Chris Harman


Die Revolte in Argentinien und die globale Krise

(Frühling 2002)


Aus International Socialism Journal, Nr. 94, Frühling 2002.
Übersetzung von David Paenson, Tim Vanhoof, Thomas Walter.
Kopiert mit Dank von der ehemaligen Linksruck-Webseite.
HTML-Markierung: Einde O‘Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es gibt keinen Widerstand gegen den Neoliberalismus in Argentinien. Die Linke hat keinen Einfluss. Es gibt ein paar Streiks, aber sie stellen das System nicht in Frage.

Redebeitrag von einem argentinischen Linken auf einer Konferenz
Globalisierung und Widerstand im Frühjahr 2001 in London

Das Fernsehen sendete Bilder von Hunderten von Demonstranten, hauptsächlich Frauen und Kinder, vor einem Supermarkt, die laut schrieen, „Wir wollen essen! Wir wollen essen!“ ... Im Laufe des Tages wurden Hunderte Supermärkte im ganzen Land geplündert.

Die Regierung und Medien fingen an, über die „vorherrschende Anarchie“ zu sprechen und die Notwendigkeit, „die Ordnung wiederherzustellen“. Präsident de la Rua informierte die Bevölkerung im Fernsehen am Mittwoch, dass er den Notstand erklärt hatte. Bürgerrechte wurden suspendiert, Versammlungen von mehr als zwei Menschen wurden als subversiv betrachtet, die Massenmedien durften zensiert werden, der Apparat der Repression bekam Handlungs- und Verhaftungsfreiheit.

So bald er aufhörte zu reden, begannen einige Menschen, in ihren Häusern auf Kochtöpfe zu schlagen. Diese Art des Protests (cacerolazo) war am Ende der Militärdiktatur weit verbreitet. Dann kam der Protest auf die Straßen und wurde zur organisierten Aktion. Binnen einer Stunde forderten die Menschen den Notstand heraus.

Bis Mitternacht war der Plaza de Mayo voll von Menschen, und Tausende hatten den verzweifelten Ruf „Wir wollen essen!“ durch einen offensiveren ersetzt: „Que se vayan“ („Schmeißt sie raus!“). Sie bezogen sich nicht nur auf die Regierung, sondern auf das ganze politische Establishment. Sie skandierten Parolen gegen jeden der Hauptfiguren der traditionellen Parteien und sogar gegen einige Gewerkschaftsführer, die diesen Parteien nahestanden.

Die Polizei griff sie mit Pferden, Schlagstöcken, Schutzschildern, Tränengas und Gummigeschossen an. Der friedliche Protest der Bevölkerung wurde zum Schlachtfeld. Viele derjenigen, die sich auf dem Plaza de Mayo eingefunden hatten, waren noch nie auf einer Strassendemonstration gewesen. Es gab viele Kinder und alte Männer.

Am Anfang war er leicht für die Polizei, die Demonstranten einzukesseln und einzuschüchtern. Dann begann der Widerstand sich zu organisieren. Der Platz war voll mit Menschen, und die Treppe vor dem Parlamentsgebäude auch.

Ein paar Stunden nach dem Anfang der Protest wussten die Menschen, dass der Finanzminister Cavallo zurückgetreten war.

Dann fing am Donnerstag alles noch einmal von vorne an.

Bis Mittag kamen Menschen auf den Platz, der zum Schlachtfeld zwischen Volk und Regierung geworden war.

Da waren gut und schlecht bezahlte Arbeiter, mit den eigenen T-Shirts vermummte Studenten in kurzen Hosen, alte Damen mit Handtaschen, Straßenkinder, Büro- und Bankangestellte in Kragen und Schlips, Müllarbeiter im Uniform, Indígenos, Mütter mit Kindern – alle auf derselben Seite der Barrikaden.

Die Repression nahm zu. Die Polizei fing an, Bleikugeln zu verschiessen, wodurch viele Menschen getötet oder verletzt wurden. Die Demonstranten antworteten, indem sie McDonald’s, die Banken und andere Symbole des Kapitalismus und der Armut der Bevölkerung angriffen. Sie zündeten einige Gebäude und Fahrzeuge an. Der Kampf weitete sich auf die gesamte Stadt aus.

Am Mittag trat der Präsident zurück. Die Regierung brach zusammen.

Javier Carles, Bericht über die Ereignisse der 19-20 Dezember 2001 in Buenos Aires.

Als ich die Demonstrationszüge aus allen Vierteln der Stadt kommen sah, nachdem der Präsident den Notstand angekündigt hatte, dachte ich: Das ist wie der Fall der Mauer. Das ist der Fall der neoliberalen Mauer.

Demonstrant Ricardo Carcova, 20. Dezember 2001

Die gesellschaftliche und politische Krise in Argentinien hat die US-Regierung überrascht. Sie erwartete eine langsame, politisch steuerbare Abwicklung der Nichtzahlung der Staatsschulden. Niemand hatte ernsthaft an die Möglichkeit des politischen und gesellschaftlichen Chaos gedacht. Eine Woche nach der erwarteten Ankündigung der Nichtzahlung sieht es nicht mehr so leicht aus. Die USA befürchtet, dass die Instabilität sich auf andere Länder ausbreiten könnte ... Ein langjähriger amerikanischer Diplomat mit Erfahrung in der Region bemerkt: „Die Regierung Bush hat sich in diese Krise nicht eingemischt, weil sie keinen politischen Gewinn zu Hause darin gesehen hat. Vielleicht wird das anders, wenn sie sich plötzlich mit einer politischen und gesellschaftlichen Krise in der Hemisphäre konfrontiert sieht, weil dann ihre politische Gegner fragen können: Wer hat Südamerika verloren?“

Carlos Escude in der Buenos Aireser Zeitung La Nacíon, 3. Januar 2002


Die Explosion der Wut, die in den Straßen von Buenos Aires am 19.-20. Dezember erschien, hat nicht nur eine Regierung gestürzt. Sie zeigte auch, wie eine Wirtschaftskrise plötzlich eine potentiell revolutionäre Lage schaffen kann. In der Zeit danach ging die Präsidentschaft durch vier verschiedene Hände, bis sie bei Duhalde, dem Vizepräsidenten in den späten 80er Jahre und dann Ministerpräsidenten von Buenos Aires, gelandet ist. Wo ich sechs Wochen später schreibe, zeichnet sich keine Beruhigung des Aufruhrs auf der Straße ab. Es gibt Berichte über Caceralazo-Proteste in Buenos Aires und ähnliche Proteste in Dutzenden der Provinzstädte. Die Berichte auf der Website des Fernsehsenders Azul zu verfolgen, ist ein wenig so, als würde man Beschreibungen von Deutschland im Jahre 1923 lesen, im Jahre eines verfehlten revolutionären Aufstandes und des gescheiterten Hitlerputsches in München. In einem Ort nach dem anderen haben piqueteros Straßen blockiert, Hungrige marschieren in die Supermärkte ein und verlangen Lebensmittel, Menschen, deren Konten gesperrt wurden, lassen ihre Wut an den Bankfilialen aus. Der Chef der regierenden Partei im Senat hat öffentlich von der Möglichkeit eines „Bürgerkriegs“ gesprochen. Die Regierung hat die Rückzahlung der Auslandsschulden ausgesetzt, die Inhaber privatisierter Konzerne verbal scharf attackiert, sogar Polizei zur Kontrolle der Finanzen ausländischer Banken geschickt. Doch gleichzeitig versucht sie den IWF zu überzeugen, dass sie sich mit ihm irgendwie einigen wird, und will Banken im ausländischen Besitz beruhigen und glaubhaft machen, dass sie ihnen nicht absichtlich schaden will.

Wenige Beobachter glauben, dass die Regierung die Unzufriedenheit beruhigen kann, die gleichwohl in der Mittelschicht und in der Arbeiterklasse wütet, oder dass sie die Forderungen des internationalen Kapitalismus befriedigen kann. Wie jede Regierung mitten in fast revolutionären Unruhen wird sie zuerst in die eine Richtung gezogen, dann in die andere und wieder zurück, unfähig, eine konsequente Politik zu führen, unfähig, sich Gedanken über was anderes als das eigene Überleben zu machen.

Es ist noch zu früh, um klar zu sehen, wie die Lage sich entwickeln wird. Manche Kommentatoren haben vom „Zusammenbruch des Staates“ gesprochen. Das ist übertrieben. Die „Formationen bewaffneter Menschen“ des Staates waren am 20.Dezember in Buenos Aires noch in der Lage, mindestens 24 Demonstranten zu töten und in anderen Städten weitere 20. Sie haben Proteste – insbesondere in der Provinz – seitdem immer wieder angegriffen. Doch kann es keine Zweifel daran geben, dass die Autorität des Staates enorm geschwächt worden ist. Und das Militär, in der Vergangenheit so oft Schlichter in der Politik des Landes, war bisher nicht willens, sich einzumischen. Ein Offizier sagte Journalisten, „Auch wenn die Situation sich zur Anarchie oder zum Bürgerkrieg entwickelt, wird meine größte Sorge sein, wenn ich gebeten werde zu intervenieren, dass meine Männer meinem Befehl noch gehorchen.“

Dieser Zustand der Instabilität kann nicht ewig dauern. Die diversen Elemente innerhalb der argentinischen herrschenden Klasse versuchen verzweifelt, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, mit der sie die Kontrolle über die Ereignisse wiedererlangen und den Aufstand auf den Straßen beenden können. Sollen sie erfolgreich sein, werden sie ohne jegliche Zweifel alle Staatsgewalten einsetzen, um ihre Version der „Ordnung“ wieder durchzusetzen und sich gegen diejenigen zu rächen, die ihre Macht in Frage gestellt haben. Aber sie sind noch weit entfernt davon, das tun zu können. Im jetzigen Moment hat der argentinische Aufstand eine riesige Bedeutung für das globale System und für seine Opposition, die sich in den zweieinhalb Jahren seit Seattle entwickelt hat.
 

Präzedenzfälle in Argentinien

Wie in jeder großen Rebellion haben die Menschen in Argentinien auf ihr kollektives Gedächtnis zurückgegriffen. Dreimal im zwanzigsten Jahrhundert führten riesige Aufstände von unten zu Konflikten mit dem Staat, deren Ausgang sich jeweils jahrelang tiefgehende Wirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung hatte. Der erste große Kampf war im Januar 1919 – einem Jahr weltweiter revolutionärer Unruhen. Die Semaña Tragica (Tragische Woche) sah blutige Kämpfe zwischen Arbeitern und der Staatsgewalt in Buenos Aires.

Die Polizei lancierte einen schweren Angriff auf die Vasenaer Metallarbeiter, die sich seit einigen Tagen im Streik befanden. Etwa 200.000 von anarchistischen Gewerkschaftsführern angeführte Arbeiter zogen zum bestreikten Betrieb. Ein Schusswechsel brach aus, aber die Arbeiter konnten die Polizei überwältigen. Die Regierung befahl daraufhin das Militär in die Stadt, worauf andere, syndikalistische Gewerkschaften mit dem Aufruf zum Generalstreik antworteten. Der Streik war anfangs sehr effektiv, doch am Ende zeigte die schiere Repression Wirkung. Einzelne Gewerkschaften gaben auf, während Gruppen rechter Bürger gemeinsam mit der Polizei und dem Militär gegen die Arbeiterviertel vorgingen, wobei sie Gewerkschaftshäuser überfielen und Arbeiter ermordeten. Nach Angaben der sozialistischen Presse gab es am Ende 700 Tote und 4.000 Verletzte. Im folgenden Jahr brach das Militär syndikalistisch angeführte Streiks der Landarbeiter in Patagonien und richtete dabei 1.500 Streikende hin.

Das Ergebnis dieser Kämpfe hatte einen entscheidenden Einfluss auf das Muster der argentinischen Politik in den folgenden zwei Jahrzehnten. „Die Rolle der Gewerkschaften wurde allgemein geschwächt“, während die Rolle des Militärs als politischer Schlichter des Landes verstärkt wurde. Es konnte nach einem Putsch im Jahre 1930 ein „infames Jahrzehnt“ einleiten, in dem konservative Regierungen durch Wahlmanipulation, Korruption und den fast vollständigen Ausschluss der Arbeiter vom politischen Leben über das Land herrschten.

Die nächste große Konfrontation war am 17. Oktober 1945, „ein Ereignis, das in die Mythologie der argentinischen Arbeiterbewegung eingegangen ist. An diesem Tag betrat die Arbeiterklasse massiv und explosiv die politische Bühne.“

1943 ergriff eine Gruppe nationalistischer Armeeoffiziere die Macht. Sie taten das zu einer Zeit, in der Wirtschaftswachstum zur Verbreitung der Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse beigetragen hatte, und einer der Offiziere, Juan Peron, nahm es an sich, diese Bewegung unter Kontrolle zu halten. Er bestand darauf, dass Arbeitgeber einigen Forderungen der Arbeitnehmer nachgeben sollten. Dadurch konnten Führer, die hinter seinen eigenen politischen Ambitionen standen, selbst die nötige Unterstützung gewinnen, um in den wichtigsten Gewerkschaften, die rapide an Mitglieder und an Einfluss gewannen, eine vorherrschende Position einzunehmen. Bis 1945 schliesslich verbreitete sich in Teilen der herrschenden Klasse die Meinung, dass er zu weit gegangen sei. Sie überzeugte Perons Offizierskollegen, ihn aus der Regierung zu entfernen.

Arbeiter sahen diesen Angriff gegen einen Oberst, der ihnen Zugeständnisse gemacht hatte, als eine Bedrohung ihres Lebensstandards und ihrer Würde. Während sich eine Streikwelle über das Land ausbreitete, rief der Gewerkschaftsbund CGT zum Generalstreik auf. Riesige Arbeiterkolonnen zogen zum Plaza de Mayo mitten in Buenos Aires. Das Militär bekam einen Schreck und sah sich gezwungen, Peron wieder einzusetzen. Das Momentum des Sieges auf der Straße sorgte dafür, dass er im folgenden Jahr eine klare Mehrheit in der Präsidentschaftswahl errang und das Land bis 1955 regierte.

Der Sieg der Arbeiter war zwiespaltig. Er schaffte Umstände, in denen die Arbeitgeber gezwungen wurde, Reallöhne in den folgenden vier Jahren um mehr als 30 % zu erhöhen. Die Gewerkschaftsführer übten bedeutenden Einfluss in der „Justizialistischen Partei“ aus, die Peron gründete. Seine Regierung führte eine Art soziales Netz ein, Anerkennung der Gewerkschaften, bezahlten Urlaub, Abfindungen bei Entlassung, Geldleistungen für Bedürftige. Doch die Form des Sieges band Arbeiter und die Arbeiterbewegung an den Mythos des „Arbeiteroberst“ und den Personenkult um seine Frau „Evita“ – und an einen Nationalismus, der die Einheit „patriotischer“ Arbeitgeber und -nehmer predigte: „Internationaler Kapitalismus ist ein Werkzeug der Ausbeutung, nationales Kapital ein Werkzeug der Wohlfahrt.“

Der dritte große Aufstand war der Cordobazo im Jahr 1969 – das argentinischen Gegenstück zum Mai 1968 in Frankreich und zum italienischen „heissen Herbst“. Er fand vor dem Hintergrund von zwei Jahrzehnten von Angriffen auf Reallöhne und Arbeitsbedingungen statt.

Unter Peron hatten die Reallöhne angefangen zu sinken, doch nach Meinung des argentinischen Kapitalismus waren die Gewerkschaften immer noch zu stark, und er wurde 1955 vom Militär gestürzt. Es gab nicht die sofortige, koordinierte Revolte der Arbeiter wie zehn Jahre früher, doch massivste Repression wurde notwendig, um den weit verbreiteten Widerstand zurückzuschlagen, der Straßenschlachten, einen zweitägigen Generalstreik und bewaffnete Sabotage einschloss. Im nachfolgenden Jahrzehnt griff der argentinische Kapitalismus jede Gelegenheit auf, um Aktivisten zu schikanieren ... Jeder erfolgreichen Verteidigung ihrer Lebensstandards durch die Arbeiter folgte steigende Inflation, durch die die Arbeitgeber ihre Profite wieder gutmachten, und Rezessionen, die den Arbeitern die Kampfbereitschaft gegen staatliche Repression raubten. Bis 1960 standen Reallöhne in Buenos Aires wieder auf dem Niveau von 1946 und bis 1965 war der Anteil der Arbeiter am Bruttosozialprodukt von 49,9 % auf 40,7 % gesunken. Dies war die Kehrseite der „entwicklungsorientierten“ Strategie einer herrschenden Klasse, die die nötigen Profite suchte, die den Aufbau einer auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Schwerindustrie ermöglichen würde.

Diese Angriffe führten zu großer Verbitterung innerhalb der Arbeiterklasse. Diese fand Ausdruck in einer enormen Treue gegenüber der peronistischen Gewerkschaftsbürokratie und einer so großen politischen Identifizierung mit dem exilierten Peron, dass er jede wirklich offene und freie Wahl gewonnen hätte. Das war Anlass für die Intervention des Militärs gegen zivile Regierungen 1962 und 1966 und die folgende Militärdiktatur General Onganias. Diese fror Löhne ein, brach Streiks und übernahm Gewerkschaften, die versuchten Widerstand zu leisten. Sie verbot auch noch alle politischen Parteien, auch die bürgerlichen, und versuchte militärische Leitung in jedem Bereich der Gesellschaft durchzusetzen, zum Beispiel indem sie die Universitäten unter ihrer Kontrolle brachte.

Im Mai 1968 tötete das Militär zwei Studenten während Demonstrationen gegen Essenspreise. Protestdemonstrationen und vereinzelte Streiks brachen aus und die Gewerkschaftsbünde riefen einen landesweiten Generalstreik für den 30. Mai aus.

Cordoba war das Zentrum der Autoindustrie, die erst in den vergangenen 20 Jahren entstanden war. Die Löhne waren besser als in etlichen anderen Industriebranchen, und manche sahen die Autoarbeiter als eine „Arbeiteraristokratie“. Doch die Neuigkeit der Industrie und die relative Jugend der Beschäftigten bedeutete auch, dass sie weniger von der Erfahrung vergangener Niederlagen betroffen waren und auch weniger gewohnt, auf die Gewerkschaftsbürokratie zu hören. Die Autobetriebe und Kraftwerke entschieden sich, den Generalstreik mit einem „aktiven Streik“ am 29. Mai zu unterstützen. Arbeiterkolonnen – manche mit Molotowcocktails bewaffnet – zogen ins Stadtzentrum, Sitz der Polizei, der Hotels und der Banken. Es waren „4.000 IKA-Renault-Arbeiter, 10.000 Metallarbeiter, 1.000 Arbeiter der Kraftwerke und so weiter.“ Die Arbeiter vertrieben 4.000 Polizisten und übernahmen das Stadtzentrum. Etwa 5.000 Soldaten wurden dann eingesetzt, die die Arbeiter zum Rückzug in die Arbeiter- und Studentenviertel zwangen, wo diese Barrikaden errichteten. Die folgende Repression tötete 16 Menschen, konnte aber nicht verhindern, dass der Aufstand die Schwäche der Militärregierung und die Kraft der Massenmobilisierung deutlich machte. Der Aufstand eröffnete eine dreijährige Phase von riesigen Streiks, Betriebsbesetzungen, Geiselnahmen von Managern, gewalttätigen Demonstrationen, Guerillaübergriffen auf die Staatsgewalt, und einem zweiten bewaffneten Aufstand in Cordoba, dem Viboraza.

Diese Welle der Kämpfe ebbte erst dann ab, als das Militär unter dem Druck der herrschenden Klasse zuliess, dass Peron ins Land zurückkehrte und im Oktober 1973 die Präsidentschaft übernahm. Die Regierung von ihm, und nach seinem Tod im Juni 1974 von seiner dritten Frau Isabel, spielte ungefähr die gleiche Rolle wie diejenigen, unter deren Schirmherrschaft der „Gesellschaftsvertrag“ in Großbritannien, der „Pakt von Monclao“ in Spanien und der „historische Kompromiss“ in Italien eingeführt wurden. Die Perons konnten ihren Einfluss in den Bürokratien der Gewerkschaften einsetzen, um durch einen Pacto Social die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse wieder in Griff zu bekommen, während die Bourgeoisie und deren Staat ihre Kräfte wieder sammelten. Doch diese Neugruppierung nahm eine sehr viel blutigere Form als in Westeuropa an. Rechtsextreme Gruppen bekamen freie Hand, ihre Gegner physisch zu liquidieren. Just an dem Tag, als Peron ins Land zurückkehrte, griffen rechte paramilitärische Gruppen Linke an, die sich in der zwei Millionen Menschen starken Menge befanden, die Peron am Flughafen begrüßte – eine große Zahl von ihnen wurden getötet. Während der drei Jahren der peronistischen Regierung wurden mehrere Linke und Basisaktivisten der Gewerkschaften ermordet, während die Gewerkschaftsführer mit der Regierung zusammen arbeiteten. 1976 stürzte das Militär dann Isabel Peron in einem Putsch und startete den blutigsten Angriff gegen eine Arbeiterbewegung, der seit dem Zweiten Weltkrieg irgendwo auf der Welt stattgefunden hatte, in dem 30.000 Linke und Basisaktivisten ermordet wurden.
 

Das Wesen des Kampfes in Argentinien

Die drei großen Ausbrüche der Volkswut im 20. Jahrhundert hatten eines gemeinsam. Sie waren Konflikte zwischen der Industriearbeiterklasse einerseits und der Bourgeoisie mit deren Staat andererseits. Sie waren Klassenkonflikte, die der internen Dynamik der Entwicklung des argentinischen Kapitalismus selbst entsprangen, nicht einem anderen Produktionsmodus oder irgendeiner äußerlichen Ursache. Dies ist wichtig, denn die Realität – und die Wurzel der Explosion von 19.–20. Dezember – werden oft durch die Sprache verschleiert, die zur Beschreibung Argentiniens verwendet wird.

Argentinien wird normalerweise von Volkswirtschaftlern als „wachsender Markt“ oder „Entwicklungsland“ bezeichnet. Hier wird suggeriert, dass Argentinien sich auf dem Weg von einer Vergangenheit als armes, landwirtschaftlich orientiertes Land zur Zukunft als fortgeschrittenes Industrieland befindet, und dass seine Probleme daran liegen, dass dieser Weg nicht schnell genug beschritten wird. Einige Linke haben eine eigene Version von dieser Idee und sprechen von einer „abhängigen Wirtschaft“, einem „Land der Dritten Welt“ oder einer „Halbkolonie“.

Es gibt tiefe Armut in dem Land heute, und sie besteht schon lange in den riesigen aber dünn besiedelten ländlichen Gebieten und den Wellblechstädte um Städte wie Buenos Aires und Cordoba. Doch der Grund dafür ist nicht, weil Argentinien historisch ein „armes, landwirtschaftliches“ Land der „Dritten Welt“ wäre. Vor einem Jahrhundert war es ein Land mit einer Wirtschaft sehr ähnlich denen von Australien, Kanada oder Neuseeland, die sich dem höchst profitablen Export von Produkten groß angelegter kapitalistischer Landwirtschaft (Fleisch, Wolle, Getreide) nach Westeuropa gewidmet hatte und als „Getreidespeicher der Welt“ bezeichnet wurde. Die Beschäftigten waren keine für die Dritte Welt typisch indigenen Völker (die meisten von diesen waren im 19. Jahrhundert nach US-amerikanischem Vorbild ausgerottet worden), sondern Einwanderer und Saisonarbeiter aus Spanien und Italien, die durch Löhne angelockt wurde, die höher als in Südeuropa waren. Die Produktion pro Arbeiter war um einiges höher als in Frankreich oder Italien. Die herrschende Klasse hatte enge Verbindungen zu den Herrschern Großbritanniens – das Land war unter reichen britischen Auswanderern beliebt, es gab viel britisches Kapital und ungefähr ein Drittel der Exporte gingen nach Großbritannien – doch war sie auch unabhängig genug, um protektionistische Schutzzölle auf britische Industrieimporte zu erheben und im Ersten Weltkrieg neutral zu bleiben, während jede britische Kolonie Geld und Soldaten zu den imperialistischen Kriegsanstrengungen beitrug. „Argentinien am Anfang des Ersten Weltkriegs war ein moderner kapitalistischer Staat geworden,“ schreibt eine marxistische Geschichte des Peronismus.

Das Problem für die verschiedenen Teile der kapitalistischen Klasse Argentiniens während des zwanzigsten Jahrhunderts war nicht, dass ihnen nationale politische Unabhängigkeit fehlte. Diese hatte sie seit 1816 genossen. Das Problem war, dass sie über ein Land mit einem relativ kleinen Binnenmarkt und relativ wenigen Ressourcen herrschte, in einer Welt von viel reicheren kapitalistischen Klassen, die über größere Märkte und mehr Ressourcen verfügten. Das wurde ihnen jedes mal deutlich gemacht, wenn die Weltpreise von landwirtschaftlichen Waren und mit ihnen ihre Gewinne fielen. Dies geschah in der großen Rezession zwischen den Kriegen, als der Weltmarktpreis für Weizen um 75 % sank.

Die argentinische Bourgeoisie, die sich ein Teil der Machtelite der Welt glaubte, stellte die Brüchigkeit des Gleichgewichtes fest, auf dem ihr Reichtum beruhte ... Sie könnte ihre Grenzen mit Chile oder Bolivien mit Zwang verändern, aber sie könnte die Franzosen nicht zwingen, ihr Land für ihr Getreide oder Fleisch zu öffnen.

Ihre Antwort ab den 1930er Jahren war der Versuch, landwirtschaftliche Profite in den Aufbau von vermutlich weniger krisenanfälligen produzierenden und extrahierenden Industrien zu lenken, die einen mit hohen Zöllen geschützten Binnenmarkt beliefern sollten. Regierungen, die von den landwirtschaftlichen kapitalistischen Interessen (oft die „Oligarchie“ genannt) geprägt waren, begannen diese Entwicklung; Peron erhöhte in den späten 1940er Jahren ihre Intensität, und die postperonistischen Regierungen der 50er und 60er Jahren fuhren weiter auf demselben Weg. Die industrielle kapitalistische Klasse, die jetzt die alte landwirtschaftliche kapitalistische Oligarchie in den Schatten stellte, bestand aus zwei miteinander verstrickten Gruppierungen. Eine Gruppe privater Kapitalisten besaßen die kleine und mittlere Industrie, während staatliche Bürokraten (unter ihnen auch Offiziere des Militärs) die neue Großindustrie wie Eisen und Stahl, Autos, Kraftwerke und Öl leiteten. Beide pflegten Verbindungen zu den Bürokratien der Gewerkschaften, die so in einem Netz der Korruption eingebunden waren.

Solche Massnahmen ermöglichten die Industrialisierung Argentiniens. In den frühen 1970er Jahren arbeitete nur noch 13 % der Bevölkerung auf dem Land, verglichen mit 34 % in der Industrie. Die Wachstumsrate der Industrie war mit der von Italien vergleichbar (das in der Sprache von Wirtschaftswissenschaftlern damals gerade einen „Wirtschaftswunder“ erlebte, obwohl immer noch eins der ärmeren westeuropäischen Länder und von Gebieten enormer Armut im Süden geprägt). Einige Zahlen für das Jahr 1972 machen den damals geringen Unterschied zwischen Argentinien und Italien deutlich:

 

Argentinien

Italien

Fleischverbrauch (kg) pro Einwohner pro Jahr

90

47

Milchverbrauch (l) pro Einwohner pro Jahr

70

65

Speiseölverbrauch (l) pro Einwohner pro Jahr

10,3

7,9

Kalorien pro Einwohner pro Tag

3.170

2.940

Autos pro 100 Einwohner

11,6

20,9

Fernsehgeräte pro 100 Einwohner

14,9

18,9

Zeitungen pro 1000 Einwohner

128

85

Bewohner pro Wohnung

3,8

3,1

Universitätsstudenten pro 1000 Einwohner

11,4

11,7

Ärzte pro 1000 Menschen

18,9

18,0

Sterblichkeitsrate pro 1000 Menschen

8,8

9,6

Lebenserwartung

67,06

65,77

Es gab Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Argentinier waren ein wenig besser dran, was Lebensmittel betraf, Italiener besaßen mehr Gebrauchsgegenstände. Doch diese waren Unterschiede zwischen Ländern mit einem vergleichbaren Niveau der „Entwicklung“; das Ergebnis wäre ganz anders bei einem Vergleich z. B. zwischen Italien und Indien, oder gar zwischen Argentinien und Guatemala. Und Argentinien war wahrscheinlich weniger von ausländischem Kapital und ausländischen Importen abhängig. Importe machten nur ein Prozent der argentinischen Gebrauchsgüter aus, und ausländisches Kapital schlug, obwohl in gewissen Industriezweigen wichtig, insgesamt nur mit fünf Prozent der Fixinvestitionen zu Buche (verglichen mit 15,4 % im Jahre 1943).

Seit 1972 hat eine riesige Veränderung stattgefunden. Eine große Kluft hat sich zwischen den Lebensstandards der Masse in den beiden Ländern entwickelt. Bei einem durchschnittlichen Stundenlohn (im produzierenden Gewerbe) von nur $1,67 schon vor der gegenwärtigen Krise – wobei sehr viele Menschen noch weniger bekommen – erlebt Argentinien heute Armut in einem Ausmaß, das in Italien seit den 40er Jahren nicht mehr zu finden ist. Sogar die durchschnittliche Kalorienaufnahme ist gesunken (obwohl sie sich immer noch auf einem ähnlichen Niveau wie in Großbritannien Mitte der 90er Jahre bewegt und um ein Drittel höher als in Ländern wie Guatemala und Bolivien ist). Das ist jedoch nicht wegen „Unterentwicklung“ in Argentinien geschehen, sondern wegen der Widersprüche, mit denen ein schwacher Kapitalismus über einer bestimmten Entwicklungsstufe zu kämpfen hat. Vom Standpunkt des Kapitalismus gesehen, hat sich Argentinien seit 1972 „entwickelt“ – und der Zustand der Mehrheit seiner Bevölkerung hat sich dabei verschlechtert.

Keine herrschende Klasse irgend eines Landes kann sich jemals auf ihren Lorbeeren ausruhen. Konkurrierende nationale Kapitalismen akkumulieren ohne Unterlass und deshalb kann sie es sich nicht leisten, ins Hintertreffen zu geraten. Eine, die über eine relative kleine Wirtschaft herrscht, steht vor besonderen Problemen, auch wenn es sich eher um eine Industrie- als um eine Agrarwirtschaft handelt. Die Abschottung des Binnenmarktes bot in der Vergangenheit eine vorübergehende Lösung für manche dieser Probleme. Die Enge des Marktes bringt aber unverhältnismäßig hohe Produktionskosten mit sich und die für eine erweiterte Produktion nötigen Ressourcen sind dementsprechend beschränkt. Daher die unablässigen Anstrengungen, die Ausbeutungsrate so weit wie möglich zu steigern und die wiederholten Neustrukturierungen, um mit Zwangsmaßnahmen Kapital aus den Händen von Kleinunternehmen in die von Großunternehmen zu verlagern. Damit war der argentinische Kapitalismus seit über einem halben Jahrhundert zugange. Das erklärt die Heftigkeit ihrer Konfrontationen mit der Arbeiterklasse, ihre politische Instabilität, der wiederholte Rückgriff auf Militärherrschaft und, neuerdings, die Marktöffnung gegenüber den multinationalen Konzernen, der internationalen Finanzwelt und den Diktaten des Internationalen Währungsfonds.

Argentiniens Kapitalisten konnten in den ersten fünf Jahren von Perons Herrschaft diese Probleme bis zu einem gewissen Grad unter den Teppich kehren. Die Lebensmittelknappheit im Nachkriegseuropa zog die Preise für argentinische Agrarexporte in die Höhe und die ins Land zurückfließenden hohen Profite ermöglichten es der Regierung, eine mürrische Arbeiterklasse zu befrieden und eine Industrialisierungspolitik zu fahren, die sowohl der mittleren als auch der Kleinbourgeoisie zugute kam. Die Kehrseite dieser Konstruktion zeigte sich jedoch in den frühen 50er Jahren, als der Zusammenbruch der Agrarpreise den Methoden Perons den Boden unter den Füßen raubte. Von 1951 an konnte der argentinische Kapitalismus die Industrie nur mittels Verschärfung der Ausbeutungsrate weiter ausbauen. Das bedeutete, den Lebensstandard, den die Arbeiterklasse mittlerweile genoss, wieder herabzusetzen. Und der Wettkampf, um den argentinischen Kapitalismus auf der Höhe seiner Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu halten, bedeutete, dass die Akkumulation verstärkt im Produktionsgütersektor auf Kosten des Sektors für Konsumgüter zur Deckung des Bedarfs der Arbeiter und Mittelschichten stattfinden musste.

Das erklärt, warum die herrschende Klasse 1955 Peron ins Exil schickte, und auch warum jene Sektoren des Peronismus mit den verschiedentlichsten Verbindungen zu den nationalen Kapitalisten gegen seinen Sturz keinen ernsthaften Widerstand leisteten. Das erklärt auch warum in der Zeit von 1955 bis 1983 sich mehr oder minder langandauernde Militärdiktaturen mit viel kürzeren Perioden ziviler Herrschaft abwechselten. Jede industrielle Ausweitungsphase lockte neue Menschen in die Arbeitsstätten und erhöhte das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse, was sich sowohl in erhöhter Streikbereitschaft als auch in der Unterstützung für „populistische“ peronistische Politiker ausdrückte, die eine zumindest teilweise Rückkehr zu dem Lebensstandard und den Wohlfahrtsleistungen, die die Menschen noch in Erinnerung hatten, versprachen. Zivile Regierungen konnten einem solchen Druck nicht lange standhalten. Der argentinische Kapitalismus hatte allerdings sehr wohl den festen Willen, sich ihm zu widersetzen, und entschied sich schließlich für den Einsatz der rauen Handlanger des Militärs, um die Ordnung wieder herzustellen.

Der letzte dieser Zyklen war jener, der seinen Anfang mit Cordobazo nahm, die peronistischen Regierungen der 70er Jahre umfasste und in der Militärdiktatur der Junta ihren Abschluss fand. Die neuen peronistischen Regierungen versuchten, die Unzufriedenheit unter der Arbeiterschaft mit finanziellen Zugeständnissen zu neutralisieren, ohne die Profite über Maßen anzuzapfen, indem sie die Notenpresse anschmiss, was eine monatliche Inflation von 20 bis 30 Prozent im Jahr 1975 verursachte. Die „Wiederherstellung der Ordnung“ durch die Militärdiktatur 1976 wurde mit bislang unerhörter Brutalität vollzogen. Es fanden nicht nur Massentötungen statt. Es kam auch zu einem noch nie da gewesenen Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterschaft. Die Reallöhne waren 1978 nur halb so viel wert wie noch 1975. Damit lagen sie tiefer als 1940.

Die Angriffe auf die Arbeiter und die Linke wurden begleitet von einer massiven Rationalisierungswelle in der Industrie infolge der Überbewertung der Peso, die das Land in ein Paradies für Spekulanten verwandelte. Ein Fünftel aller Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie wurde innerhalb von vier Jahren entlassen, während die übrigen Arbeiter zu Produktivitätssteigerungen von 37 Prozent getrieben wurden. In der gleichen Zeit verloren eine halbe Million Arbeiter im öffentlichen Dienst ihre Stellen. Diese Maßnahmen reichten jedoch nicht aus, um die Probleme des argentinischen Kapitalismus zu lösen. Der wirtschaftlichen Ankurbelung im Jahr 1979 folgte die Stagnation des Jahres 1980 und eine Rezession ein Jahr später, während die jährliche Inflationsrate bei über 100 Prozent harrte. Eine wachsende Unzufriedenheit erfasste nicht nur die verarmte Arbeiterklasse, sondern auch manche Sektoren des argentinischen Kapitals. Der Krieg wegen der Falkland-/Malvineninseln war der Versuch, von diesen Problemen abzulenken. Die militärische Niederlage brachte die Diktatur zum Fall 1983. Damit waren die Schwierigkeiten des argentinischen Kapitalismus noch nicht vom Tisch.
 

Eine kapitalistische Klasse auf der Suche nach einer Strategie

Der Sieg der Radikalen Partei Alfonsins bei den Präsidentschaftswahlen von 1983 öffnete die Tür zur Neuauflage des klassischen Musters ziviler Regierungen. Die Arbeiter machten Druck, um ihren unter der Junta herabgesetzten Lebensstandard wieder herzustellen. Der argentinische Kapitalismus war nicht stark genug, um solche Zugeständnisse zu gewähren und erhöhte im Gegenzug die Preise, um seine Profite wieder rein zu holen. Ein paar Jahre lang stieg die Produktion. Dann erreichte die Inflation astronomische Werte – 1.470 Prozent in den zwölf Monaten bis Juni 1989, 20.226 Prozent in den zwölf Monaten bis März 1990 – just in dem Augenblick, als die Wirtschaft in eine tiefe Rezession mit einem Produktionsrückgang von 15 Prozent glitt. Währenddessen hatte sich die Auslandsschuld auf $60 Mrd. verdoppelt. Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter war noch schlimmer als unter der Junta: Die Reallöhne lagen 1989 rund 25 Prozent unter ihrem Niveau von 1980, das wiederum, wir erinnern uns, noch unter dem von 1940 lag.

Die Gewerkschaften organisierten nicht weniger als 14 Generalstreiks in dieser Periode. Der nackte Hunger befiel nun eine arbeitende Bevölkerung, die einst zu den besternährten der Welt gehörte, und es kam zu Lebensmittelaufständen begleitet von Plünderungen von Supermärkten in Buenos Aires 1989. Die althergebrachte Antwort auf Krisen und Enttäuschung mit einer gewählten Regierung, nämlich der Militärputsch, konnte diesmal nicht mehr funktionieren – drei Putschversuche 1987/88 brachen alle angesichts der landesweiten Gegenwehr (eine Million Menschen ging auf die Straßen gegen den ersten Putsch) und angesichts der Spaltungen innerhalb der Streitkräfte in sich zusammen. Statt dessen kam es zu Wahlverschiebungen, als der Peronist Menem bei den Präsidentschaftswahlen von 1989 haushoch über Alfonsins Radikale Partei siegte.

Die Krise der Alfonsin-Regierung öffnete dem argentinischen Kapitalismus die Augen für die Notwendigkeit einer neuen ökonomischen Strategie. Trotz seiner wiederholten Akkumulationsanstrengungen und seines verzweifelten Wunsches, international konkurrenzfähig zu werden, lag der Pro-Kopf-Ausstoß um ein Fünftel unter dem von vor zehn Jahren!

Die mächtigsten und am weitesten fortgeschrittenen Sektoren des Kapitals hatten schon lange nach einer neuen Strategie gedrängt.

Bereits die Ongania-Diktatur von 1966 bis 1970 hatte auf die Notwendigkeit für den argentinischen Kapitalismus reagiert, die Bedingungen für ein neues Akkumulationsschema auf der Grundlage eines Bruchs mit der Autarkie und des Eintritts der Industrie in die Weltmärkte zu schaffen. Die erweiterte Akkumulation musste vom Stadium der Entwicklung eines internen, vom Staat mit Zollbarrieren geschützten Marktes in das des rücksichtlosen Kampfes um Lebensraum zwischen den mächtigsten Giganten auf dem Weltmarkt wachsen.

Der Wechsel von der alten Strategie mit ihrem Schwerpunkt auf dem einheimischen Markt wurde gebremst durch den politischen Druck, den der Aufschwung der Arbeiterkämpfe in den späten 60er und frühen 70er Jahre ausübte. Erst unter der Militärjunta von 1976 genoss das Großkapital den notwendigen Freiraum, um ihre neue „neo-liberale“ Politik durchzusetzen. Herabgesetzte Zölle und ein hoher Wechselkurs verursachten eine Importflut, die einem Großteil der alten mittelständischen und kleinbetrieblichen Industrie das Wasser abgrub, und die Gesamtzahl der in der produzierenden Industrie geleisteten Arbeitsstunden sank um 20 Prozent. Manche Sektoren des Regimes fuhren jedoch damit fort, den Staatsapparat zur Förderung bestimmter Industrien unter der Leitung von Monopolen und Teilen des Staatsapparats einzusetzen – im einzelnen waren es Maschinenbau und Ausrüstung, Eisen und Stahl, Infrastrukturmaßnahmen, Strom und Gas, Rüstungsindustrie und Landwirtschaft, die alle zwischen 1976 und 1980 expandierten. Der vom Militär geführte Staat betrachtete die Einnahmen aus den Lebensmittelexporten – nun vorrangig an die UdSSR – als Quelle für den Aufbau einer nationalen industriellen Basis (und für den Waffenkauf), und so schulterte der Staat über die Hälfte der Gesamtinvestitionen in der Periode von 1976 bis 1978. Das Großkapital wuchs auf Kosten des Kleinkapitals wie auch durch die verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse. Ihm fehlte aber nach wie vor die ersehnte Konkurrenzfähigkeit auf internationalen Märkten. Die Puristen des freien Marktes machten dafür die noch existierenden staatlichen Kontrollen und die verstaatlichten Industrien verantwortlich.

Die Krise der späten 80er Jahre lieferte ihnen die gewünschte politische Gelegenheit, um sich jener zu entledigen. Die verzweifelte Lage, in der sich die Menschen befanden, reduzierte die Wahrscheinlichkeit von Widerstand seitens der Arbeiterklasse wie auch seitens der mittleren Bourgeoisie. Nachdem der Lebensstandard ins Bodenlose gesunken war und die Inflation unglaubliche Ausmaße erreicht hatte, sehnten sich in ihrer Verzweiflung alle Klassen nach irgendeiner Alternative.

Menem versprach genau das, als er die Regierungsgeschäfte übernahm. Er hatte die starke Rückendeckung der Gewerkschaftsbürokratie und die Unterstützung der meisten Arbeiter. Er hatte aber auch Verbindungen zu Sektoren des Großkapitals, die sich verzweifelt nach einem neuen Akkumulationsmodell sehnten, und wandte sich an den ehemaligen Chef der Zentralbank unter der Diktatur, dem Harvard-trainierten Ökonomen Domingo Cavallo, um es zu verwirklichen. Cavallo vertrat den messianischen Standpunkt, dass der Neoliberalismus die Antwort für alle Probleme des argentinischen Kapitalismus böte.
 

Der neo-liberale Wundermacher

“Es ist Frühling in Buenos Aires. Die Regierung verkauft alles Erdenkliche. Riesige Plakatwände verkünden die Versteigerung von Bürogebäuden auf der schicken Calle Florida und im Uferviertel am Hafen. Armeeeinheiten werden aus Buenos Aires geworfen, damit die teuren Grundstücke verscherbelt werden können. Sogar die Giraffen, Vogelsträusse und ein 48jähriger indischer Elefant namens Norma befinden sich im Privatbesitz, nachdem die Stadtväter den Zoo verkauft haben.“

Die Privatisierungswelle beschränkt sich bei weitem nicht nur auf die Stadt. Zum aller ersten Mal gewährt die Regierung privaten Investoren Zugang zu den Ölfeldern. Die Geldspritzen bereiten der Jahrzehnte alten Verschuldungskrise ein Ende. „In wenigen Monaten wird das alles zur grauen Vergangenheit gehören“, brüstet sich Domingo Cavallo, Wirtschaftsminister Argentiniens. In der Folge strömen Investoren nun nach Lateinamerika.

Die Veränderungen der letzten drei Jahre sind zusammen genommen nichts weniger als eine ökonomische Revolution. Während der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa mit lautem Krach erfolgte, zerbröselte die alte Orthodoxie Lateinamerikas mit ihrer Schwerpunktsetzung auf strategische, staatlich gelenkte Industrien in aller Stille. Die Lateinamerikaner, wie die Osteuropäer auch, beugen sich dem privaten Markt und sind in ein Wettrennen getreten, um ihre darniederliegenden Wirtschaften wieder auf Trab zu bringen. Diese Veränderung verheißt Megageschäfte für die Banker der Ersten Welt, die ein ganzes Kontinent in die Finanz-, Verschmelzungs- und Aufkaufstricks des Nordens einführen und als Gegenleistung deftige Kommissionen für ihre Hilfe kassieren dürfen.

So ereiferte sich das Wirtschaftsmagazin Business Week 1991. Seinen Optimismus in Bezug nicht zur auf die erhofften Profite aus Argentinien, sondern auch in Bezug auf die Beendigung des alten Zyklus von Krisen und Überschuldung teilte ein Großteil der Wirtschaftsmedien und „Experten“ weltweit.

Noch sechs Jahre später hielt der Enthusiasmus an, trotz einer kurzfristigen Rezession, die Argentinien nach der mexikanischen „Tequilla“-Krise von 1994 traf. „Ich bin sehr optimistisch“, sagte Herr Walter Molano, Leiter der Abteilung für Wirtschafts- und Finanzforschung bei SBC Warburg in New York. „Das Land wird offensichtlich für seine zwischen 1991 und 1995 getätigten Reformen belohnt, von denen manche eine lange Ausreifungszeit besitzen. „Das Wachstum im kommenden Jahr müsste einen Sockel von 6 Prozent haben“, fügte er hinzu. Die Financial Times lobte „die Widerstandskraft der Wirtschaft nach den Reformen“.

Die „Reformen“ bedeuteten im Kern die massive Umsetzung der im Geist des „Washingtoner Konsens“ vom IWF und der Weltbank propagierten Maßnahmen: Privatisierung beinahe aller Industrien und Dienstleistungen im Staatsbesitz, die Ersetzung von staatlichen Renten- und Krankenkassensystemen durch private Programme, radikale Senkung aller übrig gebliebenen Importzölle, die Begünstigung fremder Kapitalimporte und, als Krönung oben drauf, die rigide Fixierung des Wertes des Pesos an den des US-Dollars (bekannt unter dem Namen „Dollar Peg“) im Jahr 1992. Als Gegenleistung für dieses Maßnahmepaket zeigte sich der IWF bereit, der argentinischen Regierung bei der Aushandlung neuer Rückzahlungsbedingungen für ihre Auslandsschulden als Teil des umfassenden Brady-Plans für Lateinamerika zu helfen.

Die Annahme hinter diesem Maßnahmepaket war, dass damit die Restrukturierung der Industrie weiter vorangebracht und der öffentliche Sektor und ineffiziente private Unternehmen von überflüssigen Arbeitskräften „befreit“ werden könnten, während man zugleich ausländische Kapitalinvestitionen ins Land lockte, die es endlich in die Lage versetzen würden, am internationalen Wettbewerb teilzunehmen. Argentiniens Gründung der Mercosur, eines gemeinsamen regionalen Marktes mit Brasilien, Uruguay und Paraguay, war eine weitere Maßnahme.

In internationalen Finanzkreisen, die darauf erpicht waren, ein Schnäppchen durch den Aufkauf argentinischer Unternehmen für billiges Geld zu machen, wurden diese Maßnahmen natürlich mit großer Freude aufgenommen. Aber auch Schlüsselsektoren der argentinischen herrschenden Klasse, die ihr Dasein als große Fische im kleinen argentinischen Teich gegen ein Dasein als mittelmäßige Fische in einem weltweiten See eintauschen konnten, begrüßten sie. Für eine Weile waren sogar große Teile der unteren Mittelschichten und der Arbeiter damit einverstanden, so tief war die verzweifelte Hoffnung, der Krise am Ende des Jahrzehnts endlich zu entkommen, und so groß die Illusionen in Menem als peronistischem „Arbeiterfreund“.

Die Reformen wurden zunächst von einer begrenzten Verbesserung der Lebenssituation einer großen Anzahl von Menschen begleitet, solange die Wirtschaft auf Wachstumskurs blieb, bis 1994. Die Durchschnittslöhne fielen nicht mehr und überschritten ihren Tiefpunkt von 1989. Ein paar Jahre lang nahm die Beschäftigtenzahl in den meisten Wirtschaftssektoren zu. Die Selbständigen und die Kleinunternehmen der Mittelschichten hatten das Gefühl, dass die Bankrottgefahr zunächst gebannt sei. Die lohnabhängigen Sektoren der Mittelschichten (genauer gesagt, die besser bezahlten Sektoren der Arbeiterklasse im Angestelltenverhältnis) konnten mit Genugtuung beobachten, wie die Schere zwischen ihren Gehältern im Vergleich zu denen der an- und ungelernten Arbeiter wuchs. Das Gefühl, zumindest das einiger Menschen, dass die Dinge sich zum Besseren wenden könnten, reichte, um Menem den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen von 1994 und seiner Partei bei den Parlamentswahlen zur Mitte seiner Mandatszeit 1996 zu sichern. Ähnlich wie im Fall des „Thatcher-Lawson“-Aufschwungs der späten 80er Jahre, gab es gerade genug Bewegung in den Lebensbedingungen einer großen Anzahl von Menschen, um die Illusion fortdauernder Veränderung und das Geschwätz vom „Wunder“ wirken zu lassen.

Aber bereits 1992 waren die Rationalisierung und Neustrukturierung der Industrie voll im Gange. Bestimmte Wirtschaftszweige waren von massiver Arbeitsplatzzerstörung betroffen – ca. ein von zehn Jobs im Produktionssektor und ein von fünf in der Stromerzeugung, Gas und Wasserwirtschaft waren weggefallen. Die Arbeitslosigkeit begann steil nach oben zu schießen und erreichte 18 Prozent 1994/95. Von da an blieben die Arbeitslosenzahlen trotz der von 1995 bis 1998 wieder einsetzenden Erholung hoch. Bei aller Überschwänglichkeit für die Auswirkungen der „Reform“ hielt die Financial Times 1997 fest:

Das beschleunigte Wachstum hat sich nicht in einem merklichen Rückgang der Arbeitslosenrate niedergeschlagen, trotz Anzeichen, dass neue Arbeitsplätze in zunehmenden Maße entstehen. Die hohe Arbeitslosigkeit war ein Faktor hinter der Zunahme gesellschaftlicher Spannungen im Verlauf des Jahres.

Für die Masse der Arbeiter bedeutete das „Wirtschaftswunder“ lediglich, dass die Reallöhne mehr oder minder auf dem gleichen, historisch tiefen Niveau pendelten, während sich ein wachsendes Heer von Menschen mit langfristiger Arbeitslosigkeit konfrontiert sah. Da das Arbeitslosengeld nur wenige Monate lang ausgezahlt wird, schlug sich das in tiefster Armut wachsender Kreise nieder.

Das „Wunder“ erfüllte aber auch kaum die historischen Erwartungen der argentinischen Bourgeoisie. Das Bruttosozialprodukt wuchs um insgesamt 25 Prozent, womit lediglich der Stand von zehn Jahren zuvor wieder erreicht wurde. Und jene Industrien, denen der argentinische Kapitalismus seit einem halben Jahrhundert auf die Beine zu helfen versuchte, konnten die Weltmärkte nicht erobern – nicht einmal den durch Mercosur geschaffenen Regionalmarkt. Statt dessen wurde das Land, wie unter der Junta auch, von ausländischen Gütern überflutet, während die Exporte stagnierten. Es gab wiederholte Zahlungsbilanzdefizite.

Ausländische Kapitalspritzen und die Einnahmen aus der Privatisierung konnten die Kluft überdecken und zentrale Schwächen kaschieren, so dass Cavallo jedes Jahr seine Kumpel von der herrschenden Klasse immer wieder von neuem beruhigen konnte, das Land befinde sich auf der Schwelle zu einem umfassenden Durchbruch. Was er geflissentlich zu übersehen vorzog, war, dass ausländisches Kapital, das so rasch in das Land fließen konnte, noch rascher wieder außer Landes geschaffen werden konnte in dem Augenblick, in dem irgendein Ereignis seine Zuversicht in die zu erwartenden Profite erschütterte. Währenddessen wuchsen die Auslandsschulden erbarmungslos in die Höhe.
 

Krachen und Knirschen

Der Augenblick der Wahrheit kam mit den Auswirkungen der Asienkrise von 1997 für Lateinamerika. Plötzlich waren in aller Welt die Finanz- und Geschäftsleute erschrocken und in Sorge um ihre Investitionen, die sie sicher und gewinnbringend in den „aufstrebenden Märkten“ angelegt glaubten – auch in Lateinamerika –, und zogen ihr Geld ab. Gerade mal zwei Jahre, nachdem Argentinien sich von der Rezession im Zusammenhang mit der Mexikokrise 1994 erholt hatte, wurde es erneut in die Rezession zurückgeworfen. Und die Kredite, von denen die Regierung und die Unternehmen abhingen, damit es überhaupt weiterging, wurden ständig teurer, da die Kreditgeber – aus- und inländische gleichermaßen – enorme Aufschläge, weit über die normalen Zinssätze hinaus, forderten.

Joseph Stiglitz, ein führender Wirtschaftswissenschaftler, der von der Weltbank wegen seiner kritischen Äußerungen entlassen worden war, macht deutlich:

Die Ostasienkrise von 1997 wurde zu einer globalen Finanzkrise, so dass die Zinssätze für alle aufstrebenden Märkte einschließlich Argentiniens stiegen.

Argentiniens Wechselkurssystem überlebte, aber zu einem hohen Preis, dem Preis einer Arbeitslosenrate in zweistelliger Höhe. Bald belasteten die hohen Zinssätze den Staatshaushalt ... bei Zinssätzen in der Höhe von 20 % wurden 9 % des Bruttoinlandprodukts jährlich zur Tilgung und Finanzierung der Schuldenlast ausgegeben. Der US-Dollar, an den der argentinische Peso gebunden war, stieg stark im Wert an. Gleichzeitig verlor die Währung Brasiliens, Argentiniens Mercosur-Handelspartner, an Wert. Zwar sanken Löhne und Preise in Argentinien, aber es reichte nicht aus, um Argentinien erfolgreich wettbewerbsfähig zu halten.

Die schon immer bestehende Wettbewerbsschwäche des argentinischen Kapitalismus gegenüber Brasilien verschlimmerte sich also noch, als Brasilien seine Währung abwertete und so seine Produkte sowohl auf den Weltmärkten, als auch in Argentinien billiger machte. Die argentinischen Unternehmen, daran gehindert erschwingliche Kredite aufzunehmen, gingen daran ihre Profite zu schützen, indem sie die Produktion drosselten und die Löhne senkten. Die Automobilproduktion sackte um 47 % in einem Jahr ab; die Anzahl der in der Textil- und Schuhindustrie Beschäftigten sank auf die Hälfte des Niveaus von 1990. Und dann begann im letzten Jahr die wirtschaftliche Krise, die von den drei Weltzentren des Hochkapitalismus (USA, Deutschland, Japan) herüberschwappte, übel zu werden. Die Arbeitslosigkeit stieg, bis sie eine Rate von 20 % erreicht hatte, und die ohnehin schon sehr niedrigen Löhne im privaten Sektor wurden um ein Fünftel abgesenkt.

Die Entlassungen und Lohnkürzungen verschärften die Krise der Klein- und Mittelbetriebe. Sie konnten einfach ihre Produkte nicht mehr verkaufen. Bis zum September 2001 war der Warenumsatz insgesamt um 8,4 % gegenüber Vorjahr gesunken, in den Kaufhäusern sogar um 21 %. Offizielle Zahlen gaben jetzt an, dass inzwischen 40 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten. Dies war eine wirtschaftliche Katastrophe, die der Deutschlands und der USA in den frühen dreißiger Jahren vergleichbar war.

Aber die Dinge verschlechterten sich noch mehr im letzten Quartal des Jahres. Das Land hatte ein Handelsbilanzdefizit, und auch die Regierung gab mehr aus als sie einnahm, da jedes Schrumpfen der Wirtschaft die Steuereinnahmen reduzierte (sie lagen im September 2001 um 14 % unter Vorjahresniveau).

Der Regierung fehlte es einfach an Dollar um weiterhin die Rechnungen zu bezahlen – und ihr ganzer politischer Ansatz verbot es ihr, diese Dollar von Argentiniens Reichen zu holen, die ihr Geld in sichere Häfen ins Ausland schafften. So konnte die Regierung nur weitermachen, indem sie sich an den Internationalen Währungsfond wandte, der freilich weitere Einschnitte bei den Staatsausgaben forderte.

Das bedeutete, dass Argentinien eine Wirtschaftspolitik verfolgte, von der früher die herrschenden Wirtschaftswissenschaftler fest überzeugt zu behaupten pflegten, sie sei der schicksalhafte „Fehler“ der dreißiger Jahre gewesen, ein Fehler, der aber nie mehr wiederholt werden würde. Jede Staatsausgabenkürzung würde die Rezession vertiefen, und jede Vertiefung der Rezession würde das Haushaltsdefizit vergrößern, da dadurch die Staatseinnahmen weiter sanken. Trotzdem empfahl der IWF genau diese Politik und genau diese wurde von den argentinischen Regierungen beider großen kapitalistischen Parteien gutgeheißen.
 

Politik der Rezession

Der Beginn einer neuen Rezession war das Todesurteil für die Menem-Regierung. Die Wahlen von 1999 führten zu einem klaren Sieg einer Allianz, welche die Radikale Partei zusammen mit einem neuen, angeblich linken Parteienbündnis „Frepaso“ bildete. Aber die neue Regierung setzte die Politik ihrer Vorgängerin fort, indem sie Mai 2000 und noch mal im folgenden Jahr Sparpakete schnürte. Der Widerstand aus der Bevölkerung zwang den Präsidenten De la Rua, das Sparpaket vom März 2001 zurückzunehmen und den Urheber Lopez Murphy zu feuern. Aber die Neoliberalen waren bald außer sich vor Freude, da De la Rua ihn durch Cavallo ersetzte. Der zurückkehrende „Wundermacher“, so sagten sie, könnte abermals Argentiniens Kapitalismus aus der Bredouille holen.

Innerhalb der nächsten fünf Monate entpuppte sich seine „Wunderkraft“ als Schwindel. Er sah sich gezwungen, sich beim Internationalen Währungsfonds um noch mehr Gelder zu bemühen und dabei noch drastischere Einschnitte in den Haushalt zuzusagen. Außerdem kürzte er Löhne und Pensionen im öffentlichen Dienst um 13 % – mit dem Segen von Tony Blair, der auf seinem Weg in den Urlaub nach Mexiko in Argentinien einen Zwischenhalt eingelegt hatte. Zu dieser Zeit zeichnete sich schon ab, dass es keine Möglichkeit gab, den Staatshaushalt auszugleichen, außer eben dem Lande eine Massenhungersnot zu verordnen. Ein Leitartikel der Financial Times musste zugeben:

Es ist nun klar, das Argentinien nicht in der Lage ist, dem langsamen Fall in den Ruin mit Mitteln der herrschenden Lehre beizukommen. Da die Produktion sinkt, verschlechtert sich die Finanzlage. Das schwächt das Vertrauen, so dass die Zinssätze auf argentinische Dollaranleihen hochgeschnellt sind und jetzt um fast 20 % über denjenigen von US-Schatzbriefen liegen. Mit solchen Zinssätzen kann die Wirtschaft nur zusammenbrechen. Der nächste logische Schritt scheint eine Kombination aus Abwertung und Zahlungsunfähigkeit zu sein. Aber es wurde befürchtet, dass dies bloß eine Flucht aus der Währung auslösen und die Rückkehr sehr hoher Inflationsraten mit sich bringen würde. Blieben erhebliche Dollarverbindlichkeiten bestehen, könnte es außerdem trotzdem noch zu einer Massenpleite kommen.

Eine Woche später gab ein früherer leitender Wirtschaftswissenschaftler des IWF die ketzerische Ansicht von sich, es gäbe für die Regierung keine Möglichkeit, die Defizite wie vom IWF gewünscht wegzubekommen:

Eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Misere hat Auswirkungen auf die internationale Wirtschaftspolitik. In diesem Jahr wird das staatliche Defizit weit höher sein als der Zielwert von 6 Mrd. $ des IWF-Programms � das staatliche Finanzloch wird sich in diesem Jahr wahrscheinlich auf 20 Mrd. $ bis 25 Mrd. $ belaufen. Da die Wirtschaft tief in der Rezession steckt, kann der tatsächliche Finanzbedarf der Regierung für das Jahr 2002 wahrscheinlich nicht unter 12 Mrd. $ bis 15 Mrd. $ gesenkt werden.

Cavallo wollte darauf nicht hören. Er lehnte sogar Vorschläge einiger Leute aus dem IWF ab, dem brasilianischen Beispiel zu folgen und den Peso abzuwerten. Inzwischen weigerte sich der IWF selbst, irgendetwas zu unternehmen, um ihm aus der Patsche zu helfen. Die republikanische Regierung in Washington hielt Argentinien nicht für strategisch wichtig und sprach von „moralischer Gefährdung“ (moral hazard), würde die Schuldenlast Argentiniens gemildert. Sie meinte sogar, dass diejenigen, die leichtsinnig genug gewesen waren Argentinien Geld zu leihen, einen Teil der Verluste selbst tragen sollten. Zweifellos wurde die US-Regierung in dieser Ansicht dadurch bestärkt, dass europäische, insbesondere spanische Unternehmen unverhältnismäßig stärker von einem argentinischen Zusammenbruch geschädigt würden als amerikanische. Und so fing der IWF an klar zu stellen, dass er die Cavallo versprochenen Finanzmittel nur freigeben würde, wenn es weitere rigorose Einschnitte gäbe. Schon waren Provinzregierungen, die ihre Beschäftigten nicht mehr mit richtigem Geld bezahlen konnten, dazu übergegangen besondere Zuteilungsscheine auszugeben, mit denen man in bestimmten Geschäften Waren eintauschen können sollte.

Jetzt griff Cavallo zu Maßnahmen, die nicht nur die Arbeiter, sondern auch einen großen Teil von Argentiniens Selbständigen und der freiberuflichen Mittelklasse in die Armut trieben. Er nahm Geld aus den privatisierten Rentenfonds, um Schuldzinsen zurückzuzahlen, und verhängte sodann eine Sperre („Corralito“ = Zaun) auf alle Privatkonten, so dass die Leute nicht mehr als 1000$ im Monat abheben konnten (etwa 250$ je Woche). Alle versuchten rasch Geld von ihren Konten abzuheben – und standen vor leeren Geldautomaten und in endlosen Menschenschlangen. Dann führte er am 17. Dezember ein neues, 9 Mrd. $ schweres Sparpaket ein.

In den internationalen Medien wurde der „Corralito“ häufig so dargestellt, als ob er nur die Besserverdiener träfe. Tatsächlich hatten die Bestverdiener ihre Dollar schon lange vorher in sichere Häfen ins Ausland gebracht. Der „Corralito“ traf die mittleren und unteren Schichten des traditionellen Kleinbürgertums – Freischaffende, kleine Betriebe mit wenigen Angestellten, Ladeninhaber. Diese Gruppen sammelten den größten Teil ihrer Einkommen auf der Bank und verließen sich auf diese Ersparnisse, um über schwierige Zeiten hinweg zu kommen, wenn etwa die Geschäfte ausblieben, wenn sie krank waren oder wenn Rechnungen ihrer Kunden offen blieben. Jetzt konnte es plötzlich passieren, dass sie, aber auch sehr viele Angestellte, die ihre Gehälter auf Bankkonten überwiesen bekamen, ohne Einkommen dastanden. Schließlich waren auch viele arbeitslose Hilfsarbeiter auf die Banken angewiesen um zu überleben, nachdem sie nicht unmittelbar benötigte Zahlungen oder frühere Ersparnisse dort angelegt hatten.

Was also wirklich geschah, war, dass Cavallo mit seinem „Corralito“ klar machte, dass sich der argentinische Kapitalismus und sein Staat sich genau so wenig um die so genannten Mittelklassen sorgte als um die Arbeiter. Dies war der Schlussakt der Proletarisierung. Die Antwort der verarmten Mittelschichten war, gemeinsam mit den Arbeitslosen am 19. und 20. Dezember in die Straßen auszuschwärmen – und die Regierung aus dem Amt zu jagen.
 

Töpfe klopfen und Straßen blockieren – Cacerolazos und Piqueteros

Der Aufstand vom 19. und 20. Dezember war „spontan“ in dem Sinne, dass keine einzelne Organisation dazu aufgerufen hatte und keine einzelne politische Kraft seine Entwicklung leitete. Man fühlte sich an das Frankreich des 14. Julis 1789 und des Februars 1848 erinnert, an Russland Februar 1917, an Deutschland November 1918, Ungarn Oktober 1956, und wieder an Frankreich Mai 1968 und – jüngere Ereignisse – an Rumänien Dezember 1989, Albanien 1997 und an Serbien 1998 und 2000. Bei all diesen Ereignissen verschmolz der Zorn von Myriaden verschiedener Gruppen mit ihren eigenen besonderen Sorgen plötzlich zu einer explosiven Kraft, der die etablierten Herrscher nicht standhalten konnten. Einige der Herrschenden rannten um ihr Leben. Andere neigten sich vor der Macht der wütenden Bewegung, um zu versuchen zu einem späteren Zeitpunkt wieder die volle Kontrolle zurück zu gewinnen.

Berichte über den Aufstand in Argentinien erzählen, wie er verschiedene Ursprünge hatte. Da waren die hungrigen Menschen, die sich vor den Supermärkten versammelten und Lebensmittel forderten, und die dazu übergingen Banken anzugreifen und zu plündern, als sie sie nicht bekamen. Da waren die Menschen, die anfingen, sich in den Stadtbezirken (Barrios) zu sammeln und im Zorn auf den Corralito auf ihre Kochtöpfe (Cacerolas) trommelten und sodann in das Stadtzentrum zogen. Es gab die jungen Leute, die herbeiströmten, um sich der Mobilisierung anzuschließen, als diese einmal im Gange war. Es gab die Madres de la Plaza de Mayo, Frauen, die jeden Donnerstag gegen das „Verschwinden“ ihrer Kinder und Ehemänner während des „schmutzigen Kriegs“ der Junta protestierten. Aber als diese Gruppen einmal zusammengekommen waren und Widerstand leisteten, obwohl die Polizei 23 Menschen in Buenos Aires (und weitere zwanzig im Land) tötete, um so Cavallo zum Rücktritt und den Präsidenten De la Rua zur Flucht zu zwingen, da gab es dieses gemeinsame Bewusstsein des Cacerolazos („Kochtopfprotest“), das die Einzelinteressen der verschiedenen Gruppen aufhob (im Hegelschen Sinne). So kam es, dass sie neun Tage später wieder auf der Straße waren. Diesmal richtete sich ihre Wut gegen den Nachfolger Rodriguez Saá, und sie drangen ins Abgeordnetenhaus ein, um seinen Rücktritt zu erzwingen. Und drei Wochen später konnte die führende Zeitung Pagina 12 über eine neue Welle des Protests als über „das Gespenst, das Schrecken im Rosa Haus (im Präsidentenpalast) verbreitet“, berichten.

Inzwischen war ein gewisses Muster der Proteste entstanden. So beschreibt Pagina 12 einen typischen Protest, an dem sowohl wohlhabendere Mittelschicht- als auch ärmere Stadtviertel teilnahmen:

Der Cacerolazo begann an vielen Punkten in der Stadt und nahm an Zahl und Stärke zu. In dem Barrio Norte nahm er seinen Anfang auf den Balkonen und in den Hauseingängen unter begeistertem Hupen der Autos. Noch wurde nicht gesungen, und keine Fahnen waren zu sehen, und niemand hatte die Strasse gesperrt, aber der Lärm war schon ohrenbetäubend. Um neun Uhr abends, im Belgranoviertel, kamen sie aus ihren Häusern auf die Straße. Eine Gruppe schlug auf Metall und sang � eine andere Gruppe begann in Cabildo und Juramento immer mehr zu wachsen. In San Cristobal, einem Viertel, das bei früheren Cacerolazos sehr aktiv gewesen war, versammelten sich die Menschen in San Juan und La Rioja. Um ein Uhr mittags begann eine Menschenmenge sich vor dem Abgeordnetenhaus zusammen zu ballen. Zunächst kamen einige Dutzend, dann einige Hundert und schließlich immer größere Gruppen aus anderen Stadtvierteln Straßen entlang, die völlig gesperrt waren. Als eine kritische Masse erreicht worden war, formierte sich eine Marschkolonne, die sich hinunter zur Plaza de Mayo bewegte.

Das Ziel der Protestierenden war es, eine Änderung der Regierungspolitik herbeizuführen – oder sogar einen Wechsel der Regierung, wie sie es am 20. und 29. Dezember erreicht hatten. Und als sie nicht gleich Erfolg hatten, versuchten die jüngeren und ärmeren Teile der Menge sich zum Abgeordnetenhaus durchzukämpfen, was zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei führte.

Dieses Muster sich wiederholender Straßenkämpfe erinnert an die für die große Französische Revolution von 1789/94 charakteristischen „Journées“: Tage, an denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel von Paris von den Straßen zu den Machtsymbolen im Zentrum ausschwärmte. Ein Aufstand des einundzwanzigsten Jahrhunderts übernahm seine Form von der Urrevolution des achtzehnten Jahrhunderts!

Nach den ersten erfolgreichen spontanen Aufständen erkannten die Leute die Notwendigkeit sich zu organisieren. Teile der Medien versuchten den Eindruck zu erwecken, alles sei vorüber und behaupteten, alle wären an die Strände gegangen (auf der Südhalbkugel war Hochsommer). Andere erzählten Gräuelmärchen über die Mittelschichten, die in der Angst vor einem Mob der Armen lebten, der in ihre Häuser eindränge und ihr Eigentum stehle (das erinnert an „La Grande Peur“, „die Große Angst“, der Französischen Revolution). Und einige der ganz mächtigen Gewerkschaftsführer brachten ihren Einfluss auf Seiten der Regierung zur Geltung und versuchten die Proteste zu isolieren. Inzwischen führte es zu echten Problemen, sich einfach nur auf spontane Aktionen zu verlassen. In einigen Fällen griffen Arbeitslose und hungrige Arme nicht nur die großen Supermärkte und die Agrokonzerne an, sondern auch kleine Ladeninhaber und Straßenhändler, die fast so arm wie sie selber waren; dies drohte letztere in die Arme der Regierung zu treiben. Die jungen Leute, die die Hauptlast des Kampfes mit der Polizei trugen, konnten leicht von der Masse der Demonstranten isoliert werden, was es den staatlichen Geheimdiensten leichter machte, sich in Provokationen zu betätigen, die Unterdrückungsmaßnahmen rechtfertigen sollten. Schließlich mussten noch Peronistische Führer daran gehindert werden, zu einem alten Trick zu greifen, das heißt, Mobs von „Lumpenproletariern“ zu organisieren, die für dreißig bis fünfzig Peso am Tag die Protestierenden angreifen würden.

Die Leute fingen an, in „Volksversammlungen“, in Assemblias zusammenzukommen, wie es ein Bericht einer Zeitung aus einem der ärmeren Viertel von Buenos Aires beschreibt:

Sie sind Bewohner von San Christóbal. „In den letzten Wochen schwankten wir zwischen Begeisterung und Angst“, sagen sie. „Wir haben Dinge getan, an die wir nie jemals auch nur gedacht haben, und wir wissen immer noch nicht, was wir noch alles tun werden müssen.“ Sie trafen sich an der Ecke von Las Rioja und San Juan für die Proteste gegen De La Rua und marschierten zum Abgeordnetenhaus, und am nächsten Tag kamen sie wieder zusammen, um die Unterdrückung anzuklagen. Als die gesetzgebende Versammlung Duhalde ernannte, veranstalteten sie einen weiteren Cacerolazo. An diesem Sonntag folgten 150 Leute dem Aufruf zu einer Versammlung auf dem Platz Martin Ferro und organisierten spontan eine Versammlung. Inzwischen haben sie sich für eine festere Organisationsform entschieden „ohne die Parteien“.

Unter ihnen war „ein Priester, mehrere Hausfrauen, zwei Mitglieder der kommunistischen Partei, ein Mitglied der Arbeiterpartei, ein Barbesitzer, ein halbes Dutzend Arbeitsloser ... der örtliche Vorsitzende der peronistischen Partei, verschiedene Sozialarbeiter, Studenten und eine Gruppe Arbeiter von einem nahen Krankenhaus.“ „Wir stellen eine Liste aller Arbeitslosen des Viertels auf“, meinte einer. Andere erzählen: „Wir kümmern uns um die Sicherheit, denn auf dem letzten Cacerolazo waren ein paar Unbekannte“, und „Wir rufen zu einem neuen Cacerolazo auf gegen die steigenden Preise“.

Bald sprossen Versammlungen wie diese überall im Großraum Buenos Aires und in Dutzenden Provinzzentren aus dem Boden. Ein Journalist beschrieb eine Versammlung in einem wohlhabenden Viertel für die französische Zeitung Libération und gab so ein Gefühl für die Stimmung in diesen Versammlungen:

Es ist elf Uhr abends auf der Straßenkreuzung der Avenuen Cabildo und Congreso. Mit einem Lautsprecher in der Hand versucht ein etwa dreißigjähriger Mann etwas Ordnung herzustellen. „Wir wollen zu einer Abstimmung kommen über die Gedanken, die heute Abend formuliert worden sind“, als da waren: Keine Zurückzahlung der ausländischen Schulden und Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit; Verstaatlichung der Banken; Überprüfung der Verbindungen zu den ausländischen Unternehmen, die die öffentlichen Dienste übernommen haben und deren unverschämtes Verhalten alle empört hat. An diesem Montag dauerte die Versammlung drei Stunden. Zwanzig Menschen hatten gesprochen. Ein Vorsitzender hatte versucht, die Redezeit auf zwei Minuten zu beschränken, aber die meisten überschritten die Zeit. Sie sind keine Aktivisten irgendeiner Partei. Sie sind mit einem einzigen Transparent erschienen, mit dem sie den Verkehr gestoppt haben: „Die Assemblia Popular des Belgranobezirks“.

Einen Monat lang hat sich diese Szene jeden Abend wiederholt, von Montag bis Samstag, mal in diesem mal in jenem Stadtbezirk. Und am Sonntag sind ungefähr 5000 Leute im Centenario-Park bei der Hauptversammlung, zu der Leute aus der ganzen Stadt zusammen kommen. Aus diesen Assemblias heraus wurde der erste landesweite Cacerolazo geboren, der Zehntausende Leute auf die Straßen aller großen Städte brachte.

Ein Journalist der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada malt ein ähnliches Bild:

Inzwischen arbeiten Dutzende von Bezirksversammlungen, sie sind ein echtes Kind der Selbstorganisation des Volkes, die aus der Cacerolazo-Rebellion heraus entstanden ist. In dem Maße wie der Ärger über die ausländischen Banken und die Privatisierung wächst, wollen sie die Wahrheit über die Lage wissen und die Bestrafung der Verantwortlichen. In diesen Versammlungen sprechen sie heute über die „zehn Milliarden, welche die Elektrizitätsgesellschaften Edenor und Edesur genommen haben, über die 800 Millionen $ bis 1000 Millionen $ Jahresprofite der Telefongesellschaften.“

Ein Teilnehmer einer der Stadtversammlungen im Centenario-Park erzählt folgendes:

Es waren etwa 6000 Leute da von ungefähr 80 Stadtteilkomitees aus der Stadt und den Vororten und einschließlich der Piqueteros. In den politischen Parolen zeigte sich, welch fortgeschrittene Forderungen die verschiedenen Assemblias schon stellten, und sie zeigten, dass für die Bevölkerung breitere Kanäle der Meinungsäußerung geschaffen werden müssen, die unabhängig von den politischen Apparaten sind.

Zu den Forderungen gehörte: Keine Zurückzahlung der Auslandsschulden; Verstaatlichung der privatisierten Banken unter der Kontrolle der Arbeiter und Nachbarschaftskomitees; Bestrafung der für die Repressalien vom 19. und 20. Dezember Verantwortlichen; Aufstellung von Sicherheitsausschüssen auf Bezirks- und Stadtebene, um Polizeiprovokationen bei Versammlungen und Demonstrationen zu begegnen; Unterstützung der arbeitslosen Piqueteros; Einberufung einer Nationalversammlung der Piquetero-Organisationen und der Assemblias; Unterstützung des Kampfes der Eisenbahn-, Telekommunikations- und Textilarbeiter und Kritik des Verhaltens der Gewerkschaftsführer, die diese Kämpfe nicht unterstützten.

Ähnliche Versammlungen fanden in zahlreichen kleinen und großen Provinzstädten statt, in Cordoba, Neuquen, in den kleinen Städten Tucumáns, in Mercedes, La Plata, Olavarria, nur um einige zu nennen. Und in all diesen Fällen wurde nicht einfach nur geredet. Die Diskussion drehte sich um konkrete Aktionen vor Ort: sie fordern Medikamenten für die örtlichen Apotheken; unterstützen die Arbeiter, die um den Erhalt ihrer Betriebe kämpften; gehen zu Supermärkten, um Nahrungsmittel zu verlangen, und zu Banken, um darauf zu bestehen, dass den Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Gehälter ausbezahlt werden; sie protestieren gegen Repressalien; und immer wieder fordern sie Rückverstaatlichung der privatisierten Konzerne, Aktionen gegen die Banken und Widerstand gegen den Corralito.

Die Nachbarschaftskomitees und die Assemblias bringen die Notwendigkeit zum Ausdruck, dass diejenigen, die schon Präsidenten gestürzt haben, sich selbst organisieren müssen. In ihnen formiert sich die Masse, durch sie weist das Volk die alte Ordnung zurück. In dieser Hinsicht haben sie gewisse Ähnlichkeiten mit der Form massenhafter Selbstorganisation, die sich in den großen Kämpfen der Arbeiterklasse im zwanzigsten Jahrhundert als charakteristisch herausgebildet hat: die Form der Arbeiterräte oder Sowjets. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede.

Erstens sind die Assemblias noch nicht Delegiertenversammlungen. Die Anwesenden vertreten sich selbst, haben aber keine lebendige Verbindung zu einer Gruppe, die sie vertreten, – und von der sie abberufen werden könnten, wenn sie ihrem Willen nicht folgen. Zweitens ziehen die Assemblias Leute mit ganz unterschiedlichem Klassenhintergrund auf sich. Dies zeigt sich daran, dass es Stadtteilkomitees in den wohlhabenden Vierteln von Buenos Aires wie Belgrano oder Libertador genauso gibt, wie in den Vierteln der Arbeiter und unteren Mittelschicht.

Schließlich sind die Assemblias nicht in den Betrieben verankert, wohin Millionen Argentinier noch immer täglich zur Arbeit zusammengezogen werden. Hauptsächlich sind die Assemblias Versammlungen von Einzelpersonen aus der Nachbarschaft und den verschiedenen Piquetero-Organisationen der arbeitslosen Arbeiter. Laut Berichten spielen in einigen der Assemblias arbeitslose Aktivisten, die durch ihre Tätigkeit in früheren Arbeitskämpfen geprägt worden sind, eine wichtige führende Rolle. Das CCC-Banner von Corriente Classiste y Combative (Klassenkampfströmung) ist auf vielen Protesten zu sehen. Aber dies macht sie noch nicht zu einem lebendigen Ausdruck von Argentiniens Arbeiterklasse mit ihrer langen und kämpferischen Vergangenheit. Tatsächlich sind sie den Sektionen der Französischen Revolution, den nächtlichen Bezirksmassenversammlungen, ähnlicher, als den Arbeiterräten in Russland 1905 und 1917, in Deutschland November 1918 oder in Ungarn Oktober und November 1956.

Damit verbunden ist eine andere Besonderheit der Assemblias und der Cacerolazos. Obwohl ihre Forderungen das ganze Gebäude des argentinischen Kapitalismus zum Wackeln bringen, ist ihre Sprache doch großenteils nicht antikapitalistisch, geschweige denn sozialistisch. Statt dessen beschränken sich ihre Angriffe einerseits auf die Käuflichkeit der politischen Elite – die Leiter der beiden großen Parteien, das oberste Gericht, die Generäle –, andererseits auf die zerstörerische Rolle des ausländischen Kapitals bei der Privatisierung. Die Sprache ist nationalistisch, das häufigste Banner die Staatsflagge, das meist gesungene Lied die Nationalhymne.

Um diese Besonderheiten zu verstehen, muss man einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung der argentinischen Arbeiterbewegung werfen.
 

Der Peronismus und die Gewerkschaften

Der Peronismus beherrschte die argentinische Arbeiterbewegung über ein halbes Jahrhundert lang nach 1945, ganz so wie der Labourismus die britische Arbeiterbewegung beherrschte. Das war nicht immer der Fall gewesen. Zur Zeit der Semana Tragica 1919 gab es mächtige anarchistische, syndikalistische und reformsozialistische Flügel, und ab Beginn der 1920er Jahre bis in die 1940er Jahre hinein war der Kommunismus eine bedeutsame Kraft. Von da an aber dominierte der Peronismus.

Juan Peron selbst ließ sich von den „korporatistischen“ Vorstellungen des italienischen Faschismus beeinflussen (er hielt sich zwei Jahre in Mussolinis Italien auf und verbrachte sein Exil in den 1960er Jahren in Francos Spanien). Die Bewegung, die er aufbaute, war jedoch ganz bestimmt keine faschistische. In den Jahren 1943–45 gelang es ihm, eine Formel zusammenzuschustern, die in Teilen der Arbeiterschaft, Teilen der Bourgeoisie und Teilen des Staatsapparats gleichermaßen auf Zuspruch stieß. Peron verschob Ressourcen vom Agrarsektor in den Aufbau neuer verarbeitenden Industrien, die für den geschützten heimischen Markt produzierten, wobei er vielen der Forderungen einer bereits militanten Arbeiterklasse nachgab. Es gelang ihm, das Ganze als Kampf der gesamten argentinischen „Nation“ gegen eine parasitäre, an den „Imperialismus“ gekettete „Oligarchie“ darzustellen. Das ermöglichte ihm die Übernahme der Gewerkschaftsbürokratie aus den Händen ihrer alten kommunistischen bzw. sozialistischen Führer, entweder durch Bestechung oder dadurch, dass er seinen eigenen Leute an ihre Stelle setzte, unter Zustimmung der Arbeiterschaft.

Perons Formel hatte bereits an Glanz verloren, als ihn das Militär 1955 vor dem Hintergrund eines fallenden Lebensstandards der Arbeiterklasse schasste. Die Angriffe auf Arbeiterorganisationen seitens nicht-peronistischer Regierungen in den darauf folgenden 17 Jahren stärkten jedoch seinen Einfluss. Die Peron-Zeit erschien als goldenes Zeitalter im Vergleich zu den Zeiten danach. Das Image des Peronismus als politische Kraft der Arbeiterklasse wurde noch dadurch verstärkt, dass die Gewerkschaftsbürokratie den Kern des organisierten Peronismus in diesen 17 Jahren des Verbots der peronistischen Partei bildete. Für die überwiegende Mehrheit der argentinischen Arbeiter war der Peronismus die Arbeiterbewegung in jenen Jahren. Die Mehrzahl der Kämpfe, die sie unter den sich abwechselnden Militär- und zivilen Regierungen verfochten, wurden unter seinem Banner verfochten.

Der Peronismus blieb jedoch eine klassenübergreifende Allianz, beherrscht von den Erfordernissen eines Teils des argentinischen Kapitalismus. Politisch vertrat er eine mittlere Bourgeoisie, die von der Abschottung des Marktes profitierte, dazu die Bürokraten an den Schalthebeln der großen neuen Industrien und Banken unter staatlicher Leitung und schließlich die Gewerkschaftsbürokratie. Letztere war von Anfang an korrupt, wobei Einzelmitglieder oftmals gewinnbringende Verbindungen mit anderen Elementen innerhalb des Peronismus unterhielten. Dennoch musste sie sich um ihre gesellschaftliche Stellung schlagen. Daher handelte sie nicht ausschließlich bürokratisch. Von Zeit zu Zeit sah sie die Notwendigkeit von wohl kontrollierten aber dennoch sehr militanten, zuweilen sogar gewalttätigen Aktionen, ein, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und um sich die Loyalität der Arbeiter zu erhalten. Sie ähnelte in mancherlei Hinsicht mehr der korrupten amerikanischen Gewerkschaft der Teamsters unter der Herrschaft von Jimmy Hoffa als dem britischen Gewerkschaftsbund TUC, nur dass sie eine viel zentralere Rolle im Mainstream bürgerlicher Politik einnahm.

Die zweite Periode peronistischer Herrschaft, beginnend 1973, hätte die politische Bewegung beinahe zerrissen. Eine neue Generation von Studenten und jungen Arbeitern hatte während der blutigen Repression der Ongania-Diktatur der späten 1960er Jahre den Peronismus einer eigenen revolutionären Interpretation unterzogen. Perons Nationalismus stammte für sie vom gleichen Stall wie die kubanische Revolution, Che Guevara und der vietnamesische Befreiungskampf, für sie war der Kampf der argentinischen Arbeiter Teil eines nationalen Kampfes gegen den Imperialismus (das, obwohl die argentinische Bourgeoisie ihre politische Unabhängigkeit schon lange errungen hatte und es keine fremden Militärbasen und nur wenig ausländisches Kapital gab). Das brachte den bewaffneten linken Flügel der peronistischen Jugend dazu, Streiks, Besetzungen und Zusammenstöße mit der Staatsmacht zu unterstützen. Nachdem der Peronismus aber wieder an der Macht war, suchten die in ihm enthaltenen bürgerlichen Kräfte und die mit ihnen verbundenen politischen Bosse zunehmend danach, die Arbeiterbewegung und die Linke zu unterdrücken. Bereits 1974–75 organisierte Lopez Vera, Schlüsselminister in Isabel Perons Kabinett, bewaffnete Banden (die AAA, Antikommunistische Allianz), um Gewerkschaftsaktivisten und Linke, darunter auch formal noch-Anhänger des Peronismus, zu ermorden. Die Gewerkschaftsbürokratie saß zwischen zwei Stühlen, einmal die Angriffe auf die Linke willkommen zu heißen und zum anderen, ihren Einfluss in der Arbeiterklasse – und damit auch ihr Faustpfand gegenüber der herrschenden Klasse – mit gewissen militanten Gesten aufrecht zu erhalten (dazu zählt der allererste Generalstreik gegen eine peronistische Regierung im Jahr 1975).

Die Krise innerhalb des Peronismus kreierte eine Öffnung für andere politische Kräfte. Die „klassistische“ Strömung, die auf die Arbeiterklasse anstelle einer Allianz mit „patriotischen Arbeitgebern“ schaute, spielte eine wichtige Rolle in den „neuen“ Industrien wie jenen Cordobas. Maoisten gewannen an Einfluss in einigen lokalen Gewerkschaften. Eine trotzkistische Organisation, die dem Peronismus beigetreten war, trat wieder aus, wobei sie mehrere Tausend Mitglieder mitnahm, bevor sie sich ihrerseits in einen guevaristischen Flügel, die PRT/ERP, mit ihrer Schwerpunktsetzung auf den Guerillakrieg und beträchtlichem Einfluss in Orten wie Cordoba, und eine rivalisierende Partei, die PST, mit ihrer Orientierung auf die Gewerkschaften, spaltete.

Der Einfluss des Peronismus lebte aber fort. Das gelang ihm, weil er die Haupterscheinungsform des Reformismus in Argentinien darstellt, auch wenn er sich von der europäischen Sozialdemokratie in mancherlei Hinsicht ziemlich unterscheidet. Arbeiter ohne das Selbstvertrauen, sie könnten aus eigener Kraft den Kapitalismus herausfordern und schlagen, schauten auf die Peronisten, die den einzigen großen Sieg, den sie innerhalb des Systems errungen hatten, den von 1945, symbolisierten, um begrenzte Ziele für sie innerhalb des bestehenden Systems durchzusetzen. Ihre Bereitschaft, ihm zu folgen, konnten sie nicht vollständig abstreifen, solange sie keine revolutionäre politische Kraft gefunden hatten, die sie zumindest zu begrenzten Siegen hätte führen können. Daher die paradoxe Wirklichkeit, dass gerade die von der peronistischen Führung herbeigeführten Niederlagen die Arbeiter dazu bringen konnten, sich weiterhin auf eine solche Führung zu verlassen.

Der Angriff auf die Linke half auch seinerseits der peronistischen Bürokratie nach dem Putsch von 1976. Aktivisten an der Basis wurden regelrecht dezimiert, man schätzt, dass 10.000 von insgesamt 100.000 Betriebsräte unter der Militärdiktatur ermordet wurden. Die Bürokratie blieb mehr oder minder intakt, hielt ihre Kontakte mit den führenden Generälen aufrecht und war sogar in der Lage, auf nationaler Ebene wieder Präsenz zu zeigen, machte aber auch Zugeständnisse an die ökonomische Erbitterung einfacher Gewerkschaftsmitglieder durch die Ausrufung von eintägigen Generalstreiks. Nach dem Sturz der Junta gewannen oppositionelle Listen die Wahlen in bestimmten Gewerkschaften, aber der Einfluss peronistischer Ideen in der Arbeiterklasse insgesamt war Ende der 1980er Jahre stark genug, um den Wahlsieg Menems von 1989 als großen Sieg erscheinen zu lassen. Eine Untersuchung über Arbeiterkämpfe in den Werften von Buenos Aires hält fest:

In diesem Augenblick glaubte die große Mehrheit der Arbeiter, dass der Peronismus an der Macht eine Rückkehr zu jener Epoche einleiten würde, als die Arbeiter 47 Prozent des Volkseinkommens erhielten und einen Job und einen Lohn haben konnten, die ihnen ermöglichten zu leben... Sogar die militantesten Sektoren in den Werften verloren nicht alle ihren Illusionen in die bürgerlichen Parteien, in die Gewerkschaftshierarchie und in die Gesetze und die Gerechtigkeit der Unternehmer.

Diese Illusionen ermöglichten es Menem und Cavallo, ihre Privatisierungs- und Restrukturierungspläne ohne koordinierten Widerstand durchzupauken. Es gab Ausbrüche der Erbitterung mit Streiks und Besetzungen wegen Fabrikschließungen und Entlassungen. Es waren aber in der Regel isolierte Ausbrüche, gefolgt von Niederlagen und Demoralisierung. Die ganze Zeit hielt der Druck auf die Arbeiter an, härter zu schuften, wobei das Management offen damit drohte, den Betrieb zu schließen, falls sie nicht spurten. Unter solchen Umständen hatten die angebotenen Abfindungen eine ähnliche Wirkung wie beispielsweise in den 1980er in England. Viele Arbeiter, die keine Hoffnung hatten, die Jobs der gesamten Belegschaft durch kollektiven Kampf zu retten, entschieden sich für das Lockangebot.

1.000 Arbeiter in den kämpferischen Werften von Astilleros de Rio Santiago fanden sich 1981 schließlich mit freiwilligen Kündigungen ab. Einer der Aktivisten gibt zu: „Die freiwillige Kündigung war eine große Verlockung für uns alle, auch für mich.“ Der marxistische Historiker der argentinischen Arbeiterbewegung, Pablo Pozzi, erzählt:

„Ohne Hoffnung auf einen neuen Arbeitsplatz eröffneten die entlassenen Arbeiter kleine Geschäfte, Zeitungsverkaufsstände beispielsweise, oder Lebensmittel- und Gemüseläden. Die Zahl der Taxis in Buenos Aires stieg zwischen 1988 und 1994 von 36.000 auf 55.000.“

Diejenigen Arbeiter, die ihre Jobs behielten, wurden noch abhängiger als zuvor vom dürftigen Schutz durch ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft. Ohne das nötige Selbstvertrauen, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen, bedeutete dies Abhängigkeit von den Gewerkschaftsbürokratien. Auch wenn es um Entlassungen ging, waren schlechte, von den Gewerkschaftsbürokraten ausgehandelten Abfindungen besser als die vom Unternehmer ohne jegliche Verhandlung auferlegten kläglichen Bedingungen. Teile der Gewerkschaftsbürokratie sahen sich doch gezwungen, sich von der Regierung zu distanzieren, und spalteten sich von der CGT ab. Das war aber nicht dasselbe, als eine Führung im Massenkampf zu bieten.

Sogar als die Arbeiter Mitte der 1990er Jahre ihr Vertrauen in Menem endlich verloren, behielten sie Illusionen in seinen ehemaligen Vizepräsidenten Duhalde, mittlerweile Gouverneur von Buenos Aires. Dieser benutzte seine Stellung, um sich nach Möglichkeit von der Zentralregierung zu distanzieren, womit er „Illusionen unter der großen Mehrheit der Werftarbeiter schuf“.

Zu dieser Zeit versuchte Duhalde auch, seinen eigenen, von den Gewerkschaften unabhängigen politischen Apparat zu schaffen durch „ein Nachbarschaftsnetzwerk auf Provinzebene getragen von den Manzaneras (Blockführerinnen). Diese Frauen verteilten die Hilfsgüter der Regierung und dienten als Vermittlerinnen von politischen Gefälligkeiten ... Sie beteiligten sich an der Nachbarschaftskontrolle und der politischen Mobilisierung.“ Sogar noch in den vergangenen Wochen deutet die Berichterstattung darauf hin, dass Duhalde in manchen ärmeren Stadtvierteln noch genügend Einfluss besaß, um „lumpenproletarische“ Gruppen gegen Bezahlung in seinem Namen mobilisieren zu lassen, zunächst gegen die De la Rua-Regierung und dann gegen die Linke.

Die bittere Erfahrung der 1990er Jahre hat den Einfluss des Peronismus unter der organisierten Arbeiterschaft erschüttert. Aber zum Ende des Jahrzehnts gab es drei rivalisierende Gewerkschaftsdachverbände – die offizielle CGT, die sich nach wie vor fest in der Hand von Bürokraten des alten Stils befand, eine dissidente CGT-combatiente [kämpfende CGT], die sich vom Peronismus leicht distanzierte, und die CTA, die in Worten nach links neigt. Die Methoden dieser rivalisierenden Föderationen unterschieden sich aber nicht grundsätzlich von denen der „offiziellen“ CGT. Sie riefen gelegentlich zu Streiks auf, um Druck auf die Unternehmer und die Regierung auszuüben, aber sie unternahmen nicht den Versuch, konsequente Kämpfe zur Verteidigung ihrer Mitglieder zu organisieren. Noch 1997, als ca. 40 Prozent aller Arbeiter im Land einem Aufruf der CTA zum Generalstreik folgten und dadurch eine Stimmung entstand, die bald auch die CGT zu ähnlichen Aktionen gegen die Menem-Regierung bewegte, sahen ihre Führer immer noch ihre Hauptaufgabe darin, Druck auf die Menschen in Machtpositionen auszuüben, und beteiligten sich an der Wahlkampagne für die bürgerliche Radical-Frepaso-Koalition.

Die Grenzen aller Gewerkschaftsverbände zeigten sich in den beiden letzten Wochen des Monats Dezember. Es gab einen Generalstreik am 13. Dezember. Aber die Gewerkschaften unternahmen nichts in den entscheidenden Tagen nach der Ankündigung der Corralito am 17. Dezember, so dass Arbeiter als organisierte Kraft am 19./20. Dezember einfach nicht präsent waren. Erst als die Regierung in den letzten Zügen lag, am 20. Dezember, kündigte die CTA einen Generalstreik für den nächsten Tag an – der dann abgeblasen wurde, nachdem die Regierung gestürzt war. Und in den darauf folgenden Tagen stellte sie sich nicht an die Spitze der regierungsfeindlichen Stimmung in der großen Masse der Bevölkerung, sondern traf sich statt dessen mit Rodriguez Saá zusammen und erklärte ihn zu einem der ihren, einem „Peronisten alten Schrots“.

Seitdem hat die CTA-Föderation einigen Protesten ihre Unterstützung zukommen lassen, auch einige örtliche Gewerkschaftsorgane taten das Gleiche. Aber die beiden wichtigsten Gewerkschaftsdachverbände halten sich nach wie vor abseits von den Protesten und versuchen, die Millionen Arbeiter, die noch eine Stelle haben, wie gefährdet diese auch sein mag, von der Bewegung, die die Straßen und die Nachbarschaften erobert hat, zu isolieren.

Die herrschende Klasse in der Krise

In einer berühmten Textstelle stellte Lenin die These auf, dass es für das Vorhandensein einer revolutionären Situation nicht ausreiche, dass die ausgebeutete Klasse die Verhältnisse für unerträglich hält. Auch die herrschende Klasse müsse zu dem Ergebnis kommen, dass es nicht wie bisher weitergehen könne. Dies erzeugt tiefe lähmende Spaltungen innerhalb dieser Klasse, und so wird die ganze Gesellschaft in Aufruhr gestürzt, und die ausgebeutete Klasse wird angespornt, ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen.

Dies war schon in der Krise im letzten März klar, als Lopez Murphy und dann Cavallo, der ihn ersetzen sollte, gestürzt wurde. Als Lopez Murphy seinen Plan ankündigte, schmerzhafte Kürzungen im Ausbildungswesen vorzunehmen, wurde er von 300 versammelten führenden Geschäftsleuten in den Himmel gelobt. Aber zur selben Zeit nahm die UIA („Union Industrial Argentina“, eine Art Arbeitgeberverband) gegen diesen Plan Stellung. Als Cavallo wieder zum Wirtschaftsministerium zurückkehrte, kamen diese Streitigkeiten kurz zu einem Ende, nur um noch heftiger bis zum Sommer wieder aufzuflammen. Der Streitpunkt innerhalb der kapitalistischen Klasse war, ob eine Abwertung des Peso aus der Krise führen könnte (in der Hoffnung, dass so Einfuhren vermindert und Ausfuhren gesteigert werden könnten), oder ob der Peso ein für alle Mal durch den US-Dollar ersetzt werden sollte (so dass ausländische Investoren „Vertrauen“ fassen würden, Argentinien Geld zu leihen).

Diesem Streit über die Geldpolitik lag ein Konflikt zwischen verschiedenen realen materiellen Interessen zugrunde. Die Dollarisierung war ein Weg für die ganz Reichen und für diejenigen Finanzsektoren, die während der letzten zehn Jahre gutes Geld zusammengerafft hatten, ihren Reichtum vor der argentinischen Krise zu schützen. In Dollarform konnte dieser Reichtum in alle Welt geschafft werden, um erneut profitabel investiert zu werden. Dagegen wollten die Industriekapitalisten und sogar ausländische Firmen, die im Zuge der Privatisierung Industrieanlagen aufgekauft hatten, von der Dollarbindung loskommen. Der Neoliberalismus hatte ihnen in den frühen 90er Jahren gepasst, als dadurch kleine Firmen aus dem Markt gedrängt wurden und sich in ihren Händen immer mehr Vermögenswerte konzentrierten. Sie waren bereit, die Zerstörung gewisser „nicht wettbewerbsfähiger“ Branchen hinzunehmen, um so einen schlanken argentinischen Kapitalismus zu schaffen mit niedrigen Arbeitskosten. Aber der hohe Wert des Peso, solange dieser fest an den Dollarkurs gebunden war, untergrub die Fähigkeit der übrigen Branchen, ihre Waren gegen die ausländische Konkurrenz zu verkaufen. Sie glaubten, dass bei einer Pesoabwertung ihre Waren zu niedrigeren Preisen im Ausland verkauft werden könnten, während gleichzeitig Einfuhren erschwert würden und sie im Inland höhere Preise verlangen könnten. Deshalb waren das Produzierende Gewerbe und die großen landwirtschaftlichen Konzerne gegen die Dollarisierung und machten Druck für eine Abwertung.

Die Krise innerhalb der herrschenden Klasse spitzte sich politisch weiter zu, als der IWF sich Mitte Dezember weigerte, mehr Geldmittel freizumachen, und das Bankensystem festzufahren drohte. Die beiden großen Parteien, die Radikalen und die Peronisten, waren zunehmend intern gespalten, wobei die verschiedenen peronistischen Politbosse vor Ort Maßnahmen zur Stärkung ihrer eigenen Stellung durchführen wollten, ohne sich dabei groß um die Interessen der herrschenden Klasse insgesamt zu kümmern. Kein Politiker war stark genug, sei es um eine Dollarisierung, sei es um eine Abwertung durchzusetzen. Die Dinge trieben ohne politische Richtung dahin, wenn man von immer neuen Haushaltskürzungen absieht, bis schließlich der Dollarmangel die Regierung zwang, die Bankguthaben einzufrieren und so besiegelte die Regierung ihr Schicksal.

Als dann die Massen auf die politische Bühne stürmten, erhöhte dies noch die Zersplitterung. Miteinander rivalisierende Politiker mussten nicht nur auf die Einflüsterungen der miteinander verfeindeten Parteien reagieren, sondern auch noch auf den Druck von unten. Sie wussten, dass ein falsches Wort oder eine Verärgerung der Massen den politischen Ruf ruinieren könnte. Dagegen könnte eine volkstümliche Geste ihnen eine erstaunliche Karriere verschaffen. Auf diese Weise griffen die Straßenunruhen auch auf den Kongress und den Präsidentenpalast Casa Rosada, das „Rosa Haus“, über. Rodriguez Saá wurde von der politischen Elite zum Präsidenten ernannt, nur um schon eine gute Woche später nach weiterem Massenaufruhr auf den Straßen und nach einem politischen Ränkespiel seiner Rivalen aus den Reihen der peronistischen Bosse wieder gestürzt zu werden. Duhalde, einer der Hauptintriganten, nahm seine Stelle ein, aber schien unfähig ein stimmiges Programm aufstellen zu können. Er kündigte eine Abwertung und ein Moratorium (einen Zahlungsaufschub) für Zahlungen auf die Auslandsverschuldung an, vertrödelte aber einen Monat damit um herauszukriegen, was das eigentlich für die Milliarden von Pesos bedeutete, die in den Banken deponiert oder ihnen geschuldet waren. Währenddessen blieb der Corralito, also das Einfrieren der Bankguthaben, in Kraft und damit hielt die Verbitterung der Mittelschichten an. Die Regierung verurteilte zwar „die ungeheuerliche Steuerhinterziehung, die zu Lasten der Verbraucher geht und auch noch mit der niedrigsten Profitbesteuerung der Welt einhergeht,“ und sie schickte die Polizei aus, um die Bücher jener Banken zu prüfen, die im Verdacht standen, Kapital ins Ausland zu schaffen. Aber sie beeilte sich auch, den ausländischen Eigentümern der privatisierten Konzerne zu versichern, dass nicht gegen ihre Interessen verstoßen würde, und sie leitete Gespräche mit dem IWF über Schuldenzurückzahlungen ein.

Martin Wolf, Korrespondent der Financial Times, brachte den Unmut vieler kapitalistischer Gruppen über das Durcheinander in der Regierung auf den Punkt: „Dank dem argentinischen Präsidenten ist an die Stelle der Katastrophe eine noch schlimmere Katastrophe getreten“, weil er eine „volkstümliche“ Politik versucht hat, die jedermann zufrieden stellen sollte. Wolf sagte freilich nicht, was Duhalde hätte tun sollen, um seinen Kopf politisch zu retten.

Eine Woche später kamen die vorher verfeindeten Sektionen des argentinischen Großkapitals zusammen um Druck auf Duhalde zu machen, damit er seinen „Populismus“ aufgäbe. Eine Überschrift in Pagina 12 lautete: „Die heilige Allianz der 90er Jahre ist zurückgekehrt.“ Der Artikel darunter berichtete, dass sich die „argentinischen Banken und die stärksten Interessengruppen“ zusammen getan haben, nachdem in der Abwertungsfrage eine Einigung erzielt worden war.

„Nach der Abwertung haben die Banken und die großen Wirtschaftsblöcke wie Pérez Companc, Techint, Macri, Fortabat und Bulgheroni gemeinsame Interessen festgelegt und sie haben die Gesellschaft, wie sie in den 90er Jahren geschaffen worden war, mit neuen Waffen versehen. Der Kampf der Union Industrial, der Bauindustrie und der Agrarlobby gegen die Profiteure des letzten Jahrzehnts ist beendet.“

Doch auch dies rief keineswegs ein Ende der politischen Grabenkämpfe unter den Anführern der Neoliberalisierung herbei. Genau an dem Tag, als dieser Artikel erschien, griff das oberste Gericht ein, um das Einfrieren der Bankkonten, den Corralito, für ungesetzlich zu erklären – wäre das durchgesetzt worden, wäre den Banken das Geld ausgegangen und die Wirtschaftskrise hätte sich stark vertieft. Das Gericht wird von von Menem selbst während seiner Präsidentschaft persönlich ausgewählten Leuten beherrscht und gilt allgemein als über Menems Person mit mächtigen und zweifelhaften Wirtschaftsinteressen verbunden. Die Maßnahme war klar ein Schachzug, der die Duhalderegierung ins Wanken bringen sollte. Während riesige Menschenmengen wieder durch die Innenstadt von Buenos Aires schwärmten, kündigte Duhalde einen neuen Plan an, um langsam die eingefrorenen Bankkonten freizugeben und Parlamentsabgeordnete sprachen davon, gegen das oberste Gericht eine Verfassungsklage einzureichen. Der Korrespondent der Financial Times meinte, dies könnte „der Auftakt zur größten Verfassungskrise sein seit der Rückkehr des Landes 1983 zur Demokratie.“ In den folgenden Tagen „machten Gerüchte über einen Militärputsch oder über einen zivil-militärischen Putsch die Runde, was die Regierung noch mehr schwächte.“

Die Regierungsmaßnahmen gegen die Bankenkrise verschärften die sozialen Spannungen. Die Regierung versuchte die Maßnahmen populistisch zu verkaufen, indem sie behauptete, Ziel der Maßnahmen wäre, die Bankguthaben in ausreichendem Maße freizugeben, so dass man jeden Monat in Höhe des eigenen Lohnes oder der eigenen Rente Beträge abheben könnte. Aber es stellte sich bald heraus, dass mehr im Spiel war.

Als der Dollar am Markt etwa 1,80 Peso wert war, hatte die Regierung zugesagt, den Betrag, der von Großschuldnern (mit mehr als 100.000 Dollar Schulden) an die Banken zurückgezahlt werden musste, auf einen Peso je Dollar Schulden zu beschränken und den Banken den Restbetrag zu erstatten. Tatsächlich wurden so die Schulden der riesigen Finanz- und Industriekonzerne „verstaatlicht“. Gleichzeitig sollten Kunden mit Sparguthaben bei den Banken nur 1,40 Peso je Dollar Sparguthaben erhalten. Praktisch sollten die Kleinsparer gemeinsam mit der Regierung die Großschuldner subventionieren. So würde zum Beispiel die Schuldenlast der Firma Pérez Companc von 350 Millionen $ auf die Hälfte vermindert und gleichzeitig die Staatsverschuldung um schätzungsweise sieben Milliarden $ erhöht werden.

Dieses Geschäft war für das Großkapital erheblich günstiger als das, was ursprünglich von Duhaldes Wirtschaftsminister Remes Lenicov angestrebt worden war. Aber die „Wirtschafts- und Bankenkreise“ mit der „indirekten Hilfe des Obersten Gerichts, das die Duhalderegierung an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte“, brachten die Regierung dazu, die Maßnahmen in dieser Endform einzuführen. Nicht nur die Kleinsparer waren betroffen. Tatsächlich fingen in den folgenden Tagen die Preise auf breiter Front zu steigen an, wobei die Preise für Medikamente (sowohl der im Inland hergestellten als auch der importierten Medikamente) über Nacht um 35 % nach oben schossen. Schließlich ersuchte die Regierung auch noch den Internationalen Währungsfonds um weitere Abkommen und versprach, um diese zu erhalten, weitere Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben. Dies kann bei steigenden Preisen die Wirtschaft nur noch tiefer in die Rezession stürzen.

Natürlich nahmen in den Tagen nach der Verkündigung dieser Maßnahmen die sozialen Spannungen nicht ab. Arbeitnehmer, die noch einen Arbeitsplatz haben, werden gezwungen sein, um den Erhalt der Kaufkraft ihrer Einkommen angesichts starker Teuerung und um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze in einer sich vertiefenden Rezession zu kämpfen. Die Arbeitslosen werden mit noch größerem Druck in tiefste Armut gedrängt werden. Und die kleinen Sparer werden sehr verbittert darüber sein, dass sie die großen Kapitalisten subventionieren werden müssen.

Aus Buenos Aires wird folgendes berichtet:

Jeden Tag gewinnt die Bewegung der Volksversammlungen, der Assemblias, mehr an Stärke. Die offenen Treffen, die Assemblias in den Vierteln und die branchenübergreifenden Versammlungen haben sich auf fast alle Provinzhauptstädte ausgeweitet und fangen an, dank der Maßnahmen der Piqueteros (Straßenblockierer), weite Bereiche des Ballungsraumes von Buenos Aires zu erfassen (vor allem die an die Hauptstadt angrenzenden Gebiete, wie z. B. Matanza, Valentin Alsina und Tres de Febrero, die Hochburgen des Duhaldeapparates gewesen waren). Dies macht, wie man sich vorstellen kann, den Parteiapparat der Justizpartei in Buenos Aires sehr besorgt. Auf der letzten Demonstration konnte man sehen, wie die Assemblias daran gingen, sich mit der Bewegung der Straßenblockierer, der Piqueteros, zu vereinigen; sie riefen die gleichen Parolen („Piquete y cacerola, Blockade und Töpfeklopfen, der Kampf ist der gleiche!“, „Arbeit für alle!“, „Verjagt sie alle, keiner darf bleiben!“) und marschierten gemeinsam zur Plaza de Mayo.

Quo vadis Argentinia?

Die wirtschaftliche und politische Instabilität Argentiniens macht es unmöglich, vorherzusagen, was als nächstes passiert. Die Regierung versucht verzweifelt, die Proteste der Töpfeklopfer, der Cacerolazos, klein zu kriegen, indem sie versucht, Teile der Mittelklasse von der Bewegung der Armen und Arbeitslosen abzubringen. Sie hofft auch verzweifelt, dass die bürokratischen Führungen der beiden CGT-Gewerkschaften es verhindern können, dass ganze Belegschaften der nichtarbeitslosen Arbeiter in diese Bewegungen hineingezogen werden. Dies ist der Geist, der hinter ihren verschiedenen „volkstümlichen“ Versprechungen steckt. Sie zielen darauf ab, eine Lage zu schaffen, in der die Staatsmacht gegen die Bewegung auf der Straße entfesselt werden kann.

Die Regierung kann aber diese Versprechungen nicht erfüllen, ohne die mächtigen finanziellen und industriellen Interessengruppen zu verärgern. Die Lage des argentinischen Kapitalismus lässt es schlicht nicht zu, dass die Regierung die unmittelbaren Forderungen der Masse der Mittelklassen erfüllen kann, geschweige denn die der Arbeiter mit Arbeitsplatz, ohne dabei sehr mächtige Kapitalgruppen vor den Kopf zu stoßen. Und diese Gruppen werden alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Druck auf die Regierung zu machen. Große Teile der herrschenden Klasse warten schon sehnlichst darauf, dass sie endlich die Armee und die Polizei einsetzen können, um weit und breit im ganzen Land „die Ordnung wieder herstellen“ zu können.

Zur Zeit sind sie noch weit davon entfernt so etwas tun zu können. Sie brauchen immer noch eine „volkstümliche“ Regierung à la Duhalde, selbst wenn sie darüber stöhnen und sich vielleicht für eine andere Führungsfigur an der Regierungsspitze entscheiden. Aber wenn immer es Duhalde gelingen mag, die Massenbewegung etwas abzukühlen, werden sie dies sofort ausnutzen, um möglichst ehrgeizige Pläne voranzutreiben und die Unterdrückung zu verschärfen. Es ist beispielsweise nicht auszuschließen, dass sie einige der rechten nationalistischen Gruppen, die in der Vergangenheit floriert haben, wieder aufpäppeln, nicht unbedingt, um diese an die Macht zu bringen, aber um deren Kräfte dazu zu nutzen, das politische Leben des Landes in sicherere, mehr rechtsgerichtete Bahnen zu lenken. Sie werden darauf hoffen, dass sie eben von der Verbitterung, die die Wirtschaftskrise erzeugt hat, zehren können. Die Arbeitslosigkeit, die Pleiten der kleinen Geschäfte, die Atomisierung und Vereinzelung der Armut, all dies kann Menschen dazu bringen sich für die Versuchungen rechter Gedanken zu öffnen. Die 90er Jahre kannten in Argentinien nicht nur den Aufstieg der Piqueteros. Es gab auch Kampagnen gegen Einwanderer aus Chile, Paraguay und Bolivien, und bei einigen Wahlen wechselten enttäuschte Wähler zu einer rechtsextremen Partei. Wie sagte Pablo Pozzi vor zwei Jahren:

Rassismus hat erkennbar zugenommen. Witze, Bemerkungen und Diskriminierung richten sich oft gegen neue Einwanderer aus Nachbarstaaten und aus Südkorea. Dieser Rassismus drückt sich oft in Vorstellungen aus, wonach Chiloten (Chilenen) und Boliguayos (Bolivier und Paraguayer) faule, rückständige, diebische Leute sind, die gekommen sind, um den Argentiniern die Arbeitsplätze wegzunehmen� Neue Untersuchungen zeigen, dass – Rassismus – während der letzten zehn Jahre zugenommen hat.

Das Erstarken der Kämpfe hat für den Augenblick die Stimmen dieser rassistischen und nationalistischen Demagogen zum Verstummen gebracht, die gerne versuchen würden, aus solchen Gefühlen politischen Honig zu saugen. Bemerkenswerterweise bringen die Beschlüsse der Assemblias ihre Solidarität mit den Einwanderungsgruppen zum Ausdruck. Aber es gibt wohl die Gefahr, dass Rassisten und rechte Nationalisten erneut Gehör finden, wenn es der Massenaktion der Cacerolazos und der Piqueteros nicht gelingt, mit der furchtbaren Armut, in der etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt, fertig zu werden.

Aus diesem Grunde reicht es für die Linke in Argentinien nicht aus, einfach nur die Ereignisse der Vergangenheit hochzuhalten. Die große Weltkrise der dreißiger Jahre lehrt, dass unter solchen Bedingungen große Hoffnungen geweckt werden können (Spanien 1931 und 1936, Frankreich 1934 bis 1936), es kann aber auch zu konterrevolutionärer Verzweiflung kommen (Deutschland 1933). Die Linke muss versuchen, die Bewegung weiter zu bringen, damit die Hoffnung stärker ist als die Verzweiflung.

Zwei Dinge sind hier entscheidend. Einmal ist dies die Verallgemeinerung der politischen und sozialen Forderungen, die bereits aus den Assemblias heraus erhoben werden – Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich; Sozialhilfe, die ausreicht, um die Menschen aus der Armut zu holen; Verstaatlichung der Banken; Rückverstaatlichung der bereits privatisierten Firmen; Beschlagnahmung von Fleisch und Getreide der Agrarfirmen und Supermarktketten, um die Menschen zu ernähren.

Aber außerdem muss auch versucht werden, die Mobilisierung und Organisierung auszuweiten, damit Kräfte erschlossen werden können, die auch in der Lage sind, solche Forderungen durchzusetzen. Ein Aktionsprogramm hilft keinem hungrigen Menschen, solange es nur auf dem Papier steht – deshalb sind auch scholastische Debatten über den genauen Wortlaut solcher Programme eine Ablenkung vom Kampf. Was not tut, ist eine Macht, die daran gehen kann, ein solches Programm auch durchzusetzen. In Argentinien heißt dies, die nicht arbeitslosen Arbeiter mit einzubeziehen, die immer noch unter dem Einfluss der Gewerkschaftsbürokratie stehen. Inzwischen gibt es weniger solche Arbeiter als noch vor der Wirtschaftskrise. Es sind aber immer noch Millionen (Ende letzten Jahres waren das 1.610.000 im Großraum Buenos Aires, 210.000 im Großraum Cordoba, 110.000 im Großraum Rosario), und ihre Arbeitskraft ist immer noch für das tagtägliche Funktionieren des argentinischen Kapitalismus entscheidend. Wie Arbeiter in anderen Teilen der Welt zögern wegen der Massenarbeitslosigkeit viele von ihnen sich in einen Kampf zu begeben, wenn sie fürchten müssen, er könnte schlecht ausgehen. Die Gewerkschaftsbürokratie hat diese Angst benutzt und behauptet, es gäbe für die Arbeiter keine andere Hoffnung als Duhalde. Aber die Arbeiter haben in den letzten Wochen Erfahrungen durchlebt wie niemand sonst irgendwo. Sie erlebten, wie Massenaktion ganze Regierungen stürzen kann – und viele von ihnen sind als Einzelpersonen bei den Massenaktionen der letzten Wochen dabei gewesen, halt nicht als Teil organisierter Betriebsgruppen. Mehr noch: zumindest einige von ihnen waren in diesen Wochen an erbitterten Betriebskämpfen beteiligt, um ihre Arbeitsplätze zu verteidigen, und haben Verbindungen zu den Piqueteros geknüpft, und andere werden nicht darum herum kommen, zu kämpfen, wenn sie ihren Lebensstandard gegen die Teuerung verteidigen wollen. Dies eröffnet die Aussicht, dass sie für die weitreichenden Forderungen gewonnen werden können, die nur mit Hilfe ihrer Macht durchgesetzt werden können. Eine erfolgreiche Durchsetzung dieser Forderungen würde dem argentinischen Aufstand klar eine antikapitalistische Richtung geben.

Die argentinische Linke ist, wie wir gesehen haben, schwach. Aber Situationen wie jetzt in Argentinien verändern das Bewusstsein von Tausenden von Leuten. Wenn ich argentinische Zeitungen lese und argentinische Nachrichten auf dem Internet anschaue, werde ich an die Atmosphäre von Frankreich 1968 erinnert oder von Portugal 1975. Auch damals gab es eine Radikalisierung der Massen, aber diesmal geschieht es vor dem Hintergrund einer viel größeren gesellschaftlichen Krise. Die Linke in Argentinien muss alle ihre vergleichsweise schwachen Kräfte in den Kampf werfen und so versuchen inmitten des explosiven Aufs und Abs einer ganzen, wirtschaftlich, sozial und politisch in der Krise steckenden Gesellschaft einen revolutionären Anziehungspol zu schaffen.

In der Zwischenzeit gilt es für die Linke in der übrigen Welt ernsthaft eine sehr einfache Lehre zu ziehen. Inmitten eines Weltsystems, das von immer neuen krisenhaften Krämpfen gepackt wird, kann alles Ständische und Stehende verdampfen [Kommunistisches Manifest]. Eine feste politische Ordnung, in der die revolutionäre Linke an den Rand gedrängt scheint, kann plötzlich aufgerissen werden und gewaltige Aufstände quellen dann aus der Tiefe nach oben. Die alte Linke, die in großen Teilen der Welt Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre demoralisiert wurde, und die neue Linke, die seit Seattle auf die Welt gekommen ist, kann plötzlich vor potentiell revolutionären Situationen stehen.

Argentinien bildet keine Ausnahme. Es ist kein ferner und fremder Ort. Die Krise ist nicht einfach die Folge von „Fehlgriffen“ der Politiker. Es geht auch nicht einfach darum, dass sich Politiker wegen ihrer allzu deutlichen persönlichen Käuflichkeit oder des allzu offensichtlichen ausländischen Drucks den Forderungen nach Privatisierung und dem Neoliberalismus beugen. Der argentinische Kapitalismus ist ein schwacher Kapitalismus, der auf die Erschütterung durch die Reihe der Weltkrisen keine andere Antwort wusste, als die Lebensbedingungen anzugreifen, die bislang die Arbeiter und die unteren Mittelschichten für selbstverständlich hielten. Und vor diesem Problem stehen viele andere kapitalistische Staaten, darunter auch einige, die wir üblicherweise für stark halten. Nicht nur in Argentinien spüren wir, dass eine revolutionäre Partei, die fest in der Arbeiterklasse verwurzelt ist, dringend notwendig ist.


Zuletzt aktualisiert am 29.1.2012