Chris Harman

Der Markt versagt


III. Die Krise und der Kapitalismus

Die Krise, die das Finanzsystem letztes Jahr heimsuchte, ist kein vollkommen neues Phänomen.

Die Geschichte des Industriekapitalismus war schon immer eine Geschichte der Aufschwünge gefolgt von Abstürzen – was Wirtschaftswissenschafter den „Geschäftszyklus“ nennen. Seit nun bald 200 Jahren wechseln sich Perioden frenetischer Produktionserweiterung mit plötzlichen Zusammenbrüchen ab, in denen ganze Industriezweige zum Stillstand kommen.

Ihre Gürtel enger schnallen?

Die Bonizahlungen in der City of London werden dieses Jahr voraussichtlich kümmerliche 5,07 Milliarden Pfund betragen, nachdem sie 2007 den beinahe Rekordwert von 8,51 Milliarden erreichten.

Die Welt hat vier solche umfassende Krisen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erlebt, und weitere geringeren Ausmaßes. Jede hat den Menschen, die im System ihr Einkommen suchen, enorme Lasten aufgebürdet und ihnen oftmals die Lebensgrundlage entzogen und auch ihre Häuser geraubt. Solche Krisen sind nicht die Folge irgendwelcher Finanzunregelmäßigkeiten, sie sind untrennbar mit der Funktionsweise des Systems selbst verbunden.

Das ist eine Tatsache, mit der sich die Wirtschaftswissenschaft, wie sie an Schulen und Universitäten gelehrt und von der Mehrheit der Kommentatoren in den Medien vertreten wird, niemals abfinden konnte. Dieses Versagen der Mainstream-Ökonomie ist systembedingt. Denn in ihren Augen ist der Kapitalismus ein System, das sich die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zum Ziel setzt – wofür sie den Begriff „Nutzenprinzip“ erfand. Sie findet daher keine Erklärung für das Phänomen, dass ganze Produktionszweige geschlossen werden, obwohl genügend Menschen bereit sind, zu arbeiten, die Arbeitsmaterialien vorhanden sind und es einen großen Bedarf für die Produkte gibt.

Die Erklärung ist ganz einfach die, dass die treibende Kraft des Kapitalismus eben nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ist, sondern die Konkurrenz unter den Kapitalisten um Profite. Menschliche Bedürfnisse werden nur insofern befriedigt, als es dem Profitstreben dient.

Kinderarmut in Großbritannien

Die jüngsten Zahlen belegen, dass 5.559.000 von insgesamt 13.233.320 Kindern in Familien mit niedrigem Einkommen oder in armen Familien leben – das sind über 40 Prozent.

In allen menschlichen Gesellschaften mussten die Menschen zusammenarbeiten, um die vorhandenen natürlichen Ressourcen für sich nutzbar zu machen. In manchen Gesellschaften bedeutete das kleine Menschengruppen, die Früchte gepflückt, Wurzeln ausgegraben und wilde Tiere gejagt haben, in anderen waren es Dorfbewohner, die Ackerbau betrieben.

Heute ist das Ausmaß der Kooperation, die der Beschaffung unseres Lebensunterhalts zugrunde liegt, größer als je zuvor. Man braucht nur unsere Kleidung anzuschauen. Sie mag vielleicht Wolle enthalten, die in einem Teil der Welt erzeugt wird, und Baumwolle, die anderswoher kommt, und Kunstfasern, deren Grundstoff das aus dem Boden gewonnene Erdöl in einer dritten Gegend der Welt ist, und das alles wird auf Schiffen oder in Flugzeugen transportiert, die von Menschen aus Dutzenden von Ländern gelenkt werden. Jeder von uns kann nur dank der Arbeit vieler tausender Menschen auf der ganzen Welt überleben. Das System, in dem wir leben, ist in Wirklichkeit ein Netzwerk des Zusammenwirkens der sechs oder mehr Milliarden Menschen, die die Erdbevölkerung ausmachen. Das Organisationsprinzip dieses Netzwerkes ist allerdings ein ganz anderes als das der Kooperation. Die Weltproduktion untersteht der Kontrolle kleiner privilegierter Gruppen, die über alle wichtigen Werkzeuge, die Maschinen und das Land verfügen. Die übrige Menschheit, wenn sie Zugang zu all diesen Dingen erhalten möchte, um sich ein Auskommen zu sichern, muss zu deren Bedingungen arbeiten. Dabei stehen diese privilegierten Gruppen in Konkurrenz zueinander mit dem ungeschminkten Ziel der Profitmaximierung. Wenn produktives Arbeiten diesen Kapitalisten zur Erreichung ihres Ziels nicht dienlich ist, dann findet es einfach nicht statt, die Produktion wird eingestellt, egal wie groß die dadurch entstehende Not ist.

Die Ideologen des Kapitalismus greifen auf zwei Argumente zurück, um die Profitmaximierung zu rechtfertigen. Zum einen behaupten sie, dass Profite eine „Belohnung“ für die Kapitalisten darstellen – für ihre Bereitschaft, auf Konsum zu „verzichten“ (obwohl die Kapitalisten bekanntlich enorm viel mehr konsumieren als ihre Angestellten). Sie beschreiben auch die Profite als eine Belohnung für ihr „Unternehmertum“, obwohl sich das Unternehmertum der großen Mehrheit der heutigen Kapitalisten auf das Lesen der Gewinn- und Verlustrechnung beschränkt, da alle technische Forschung von Menschen geleistet wird, die sie zu viel niedrigeren Löhnen als ihre eigenen beschäftigen. Was zählt, ist die Anmeldung von Patenten, nicht die Entdeckung neuer Medikamente, das Entwerfen neuer Software oder die Ausbeutung des Öls.
 

Ausbeutung und Entfremdung

Adam Smith, der für gewöhnlich als der Ziehvater kapitalistischer Wirtschaftslehre zitiert wird, war weitaus ehrlicher als seine heutigen Anhänger. Er verfasste seine Schriften zu einer Zeit, dem ausgehenden 18. Jahrhundert, als der Industriekapitalismus gerade aufblühte. Er erkannte, dass es die Arbeit ist, die es Menschen ermöglicht, der Natur Reichtum abzugewinnen, und dass Profite daher nichts Anderes als gestohlene Arbeit darstellen, die eine privilegierte Gruppe – dank ihrer Kontrolle über die für die Produktion erforderlichen Werkzeuge, Maschinen und Land – vom Rest der Gesellschaft an sich reißen kann. Smith war nicht folgerichtig in seinen Ansichten, aber seine Schriften veranlassten den jungen Marx, eine Darstellung des Kapitalismus zu entwickeln, die zugleich eine Kritik des Kapitalismus war.

6,2 Prozent

Die Bosse von Großbritanniens 350 größten Unternehmen strichen dieses Jahr ein Durchschnitts­einkommen von 1,08 Millionen Pfund ein, 6,2 Prozent (66,960 Pfund) mehr als letztes Jahr. Die Zeiten sind aber nicht mehr so rosig, denn voriges Jahr hatte der Anstieg durchschnittlich 7 Prozent betragen.

Marx sah, dass die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, Güter zu verkaufen, die durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft produziert werden, notwendig ein ganzes System hervorbringen musste, das sich der menschlichen Kontrolle entzieht und sich gegen jene wendet, von deren Arbeitskraft es lebt. Was Anhänger des Kapitalismus die „Gesetze des Marktes“ nennen, sind in Wirklichkeit die Zwänge eines Systems, das sich wie Frankensteins Monster gegen jene wendet, die es geschaffen haben. Marx nannte diesen Vorgang „Entfremdung“.

Das System entzieht sich allerdings nicht nur der Kontrolle jener, die in ihm schuften. Es entzieht sich auch größtenteils der Kontrolle der Kapitalisten selbst. Jedes Mal, wenn es einem Kapitalisten gelingt, die Mittel zur Schaffung von Reichtum zu akkumulieren und zu erweitern, werden andere Kapitalisten ebenfalls zu weiterer Akkumulation gezwungen, wollen sie im Geschäft bleiben. Die Konkurrenz führt dazu, dass sie keine andere Wahl haben, als zu akkumulieren. Sie müssen akkumulieren, um Profite zu machen, sie müssen Profite machen, um zu akkumulieren – in einem endlosen Kreis. Das bedeutet auch, dass sie die Löhne ihrer Beschäftigten stetig nach unten drücken müssen, während sie zugleich gezwungen sind, die erwartete Arbeitsintensität stets höher zu schrauben.

Sie können sich dafür entscheiden, ihre Beschäftigten lieber auf die eine als auf eine andere Weise auszubeuten. Sie haben aber nicht die Wahl, auf die Ausbeutung ihrer Arbeiter zu verzichten, und auch nicht die Wahl, sie weniger als andere Kapitalisten auszubeuten – es sei denn, sie finden sich damit ab, bankrott zu gehen. Der Kapitalismus ist in der Tat der gnadenlose Kampf jeder gegen jeden, und der Kapitalist, der Gnade zeigt und versucht, die eigenen Arbeiter gut zu behandeln und deren Bedürfnissen mehr Bedeutung als dem Konkurrenzdruck beizumessen, überlebt nicht lange.
 

Der blinde Wettbewerb

Die Unfähigkeit der Kapitalisten, ihr eigenes System zu kontrollieren, zeigt sich auch auf andere Weise. Der blinde Wettbewerb erzeugt unweigerlich Bedingungen, die drohen, das System ins Chaos zu stürzen. Die Erzeugnisse konkurrierender Firmen werden durch den Markt zueinander in Beziehung gesetzt. Kein Kapitalist kann die Produktion aufrecht erhalten, wenn es ihm nicht gelingt, seine Produkte zu verkaufen. Die Fähigkeit zu verkaufen hängt aber vom Kaufverhalten anderer Kapitalisten ab – ob sie ihr Geld für Luxusgüter für den eigenen Bedarf oder für neue Anlagen und Ausrüstungen oder für die Löhne ihrer Angestellten ausgeben, die diese dann für ihre Einkäufe im Einzelhandel hinblättern. Der Markt sorgt dafür, dass die Produktion in irgendeinem Teil des Systems von den Entwicklungen in allen anderen Teilen abhängig wird. Wenn die Kette des Kaufens und Verkaufens an einem ihrer Glieder bricht, kann dieser Stillstand allmählich das gesamte System erfassen. Das Ergebnis ist dann eine Wirtschaftskrise.

Jede Firma muss darauf bedacht sein, ihre eigenen Profite zu maximieren. Solange das Profitmachen keine Probleme bereitet, erhöhen Betriebe im ganzen System ihren Ausstoß so weit wie möglich. Sie eröffnen neue Werke und Büros, kaufen neue Maschinen und stellen Arbeitskräfte ein im Glauben, dass sie die erzeugten Produkte leicht werden verkaufen können. Durch dieses Verhalten schaffen sie ihrerseits einen Markt für andere Firmen, die ihre Maschinen oder Gebäude an sie, beziehungsweise Konsumgüter an die von ihnen beschäftigten Arbeiter leicht verkaufen können. Die ganze Wirtschaft boomt, es werden mehr Güter produziert und die Arbeitslosigkeit sinkt.

Dieser Zustand kann aber niemals von Dauer sein. Ein „freier“ Markt bedeutet eben, dass es keine Koordination zwischen den konkurrierenden Firmen gibt. Automobilhersteller beispielsweise können entscheiden, ihre Produktion zu erhöhen, ohne dass die Stahlwerke oder die malaysischen Gummiplantagen ihrerseits die Produktion erweitern. Firmen können auch anfangen, Facharbeiter anzustellen, ohne sich über die erforderlichen Bildungsmaßnahmen zu verständigen, um die Gesamtzahl solcher Arbeiter zu erhöhen. Das Einzige, was für die einzelnen Firmen zählt, ist, so viel Profit so schnell wie möglich zu machen. Aber das blinde Rennen auf dieses Ziel kann leicht dazu führen, dass bestehende Quellen an Rohmaterialien, Ersatzteilen, Facharbeitern oder Finanzen aufgebraucht werden.
 

Überproduktion

Booms werden meistens von unerwarteten Inflationsschüben begleitet. Was sich aber für einzelne Kapitalisten besonders bedrohlich auswirkt, ist der Umstand, dass steigende Kosten ihre Profite gänzlich auslöschen und sie an den Rand des Bankrotts bringen können. Die einzige Schutzmaßnahme, die sie ergreifen können, ist eine Senkung der Produktion, die Entlassung von Arbeitern und die Schließung von Werken. Durch diese Vorgehensweise zerstören sie aber den Markt für die Erzeugnisse anderer Firmen. Der Boom wird plötzlich durch eine Krise abgelöst.

„Ich möchte den besonderen Beitrag hervorheben, den Sie und Ihr Unternehmen während seiner 150-jährigen Geschichte für die Prosperität Großbritanniens geleistet habt. Lehman Brothers war schon immer ein großer Innovator und hat neue Ideen und Erfindungen finanziert, lange bevor andere ihr Potential überhaupt erkannt hatten.“

Sozialdemokratischer Schatzkanzler Gordon Brown bei der Eröffnung der Londoner Zentrale der inzwischen zusammengebrochenen Lehman Brothers Bank im Jahr 2004

Und auf einmal haben wir das Phänomen der „Überproduktion“. Güter häufen sich in Lagerhäusern, weil Menschen sie sich nicht leisten können. Und weil sie sich nicht verkaufen, werden die Arbeiter, die sie hergestellt haben, entlassen, mit der Folge, dass auch diese weniger Güter kaufen können, das Ausmaß der „Überproduktion“ im System als Ganzes immer mehr zunimmt und die Krise sich verschärft.

Der Wechsel vom Boom zur Krise ist immer eine große Überraschung für Industrie und Kapital. Bereits Marx vermerkte: „Daher scheint immer das Geschäft fast übertrieben gesund gerade unmittelbar vor dem Krach.“ Aber der Krach kommt unweigerlich, und mit ihm eine massive Verwüstung der Existenz unzähliger Menschen und eine massive Verschwendung von Ressourcen.

Während der letzten großen Rezession in Großbritannien in den frühen 1990er Jahren wurde drei Jahre lang sechs Prozent weniger produziert, als möglich gewesen wäre – das waren 36 Milliarden Pfund an Produktionsausfällen jährlich, fast so viel wie die Gesamtkosten des staatlichen britischen Gesundheitswesens. Die Rezession traf die USA weniger hart als Großbritannien, aber auch dort betrug der Produktionsrückgang 50 Milliarden Dollar jährlich. Das ist so viel, wie die gesamte schwarzafrikanische Bevölkerung südlich der Sahara zum Überleben hat.

Die Antwort der Unternehmer und Regierungen auf den Abschwung ist jedes Mal die gleiche: Es gäbe „nicht genug für alle“, „jeder muss Opfer bringen“ und „den Gürtel enger schnallen“. Es ist eine Botschaft, die wir auch in der jetzigen Krise hören, wenn New Labours Schatzkanzler Alistair Darling den Delegierten auf dem Gewerkschaftskongress zuruft, wegen der Krise dürften die Löhne im öffentlichen Dienst unter keinen Umständen mit der Preissteigerung Schritt halten.

Aber die Mittel, das zu produzieren, was die Menschen dringend benötigen, hören auch inmitten einer Krise nicht auf zu existieren: die Betriebe, die Bergwerke, die Werften, die Felder und alle übrigen Produktionsmittel auf der einen Seite, und die Arbeiter, die sie in Gang setzen könnten, auf der anderen. Es ist keine Naturkatastrophe, die arbeitslose Frauen und Männer davon abhält, in den dicht gemachten Fabriken zu arbeiten, sondern die Organisation des Kapitalismus.


Zuletzt aktualisiert am 1. Oktober 2016