremde Arbeit ausbeuten und die ständig zum Verkauf wenigstens eines Teils ihrer Arbeit gezwungen sind), die ständige und einzige Grundlage der ganzen Staatsmacht, des ganzen Staatsapparats ist.“ [31] Das war ein etwas verschönertes Bild von Rußland. sogar für 1919, aber die „Abweichungen“ erklärte man mit der Rückständigkeit des Landes, dem immer noch tobenden Bürgerkrieg und der Intervention fremder Mächte. Der nachfolgende Sieg des Stalinismus ermöglichte es den Sozialdemokraten, die Wahrheit zu vernebeln – nämlich daß Arbeitermacht die Herrschaft der Arbeiter durch ihre eigenen Organisationen bedeutet. Ohne Demokratie innerhalb dieser Organisationen können die Arbeiter nicht herrschen. Und ohne die Herrschaft dieser Organisationen im institutionalisierten Rahmen eines Arbeiterstaates können die Arbeiter ebensowenig herrschen.

Heute sind es nicht nur oder nicht einmal in erster Linie die Sozialdemokraten, die darüber Lügen verbreiten, obwohl sie mit der ursprünglichen Verfälschung in den 20er Jahren den Weg bereiteten. Zwei überaus mächtige herrschende Gruppen haben ein vitales persönliches Interesse daran, die Idee zu begraben, daß Arbeiterräte, Sowjets, eine Arbeiterrepublik, eine Sowjetrepublik bedeuten, daß die tatsächlichen Produzenten aller Güter, die wir alle brauchen, kollektiv und demokratisch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen bestimmen und dementsprechend die gesamte Gesellschaft gestalten.

Diese Gruppen sind auf der einen Seite die kleine Clique von Spitzen-Bürokraten, die die UdSSR beherrschen, und ihre Verbündeten, Satelliten und Nachahmer, und die herrschende Klasse der USA, mit ihren Verbündeten, Satelliten und ideologischen Vorkämpfern. Diese Leute reden gewöhnlich davon, daß „die Sowjets“ dies oder jenes tun. In Wahrheit gibt es keine Sowjets in Rußland, und es hat auch seit den frühen 20er Jahren keine mehr gegeben. Der „Oberste Sowjet“ und die anderen Körperschaften der UdSSR, die den Namen „Sowjet“ tragen, sind keineswegs Organe der Arbeitermacht, wie sie durch die revolutionären Arbeiter von 1917 aufgebaut wurden. Es dient jedoch den Interessen der herrschenden Bürokraten der UdSSR, diese Lüge am Leben zu halten – ihr Anspruch auf die Erbschaft der Arbeiterrevolution von 1917 wird benutzt, um ihre Herrschaft über die Arbeiter zu rechtfertigen. Es dient auch den Interessen der herrschenden Klassen des Westens, die Sowjets, die Arbeitermacht mit deren Gegenteil zu identifizieren – der bürokratischen Diktatur über die Arbeiterklasse. Leider sind viele auf der Linken in verschiedenem Ausmaß auch bereit, diesen von Moskau und Washington gleichermaßen vertretenen Rahmen zu akzeptieren. Natürlich gab es nichts dergleichen im März 1919.

Die Delegierten, die in Moskau zusammengekommen waren, hatten die neue Internationale auf der Basis des kompromißlosen Internationalismus, eines entschiedenen und endgültigen Bruchs mit den Verrätern von 1914, auf der Basis der Arbeitermacht, der Arbeiterräte, der Verteidigung der russischen Sowjetrepublik und der Perspektive der Revolution in Zentral- und Westeuropa in der nahen Zukunft gegründet. Die Aufgabe bestand nun darin, jene Massenparteien zu schaffen, die das alles verwirklichen könnten. Die Mittel dazu standen bereit. Zentristische Führer, solche wie die, die die Zimmerwalder Konferenz einberufen hatten, kontrollierten die italienische Partei und sollten sich bald der französischen bemächtigen. Die deutsche USPD sollte bald 800.000 Mitglieder erreichen. Überall in Europa entwickelten sich große zentristische Bewegungen als Ergebnis des riesigen Zustroms von Arbeitern, die durch den Horror des Weltkriegs radikalisiert worden waren. Ihre Mitglieder mußten für den Kommunismus gewonnen werden.

Die Fundamente waren gelegt worden. Der Kampf gegen die zentristischen Führer war jetzt die unmittelbare Hauptaufgabe, und zwar eine sehr dringliche. Denn „zentristische“ Massenorganisationen (im Gegensatz zu kleinen Gruppen) sind von Natur aus instabil. Mit ihren Schwenks zwischen einem klaren reformistischen Kurs und einem klaren revolutionären Kurs sind sie ein typisches Produkt massenhafter Radikalisierung, wie sie die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kennzeichnete. Aber sie sind nur ein vorübergehendes Produkt. Wie Trotzki schrieb: „Die Massen bleiben nie sehr lange in diesem Übergangsstadium: Zeitweise scharen sie sich um die Zentristen, gehen dann weiter und schließen sich den Kommunisten an oder gehen zurück zu den Reformisten – es sei denn, sie versinken in Gleichgültigkeit.“ [32]

 

 

Anmerkungen

Mit * versehene Zitate konnten aus Zeitgründen nicht endgültig;ltig in deutschen Originaltexten geortet werden. Sie sind also aus dem Englischen übersetzt worden.

1. Degras, Die Kommunistische Internationale, Bd.1-4, Politladen GmbH, Erlangen 1973, Nr.1, S.60 u. 52.

2. Protokolle des 1. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Reprint Karl Liebknecht Verlag, Erlangen 1972, S.135.

3. Die Kommunistische Internationale, Bd.1, Nr.1, S.20.

4. Lenin, Werke, Bd.28, S.469.

5. Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19, Kindler Verlag GmbH, München 1979, S.164. Chris Harman, Die verlorene Revolution: Deutschland 1918-1923 (edition aurora, Frankfurt a.M. 1998) gibt die bei weitem beste Darstellung jener Tage und Ereignisse bis 1924 in Deutschland.

6. Lenin, Werke, Bd.21, S.27.

7. Schorske, Die große Spaltung – Die deutsche Sozialdemokratie von 1905-1917, Olle & Wolter 1981, S.116.

8. Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd.1-3, S.205f.

9. Schorske, S.19

10. Bell, Marxian Socialism in the United States, Princeton 1967, S.71-2.

11. Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1965, S.70.

12. Karl Liebknecht, Der Hauptsfeind steht im eigenen Land!, Gesammelte Reden und Schriften, Dietz Verlag, Berlin 1972, Bd.8, S.230.

13. Trotzki, Mein Leben, Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1980, S.206

14. Lenin/Sinowjew, Gegen den Strom, Verlag der Kommunistischen Internationale. Carl Hoym, Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1921, S.492f.

15. Kautsky, Der Weg zur Macht, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 1972, S.52.

16. Zit. in J.H. Plumb, England in the Eighteenth Century, London 1963, S.97.

17. Abendroth, a.a.O., S.71.

18. Lenin, Werke, Bd.21, S.238.

19. Resolution der Zimmerwalder Linken *

20. Trotzki, Mein Leben, S.219.

21. Lenin, Werke, Bd.21, S.390.

22. Lenin, Werke, Bd.21, S.393.

23. Lenin, Werke, Bd.22, S.181f.

24. Borkenau, World Communism,* Ann Arbor 1962, S.91-2.

25. Oliviera, A People’s History of Germany,* London 1942, S.93.

26. Die Kommunistische Internationale, Bd.1, Nr.1, S.35.

27. Oliviera,* S.97.

28. Die Kommunistische Internationale, Bd.1, Nr.1, S.25.

29. Lenin, Werke, Bd.25, S.405.

30. Lenin, Werke, Bd.29, S.300.

31. Die Kommunistische Internationale, Bd.1. Nr.1, S.25f.

32. Trotzki, Was ist Zentrismus?* in Writings 1930.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003