Chris Harman

Das ist Marxismus


Warum wir eine marxistische Theorie brauchen


„Wozu brauchen wir eine Theorie? Wir wissen, daß es eine Krise gibt, daß uns unser Boß ausnimmt und alle sauer darüber sind. Wir wissen, daß wir den Sozialismus brauchen. Alles andere ist Sache der Intellektuellen.“

Solche Worte hört man oft von kämpferischen Sozialisten und Gewerkschaftern. Diese Ansichten werden auch gezielt von den Gegnern des Sozialismus unterstützt, um den Eindruck zu erwecken, der Marxismus sei eine schwer verständliche, komplizierte und langweilige Lehre.

Sie sagen, sozialistische Ideen seien „abstrakt“. In der Theorie mögen sie ganz gut aussehen, aber im wirklichen Leben kämen wir besser ohne sie aus.

Was uns am meisten an diesen Argumenten stört, ist, daß die Leute, die sie vertreten, sehr wohl eine eigene Theorie haben, auch wenn sie das nicht so nennen. Stelle ihnen ein paar Fragen über die Gesellschaft, und sie antworten Dir mit Sätzen wie diesen:

„Die Menschen sind eben egoistisch.“

„Jeder kann nach oben kommen, wenn er nur hart genug arbeitet.“

„Gäbe es die Unternehmer nicht, dann hätten wir keine Arbeit.“

„Wenn wir die Arbeiter erziehen könnten, würde die Gesellschaft ganz anders aussehen.“

„Der moralische Verfall hat die Gesellschaft so weit heruntergebracht.“

Man hört solche Argumente auf der Straße, im Bus oder in der Kantine. Jeder hat seine eigene Ansicht darüber, warum die Gesellschaft so ist, wie sie ist, und wie die Menschen ihr Leben verbessern können.

Solche Ansichten sind „Theorien“ über die Gesellschaft.

Wenn Leute sagen, sie hätten keine Theorie, dann sagen sie in Wirklichkeit, daß sie unklare Vorstellungen haben.

Das ist besonders gefährlich für jeden, der die Gesellschaft verändern will.

Zeitungen, Radio und Fernsehen füllen ununterbrochen unsere Köpfe mit Erklärungen für das Chaos in dieser Gesellschaft. Sie hoffen, daß wir ihnen glauben und nicht weiter über die Gründe nachdenken.

Aber man kann nicht für eine bessere Gesellschaft kämpfen, ohne sich klarzumachen, was an all diesen Argumenten falsch ist.

Vor 130 Jahren begann Karl Marx mit seiner Kritik. Selten haben die Ideen eines Menschen so großen Einfluß auf die Geschichte gehabt wie gerade die von Karl Marx. Obwohl er inzwischen schon über 100 Jahre tot ist – er starb 1883 – beeinflussen seine Schriften immer noch das Handeln zahlreicher Menschen in allen Erdteilen. Zusammen mit seinem engsten Lebens- und Kampfgenossen Friedrich Engels ist Marx der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus.

Er wußte, daß eine Veränderung der Gesellschaft nicht ohne ein gewissenhaftes, sorgfältiges Studium der Geschichte und der Gegenwart möglich ist. Er untersuchte die Gesetze des Kapitalismus, um ihn besser bekämpfen zu können. Anders als viele Sozialisten seiner Zeit begnügte er sich nicht damit, ein besseres, „alternatives“ Weltbild zu entwerfen und die Menschen zu diesem zu bekehren. Es gab viele Menschen zu seiner Zeit, die revolutionäre Ideen hatten, die so mutig und entschlossen waren wie er.

Aber es gab keinen, der den Feind der Arbeiterklasse so gründlich studierte, der die Theorie der Revolution so weitblickend zu einer Waffe im Klassenkampf gemacht hat wie gerade Marx.

Wenn wir Marxismus als Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus bezeichnen, dann vor allem deshalb, weil Marx den Sturz des Kapitalismus wissenschaftlich plante. Bürgerliche Geschichtsschreiber und Politiker seiner Zeit sahen in ihm den großen Rädelsführer, der mit seinen Ideen vom Klassenkampf das Volk aufhetzte und aufwiegelte.

Aber eine sozialistische Bewegung hatte es schon lange vor Marx gegeben. Im Grunde fast solange, wie Menschen von anderen Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden.

Als Marx noch ein Jugendlicher war, gab es in den damals am weitesten entwickelten Industrieländern England und Frankreich bereits eine große Arbeiterbewegung. Die Entwicklung der Industrie in Gegenden wie Nordwest-England zwang Hunderttausende von Männern, Frauen und Kindern, für einen erbärmlichen Lohn zu arbeiten. Sie mußten unter den elendsten und schmutzigsten Bedingungen leben.

Gerade in diesen ersten großen Industriezentren der Welt entstanden auch die ersten großen Massenorganisationen – Gewerkschaften und politische Parteien –, mit deren Hilfe sich die Arbeiter zur Wehr setzten. Und diese Bewegung brachte auch die ersten Gruppen kämpferischer Sozialisten hervor.

Ganz im Unterschied zu den auch heute noch so beliebten „Rädelsführer“-Theorien sehen wir, daß die sozialistische Bewegung nicht den Klassenkampf „erfand“, sondern daß zuerst der Klassenkampf der Unterdrückten da war und erst dadurch eine breite sozialistische Bewegung entstehen konnte. (Aus dem gleichen Grund ist es falsch, Karl Marx etwa als Erfinder des Klassenkampfes hinzustellen.)

Mit der Entstehung einer sozialistischen Arbeiterbewegung entbrannte unter den Sozialisten auch sofort der Streit um die Frage, wie denn die Arbeiterbewegung ihre Ziele erreichen könne.

Einige meinten, es wäre möglich, die Machthaber von einer friedlichen Veränderung der Gesellschaft zu überzeugen. Die moralische Stärke einer massenhaften friedlichen Bewegung sollte dafür sorgen, daß die Lage der Arbeiter sich bessere. Hunderttausende von Menschen demonstrierten und organisierten sich in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts in England auf der Grundlage solcher Vorstellungen. Am Ende zogen sie sich geschlagen und enttäuscht zurück.

Andere erkannten die Notwendigkeit für physische Gewalt im Kampf gegen die Herrschenden. Aber sie glaubten, daß kleine konspirative Gruppen – getrennt vom Rest der Gesellschaft – die richtige Organisationsform wären. Auch mit solchen Vorstellungen zogen Zehntausende Arbeiter in Kämpfe, die ebenfalls in Niederlagen und Enttäuschungen endeten. (Beide gehörten zur „Chartistenbewegung“.)

Wieder andere glaubten, daß die Arbeiter ihre Ziele am ehesten durch wirtschaftliche Aktionen wie Streiks ohne Konfrontation mit der Polizei und der Armee erreichen würden. Auch ihre Ideen führten zu Massenaktionen. Im Jahr 1842 fand in England der erste Generalstreik der Welt in den Industriegegenden Nordenglands statt. Zehntausende von Arbeitern hielten vier Wochen lang durch, bis Hunger sie wieder zur Arbeit zwang.

Ähnliche, wenn auch nicht so große und entwickelte Bewegungen gab es etwa zur gleichen Zeit in den Industriezentren Frankreichs, wie die Aufstände der Textilarbeiter von Lyon 1831 und 1834.

Marx konnte auf die Erfahrungen einer ganzen Kette gescheiterter Arbeiterkämpfe zurückblicken, als er 1848 seine Ideen im Kommunistischen Manifest zum ersten Mal niederschrieb. Er versuchte, eine Grundlage für all die Fragen zu schaffen, die die erste große Welle von Arbeiterbewegungen aufgeworfen hatte.

Diese Ideen sind nach wie vor wichtig. Es ist albern, zu behaupten, Marx’ Theorien seien veraltet, weil er sie vor über 130 Jahren niedergeschrieben hat. Tatsächlich sind die Vorstellungen über die Gesellschaft, mit denen Marx sich auseinandersetzte, immer noch weit verbreitet. So wie die erste Arbeiterbewegung der „Chartisten“ in England sich über die Frage „moralischer Stärke“ oder „physischer Gewalt“ auseinandersetzte und spaltete, so diskutieren heute Sozialisten über den parlamentarisch-friedlichen“ oder den „revolutionär-gewaltsamen“ Weg zum Sozialismus. Unter Revolutionären wird immer noch über den „Terrorismus“ gestritten – wie 1848.
 

Der Idealismus

Marx war nicht der erste, der den Versuch unternahm, die Ursachen menschlichen Elends zu beschreiben. Als er mit seiner Arbeit begann, entstanden überall neue Fabriken und neue Erfindungen brachten einen bis dahin ungekannten Reichtum hervor. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war es nun möglich, daß sich der Mensch mit Hilfe des technischen Fortschritts von der Übermacht natürlicher Katastrophen befreite.

Aber die neu geschaffenen Reichtümer kamen keineswegs der Mehrheit der Menschen zugute. Im Gegenteil: die Männer, Frauen und Kinder, die in den neuen Fabriken arbeiteten, führten im Vergleich zu ihren Großeltern, die noch das Land bestellt hatten, ein miserables Leben. Ihre Löhne reichten knapp für das nötige Brot. Periodische Massenarbeitslosigkeit drückte sie immer wieder unter dieses Lebensminimum. Sie waren zusammengepfercht in schmutzigen Slums, in denen schlimmste Seuchen ausbrachen.

Die Entwicklung der Zivilisation hatte, statt Wohlstand und Glück nur neues Elend gebracht.

Nicht nur Marx sah diese Widersprüche – sie beschäftigten große Denker wie die englischen Dichter Blake und Shelley, die Franzosen Fourier und Proudhon, die deutschen Philosophen Hegel und Feuerbach.

Hegel und Feuerbach nannten diese elende Lage der Menschheit Entfremdung.

Unter Entfremdung verstanden Hegel und Feuerbach, daß Männer und Frauen sich unterdrückt und beherrscht sahen durch alles, was sie selbst in der Vergangenheit getan hatten. Feuerbach wies darauf hin, daß die Menschen selber die Idee Gottes erfunden und entwickelt hatten, um sich dann dieser Idee zu unterwerfen, sich vor ihr zu verbeugen, sich klein und unwürdig zu empfinden, wenn sie es nicht schafften, so gut zu sein, wie ein Gott es von ihnen verlangte.

Je weiter die Gesellschaft voranschritt, desto elendiger, „entfremdeter“ wurden die Menschen.

In seinen frühen Schriften griff Marx diese Idee von der „Entfremdung“ auf und verwandte sie für das Leben derer, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen:

„Der Arbeiter wird ärmer, je mehr Reichtum er schafft, je weiter die Produktion sich ausdehnt. ... Mit dem wachsenden Wert einer Welt von Dingen entwickelt sich die Entwertung der Welt der Menschen ... Die Dinge, die die Arbeiter herstellen, begegnen ihnen wieder auf dem Markt (d.h. Kaufhäuser, Geschäfte usw.) als fremde, unabhängige Macht über sie.“

Zu Marx’ Zeiten war die populärste und verbreitetste Erklärung für das menschliche Elend noch immer religiöser Art. Das Elend der Gesellschaft, wurde gesagt, gebe es nur, weil die Menschen es nicht schafften, so zu leben, wie Gott es von ihnen verlange. Sie bräuchten nur die „Sünde“ zu überwinden, dann werde auch die Gesellschaft besser.

Eine ähnliche – scheinbar nicht-religiöse – Ansicht kann man auch heute oft hören: die Behauptung, daß wir zunächst uns selbst ändern müßten, um die Gesellschaft verändern zu können. Wenn die Menschen ihr „egoistisches“ oder „materialistisches“ Denken aufgäben, würde automatisch alles besser.

Eine damit eng verbundene Lehre setzte es sich zum Ziel, nicht alle Menschen, sondern die wichtigsten zu verändern, diejenigen, die die Macht haben.

Einer der ersten britischen Sozialisten, Robert Owen, versuchte, die Industriebesitzer zu bekehren, besser und freundlicher zu ihren Arbeitern zu sein. Diese Idee finden wir auch heute noch in der Sozialdemokratie, zum Beispiel, wenn sie die Unternehmer dazu aufruft, sich mit Preiserhöhungen zu mäßigen.

Und sehr viele Gewerkschafter führen die Schließung von ganzen Fabriken mit entsprechenden Massenentlassungen auf „Fehler“ der verantwortlichen Unternehmer oder Manager zurück – als ob eine Belehrung oder Diskussion die Großkonzerne davon überzeugen könnte, ihren eisernen Griff über die Gesellschaft zu lockern.

Marx nannte solche Anschauungen idealistisch. Nicht weil er dagegen war, daß Menschen Ideen haben, sondern weil er eine Denkart kritisieren wollte, die davon ausgeht, Ideen entstünden unabhängig und isoliert von der Art, wie die Menschen leben.

Die Ideen der Menschen sind eng verbunden mit ihrem Leben.

Nehmen wir zum Beispiel den „Egoismus“. Der heutige Kapitalismus schafft den Egoismus – selbst bei solchen Menschen, die die Nächstenliebe ganz groß schreiben.

Ein Arbeiter, der für seine Kinder das Beste will, merkt sehr schnell, daß er ständig gegen andere kämpfen muß: um einen besseren Job zu bekommen, Überstunden machen zu können, der erste in der Schlange der Arbeitssuchenden zu sein.

In solch einer Gesellschaft kann „Egoismus“ und „Habgier“ nicht durch moralische Predigten beseitigt werden.

Karl Marx benutzte ein anderes Bild, um die „Idealisten“, die Weltverbesserer seiner Zeit, bloßzustellen:

„Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen seien. Schlügen sie sich diese Vorstellungen aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassergefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte.“

So wie das Ertrinken der Menschen nicht Folge falscher Ideen über das Wasser und das Schwimmen ist, so ist das Handeln der Kapitalisten oder anderer Mächtiger in unserer Gesellschaft nicht die Folge falscher Vorstellungen. Deshalb ist es auch lächerlich, anzunehmen, man könne die Gesellschaft ändern, indem man die Ideen der Mächtigen an der Spitze beeinflußt.

Nehmen wir einmal an, es gelänge wirklich, einen Unternehmer für sozialistische Ideen zu gewinnen, und er würde daraufhin seine Arbeiter nicht mehr ausbeuten. Die einzige Folge wäre, daß er im Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmern den Kürzeren zöge und Bankrott machte.

Wir können die Frage auch anders stellen. Wenn Ideen die Gesellschaft verändern, woher kommen dann die Ideen? Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Ideen, wie sie täglich von der Presse, dem Fernsehen, Radio, Schulen usw. verbreitet werden, verteidigen diese Gesellschaft. Wie kann es dann überhaupt geschehen, daß es Menschen gibt, die trotzdem völlig andere Vorstellungen haben? Weil ihre täglichen Erfahrungen den herrschenden Ideen widersprechen.

Wie erklären wir es uns, daß heute viel weniger Menschen religiös sind als noch vor hundert Jahren? Wir machten es uns zu einfach, wenn wir das allein aus dem großen Erfolg antireligiöser Propaganda ableiteten. Man muß sich schon die Mühe machen und erklären, warum die Menschen heute eher bereit sind, atheistischen Ideen zuzuhören als vor 100 Jahren.

Oder: wenn man den Einfluß „großer Männer“ erklären will, muß man auch erklären können, warum Menschen bereit sind, ihnen zu folgen. Es reicht nicht, zu sagen, Lenin oder Napoleon hätten „Geschichte gemacht“, ohne zu erklären, warum Millionen Menschen bereit waren, zu tun, was sie vorschlugen. Sie waren keine Massenhypnotiseure. An einem bestimmten Punkt im Leben der Gesellschaft, glaubten die Menschen, daß das, was sie sagten, richtig sei.

Man kann nur dann verstehen, wie Ideen die Geschichte beeinflussen, wenn man in der Lage ist, zu erklären, woher die Ideen kommen, und warum Menschen sie akzeptieren. Und das heißt, man muß sehen, unter welchen materiellen Verhältnissen in einer Gesellschaft die Ideen aufkommen.

Deshalb bestand Marx darauf: Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das soziale Sein bestimmt das Bewußtsein.


Zuletzt aktualisiert am 29.12.2011