Chris Harman

Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung

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4. Die Partei, die Arbeiterklasse
und die Frauenbefreiung


Revolutionäre Sozialisten bauen auf das, was wir von den Höhepunkten in der Geschichte des Klassenkampfes lernen können. Sie zeigen uns, daß sich die weniger unterdrückten Teile der Arbeiterschaft mit den stärker unterdrückten in einem gemeinsamen Kampf gegen alle Formen der Ausbeutung und der Unterdrückung vereinigen können. Weiße Arbeiter können dafür gewonnen werden, die Kämpfe schwarzer Arbeiter zu unterstützen, männliche Arbeiter können dafür gewonnen werden, die Kämpfe von Arbeiterinnen zu unterstützen, und Facharbeiter können dafür gewonnen werden, die Kämpfe ungelernter Arbeiter zu unterstützen.

Unser zentrales Argument – daß sich die Arbeiterklasse nur selbst emanzipieren kann und sich die ganze Gesellschaft in diesem Prozeß emanzipiert – ergibt sich aus dem, was in Zeiten des Aufschwungs im Kampf geschieht, und nicht in denen des Abschwungs, wenn all der ideologische Müll hochgespült wird.

Wir lassen die Dinge aber nicht einfach so stehen. Wir wissen, daß es auch in den düstersten Zeiten des Abschwungs einen Kampf innerhalb der Arbeiterklasse für die Prinzipien des Aufschwungs geben muß – für Solidarität, für die Einheit von weißen mit schwarzen und männlichen mit weiblichen Arbeitern. Nur so können wir eine Minderheit der Klasse auf die Auf gaben vorbereiten, die sich der Klasse als Ganzes stellen. Nur dann können wir sicherstellen, daß zu Beginn des nächsten Aufschwungs eine Führung innerhalb der Klasse existiert, die den Kampf bis zum Sieg voranbringen kann.

Kurz, wir haben das Ziel, im Abschwung den Grundstein einer revolutionären Partei zu legen.

Das wird uns nicht gelingen, wenn wir glauben, es gäbe eine bequeme Alternative – nämlich den Kampf gegen Rassismus und Sexismus den Organisationen der Unterdrückten zu überlassen. Die Partei selbst muß jede Unterdrückung aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder ethnischer Herkunft bekämpfen. Es gehört zu ihrer Aufgabe, für die Einheit der Klasse im Kampf hinzuwirken.

Die Parteimitglieder müssen als Menschen angesehen werden, die unter den weißen und den männlichen Arbeitern für die Interessen der schwarzen und der weiblichen Arbeiter argumentieren. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, daß sie in Zeiten des Abschwungs oft für eine kleine Minderheit sein werden. Sie müssen aber auch verstehen, daß sich ihre Lage ändern wird, sobald die Zeit des wirklichen Kampfes beginnt. Sie müssen lernen, sich aktiv an Arbeiterkämpfen zu beteiligen und gleichzeitig als Minderheit zu arbeiten, die für ihre offene Interessensvertretung der unterdrücktesten Teile der Klasse bekannt ist.

Das Argument von der Einheit der Klasse soll jedoch keinesfalls nur unter weißen und männlichen Arbeitern verbreitet werden. Es muß auch unter den unterdrücktesten Teilen der Klasse verankert werden. So ist es z. B. notwendig, sich bei den weißen Arbeiterinnen für die Interessen der schwarzen .Arbeiter und bei den schwarzen Arbeitern für die Interessen der Arbeiterinnen einzusetzen. Vor allem muß in jeder unterdrückten Gruppe von Arbeitern ein Kampf gegen bürgerliche und kleinbürgerliche Einflüsse geführt werden, vor allem gegen ihr Argument, daß keine Einheit mit den weniger unterdrückten weißen und männlichen Arbeitern möglich sei.

Jedes Mitglied einer revolutionären Organisation muß sich daher das Wissen über die Höhepunkte des Klassenkampf es aneignen, als Teile der weißen männlichen Arbeiterschaft für die Interessen der schwarzen und weiblichen Arbeiter gekämpft haben. Das Ziel ist es, eine Partei aufzubauen, die diese Erfahrung verkörpert.

Die unterdrückten Teile der Arbeiterklasse haben den Aufbau einer solchen Partei noch dringender nötig als die übrigen Teile. Denn ohne eine solche Partei kann der Kapitalismus nicht zerschlagen, und ohne die Zerschlagung des Kapitalismus die Unterdrückung nicht beendet werden.

Diejenigen, die die Perspektive des Aufbaus einer solchen Partei ablehnen, entweder weil „Männer Frauen anführen“ und „Weiße Schwarze anführen“, oder weil „der Kampf gegen Unterdrückung dem Kampf gegen Ausbeutung untergeordnet wird“, geben in Wirklichkeit „die Perspektive auf, die Unterdrückung an der Wurzel anzupacken. Bestenfalls reden sie von Protestbewegungen gegen die Unterdrückung, jedoch ohne die Aussicht, diese jemals beenden zu können.
 

Reformismus, Stalinismus und die Partei

Jedesmal, wenn die Parteifrage aufgeworfen wird, stoßen wir auf ein Problem. Leute, die Erfahrungen mit nichtrevolutionären Parteien haben, kommen leicht zu der Schlußfolgerung, daß alle Parteien abzulehnen seien. Dies war der Fall in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Der Anarchismus erhielt Auftrieb durch den bürokratischen Gradualismus der Sozialdemokratie. Leute, die in den 40er und 50er Jahren durch den prorussischen Stalinismus manipuliert worden waren, lehnten oftmals schließlich jede Form sozialistischer Politik ab. Die Erfahrung mit dem maoistischen Stalinismus in den 70er Jahren gab allen möglichen autonomen und separatistischen Strömungen Auftrieb.

Unsere Antwort auf solche Erfahrungen kann und darf nicht das Auf geben unseres eigenen Kampfes um die revolutionäre Partei sein. Wir müssen erklären, daß diese Erfahrungen das Ergebnis des Fehlens einer revolutionären marxistischen Organisation sind, die den Einfluß der Sozialdemokratie und des Stalinismus bekämpft.

Jedesmal, wenn revolutionäre Sozialisten die Frage nach der Partei aufwerfen, argumentieren unsere Gegner: „Aber Ihr vergeßt, daß die Selbsttätigkeit der Basis eine Voraussetzung für den Sozialismus ist.“ Am Anfang des Jahrhunderts war das das Argument der Gewerkschaftsaktivisten (der „Ökonomisten“), die gegen den Aufbau einer zentralisierten Partei in Rußland eintraten. Heute wird es oft von schwarzen Aktivisten oder Feministinnen verwendet, die gegen den Aufbau einer einheitlichen revolutionären Organisation sind. Lenin antwortete den „Ökonomisten“:

Erzählt weniger Platitüden über die Entfaltung der unabhängigen Aktivität der Arbeiter – die Arbeiter zeigen unendlich viel unabhängige revolutionäre Aktivität, die ihr gar nicht merkt – sondern seht vielmehr zu, daß ihr nicht die zurückgebliebenen Arbeiter mit eurer eigenen Nachtrabepolitik demoralisiert.

Das muß unsere Einstellung heute sein. Die Frage ist nicht, ob es Selbsttätigkeit gibt oder nicht. Es geht vielmehr darum, ob wir versuchen, diese in selbstbewußte Selbsttätigkeit zu verwandeln, ob es uns gelingt, die Beteiligten von der Notwendigkeit eines allgemeinen Kampfes zu überzeugen, damit sie ihr Ziel erreichen. Das bedeutet, daß man kämpfenden Frauen und schwarzen Arbeitern nicht nur sagen muß, daß sie gegen die eigene Unterdrückung angehen müssen – das wissen sie meistens schon, wenn sie den Kampf einmal auf genommen haben – sondern, wie sie kämpfen und wie sie gewinnen können. Das wird nicht gelingen, ohne das Argument von der Einheit mit männlichen bzw. weißen Arbeitern einzubringen.

Alle möglichen Kämpfe entstehen „unabhängig“ von der revolutionären Organisation. Es nützt diesen Kämpfen aber absolut nichts, wenn Revolutionäre sagen: „Diese Kämpfe sind unabhängig von uns, deshalb dürfen wir uns mit den Beteiligten nicht darüber auseinandersetzen, was sie tun müssen, um zu gewinnen.“ Im Gegenteil, es ist stets unsere Pflicht, solche Auseinandersetzungen zu führen. Denn wenn diese Kämpfe nicht von unseren Ideen beeinflußt werden, dann werden sie es von denen, die in jeder Gesellschaft allgemeine Gültigkeit besitzen – nämlich von den Ideen der herrschenden Klasse.

„Unabhängige“ Kämpfe entstehen fortwährend. Aber es existieren keine „unabhängigen“ Ideen. Es gibt Ideen, die die bestehende Gesellschaft stützen, und solche, die ihrem revolutionären Sturz dienen. Ideen, die zwischen diesen beiden entgegengesetzten Polen liegen, sind nicht „unabhängig“, sondern schlicht und einfach konfus.
 

Der Abschwung und die Gefahr der Bewegungstümelei

Wir haben oben erwähnt, wie der Abschwung im Klassenkampf seit Mitte der 70er Jahre viele Aktivistinnen der Frauenbewegung von einer Orientierung auf die Arbeiterklasse weg, hin zu einer Orientierung auf Reformismus und Separatismus geführt hat. Der Abschwung beeinflußte aber auch die Haltung von Aktivisten in revolutionären Organisationen verschiedener Länder.

Denn diese Aktivisten haben den plötzlichen Aufschwung von Ein-Punkt-Bewegungen zu einer Zeit erlebt, als sich die Masse der Arbeiter weiterhin auf dem Rückzug vor der kapitalistischen Offensive befand. So war es bei den Revolten der „marginali“ in Italien 1977, beim Aufflammen der Antiatomkraftbewegung in Frankreich und Deutschland in den späten 70er Jahren, dem antirassistischen Kampf in Großbritannien 1977/78 oder der Friedensbewegung der frühen 80er Jahre. Man konnte nur allzu leicht den Schluß ziehen, daß man die Arbeiterklasse vergessen könne und sich nur auf diese Bewegungen zu konzentrieren brauche.

Diese Bewegungen haben neue Schichten von Menschen in die politische Aktivität einbezogen. Da aber die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit nicht kämpfte, war es sehr schwierig, diese Menschen für eine marxistische Perspektive zu gewinnen.

Anstatt, daß die revolutionäre Linke neue Leute aus diesen Bewegungen gewonnen hätte, ist oft das Gegenteil eingetreten: Diese Bewegungen haben Mitglieder der revolutionären Linken für ihren, der Arbeiterklasse fremden Standpunkt gewonnen. Revolutionäre machten erste Zugeständnisse an die Vorstellung, die Ziele der Bewegung seien auch ohne die Aktion der Arbeiterklasse zu verwirklichen.

Das für solche Bewegungen typische Entwicklungsmuster erschwerte die Sache noch: Sie können blitzschnell entstehen, eben weil ihre Teilnehmer nicht in der Produktion verwurzelt sind. Umgekehrt bedeutet ihre mangelnde Verwurzelung, daß sie keine wirkliche Macht besitzen. Somit geraten diese Bewegungen in einen unaufhaltsamen Niedergang, sobald sie ihren Höhepunkt erreicht haben. Sie steigen wie eine Rakete auf und fallen dann wie ein Stein zu Boden.

Revolutionäre Sozialisten, die auf solche Bewegungen setzen, erhalten zuerst einen Auftrieb, werden dann aber durch den Niedergang demoralisiert.

Dann geraten die Aktivisten der Bewegung unter den Druck, sich nach rechts zu bewegen. Sobald sie entdecken, daß sie ihre Ziele nicht gegen die bestehende Gesellschaft durchsetzen können, machen sie an diese Zugeständnisse. Revolutionäre, die Zugeständnisse an die Argumente der Bewegung gemacht haben, werden von diesem Rechtssog mitgerissen.

Es ist schon schlimm genug, wenn man seine Politik in einer dynamischen, enthusiastischen und wachsenden Bewegung auflöst. Es ist aber noch schlimmer, wenn man das in einer müden, demoralisierten und zunehmend nach innen gerichteten Bewegung tut.

Dies erklärt den Zusammenhang zwischen „Bewegungstümelei“ und dem, was wir in unserer Tendenz den „Sumpf“ nennen – jenes Milieu von ehemaligen Linken, die nach rechts gedriftet sind und sich dem Reformismus, der Gewerkschaftsbürokratie und dem Mystizismus des feministischen Separatismus angepaßt haben.

Dem Sog nach rechts, dem ehemalige Aktivisten nachgegeben haben, kann man sich nur entziehen, wenn man die Grenzen aller Ein-Punkt-Bewegungen klar erkennt – egal wie wichtig die umkämpften Fragen auch sein mögen.

Wir müssen auf unserem Standpunkt bestehen, daß sie ihre Forderungen auf keinen Fall durchsetzen können, solange sie keine Verbindung zu den Kämpfen der Masse der Arbeiter herstellen. Das bedeutet, laut und deutlich für eine revolutionäre sozialistische Organisation einzutreten, die diese Verbindung in der Theorie und in der Praxis herstellt.

Theorien, die spezielle Kämpfe um Frieden, gegen Frauenunterdrückung oder gegen Faschismus vom allgemeinen Klassenkampf abtrefl!len, verhindern die Herstellung einer solchen Verbindung. Deshalb sind die Ideen des britischen Historikers und Friedensaktivisten E. P. Thompsons ein Hindernis im Kampf gegen den Atomkrieg. Deshalb behindern auch Patriarchats- und sozialistisch-feministische Theorien den Kampf um die Frauenbefreiung, genauso wie schwarznationalistische und separatistische Ideen den Kampf um die Befreiung der Schwarzen behindern.

Vertreter solcher Ideen mögen eine Zeitlang eine tragende Rolle spielen, indem sie Menschen ermuntern, sich gegen Teilaspekte des Systems zu wehren. Wenn aber ihre Ideen unangefochten bleiben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie den Kampf in eine Sackgasse führen.

Als revolutionäre Sozialisten müssen wir politisch sehr hart sein, wenn wir verhindern wollen, daß Aktivisten blindlings in den Sumpf geführt werden. Natürlich stehen wir auf der Seite der Friedensbewegung gegen den militärischen Apparat. Das heißt aber nicht, daß wir unsere scharfe Kritik an den Ideen Thompsons fallen lassen. In der gleichen Weise stehen wir auf der Seite aller Frauen, die sich gegen ihre Unterdrückung wehren, kennen aber keine falsche Zurückhaltung im unermüdlichen Kampf gegen die verfehlten Ideen des kleinbürgerlichen Feminismus. Nichts wäre verheerender, als verbale Formulierungen vorzubringen, die den Unterschied zwischen revolutionären Marxisten und solchen Leuten zudecken. Genau an diesem Punkt hat unsere Tendenz tiefe Meinungsverschiedenheiten mit Revolutionären, die mit ihren Organisationsvorschlägen das Unüberbrückbare zu überbrücken versuchen – die Idee von einer einheitlichen revolutionären Partei auf der einen und die separatistischen Vorstellungen eines Großteils der Frauenbewegung auf der anderen Seite. Sie reden von einer „unabhängigen Frauenbewegung“ , die „Teil einer allgemeinen Arbeiterbewegung sein muß“, von einer Bewegung, die „gesondert aber nicht getrennt“ von der revolutionären Partei ist, so daß „wir uns unabhängig organisieren aber Teil der allgemeineren sozialistischen Bewegung sind“. [32]

Solche Formulierungen sind extrem obskur. Bedeutet „Unabhängigkeit“ die Unabhängigkeit von der kapitalistischen Gesellschaft, vom Reformismus oder von den Ideen des revolutionären Marxismus? Wenn damit nicht Unabhängigkeit von den Ideen des revolutionären Marxismus gemeint ist, hat dann die revolutionäre Partei das Recht, in diese „unabhängige Bewegung“ zu intervenieren? Und wenn nicht, wie soll sie den Einfluß bürgerlicher und reformistischer Ideen auf die Frauenkämpfe bekämpfen?

Bedeutet diese Formulierung etwa, daß revolutionäre Sozialisten die Frauen der Arbeiterklasse getrennt von den Männern der Arbeiterklasse organisieren müssen? Das aber wäre extrem gefährlich, denn das würde heißen, sie losgelöst von den wichtigsten Kämpfen der Arbeiterklasse zu organisieren – Kämpfen, an denen meistens sowohl Männer als auch Frauen beteiligt sind (wenn auch in verschiedenen Verhältnissen, je nach Industriebranche).

Das endet damit, daß man Frauen der Arbeiterklasse dort organisiert, wo sie am unwahrscheinlichsten die Macht des kollektiven Handelns erfahren und das nötige Vertrauen gewinnen, um das System mitsamt seiner Ideologie von der Unterordnung der Frau unter den Mann herauszufordern. Man beschränkt sich auf das Zuhause oder die Nachbarschaft, da wo die Frauen in der Regel am atomisiertesten und isoliertesten sind, statt sich auf den Betrieb oder das Büro zu konzentrieren, wo sie die kollektive Macht ihrer Klasse zu entdecken beginnen.

Im günstigsten Fall beteiligt man sich an Bewegungen, die sich im Aufschwung befinden – bleibt aber in der Abschwungsphase in ihnen verfangen und ohne alternatives Kampffeld. Man klammert sich aber weiter an die „unabhängige Frauenbewegung“, hält sie aus Prinzip aufrecht, egal wie wenig Menschen durch sie tatsächlich mobilisiert werden. Dabei demoralisiert man sich selbst und auch etwaige Frauenkontakte.

Die mit einer solchen Perspektive arbeitenden Revolutionäre können es kaum vermeiden, sich von den herrschenden Vorstellungen in den Resten der Frauenbewegung anstecken zu lassen – von der Vorstellung, daß sich Ideen durch Bewußtseinsarbeit und nicht durch Kämpfe ändern, und von Vorstellungen, die die personenzentrierte Politik an die Stelle des Kampfes gegen das System setzen und deshalb zu immer größerer Passivität führen.

Das gesellschaftliche Sein bestimmt ja das Bewußtsein. Wenn man wichtigen Bereichen des Klassenkampf es fernbleibt, indem man auf „getrennter Frauenorganisation“ besteht, entfernt man sich zugleich von den Ideen, die aus diesem Klassenkampf entspringen. Man versinkt schließlich gegen den eigenen Willen im Sumpf.

Die getrennte Organisierung ist alles andere als eine Hilfe für Sozialistinnen, ihr Selbstbewußtsein in der Führung von Kämpfen zu entwickeln. Vielmehr hat sie den gegenteiligen Effekt. Sie bedeutet nämlich, daß man sich von der Führung in der übergroßen Mehrheit von Kämpfen abschneidet, die sowohl Männer als auch Frauen miteinbeziehen.
 

Unsere Erfahrung

Das sind keine Ideen, auf die unsere Tendenz allein auf der Grundlage theoretischer Diskussionen (so überaus wichtig diese auch waren) gekommen wäre. Sie passen zu unseren eigenen Erfahrungen als Organisation. Mehr als zehn Jahre lang hat unsere britische Schwesterorganisation Socialist Workers Party (SWP) eine eigene Frauenzeitschrift, Women’s Voice, herausgegeben, und sich eine Zeitlang auch bemüht, eine eigene Organisation, die Women’s Voice Organisation, aufzubauen. Schließlich jedoch kam die überwiegende Mehrheit der beteiligten Frauen zu dem Ergebnis, daß das der falsche Weg sei.

Sie fanden heraus, daß sie sich die ganze Zeit auf Fragen konzentrieren mußten, die die Schwäche der Frauen betonten und nicht ihre im Verlauf des Klassenkampfes aller Arbeiter erfahrenen Stärke . Als Frauen der Arbeiterklasse als Arbeiterinnen in Bewegung gerieten, machte Women’s Voice die Erfahrung, daß eine reine Frauenorganisation für eine effektive Intervention überhaupt nicht geeignet war. Streiks werfen immer die Frage nach Solidarität und Unterstützung durch Boykottmaßnahmen auf und können deshalb nicht als eine ausschließliche Frauenangelegenheit behandelt werden. Die Women’s Voice Organisation war deshalb immer nur in der Lage, bei auf Gemeindeebene aufkommenden Fragen (Schließung von Krankenhäusern, Abtreibung etc.) zu organisieren.

Solche Themen können natürlich eine wichtige Rolle beim Aufbau einer revolutionären Organisation spielen, aber nur, wenn eine Verbindung mit dem Kampf der organisierten Arbeiter hergestellt wird. Eine separate Organisation steht dieser Verbindung jedoch im Wege . Nicht das Führen hätten sie gelernt, meinten die Genossinnen, vielmehr sei die Erfahrung der Women’s Voice Organisation nur die des Hinterherhinkens hinter dem Hauptstrom des Kampfes gewesen. Die besten Genossinnen gelangten schließlich zu der Überzeugung, daß sie in ein Ghetto der reinen Frauenpolitik auf Gemeindeebene gepreßt worden seien, und daß dies ernste Konsequenzen für die gesamte Partei habe. Es koppelte den Kampf um Frauenbefreiung von der hauptsächlichen politischen Arbeit ab.

Die Partei als ganze diskutierte oder arbeitete selten an Fragen, mit denen sich die Frauen beschäftigten. Diese wurden den Women’s Voice-Gruppen überlassen. Genossinnen wurden auch nicht geschult oder ermuntert, eine führende Rolle in der Partei zu übernehmen. Stattdessen wurden sie losgeschickt, die Women’s Voice aufzubauen. So wurde eine ganze Generation von Frauen produziert, die unfähig waren, umfassend über sozialistische Politik zu reden und die nie dazu ausgebildet wurden, Ortsgruppen zu leiten, in Arbeitskämpfe einzugreifen oder überhaupt zu führen. Die Women’s Voice Organisation führte tendenziell nur zu einer männerdominierten SWP!
 

Aufbau im Abschwung

Jede Form von Bewegungstümelei birgt in sich noch die weitere Gefahr, daß man zum Schluß in den Ein-Punkt-Bewegungen nicht mehr einen Beitrag zum allgemeinen Klassenkampf sieht, sondern sie nach und nach immer mehr als einen Selbstzweck betrachtet.

Wenn man die Notwendigkeit für eine „unabhängige“ Frauen- oder Schwarzenbewegung betont, kann das leicht zu einer Art „Etappentheorie“ führen, wonach der Klassenkampf auf eine unbestimmte Zukunft verschoben wird, während man sich hier und j etzt auf andere Kämpfe konzentriert. Die Tatsache, daß in den USA die Mehrheit der Arbeiterklasse schwarz, spanischer Herkunft oder weiblich ist, führt dort zu der Meinung, Bewegungen dieser unterdrückten Gruppen müßten jeder Neubelebung des allgemeinen Klassenkampfes vorausgehen.

Hier wird aus einem möglichen Szenario für die Beendigung des Abschwungs ein zwingend notwendiges gemacht.

Es könnte sein, daß die Wiederbelebung des Kampfes in den USA – so wie in den 60er Jahren – außerhalb der Betriebe und Büros, außerhalb des Kerns der Arbeiterklasse stattfindet. Es ist aber genauso möglich, daß diese Wiederbelebung, so wie vor dem Ersten Weltkrieg und in den Jahren zwischen den Weltkriegen, von Kämpfen ausgeht, die weiße wie auch schwarze, männliche wie auch weibliche Arbeiter einbeziehen.

Aber wo auch immer sie ihren Anfang nimmt, sie wird nicht über einen bestimmten Punkt hinauskommen können, wenn nicht zumindest der Kern einer revolutionären Organisation existiert, die die Notwendigkeit betont, die gesamte Klasse, Weiße wie Schwarze, Männer wie Frauen, in den Kampf einzubeziehen. Wir müssen versuchen, diesen Kern heute zu schaffen, solange der Abschwung anhält. Wir werden das nicht leisten können, wenn wir handeln, als ob der Aufschwung bereits begonnen, bzw. auf diese und nicht auf jene Weise begonnen hätte.

Hier und heute existiert eine kleine Minderheit von Menschen, die sich für revolutionäre Ideen interessieren. An jedem Ort, an jedem Arbeitsplatz, an jeder Universität gibt es einzelne Individuen, die, aufgeschreckt durch die weltweite Krise, für die Argumente von revolutionären Sozialisten offen sind.

Der Schlüssel zum Aufbau eines Kerns einer revolutionären Organisation liegt darin, diese Individuen ausfindig zu machen und mit ihnen über allgemeine Perspektiven zu diskutieren.

Zum Teil wird man auf diese Individuen durch die allgemeine Propagandaaktivität der Organisation stoßen – durch den Verkauf der Zeitung, die Organisierung von öffentlichen Veranstaltungen usw.

Zum Teil wird man auf sie stoßen, wenn echte Bewegungen entstehen, die neue, junge Menschen zum ersten Mal in Aktivitäten verwickeln (im Gegensatz zu solchen Bewegungen, in denen sich lediglich die „lebenden Toten“, die gestrandeten Reste der Alt-68er wiederfinden).

Zum Teil wird man auf sie im Rahmen von Streiks stoßen, die auch in Zeiten des Abschwungs stattfinden. Hier stehen schwarze und weiße, weibliche und männliche Arbeiter Seite an Seite Streikposten und erfahren zum ersten Mal, welche Möglichkeiten der Klassenkampf und die Solidarität eröffnen.

Die Bewegungstümelei versperrt Revolutionären all diese Wege. Sie führt dazu, daß man neuen Anhängern den Eindruck vermittelt, die Zukunft liege bei den „Bewegungen“ und nicht im Aufbau einer Organisation, die einen Bezug zum Klassenkampf herstellt. Sie verleitet einen dazu, den Argumenten, die in einer Periode wie der heutigen ausgetragen werden müssen, einfach davonzulaufen.

Das Schlimmste daran ist, daß die Bewegungstümelei zwangsläufig demoralisierend wirkt auf Menschen, die ihre ganzen Kräfte in die Umsetzung großartiger, aber vollkommen unzeitgemäßer Pläne investiert haben. Nicht selten werden sie schließlich vom tiefsten Pessimismus erfaßt.

Jedes Unverständnis für die Zusammenhänge zwischen dem Kampf gegen Unterdrückung und dem Kampf gegen Ausbeutung, zwischen dem Aufbau der Bewegung und dem Aufbau der Partei wird ihren Preis verlangen. Der Preis ist, daß man die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten für den anfänglichen Aufbau einer revolutionären Organisation nutzlos verstreichen läßt.

Wir können in jeder Klein- oder Großstadt, in jeder Universität einzelne Individuen für die Aufgabe des Aufbaus einer solchen Organisation gewinnen – vorausgesetzt, daß wir uns selbst über die Möglichkeiten der Arbeitermacht im klaren sind und wir keinerlei Zugeständnisse an jene machen, die das Vertrauen darin verloren haben.

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Anmerkung

32. Die hier zitierten Formulierungen stammen aus Barbara Winslows Broschüre Revolutionary Feminism und aus verschiedenen Artikeln von Joan Smith. Es waren aber nicht die einzigen Versuche zur Quadratur des Kreises in den 70er Jahren – siehe die Diskussion über diese Frage in Women’s Voice und in den Internen Bulletins der International Socialists und der Socialist Workers Party von 1977–82.


Zuletzt aktualisiert am 11. September 2017