Chris Harman

Der Markt versagt


I. Der freie Markt hat versagt

„Schwarzer Montag, schrecklicher Dienstag, schlimmster Mittwoch.“ So umschrieb eine Boulevardzeitung die Ereignisse der dritten Woche im September 2008. Menschen auf der ganzen Welt schauten ratlos und beängstigt zu, während große Finanzgesellschaften, deren gigantische Profite und unermessliche Bonuszahlungen die letzten dreißig Jahre geprägt hatten, in einem Schuldenmorast versanken. Viele konnten ein leises Schmunzeln nicht verbergen angesichts teuer bekleideter Yuppies, die – ihr persönliches Hab und Gut in Pappkartons verstaut – ihre Büros in den Wolkenkratzern verließen und ihre Megabezüge im Rauch aufgehen sahen. Aber das Schmunzeln war von tiefer Besorgnis begleitet. Das System, in dem wir leben und arbeiten, befand sich in einer schweren Krise. Abermillionen Menschen mit profanen Jobs und bescheidenem Lebensstandard fragten sich, ob nicht sie den Preis würden zahlen müssen. Die Stimmung verdüsterte sich noch in der darauf folgenden Woche, als einer von Amerikas reichsten Männern vor einem „wirtschaftlichen Pearl Harbour“ warnte und George Bush vor die Fernsehkameras trat und verkündete, „unsere gesamte Wirtschaft ist in Gefahr“.

Manche haben bereits den Preis bezahlt. Im August mussten sich tausend Menschen pro Tag in die Arbeitslosenschlangen in den Jobcentern einreihen. Etwa 85.000 Urlauber betraten Abflugshallen, nur um zu entdecken, dass Flüge, die sie schon bezahlt hatten, gestrichen waren und die Polizei bereit stand, um sie zurückzudrängen, sollten sie auf die Idee kommen, sich ihren Flug einfach zu nehmen. Zwei Millionen Amerikaner haben im letzten Jahr ihr Haus verloren. Niemand weiß, was uns noch bevorsteht – am allerwenigsten die Politiker, die Banker und die Industriellen, die uns ständig versichern, sie seien dazu berufen, die Gesellschaft in unserem Interesse zu organisieren.

Hinter der Krise lauert ein Wort, das fast drei Jahrzehnte lang aus der vornehmen Gesellschaft verbannt war. Das Wort heißt Kapitalismus. Stattdessen erzählten sie lieber von „Unternehmergeist“ und „Wertschöpfern“, vor denen wir uns verneigen sollten und denen selbstverständlich das Recht zusteht, die Staatsbank unabhängig von gewählten Regierungen zu leiten, unsere Schulen in private „Akademien“ zu verwandeln, die Treuhandinstitutionen und Stiftungskrankenhäuser des britischen Gesundheitswesens umzukrempeln, Fußballmannschaften und Symphonieorchester gnädigerweise zu sponsern und jene Partei zu finanzieren, die einst von sich behauptet hatte, ihren Einfluss zurückdrängen zu wollen. [1] Nun steht die krude Wirklichkeit hinter diesen schönen Worten nackt vor uns. Es ist die Wirklichkeit eines Systems, das auf Konkurrenz der Gierigsten fußt und jene zu Stars erkort, die das meiste Geld auf Kosten aller anderen machen und sich dabei auf die Politiker, jene Messdiener des freien Unternehmertums, verlassen können, ihnen im Pechfall mit gigantischen Zuwendungen unter die Arme zu greifen und zugleich Renten und Arbeitslosenunterstützung für den Rest von uns Sterblichen zu kürzen.

Genau das tat der US-Staat am 7. September 2008 mit der Übernahme der zwei Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac. Mit mehreren hunderten Milliarden Dollar war es „die größte Verstaatlichung, die die Menschheit je erlebt hat“, so der New Yorker Wirtschaftsexperte und ehemalige Regierungsberater Nouriel Roubini. Genau das wiederholte sich neun Tage später, als die US-Regierung AIG, das bis dahin größte Versicherungsunternehmen der Welt, übernahm. Das Gleiche hatte die britische Regierung bereits neun Monate zuvor mit der endgültigen Übernahme von Northern Rock praktiziert, und dann nochmals im September mit der Verstaatlichung der Bausparkasse Bradford and Bingley.

Diese Übernahmen bedeuten die denkbar größte Widerlegung des ganzen „neoliberalen“ Diskurses vom freien Markt, den uns Politiker und Medienkommentatoren serviert haben. Die Ereignisse haben sie gezwungen, allem, was sie seit Jahrzehnten herunterbeten, abzuschwören und fast über Nacht die Ideologie, die sie Arbeitern und ärmeren Ländern gepredigt hatten, in Stücke zu reißen.

Warum? Nicht, um jene zu schützen, die ihre Jobs oder ihre Häuser verlieren, auf ihren Urlaub verzichten oder um ihre Renten bangen müssen. Northern Rock setzt seit seiner Übernahme durch den Staat unter allen Bausparkassen die meisten Zwangsversteigerungen durch. Im August waren es zehn Familien pro Tag, die von Northern Rock zwangsgeräumt wurden. Der Schutzschirm ist nur für das Finanzsystem, das die Krise verursacht hat – ein System, das auf milliardenschweren Hedgefonds, Banken und Investmentgesellschaften gründet und seine unendliche Gier als das Selbstverständlichste auf der Welt empfindet. Die US-Regierung ließ dennoch eine der angesehensten Banken, die Lehman Brothers, am 14. September 2008 gegen die Wand fahren. Aber dieser Schritt rief dermaßen hektische Reaktionen seitens der Hedgefonds, Banken und Investmentgesellschaften hervor, dass sich die Regierung zu einer schnellen Kehrtwende genötigt sah und mit weiteren Milliarden am 15., 16. und 17. September herausrückte. Um die Reichen zu schützen, griff die rechteste US-Regierung seit einem Dreivierteljahrhundert in einem ungeahnten Ausmaß zum Mittel der Verstaatlichung und vergesellschaftete dabei die Verluste, nachdem sie 30 Jahre lang die Gewinne privatisiert hatte. Es wundert einen nicht, wenn der prokapitalistische Ökonom Willem Buiter das Geschehen als „das Ende des amerikanischen Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ beschrieb.

Die Frage ist, was wird ihn ersetzen?

„Auf den eigenen Füßen stehen“ war immer der Ratschlag, den die Apologeten des Kapitalismus den von „Gesundschrumpfung“ Betroffenen gaben. Mit dieser Weisheit wird der Zwang gerechtfertigt, dass die Menschen um ihre eigenen Jobs konkurrieren müssen, die Demütigung, die die Arbeitslosen in den Jobcentern erdulden, die sinnlosen Bedürftigkeitsprüfungen, die alleinstehende Mütter und Behinderte über sich ergehen lassen müssen, bevor sie Leistungen beziehen können, die Ratschläge an die, die noch nie eine vernünftig bezahlte Arbeit hatten, sie sollten bitteschön für die Rente sparen, die Lage der Studierenden, die während ihres Studiums für ihren Unterhalt arbeiten und nach ihrem Abschluss einen Berg von Studiengebühren zurückzahlen müssen. „Es gibt keine Alternative“ war die Losung Margaret Thatchers, die von Tony Blair und Gordon Brown übernommen wurde, als sie sie in ihren Amtssitz einluden. Die schlimmste Vorstellung – erzählten sie denen, die infolge von Zusammenbrüchen in der Elektronikindustrie in Schottlands Silicon Valley und der Automobilbranche in Dagenham und Longbridge/Birmingham ihre Jobs verloren hatten – wäre, wenn der Staat die Dinge in die Hand nehmen würde. Damit würde der „Wettbewerb“ zerstört, die „Eigeninitiative erstickt“, das „Streben vereitelt“. Jetzt loben sie den Staat für seine Eingriffe und Übernahmen – aber nur solange, wie damit jene geschützt werden, die auf den Finanzmärkten gezockt und in einem stratosphärischen Luxus, den andere schufen, geschwelgt haben, während sie selbst nichts außer enorme Schulden anhäuften.


Anmerkung

1. Diese Broschüre ist im Herbst 2008 in erster Linie für eine britische Leserschaft geschrieben worden. Es wäre naheliegend, bei der Übersetzung Beispiele aus Deutschland zu verwenden. Dagegen spricht vor allem, dass die (weltweite) Wirtschaftskrise jedes Land auf verschiedene Weise und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit erfasst, so dass man nicht einfach den Namen einer britischen Bank durch den einer deutschen ersetzen kann. Dem Leser werden aber sicherlich – leider, muss man sagen – genügend Beispiele einfallen. DP.


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016