Chris Harman

Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung

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1. Die marxistische Theorie
der Frauenunterdrückung


Revolutionäre Marxisten unterscheiden sich von allen übrigen Menschen, die für die Befreiung der Frau eintreten, in einem wesentlichen Punkt. Wir glauben nämlich nicht, daß es schon immer Frauenunterdrückung gab – etwa wegen der biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder einer besonderen psychischen Veranlagung des Mannes. [1]

Wir sind der Meinung, daß die Unterdrückung der Frau zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte auftrat – nämlich damals, als sich die Gesellschaft in Klassen zu teilen begann. [2] Frauen werden in allen Klassengesellschaften unterdrückt. Es spricht jedoch vieles dafür, daß es eine solche Unterdrückung zumindest in einigen Vorklassengesellschaften nicht gab.

Der Grund, weswegen die Unterdrückung der Frau mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen einhergeht, ist ziemlich einfach. Die ersten Klassenunterschiede traten auf, als das Wachstum der Produktivkräfte die Menschen in die Lage versetzte, ein Mehrprodukt über das für das überleben der Gesellschaft notwendige Minimum zu erzeugen. Dieses Mehrprodukt reichte zwar nicht aus, um allen ein Leben über dem Existenzminimum zu gewährleisten, aber er war schon groß genug, um einigen ein solches Leben zu ermöglichen. Und das wiederum war die Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte und damit für die Zunahme von Zivilisation, Kunst und Kultur.

Somit leitete das wachsende Mehrprodukt die zunehmende Spaltung zwischen einer ausbeutenden und einer ausgebeuteten Klasse ein. Zum anderen ging das steigende Mehrprodukt mit einer zunehmenden Teilung der Arbeit einher. Diejenigen, die wichtige Positionen in dieser Arbeitsteilung hatten, begannen das Mehrprodukt zu kontrollieren und entwickelten sich zur ersten Ausbeuterklasse.

Zu diesem Zeitpunkt gewannen die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau eine neue Bedeutung. Frauen, von der Last des Kinderkriegens gedrückt, wurden vorrangig in gewisse produktive Rollen gelenkt und zugleich weg von solchen, die einen Zugang zum Mehrprodukt ermöglichten. Wenn eine Gesellschaft zum Beispiel von der einfachen Gartenwirtschaft, die Frauen trotz Schwangerschaft betreiben können, zum Ackerbau mit schweren Pflügen oder zur Viehzucht übergeht, werden Frauen tendenziell aus den zentralen produktiven R’ollen verdrängt, und somit gerät das Mehrprodukt unter die Kontrolle der Männer. [3]

Dort, wo sich voll entwickelte herrschende Klassen herausbildeten, spielten deren weibliche Mitglieder meistens eine untergeordnete Rolle – sie wurden tatsächlich als das Besitztum der männlichen Herrscher betrachtet. In unabhängigen Bauern- und Handwerkerhaushalten war es das gleiche Bild: Ein Mann (der Patriarch) kontrollierte den wechselseitigen Bezug zwischen Haushalt und Außenwelt, und seine Frau war ebenso seine Untergebene wie die Kinder und Diener. Die Ausnahme beweist die Regel: Eine Witwe, die den Platz ihres Mannes einnahm, herrschte über alle anderen Männer und Frauen des Haushalts. [4] Dort also, wo ihre produktive Tätigkeit ein vermarktbares Mehrprodukt hervorbrachte, stellten Frauen nicht selten althergebrachte Muster des stereotypen patriarchalen Haushalts in Frage. [5]

Somit befanden sich in vorkapitalistischen Klassengesellschaften Frauen aller Klassen unter der Herrschaft der Männer. Aber sie standen nicht unter der Herrschaft aller Männer. Denn auch gewisse Männer waren unterdrückt. Die männlichen Sklaven der Antike und die männlichen Knechte des patriarchalen Haushalts hatten nicht mehr Freiheit als die Frauen – selbst wenn einige der Männer des patriarchalen Haushalts hoffen konnten, eines Tages der Knechtschaft zu entkommen, indem sie den Platz des Patriarchen einnähmen.

Die Unterdrückung der Frau entstand überall auf der Grundlage der neuen Produktionsverhältnisse, die ihrerseits ein zwangsläufiges Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte waren. sie basiert also auf der materiellen Geschichte der Gesellschaft.

Nachdem die Produktionsverhältnisse zur Unterdrückung der Frauen geführt hatten, fand das natürlich auch seinen Ausdruck auf der ideologischen Ebene.

Die Minderwertigkeit von Frauen und ihre Unterordnung unter die Männer wurde immerfort als Teil der natürlichen Ordnung der Dinge betrachtet, gestützt durch ausgeklügelte Systeme von Glaubensvorstellungen, religiösen Ritualen, gesetzlichen Vorschriften, durch die Verstümmelung des weiblichen Körpers und so weiter. Man kann jedoch die Entstehung all dieser Mechanismen nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse verstehen.

Der Kapitalismus ist die revolutionärste Form aller Klassengesellschaften. Er bemächtigt sich der Institutionen früherer Klassengesellschaften und formt sie nach seinem Ebenbild um. Er verbeugt sich nicht vor ihren Hierarchien oder ihren Vorurteilen. Er schafft vielmehr neue Hierarchien in Opposition zu den alten und verwandelt alte Vorurteile vollständig, um sie in den Dienst seines Akkumulationsdrangs zu stellen.

So geschieht es mit allen Einrichtungen, auf die der Kapitalismus bei seiner Entstehung stößt, sei es organisierte Religionen, Monarchien, erbliche Kasten, Landeigentumssysteme oder Glaubensrichtungen. Der Kapitalismus stellt sie alle vor eine klare Alternative: entweder im Interesse der Kapitalakkumulation umgewandelt oder aber zerschlagen zu werden.

Genau das geschieht auch mit der Familie. Der Kapitalismus bemächtigt sich zwar bestimmter Elemente der vorkapitalistischen Familie. Aber er tut das, um sie völlig umzumodeln und seinen Bedürfnissen anzupassen.

Der Kapitalismus wird genauso wenig von dem Wunsch getrieben, die Familie zu erhalten (und mit ihr die Unterdrückung der Frau), wie er von dem Wunsch beseelt ist, Religion zu propagieren, Monarchien aufrechtzuerhalten oder obskurantistische Vorstellungen zu fördern usw. Er kennt nur eine Triebkraft: die Ausbeutung der Arbeiter zwecks weiterer Akkumulation. Die Familie ist wie die Religion und die Monarchie für den Kapitalismus nur insofern von Nutzen, wie sie ihm bei der Erreichung dieses Zieles hilft.

Gerade deshalb ist die kapitalistische Familie nicht etwas Festgeschriebenes, keine unveränderliche Einheit. Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest feststellten, bedeutet der Drang zur Akkumulation eine kontinuierliche Umformung der Institutionen, die der Kapitalismus selbst geschaffen hat:

Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht ... [6]
 

Die kapitalistische Familie

Der industrielle Kapitalismus ging in seiner Anfangsphase dazu über, nicht nur den vorkapitalistischen, patriarchalen Bauern- und Handwerkerhaushalt, sondern überhaupt den Familienzusammenhalt in der neuen Arbeiterklasse völlig zu zerstören. Dabei war es völlig egal, ob sich das mit alten Glaubenssystemen vertrug oder nicht. So reden Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von „der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier“. [7]

Jedoch fand die Kapitalistenklasse in ihrer Gesamtheit bald heraus, daß das die Basis für die weitere Akkumulation untergrub: Die Reproduktion der Arbeiterklasse war gefährdet. Es mußte ein Weg gefunden werden um sicherzustellen, daß sich die Arbeiter für die weitere Arbeit regenerieren und die nächste Arbeitergeneration so aufziehen konnten, daß auch sie den körperlichen und geistigen Erfordernissen der Lohnarbeit genügen würden.

Der Kapitalismus verfügte nicht über die notwendigen Ressourcen und die Technologie für eine vergesellschaftete Reproduktion (Kinderhorte und -gärten, kommunale Restaurants usw.). Deshalb waren die weitsichtigsten Vertreter der Kapitalistenklasse bemüht, eine neue Familienstruktur für die Arbeiterklasse zu schaffen. Diese sollte sowohl für die materiellen Bedürfnisse der gegenwärtigen Arbeitergeneration sorgen, als auch die Verantwortung für die Erziehung und Versorgung der nächsten Generation übernehmen.

Nachdem der Kapitalismus zunächst den alten patriarchalen Haushalt zerstört hatte, nahm er nun gewisse Elemente davon und schuf aus ihnen die neue Arbeiterfamilie. Natürlich nutzte er einen Großteil der mit dem alten patriarchalen Haushalt verbundenen Ideologie (religiöse Texte, Rituale usw.), um die neue Familie sowohl Arbeitern als auch einzelnen Kapitalisten schmackhaft zu machen. Das Motiv der Kapitalisten als gesamte Klasse war jedoch nicht patriarchale Ideologie, sondern ihr materielles Interesse an einer gesicherten Zufuhr von Arbeitskräften.

Die neue Arbeiterfamilie war im wesentlichen die Kleinfamilie, bestehend aus einem Mann, einer Frau und ihren Kindern. Vom Mann wurde erwartet, daß er ganztägig arbeiten ging und ausreichend verdiente, um der ganzen Familie ein minimales Auskommen zu sichern. Von der Frau wurde erwartet, daß sie sich darum kümmerte, die Arbeitskraft des Mannes wiederherzustellen sowie Kinder zu gebären und sie aufzuziehen.

Natürlich wurde die ideale Familie in der Praxis selten verwirklicht. Individuelle Kapitalisten waren nur selten bereit, ihren männlichen Arbeitern „Familienlöhne“ zu zahlen. Die Ehefrauen waren aufgrund des wirtschaftlichen Drucks gezwungen, jede Tätigkeit anzunehmen, die sie bekommen konnten (Knochenarbeit in Saisonbetrieben, Heimarbeit etc.), während sie gleichzeitig die Last der Kinderfürsorge und des Haushalts trugen. Und irgendwie stimmte das Ideal doch mit den Erfordernissen der langfristigen Akkumulation von Kapital überein. Diese Erfordernisse und nicht so sehr irgendeine patriarchale Verschwörung zwischen männlichen Unternehmern und männlichen Arbeitern erklärt, weshalb dies das Ideal war.

Die neue Arbeiterfamilie brachte in der Tat ideologische Vorteile für das System. Obwohl sich der männliche Arbeiter vom alten Patriarchen darin unterschied, daß er keinerlei Mehrprodukt kontrollierte, konnte er sich doch wenigstens für den alten Patriarchen halten: Er kontrollierte das Geld, von dem die ganze Familie leben mußte. Er konnte sich vorstellen, der Lohn gehöre ihm allein und er könne ihn nach seinem Belieben ausgeben. Er konnte glauben, Herr im eigenen Haus zu sein, obwohl er vom Standpunkt des Systems nur Herr über die Mittel war, die ihn und seine Kinder befähigten, Lohnsklaven zu sein bzw. zu werden.

Die neue Familie schuf eine Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse, da sie die männlichen Arbeiter dazu ermunterte, sich mit bestimmten Werten ihrer Ausbeuter zu identifizieren.

Gleichzeitig konnte die Frau, isoliert in ihren vier Wanden, leichter von den sozialen Bewegungen außerhalb abgeschnitten werden. Ihre Unterdrückung minderte über lange Strecken ihr Potential, gegen das System zu kämpfen, und machte sie dadurch empfänglich für konservative Vorstellungen der Gesellschaft. Institutionen wie die Kirche nutzten ihre Lage aus und versuchten, sie gegen jede soziale Veränderung aufzubringen.

Aus diesem Grund argumentierten Marx und Engels, daß die Befreiung der Frau ihre Einbeziehung in die gesellschaftliche Produktion voraussetze, auch wenn es sich dabei um kapitalistische Produktion unter extremsten Ausbeutungsverhältnissen handelte.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß die Frauen oder die Männer der Arbeiterklasse irgendeinen massiven Widerstand gegen die von oben aufgezwungene, neue proletarische Familie geleistet hätten. Einige Frauen widersetzten sich zwar, da sie aus relativ gut bezahlten Arbeitsplätzen hinausgedrängt wurden. Aber alles in allem mußte das Ideal der Familie – finanzielle Sicherheit für die Zeit der Kindererziehung – für Frauen attraktiv erscheinen, für die die Alternative nur heißen konnte: gefährliche Abtreibungen, wiederholte Fehlgeburten, täglich 12 Stunden in einer Fabrik schuften und danach die Versorgung der Kinder, oder aber selbstauferlegte Keuschheit. [8]

Das System schuf das Ideal der neuen Arbeiterfamilie nur, um die nächste Arbeitergeneration heranzuziehen. Wenigstens bedeutete dies . aber auch ein Interesse am Wohlbefinden der gegenwärtigen Generation von Proletariermüttern. Daher überrascht es nicht, daß der Widerstand der Proletarierinnen sich nicht so sehr gegen das Ideal richtete, sondern eher gegen das Versagen der Realität, dem Ideal zu entsprechen.

Frauen waren in der neuen Familienstruktur insofern unterdrückt, als sie in die Abhängigkeit von ihren Ehemännern getrieben und von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Aber immerhin wurde die Last des Gebärens und des Aufziehens der Kinder gemildert.

Für die Männer der Arbeiterklasse hatte die neue Familie auch Vorteile. Sie waren zwar für den Unterhalt der Familie verantwortlich (worüber sie sich oft genug beschwerten), im Gegenzug aber erhielten sie eine minimale Versorgung, die ihr gesundheitliches Wohlbefinden garantierte.

Sowohl für die Männer als auch für die Frauen der Arbeiterklasse hatte die Familie noch einen anderen Vorteil. Sie schien ein Zufluchtsort in einer Welt der Einsamkeit und psychischen Entfremdung zu sein. Als der Kapitalismus immer Arbeiter in die Städte sog, trennte er sie oft genug von ihren Freunden und Verwandten. Die Familie bot scheinbar einen Ausweg, Freundschaft und Zuneigung sicherzustellen. Obwohl das Ideal auch hier in der Realität versagte, konnte das die Menschen nicht davon abhalten, sich eben nach diesem Ideal zu sehnen. Die neue Familie war nicht, wie einige Feministinnen behaupten, das Ergebnis einer Verschwörung zwischen männlichen Kapitalisten und männlichen Arbeitern. Vielmehr war sie eine Reform zum Nutzen des Systems, mit der sich allerdings Arbeiter und Arbeiterinnen, die keine Möglichkeit sahen, dem System ein Ende zu setzen, leicht identifizieren konnten. Gerade aus diesem Grund konnten Reaktionäre die Losung von der „Verteidigung der Familie“ immer wieder mit Erfolg hervorkramen, um die Unterstützung der Arbeiter – Arbeiterinnen eingeschlossen – zu gewinnen.
 

Frauenunterdrückung im Kapitalismus

Die Art und Weise, wie die Kleinfamilie benutzt wird, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, bildet heute im Kapitalismus die materielle Wurzel für die Unterdrückung der Frauen der Arbeiterklasse. Der Kontakt der Frauen der Arbeiterklasse mit der Welt außerhalb ihrer vier Wände werden durch die Bürde der Kinderbetreuung und der Hausarbeit eingeschränkt. Das macht sie von den Männern der Arbeiterklasse abhängig.

Ohne den massiven sozialen Wandel, den die Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Kinderbetreuung voraussetzt, wird die Unterdrückung der Frau aus der Arbeiterklasse deshalb kein Ende finden. Natürlich findet die Unterdrückung nicht nur auf der materiellen Ebene statt. Es kommt ein ganz erheblicher Teil an ideologischen Faktoren hinzu. So hört die Unterdrückung nicht auf, wenn die Frau arbeiten geht oder sich entscheidet, keine Kinder zu kriegen, oder wenn ihre Kinder einmal erwachsen sind. Materieller und ideologischer Druck gehen Hand in Hand, z. B. wenn es darum geht, Frauen zu überzeugen, für einen Arbeitslohn zu arbeiten, den die meisten Männer nicht akzeptieren würden.

Wenn es um die Ideologie der Unterdrückung geht, muß auch noch ein weiterer Faktor berücksichtigt werden. Diese Ideologie wird nicht von der Arbeiterklasse selbst hervorgebracht, sondern muß ihr von oben aufgezwungen werden, von den Vertretern der Bourgeoisie. Wie Marx schon sagte, „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind die herrschenden Gedanken.“ [9] Wie sich Frauen und Männer der Arbeiterklasse sehen und zueinander verhalten, wird nicht nur von ihren eigenen materiellen Bedingungen bestimmt, sondern auch von der Ideologie, wie sie von der Familie der herrschenden Klasse erzeugt wird.

Im Kapitalismus gibt es – parallel zu der Unterdrückung der Frauen aus der Arbeiterklasse – auch eine Unterdrückung der bürgerlichen Frauen, dessen Ursprung und Inhalt sich jedoch von ersterer unterscheidet.

Die klassische bürgerliche Familie zeichnete sich dadurch aus, daß Frauen durch die Beschäftigung zahlreicher Hausangestellter von den Lasten der Kinderbetreuung größtenteils befreit waren, gleichzeitig aber keinerlei Rolle in der Produktion spielen durften. Ihre Ehemänner kontrollierten das Mehrprodukt, während sie selbst weitgehend als Ware, als Zierde für das Haus des Mannes, betrachtet wurden. Die Ehe war faktisch eine Form des Handels zwischen zwei von Männern beherrschten Familien. Die Frauen aus der herrschenden Klasse waren ans Haus gefesselt, aber in Untätigkeit und nicht in Plackerei, wie es der Fall bei den Frauen aus der Arbeiterklasse war.

Die dazugehörige Ideologie stellte Frauen als Wesen mit ganz anderen Qualitäten dar, als die des „fleißigen“, „selbstbewußten“, „aggressiven“ Mannes. Sie war das „passive“, „sanfte“, „umsorgende“, „emotionale“, „frivole“, „feminine“ Weib.

Eine solche Sicht entsprach überhaupt nicht der wirklichen Stellung der Frau aus der Arbeiterklasse, die zu Hause oder in der Fabrik schuften .oder sich als Hausmädchen verdingen mußte. Aber sie bot das Arsenal stereotyper Erwartungshaltungen, mit denen die Männer und Frauen nicht pur der herrschenden, sondern auch der Arbeiterklasse, einander begegnen sollten. Insofern sie die bestehende Gesellschaft als gegeben annehmen, stehen Arbeiter in der Tat immer unter einem enormen Druck, die von ihren Ausbeutern propagierte Weltanschauung zu übernehmen.

Wenn der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich wäre, würde er manchen Wunschtraum verwirklichen können, z. B. könnte er es sich leisten, Frauen als Ware zu besitzen. Die Frau aus der Arbeiterklasse würde ebenfalls über den „Erfolg“ phantasieren, der ihr zuteil würde, wenn sie nur jene Attribute der Weiblichkeit pflegen könnte, die die Frauen der Oberklasse angeblich besitzen (Zeitschriften und Seifenopern wecken diese Phantasien liebend gern in ihren Erzählungen von Frauen aus der Arbeiterklasse, die es geschafft haben, über ihrem Stand zu heiraten).

Das alles diente dazu, die wirkliche Situation der Arbeiterfamilie zu idealisieren, als etwas Heiliges zu betrachten, und erfüllte somit eine sehr reale Funktion für den Kapitalismus. Mit Hilfe dieses Mechanismus sollte die Arbeiterfamilie zusammen und das System am Laufen gehalten werden. Religion, Pornographie, Seifenopern, Frauenzeitschriften, das Gesetz – alles kam zusammen, um die Familie als notwendig und unvermeidbar, als die stabilste Institution in einer sich ständig wandelnden Welt erscheinen zu lassen.

Aber im Kapitalismus kann keine Institution auf die Dauer unverändert bleiben. Nichts ist so heilig, als daß es nicht durch den weiteren Fortschritt der Produktivkräfte revolutioniert werden könnte. Bereits wenige Jahrzehnte nach der Einrichtung der stereotypen Arbeiterfamilie setzte ihr allmählicher Untergang ein – bedingt durch Veränderungen in den materiellen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft.

Mitte des 19. Jahrhunderts erforderte die Reproduktion der Arbeitskraft von der durchschnittlichen Proletarierin acht bis zehn Schwangerschaften (in London starben 1850 fast 60% der Kinder vor dem sechsten Lebensjahr). Somit war die Frau letztlich ihr gesamtes Eheleben hindurch entweder schwanger oder mit der Kinderbetreuung beschäftigt.

Die Ausdehnung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus erzeugte jedoch als Nebenprodukt neue Techniken, die den nötigen Aufwand für die Wiederherstellung der Arbeitskraft radikal reduzierten. Fortschritte im Gesundheitswesen bedeuteten, daß weniger Kinder starben.

Es wurden neue Methoden der Geburtenkontrolle entwickelt, die den rohen und unmittelbaren Methoden aus der Kindheit des Kapitalismus weit überlegen waren. Zuerst kamen das Kondom und das Diaphragma und, in den frühen Sechzigern, die Pille und die Spirale. Die Geburtenrate ging zurück, und für Frauen der Arbeiterklasse wurde es jetzt möglich, sich von einem Teil der Lasten des Gebärens zu befreien, ohne den Bedarf des Systems an Arbeitskräften zu gefährden.

Nach und nach wurden auch neue Technologien in der Kindererziehung und der Versorgung von männlichen Arbeitern eingeführt: Die Waschmaschine, der Staubsauger, der Kühlschrank, die Ersetzung des Kohleofens durch moderne Heizungssysteme – all das hatte eine enorme Reduzierung der Plackerei im Haushalt zur Folge.

Eine Reihe von Autorinnen haben darauf hingewiesen, daß der Hausarbeit trotz allem immer noch die gleiche Langeweile anhaftete. Die Entfremdung der Frauen, die weiter ans Haus gefesselt waren, blieb die gleiche, vor allem, wenn sie sich um kleine Kinder kümmern mußten. Aber, anders als ihre Mütter oder Großmütter, wurde es für sie vorstellbar, eine Arbeitsstelle außerhalb des Hauses zu suchen. Wenn ihre Kinder erst einmal fünf oder sechs Jahre alt waren, konnten sie durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft genug verdienen, um sich Hilfsmittel zu leisten, mit denen die Langeweile und Plackerei, wenn auch nicht abgeschafft, so doch zurückgedrängt werden konnten (bezahlte Babysitter, Fertignahrung, Windeldienste, die Reinigung an der nächsten Straßenecke, die wöchentliche Fahrt zum Supermarkt statt der täglichen Runde durch die örtlichen Einzelhandelsgeschäfte usw.). Aus der Sicht der Kapitalakkumulation wurde die alte stereotype Familie sehr unrentabel. Die Frauen investierten jetzt mehr Arbeit im Haus als unbedingt nötig, um Arbeitskräfte für das System zu reproduzieren.

Wenn die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie acht oder mehr beträgt, ist es für das System wahrscheinlich wirtschaftlicher, die ganze Kinderversorgung im einzelnen Haushalt stattfinden zu lassen. Sobald aber die Zahl der Kinder auf etwa zwei gesunken ist, verdrehen sich die Verhältnisse. Für die Betreuung von sechs Kindern wird ein Kindergarten gewöhnlich einen Erwachsenen bereitstellen. Für jede zusätzliche Arbeitskraft in der öffentlichen Kinderbetreuung werden. folglich zwei weitere Frauen für die Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt freigesetzt. Das gilt vor allem, wenn die Frauen die Kinderbetreuung von ihrem eigenen Verdienst bezahlen müssen: Das System schöpft dann aus ihnen Mehrwert, ohne sich um die Finanzierung der vergesellschafteten Kinderbetreuung kümmern zu müssen.

Aus der Sicht des Spätkapitalismus ist eine Frau, die zu Hause bleibt und nur zwei Kinder und ihren Ehemann versorgt, eine Vergeudung potentiellen Mehrwerts. Die Tatsache, daß sie den ganzen Tag schuftet, ist kein Trost für das System; ihre Arbeit ist Arbeit, die effizienter getan werden könnte, wodurch sie für die Lohnsklaverei freigesetzt werden könnte.

Dies ist der Hintergrund für den langfristigen Anstieg der Zahl der Lohnarbeiterinnen. In Großbritannien arbeiten heute über die Hälfte der Ehefrauen, 1950 waren es weniger als ein Fünftel. Von den verheirateten Frauen im Alter von 20 bis 25 Jahren in den USA arbeiteten 1957 31% und 1968 43%. Dieser Anstieg setzte bereits in den 20er Jahren an. Daran änderte auch die Rezession der 30er Jahre nichts, ebenso wenig wie die ausgedehnte Krise seit 1973. [10] Obwohl auf den großen Zustrom von Frauen in bezahlte Arbeit während der beiden Weltkriege bei Kriegsende Maßnahmen folgten, um sie wieder durch Männer zu ersetzen, konnte dies den langfristigen, seit über einem halben Jahrhundert bestehenden Trend eines wachsenden Anteils an arbeitenden Ehefrauen nicht aufhalten.

Der kapitalistische Staat, dem die Aufgabe zufällt, die Grundbedingungen für die Kapitalakkumulation sicherzustellen, wurde überall auf der Welt gezwungen, auf diesen Wandel zu reagieren. Er mußte zunehmend flankierende Maßnahmen ergreifen, die die Familie bei der Reproduktion der Arbeitskraft ergänzten: diverse soziale Leistungen, Vorschulerziehung usw. [11]

Die Veränderungen kumulierten sich. Je mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt drängten, desto hartnäckiger verlangten sie nach der Bereitstellung von sozialen Einrichtungen, die das ermöglichen sollten. In dem Maße, wie sie unabhängige Einkommensquellen erschlossen, begannen sie auch, althergebrachte Vorstellungen von ihrer völligen Abhängigkeit vom Mann in Frage zu stellen. Sie begannen, wirksamere Verhütungsmittel und sichere Abtreibungen zu verlangen, wollten nicht mehr so viele Kinder bekommen, und ihre Ehemänner sollten einen Teil der Aufgaben im Haushalt übernehmen. Zunehmend waren sie es, die die Initiative ergriffen, unglückliche Ehen aufzulösen.

Im kapitalistischen System ereignet sich heute das, von dem Marx dachte, es würde schon hundert Jahre früher stattfinden: eine Tendenz zur Aushöhlung der Familie. Diese Tendenz wird sich wegen diverser gegenläufiger Faktoren jedoch niemals vollkommen durchsetzen:

  1. Die volle Vergesellschaftung der Kinderversorgung würde Investitionen in einem Ausmaß verlangen, vor dem das kapitalistische System selbst in Zeiten der Expansion zurückschreckt.
     
  2. Die Ideologie der Familie ist weiterhin für die Stabilität des Systems sehr wichtig. Der Glaube der Frauen, daß die Versorgung ihrer Kinder ihre vorrangige Aufgabe sein sollte, veranlaßt sie, für weniger Lohn als Männer zu arbeiten. Institutionen wie die Kirche die unter dem Slogan der Verteidigung der Familie die Isolation der Frau ausnutzen, stellen immer noch wertvollen ideologischen Ballast für das System bereit. So verabschieden Regierungen Gesetze gegen Abtreibung oder zögern bei der Liberalisierung des Scheidungsrechts, obwohl solche Fragen an und für sich ohne Belang für die wirtschaftlichen Bedürfnisse des Systems sind.
     
  3. Schließlich hat die neue Periode der Wirtschaftskrise seit Mitte der 70er Jahre den Arbeitskräftemangel vermindert und somit auch den Bedarf an einer stets wachsenden Zahl von Arbeiterinnen. Die Krise hat zugleich die Abhängigkeit des Systems von reaktionären, auf die Vergangenheit blickenden Kräften mit ihren Parolen von der Verteidigung der Familie verstärkt. Das alles konnte zwar an der steigenden Zahl der arbeitsuchenden Frauen nichts ändern, es hat aber das System davon abgehalten, die für die Arbeitsplatzbeschaffung notwendigen Investitionen zu tätigen.

Die Entwicklung der Produktivkräfte reichte aus, um die alten, von der Arbeiterfamilie verkörperten Beziehungen zu erschüttern, nicht aber zu zerschlagen.
 

Warum die Unterdrückung der Frau im Kapitalismus nicht abgeschafft werden kann

Ein Ende der Frauenunterdrückung wird ohne die Beendigung der privatisierten Reproduktion nicht möglich sein. Voraussetzung hierfür ist eine vollständige Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese kann es nur unter zwei Umständen geben:

  1. Wenn der Kapitalismus in eine neue Periode praktisch ununterbrochenen Wachstums der Produktivkräfte eintreten könnte – dann wäre das System durchaus in der Lage, die privatisierte Reproduktion durch vergesellschaftete, mechanisierte Hausarbeit und sogar durch die Errichtung von durchorganisierten Kinderkrippen des Brave New World-Typs usw. zu ersetzen.

    Aber schon die Alternative so zu stellen, bedeutet einzugestehen, wie unmöglich ihre Verwirklichung ist. Das System kann nicht in eine solche neue Wachstumsphase eintreten. Die Stagnation des Spätkapitalismus schneidet jeden Weg zur Befreiung der Frau durch eine Reform des Systems ab.
     
  2. Wenn eine sozialistische Revolution stattfindet – dann könnten einige der riesigen Ressourcen, die der Kapitalismus nur so vergeudet, dazu verwendet werden, die materielle Basis für die Vergesellschaftung der Kindererziehung und der Hausarbeit zu schaffen. Eine sich erhebende Arbeiterklasse würde solchen Maßnahmen erste Priorität einräumen, denn sowohl den Frauen als auch den Männern der Arbeiterklasse erschiene dies als eine wahre Wohltat. Natürlich wäre nach einer solchen Revolution das ideologische Erbe des Kapitalismus mit seinen vorherrschenden sexistischen Haltungen nicht auf einmal überwunden. Aber es wäre relativ leicht, gegen dieses Erbe anzukämpfen, wenn erst einmal seine materiellen Grundlagen zerstört wären.

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Anmerkungen

1. Diese Behauptung stieß auf mehr Widerspruch als beinahe jede andere bei denen, denen ich die erste Fassung dieses Artikels in die Hand drückte. Es wurde die Behauptung aufgestellt, die Ergebnisse der Anthropologie würden in Wirklichkeit zeigen, daß es Männerherrschaft und Frauenunterdrückung in allen Gesellschaften gebe. Leute wie Godelier wurden angeführt, wonach „wie dürftig unsere historischen und anthropologischen Quellen auch sein mögen, [...] können wir derzeit vernünftigerweise von der Annahme ausgehen, daß Männer bisher in letzter Instanz die Macht hatten. [...] In allen Gesellschaften, einschließlich der ernanzipatorischsten, existiert eine Machthierarchie, in der die Männer die höchsten Stellen besetzt halten.“

Solche Behauptungen sind bare Münze in der akademischen Anthropologie seit über fünfzig Jahren und, da die Anthropologie – ähnlich der ihr verschwägerten Disziplin der Soziologie – den Status einer Wissenschaft für sich in Anspruch nimmt, wurden sie sogar von vielen Marxisten übernommen. In Wirklichkeit allerdings ist die Anthropologie nicht viel mehr als eine Sammlung von Beobachtungen von Besuchern aus fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in verschiedenen vorkapitalistischen Gesellschaften. Man nicht ohne Weiteres annehmen, daß diese Beobachtungen Hinweise auf den Zustand der Gesellschaft vor der Entstehung von Klassen liefern, und zwar aus zwei Gründen:

  1. Die Anthropologen, die diese Beobachtungen gemacht haben, teilten fast ausnahmslos all die Vorurteile der kapitalistischen Gesellschaften, aus denen sie stammen. Sie sahen die „primitiven“ Völker durch diese stereotypische Brille, werteten ihr Benehmen nach Begriffen, die man auf das Benehmen von Menschen im Kapitalismus verwenden würde. (Eine hervorragende Darstellung der Vorurteile von Anthropologen wie Malinowski, Eyans Pritchard und Levi Strauss findet sich in Karen Sacks’ Sisters and Wives, S. 1–67.) Anthropologen haben folglich in der Kleinfamilie, in der ein Elternpaar Kinder zeugt, ein unveränderliches Merkmal aller Gesellschaften gesehen – dies, obwohl die Rolle, die die Mann-Frau-Beziehung z. B. in einer Gesellschaft von Jägern und Sammlern spielte, sich von der im heutigen Großbritannien merklich unterscheidet. Levi Strauss und seine Anhänger sprechen z. B. von einem „Frauentausch“ in Gesellschaften, in denen Frauen einer Sippschaft in eine andere Sippschaft hineinheiraten, um ihr Leben fortan dort zu verbringen. Der Begriff „Tausch“ kann allerdings in seinem normalen Wortsinn nur verwendet werden, wenn von Handlungen in einer warenproduzierenden Gesellschaft die Rede ist. Geben und Nehmen haben in einer nicht-warenproduzierenden Gesellschaft eine ganz andere Bedeutung. Das beweist die Existenz von Gesellschaften, in denen die Männer nur außerhalb der eigenen Sippschaft heiraten dürfen und mit den Familien ihrer Frauen leben müssen. Gleicht dies einem „Männertausch“? Aber Levi Strauss läßt diese Fälle quasi unberücksichtigt. Wie Eleanor Leacock gezeigt hat, enthält Levi Strauss’ ca. 400seitiges Werk Elementary Structures of Kinship gerade eineinhalb Seiten, die sich mit solchen „matrilinealen“ Gesellschaften beschäftigen – und diese paar Seiten enthalten darüber hinaus vier grundsätzliche Sachfehler!

    Diese Fahrlässigkeit hat Leute wie Godelier nicht davon abhalten können, Levi Strauss’ Argumente zu akzeptieren. Dieser ehemalige Kollege von Althusser glaubt von sich, er habe die Arbeitswertlehre entkräftet, indem er zeigte, daß sie auf die vorkapitalistische Gesellschaft der Baruya in Neuguinea nicht anwendbar ist. (Siehe Salt currency and the circulation of commodities among the Baruya of New Guinea in Studies in Economic Anthropology, 1971; eine Kritik an Godelier aus feministischer Sicht ist zu finden in Barbara Bradbys Male Rationality in Economics in Critique of Anthropology, Doppelnummer 9–10, 1977.)
     
  2. Heute bestehende „primitive“ Gesellschaften können nicht einfach mit den Gesellschaften, in denen alle Menschen bis zur Entstehung von Klassengesellschaften vor etwa 6000 Jahren lebten, gleichgesetzt werden. Sie selbst haben im Verlauf der Jahre Veränderungen erlebt, zum Teil auch unter dem Einfluß von Klassengesellschaften, mit denen sie in Berührung gerieten. Zumindest einige sind „pseudo-archaisch“ – d. h. sie kannten einst ein höheres Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, von dem sie sich, durch die Umstände bedingt, wieder rückschreitend fortentwickelten, so z. B. ehemals Landwirtschaft betreibende Gesellschaften, die dann später von der Jagd und dem Sammeln lebten. (Beispiele finden sich in Levi Strauss’ The Concept of Archaism in Anthropology in Structural Anthropolgy, S. 101 ff.)

Man kann nicht bestehende Jagd- und Sammlergesellschaften mit den Gesellschaften des frühen Steinzeitalters gleichsetzen. Wie Rayna Rapp Reiter bemerkte:

„Wir können weder einfach die Lebensweise von bestehenden, nach Nahrung stöbernden Gesellschaften – wie die der Kung-Buschmänner im Kalahari, der Eskimos oder der australischen Ureinwohner – als Beispiele oder Abbilder der gesellschaftlichen Vorgänge betrachten, von denen wir annehmen, daß sie sich im Steinzeitalter ereignet haben, noch dürfen wir annehmen, daß die dezimierte und marginalisierte Existenz von Völkern, die an den Rand ihrer Umwelt durch Jahrtausende des Eindringens gedrängt wurden, ursprüngliche Merkmale aufweisen wird. (Siehe The search for origins in Critique of Anthropology, op. cit.)

Die Ausdehnung des Kapitalismus zu einem weltweiten System hat alle vorkapitalistischen Gesellschaften, mit denen er in Berührung geraten ist, umgewandelt. Vorkapitalistische Sammler-Jäger-Gesellschaften und Gartenbau treibende Gesellschaften stehen alle in einem mehr oder minder großen Ausmaß in Austauschbeziehungen mit der sie umgebenden kapitalistischen Welt (durch den Kauf und Verkauf von Waren, die Zurverfügungstellung von Arbeitskräften usw.). Dies hat zu grundsätzlichen Veränderungen ihrer internen Struktur geführt. Gleichzeitig haben fremde Institutionen (Regierungen, Kirchen, Schulsysteme) versucht, ihnen „zivilisierte“ Verhaltensregeln aufzuzwingen (wie z. B. kapitalistisches Eigentumsrecht, kapitalistische Heiratsformen usw.). Es verwundert nicht, wenn unter solchen Umständen viele der Merkmale der Frauenunterdrückung in „fortgeschrittenen“ Gesellschaften auch in den noch überlebenden „primitiven“ Gesellschaften zu finden sind. Die Art und Weise, in der Merkmale jener Gesellschaften unter dem Druck des Kapitalismus verzerrt wurden, machte es den Anthropologen umso leichter, soziale Kategorien aus unserer Gesellschaft (wie z. B. „Hierarchie“, „Unterordnung“, „Macht“ und „die Kleinfamilie“) auf diese anzuwenden. Eleanor Leacock hat versucht, diesen Vorgang anhand von zwei bedeutenden Beispielen, dem der Montagnais-Naskapi-Indianer und dem der Iroquois-Indianer, aufzuzeigen. (Siehe Women’s status in Egalitarian Societies, in Current Anthropology, Bd. 10 Nr. 2, Juni 1978, sowie Myths of Male Dominance, New York 1981.)

Diese vernebelnden Einflüsse waren so mächtig, daß manche Spezialisten zweifeln, ob wir überhaupt etwas über die Lage der Frauen in der Zeit vor dem Entstehen von Klassengesellschaften herausfinden können. (Siehe das Kommentar von Judith K. Brown zu Leacocks Argument in Women’s Status ..., op.cit.)

Etwas können wir allerdings schon lernen: Nämlich, daß es Gesellschaften gegeben hat, in denen sich die Stellung der Frau gegenüber dem Mann von der in u nserer (oder in irgendeiner anderen Klassengesellschaft) so wesentlich unterschied, daß der Begriff Frauenunterdrückung auf sie keine Anwendung finden kann. In den Jäger-Sammlergesellschaften der Montagnais-Naskapi, der Kung und der Mbuti und anderer waren Frauen an allen wichtigen Entscheidungen bis in die jüngste Vergangenheit beteiligt, hatten die Kontrolle über die eigene Sexualität und führten ein Leben auf der Grundlage gegenseitiger Kooperation mit anderen Frauen und Männern. (Siehe Leacock, op. cit.)

Über andere Sammler-Jäger-Gesellschaften gibt es viele Kontroversen. Wahrend Eleanor Leacock behauptet, daß Frauen einst einen hohen Status in allen solchen Gesellschaften innehatten, unterscheiden andere wie z. B. Ernestine Friedl zwischen Sammler-Jäger-Gesellschaften, die in erster Linie vom Sammeln (einer Arbeit, die vorrangig von Frauen erledigt wurde) als Hauptnahrungsquelle abhängig waren, und jenen, wie die Eskimos und die australischen Ureinwohner, in denen die Jagd (in erster Linie eine Tätigkeit von Männern) eine große Rolle spielt. In der zweiten werden Männer tendenziell mehr geachtet als Frauen. (Women and Men, An Anthropologist’s View, New York 1975)

Friedl weist jedoch darauf hin, daß sogar in diesen Sammler-Jäger-Gesellschaften, in denen die Aktivitäten der Männer höher bewertet werden als die der Frauen, es nichts gibt, das man mit der systematischen Unterdrückung von Frauen in Klassengesellschaften vergleichen könnte. Frauen spielen immer eine gewisse Rolle bei den wichtigsten Entscheidungen und haben die Freiheit, Ehemänner, mit denen sie nicht mehr zusammenleben können, zu verlassen.

„Sowohl Männer als auch Frauen können individuell über die Tagesroutine entscheiden [...] Männer und Frauen können gleichermaßen frei über den Tagesablauf entscheiden: Ob sie auf die Jagd oder zum Sammeln gehen wollen, und auch mit wem.“

Was für Jäger-Sammler-Gesellschaften gilt, gilt auch für manche Gartenbau betreibende Gesellschaften, d. h. Gesellschaften, in denen die Arbeit mit Hilfe einer Hacke und eines Stechers anstelle des Pflugs erledigt wurde. Obwohl die meisten von ihnen heute in das weltweite kapitalistische System integriert sind und für den Verkauf produzieren, spielten Frauen dort noch in jüngster Vergangenheit eine gänzlich andere Rolle als in Klassengesellschaften.

Der bekannteste Fall ist der der Iroquois. Seit Morgans Zeit (dessen Werk Ancient Society Engels zu seinem Der Ursprung der Familie inspirierte) waren Beobachter von dem Einfluß, den Frauen über die Entscheidungsfindung ausübten, immer beeindruckt.

Frauen scheinen eine relativ hohe Stellung in allen „matrilineal-matrilokalen“ Gesellschaften innegehabt zu haben (d. h. Gesellschaften, in denen die Sippschaft entlang der Verwandtschaftslinie mütterlicherseits berechnet wurde und in denen Männer bei der Sippschaft ihrer Frauen leben). Es wäre falsch, diese Gesellschaften als „Matriarchate“ zu bezeichnen (denn keines der beiden Geschlechter übt die gleiche Art von Herrschaft aus wie Männer in patriarchalen Gesellschaften), dennoch unterscheiden sie sich merklich von Gesellschaften, in denen die Macht das Monopol einer Minderheit von Männern war.

Archeologen wie Gordon Childe (siehe Man Makes Himself und What Happened in History) sind Engels gefolgt und haben argumentiert, daß alle Gesellschaften im Zeitalter der „Barbarei“ (der Begriff, den Morgan, Engels und Childe auf die frühen Gartenbaugesellschaften anwenden) diesem Muster entsprachen. Karen Sacks hat zwischen einer unteren Stufe dieser Gesellschaften, in der die „gemeinschaftliche Produktion“ vorherrschend war, und einer höheren Stufe, in der die Kontrolle in den Händen von „Sippschaftskorporationen“ lag, unterschieden. Im letzteren Fall führten die „großen Männer“, die ihre Macht durch das Heiraten mit mehreren Frauen und die Kontrolle über ihre Arbeitskraft vergrößerten. Aber sogar in diesem Stadium, argumentiert Sacks, stiegen Frauen mit zunehmenden Alter auf und wurden zu „Kontrolleuren von Arbeitskräften und Produktionsmitteln – als Schwestern, die die Sippschaftsangelegenheiten der Kinder ihrer Brüder kontrollierten, und als Mütter, die ihre eigenen Kinder und deren Produktionsmittel kontrollierten.“ Frauen selbst konnten gegebenenfalls zu „großen Männern“ werden, die sogar als „Ehemänner“ andere Frauen heirateten, um so die Kontrolle über deren Arbeitskraft zu erlangen (op. cit., S. 117–121).

Auch in diesen Gesellschaften war die Stellung der Frau also eine ganz andere als die der vollendeten Unterjochung, die mit der Teilung der Gesellschaft in Klassen einhergeht.

Eleanor Leacock hat durchaus recht, wenn sie schreibt:

„Mancherlei patrilineale Elemente, die sich in Gartenbau betreibenden Gesellschaften womöglich entwickelt haben, unterschieden sich ganz und gar vom patrilenealen System, wie es in Gesellschaften mit einer Klassenstruktur, Privateigentum und einer politischen Organisation entstand [...] Die patriarchale Familie, in der ein einzelner Mann die vollständige Kontrolle über einen Haushalt von Ehefrauen, Kindern und Dienern oder Sklaven hatte, findet nicht seinesgleichen in der vorpolitischen Welt.“

(Für eine weitergehende Diskussion dieser Themen siehe: Carolyn Fluer Lobban, A Marxist Reappraisal of Matriarchy, in Current Anthropology, Juni 1979; Alice Singer, Marriage, Payments and the Exchange of People, Man 8: 80–92, 1973: Martin K. White, The Status of Warnen in Pre-Industrial Society, Critique of Anthropology, Sonderausgabe 8–9, 1977. Evelyn Reeds Women’s Evolution ist bekannter als diese Quellen. Aber abgesehen von der Tatsache, daß sie darin glänzt, wenn es darum geht, die Art und Weise, wie Anthropologen kapitalistische Kategorien auf Vorklassengesellschaften aufgezwungen haben, zerstört sie ihr eigenes Argument durch wilde Spekulationen auf der Basis zusammengewürfelter und mißverstandener Daten aus einer Reihe von sehr unterschiedlichen Gesellschaften. Für eine eingehendere Kritik ihrer Ergebnisse siehe Eleanor Leacocks Besprechung von Myths of Male Dominance, op. cit.)

2. Siehe Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Für Versuche, Engels auf den neuesten Stand zu bringen, siehe Leacock, op. cit.; Sacks, op. cit.; Fluer-Lobban, op. cit.

3. Dies ist im Wesentlichen das Argument von Engels, das von Gordon Childe, op. cit., wieder aufgegriffen wurde. Mancherlei anthropologische Erkenntnisse in jüngster Vergangenheit scheinen diese Ansicht zu stützen. So bemerkt Aberle:

„Im allgemeinen steht das matrilineale System im Zusammenhang mit dem Gartenbau und in Abwesenheit von großen Aktivitäten, die von Männern ausgeführt oder koordiniert werden wie z. B. die Viehwirtschaft oder ausgedehnte öffentliche Bauwerke. Mit dem Einzug des Pflugs tendiert es dazu unterzugehen, und mit der Industrialisierung verschwindet sie ganz.“ (David E. Aberle, Matrilineal Descent in Cross Cultural Perspective, in David Schneider und Kathleen Gough (Hrsg.), Matrilineal Kinship)

Obwohl das matrilineale Prinzip nicht mit Matriarchat gleichzusetzen ist, existiert es tendenziell vor allem in Gesellschaften, in denen Frauen eine relativ hohe Stellung haben.

Die gleiche Ansicht ist in Sachs’ Arbeit zu finden. Sie hebt die Art und Weise hervor, in der die Unterordnung von Frauen mit der „Unterwanderung“ der „Sippschaftskorporationen“ durch den Aufstieg von Klassen und des Staates einhergeht.

Leacock betont die Entwicklung der Warenwirtschaft als bewegendes Moment der Untergrabung der sippschaftlichen Abstammung, die Frauen mehr Einfluß gewährt hatte. Diese Erklärung ist gültig für manche Gesellschaften, aber nicht für diejenigen, in denen Klassen durch die Differenzierung einer Schicht von Staatsbeamten oder einer priesterlichen herrschenden Schicht ohne die Entstehung einer Warenwirtschaft entstanden.

4. Das war der Fall in Europa im Mittelalter. Siehe z. B. Susan Cahn, Patriarchal Ideology and the Rise of Capitalism, International Socialism, Nr. 5 (neue Serie).

5. Dort, wo Frauen den Handel kontrollieren, wie z. B. in manchen westafrikanischen Gesellschaften, haben sie einen sehr hohen Status. Das Gleiche galt in manchen Perioden für bestimmte Gegenden Europas. Walter Scott bemerkte die hohe Stellung von Frauen (er nannte sie „Gyneokratie“) in manchen Fischerdörfern Schottlands, in denen sie den Fisch verkauften und die Familieneinkommen kontrollierten, weil ihre Ehemänner die meiste Zeit auf See waren. („Diejenigen, die die Waren verkaufen, schnüren das Portemonnaie, und die, die das Portemonnaie schnüren, beherrschen das Heim,“ The Antiquary, London 1907, S. 304.) Manche Anthropologen haben neuerdings ein ähnliches Phänomen in manchen Dörfern Galliziens in Nordwestspanien festgestellt.

6. [Karl Marx u. Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest,] in Marx/Engels-Werke, Berlin 1983, Bd. 4, S. 465.

7. ibid., S. 478.

8. Für eine Untersuchung der Arbeiterfamilie in der Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Ivy Pinchbeck, Women Workers and the Industrial Revolution, und Janet Humphries, The Persistence of the Working Class Family.

9. Die Deutsche Ideologie, in Marx/Engels: Ausgewählte Werke, Bd. 1 , Berlin 1986, S. 238.

10. Siehe Ruth Milkman, Women’s work and economic crisis: Some lessons of the Great Depression, Review of Radical Political Economy, 1976.

11. Siehe den Abschnitt Labour Power in the Long Boom in meinem Buch Explaining the Crisis, London 1984.


Zuletzt aktualisiert am 2. April 2019