Rudolf Hilferding

Das Finanzkapital


Vierter Abschnitt
Das Finanzkapital und die Krisen


XIX. Kapitel
Geldkapital und produktives Kapital
während der Depression


Betrachten wir die Akkumulationsvorgänge nach der Krise, so geht zunächst die folgende Reproduktionsperiode auf verengter Stufenleiter vor sich. Die gesellschaftliche Produktion erfährt eine Einschränkung. Es macht dabei wegen der „Solidarität der Produktionszweige“ keinen Unterschied, ob die Überproduktion in der einen oder anderen Sphäre ausgebrochen war. Die Überproduktion in den leitenden Sphären bedeutet allgemeine Überproduktion. Es findet also keine produktive Akkumulation, keine vermehrte Rückverwandlung von Profit in Kapital, keine vermehrte Anwendung von Produktionsmitteln statt. Die produktive Akkumulation ist also verschwunden. Wie steht es aber mit der individuellen Akkumulation und mit der der einzelnen Industriesphären? Die Produktion geht ja, wenn auch auf verengtem Maßstab, weiter vor sich. Ebenso sicher ist, daß für eine große Anzahl von Unternehmungen, vor allen den technisch leistungsfähigsten innerhalb der einzelnen Sphären, dann in den Sphären, die unbedingt notwendige Lebensmittel produzieren, deren Konsum nicht allzu stark verringert werden kann, Profit erzielt wird. Ein Teil dieses Profits kann akkumuliert werden. Nun ist die Profitrate gesunken, und ihr Sinken mag auch die Akkumulationsrate vermindern. Ebenso ist die Profitmasse gesunken, und auch dies verringert die Akkumulationsmöglichkeit. Erzielt ferner ein Teil der Kapitalistenklasse Profit, so erleidet ein anderer Verluste, die gedeckt werden müssen durch Zusatzkapital, falls es nicht zum Bankrott kommen soll. Nun wird aber während der Depression die wirkliche Produktion nicht erweitert. Findet also Akkumulation statt, so kann es sich nur um Akkumulation in Geldform handeln. Woher fließt den akkumulierenden Kapitalisten das Geld zu?

Vergegenwärtigen wir uns nochmals das Schema der Reproduktion:

I
II

4000 c + 1000 v + 1000 m = 6000
2000 c +   500 v +   500 m = 3000

Es wäre das die durch die Krise bereits verringerte Produktion. Die Kapitalisten aber produzieren kein Geld, sondern Waren. Sollen sie Geld in die Hand bekommen, und zwar über jene Summen hinaus, über die sie bereits verfügten – denn sonst fände ja keine Geldakkumulation statt –, so müssen sie die Waren in Geld verwandeln, aber die Rückverwandlung in Ware unterlassen. Will II aus seinen 500 m sage 250 akkumulieren, so muß es die Lebensmittel verkaufen (und zwar die einen Mitglieder der Klasse II an andere derselben Abteilung, da die Umsätze von II m innerhalb der Klasse II erfolgen), ohne selbst den anderen Mitgliedern ihre Waren abzukaufen; es bleiben also innerhalb Klasse II 250 m unverkäuflich. Gelingt den einen der Verkauf, so bleiben die anderen auf ihren Waren sitzen; es tritt dann eine andere Verteilung des Geldkapitals ein; die Verkäufer bekommen das Geld von den Käufern; für diese aber kehrt es nicht zurück, da sie ja ihre 250 Waren nicht verkaufen können.

Das gleiche Resultat erhalten wir, wenn wir annehmen, daß die Kapitalisten der Gruppe I die Hälfte ihres Mehrwertes akkumulieren. Sie können dann 1000 v + 500 m, die die Gestalt von Produktionsmitteln haben, an II c verkaufen. Diese zahlen dafür 1500 in Geld. Da aber I m jetzt nicht 2000 Lebensmittel kauft, sondern 500 in Geld festhält, so kann II c jetzt nur 1500 verkaufen; es bleiben ihm also 500 in Lebensmitteln zurück, und es hat 500 in Geld weniger, die in den Händen von I akkumuliert bleiben. Schießt aber nicht II c für 1000 Geld zum Ankauf der Produktionsmittel vor, sondern unterstellen wir, daß I den Prozeß beginnt, so wird I um 1500 Lebensmittel kaufen, II kauft um das Geld Produktionsmittel um 1500 zurück, und für I bleiben 500 Produktionsmittel unverkäuflich; seine Akkumulationshoffnung hat sich nicht realisiert. II schränkt die Produktion weiter ein und beginnt die Reproduktion mit 1500 c und vermindert entsprechend sein variables Kapital; hat es 2000 in Geld besessen, um den Umsatz mit I c zu vermitteln, so hat es jetzt nur 1500 verwendet, während 500, die früher als Geldkapital fungierten, brachliegen; dazu kommt die Verminderung des Geldes, das als variables Kapital vorgeschossen wurde.

Es zeigt sich, daß reine Geldakkumulation auf gesellschaftlichem Maßstab unter Voraussetzung einer verringerten oder gleichbleibenden Produktion nicht möglich ist. Es kann nur individuelle Akkumulation stattfinden, was aber nur bedeutet, daß die Akkumulation der einen nur veränderte Verteilung des Geldkapitals der anderen ist, eine Änderung, die aber ihrerseits zu neuen Störungen der Reproduktion führen muß. Es ändert nichts daran, wenn wir die Klasse der Goldproduzenten selbst betrachten; hier ist allerdings unmittelbare Geldakkumulation möglich; diese Geldakkumulation aber findet ihre Schranken unmittelbar an der Größe des akkumulierten Profits, der in diesem einen Produktionszweig gemacht wird. Um den Betrag dieses akkumulierten Geldes vermindert sich gleichzeitig der Absatz der anderen Industrien, da ja das Geld akkumuliert und in Schatzform festgehalten wird. Wie immer man übrigens diesen Faktor in Rechnung stellen will, er ist quantitativ zu unbedeutend, um allgemeine Akkumulation zu bedeuten.

Der Kredit führt in diesen Verhältnissen keine Änderung herbei: 2000 (m + v) I müssen an die 2000 c II verkauft werden. Geldakkumulation würde aber bedeuten, daß zwar I 2000 verkauft, aber nur 1500 von II zurückkauft. Ob nun diese Umsätze durch Kredit vermittelt werden oder nicht, I kann 500 in Geld oder Kreditgeld oder Anweisung auf künftige Produktion nur akkumulieren, wenn II 2000 von I kauft. Dies kann II aber nur, wenn es entweder mit seinen Waren dafür zahlt, was nach der Voraussetzung unmöglich ist, oder aber aus einem Geldreservefonds, wobei dann I nur akkumuliert, was II verliert. Es ist also nicht richtig, daß das brachliegende Kapital in der Depressionszeit aus in Geld- oder Kreditform akkumuliertem Geldkapital besteht. Es ist durch die Einschränkung der Produktion freigesetztes Geldkapital, das früher zur Bewerkstelligung der Umsätze gedient hat und bei der Verringerung der Produktion überflüssig geworden ist. Seine Brachlegung entspricht der Brachlegung des Produktionskapitals. Die Produktivkräfte sind infolge der Einschränkung der Produktion nur zu einem Bruchteil ausgenützt. Das neuproduzierte konstante Kapital liegt auf Lager und findet keine Verwendung in der Produktion; das Geldkapital und die Möglichkeiten der vorhandenen Kreditorganisation sind im Verhältnis zum eingeschränkten Umsatz zu groß geworden, es liegt müßig in den Banken und wartet auf Verwendung, deren Voraussetzung die Ausdehnung der Produktion ist.

Es ist übrigens auch eine merkwürdige Vorstellung, daß die Krisentheoretiker gerade auf das Brachliegen des Geldkapitals als auf den stärksten Antrieb zur Vergrößerung der Reproduktion hinweisen. [1] Als ob nicht der Stillstand der Maschinerie mit seiner Gefahr des materiellen und moralischen Verschleißes, die geringere Ausnützung des fixen Kapitals überhaupt, die nicht nur Gewinn- enlgang, sondern fortwährenden Verlust bedeutet, ein viel stärkerer Antrieb zur Ausdehnung der Produktion wäre als die geringere Verzinsung des Geldkapitals. Es handelt sich nicht darum, daß das Motiv zur Akkumulation nach der Krise unter dem Einfluß der Geldflüssigkeit verstärkt wird, sondern darum, ob die Erweiterung der Reproduktion objektiv möglich ist oder nicht. Gewöhnlich tritt sofort nach der Krise starke Geldflüssigkeit ein, und trotzdem kann es Jahre dauern, bis die Prosperität voll einsetzt. [2]

Es ist ganz amüsant zu sehen, wie die Meinungen der Handelsschriftsteller in der bürgerlichen Presse mit den jeweiligen Konjunkturerscheinungen wechseln. Die letzte Krise wurde in den deutschen Zeitungen fast ausschließlich auf die Geldteuerung oder den Mangel an Geldkapital zurückgeführt. Jetzt, wo trotz der anhaltenden internationalen Geldflüssigkeit die Depression andauert, kommt man allmählich zur Entdeckung, daß die Prosperität nicht allein vom Stand des Geldmarktes abhängt. [3]

Die falschen Ansichten über die Ursachen der Geldflüssigkeit während der Depression und ihre Bedeutung für deren Überwindung beruhen in letzter Instanz darauf, daß über den ökonomischen Formbestimmtheiten die materielle Bestimmtheit der gesellschaftlichen Produktion, wie sie die Marxsche Analyse im II. Band des Kapitals aufzeigt, übersehen wird. Man operiert nur mit den ökonomischen Begriffen, Kapital, Profit, Akkumulation usw., und glaubt die Lösung des Problems zu besitzen, wenn man die quantitativen Beziehungen aufgezeigt hat, auf Grund deren einfache und erweiterte Reproduktion möglich ist oder aber Störungen auftreten müssen. Man übersieht dabei, daß diesen quantitativen Beziehungen zugleich qualitative Bedingungen entsprechen, daß nicht nur Wertsummen sich gegenüberstehen, die miteinander ohne weiteres kommensurabel sind, sondern auch Gebrauchswerte bestimmter Art, die bestimmte Eigenschaften in der Produktion und Konsumtion erfüllen müssen; daß bei der Analyse der Reproduktionsprozesse nicht nur Kapitalteile im allgemeinen einander gegenüberstehen, so daß etwa ein Zuviel oder Zuwenig von industriellem Kapital durch einen entsprechenden Teil des Geldkapitals „ausgeglichen“ werden kann, auch nicht nur fixes oder zirkulierendes Kapital, sondern daß es sich zugleich um Maschinen, Rohstoffe, Arbeitskraft ganz bestimmter (technisch bestimmter) Art handelt, die als Gebrauchswerte dieser spezifischen Art vorhanden sein müssen, um Störungen zu vermeiden. [4]

In Wirklichkeit finden wir bei der Krise auf der einen Seite brachliegendes industrielles Kapital, Baulichkeiten, Maschinen usw., auf der anderen brachliegendes Geldkapital. Dieselbe Ursache, die das industrielle Kapital brachlegt, legt das Geldkapital brach; das Geld kommt nicht in Zirkulation, fungiert nicht als Geldkapital, weil das industrielle Kapital nicht fungiert; das Geld ist unbeschäftigt, weil die Industrie unbeschäftigt ist; der „Phönix“ stellt die Produktion nicht ein, weil ihm Kapital mangelt (Geldkapital), noch nimmt er sie auf, weil jetzt Geldkapital im Überfluß zur Verfügung steht; vielmehr ist das Geld im Überfluß vorhanden, weil die Produktion reduziert ist. Der „Mangel“ an Geldkapital ist nur Symptom der Stockung des Zirkulationsprozesses infolge bereits erfolgter Überproduktion.

Der Kredit ersetzt das Geld erstens als Zirkulationsmittel, zweitens erleichtert er die Geldübertragung. Aber theoretisch kann man von ihm zunächst abstrahieren, indem man die nötige Metallmenge für rein metallische Zirkulation unterstellt.

Die Erklärung der Konjunkturerscheinungen aus den Veränderungen des Zinsfußes, statt umgekehrt der Erklärung der Erscheinungen auf dem Geldmarkt aus den Verhältnissen der Produktion, ist fast edlen modernen Krisentheoretikern eigen. [5] Die Gründe dafür sind leicht zu finden. Die Erscheinungen auf dem Geldmarkt liegen offen zutage, werden täglich in den Zeitungen besprochen und wirken bestimmend auf den Gang der Börse und der Spekulation ein. Zudem erscheint das Angebot von Leihkapital in jedem Moment als bestimmte Größe und muß auch so erscheinen, denn sonst bliebe es unerklärlich, wie Nachfrage und Angebot den Zins bestimmen können. Daß das Angebot des Leihkapitals vom Stand der Produktion abhängt, und zwar erstens von ihrem Umfang und zweitens von der Proportionalität der Produktionszweige, die bestimmend auf die Zirkulationszeit der Waren und damit auf die Umlaufsgeschwindigkeit des Kreditgeldes einwirkt, wird übersehen, wie überhaupt der funktionelle Unterschied von Zirkulationskredit und Kapital-(Bank-)Kredit übersehen wird; dies um so mehr, da dieser Unterschied durch die Banknotenausgabe verwischt erscheint, aller Kredit mit der Entwicklung des Bankwesens als Bankkredit erscheint. Wird dieser Unterschied aber übersehen, dann erscheint die Entwicklung der Geldmarkterscheinungen in einem ganz anderen Licht; das Abhängigkeitsverhältnis scheint jetzt einfach nur darin zu bestehen, daß die Ausdehnung der Produktion mehr Kapital erfordert. Kapital wird mehr oder weniger unklar mit Geldkapital identifiziert. Die Produktion wird ausgedehnt, die Nachfrage nach Geldkapital steigt, der Zinsfuß geht in die Höhe. Schließlich tritt Mangel an Geldkapital ein, der hohe Zinsfuß bringt den Gewinn der Produktion zum Schwinden, die Neuanlagen hören auf, und die Krise beginnt. Dann wird während der Depression Geldkapital akkumuliert, statt es gleich in Anlagekapital zu verwandeln – eine begriffslose Vorstellung, da Maschinen, Docks, Eisenbahnen nicht aus Gold produziert werden. Der Zinsfuß sinkt, die Geldkapitalisten werden mit dem niedrigen Zins unzufrieden und legen das Geld wieder in der Produktion an, die Prosperität hat aufs neue begonnen. Abgesehen von der barbarischen Verwechslung, die dieser Vorstellung der Ökonomen zugrunde liegt, die, weil sie Geld, Maschinen und Arbeitskraft Kapital nennen, nun sofort das eine Kapital, nämlich Geld, sich in das andere, nämlich in Maschinerie usw. und Arbeitskraft, oder, wie sie auch sagen, das Zirkulationskapital in Anlagekapital sich verwandeln lassen, übersieht diese famose „Theorie“, daß auch rein rechnerisch ihre Behauptungen Nonsens sind. Die Variationen des Zinsfußes sind in entwickelten kapitalistischen Ländern Variationen von höchstens 5 Prozent, wenn wir Schwankungen der offiziellen Diskontsätze von 2 bis 7 Prozent zugrunde legen, wobei unserer Meinung nach das Ausmaß dieser Schwankungen durch die einengende Bankgesetzgebung oder durch Mängel der Diskontpolitik noch über das ökonomische rationelle Maß hinaus gesteigert wird. Nun wird das Geldkapital von den Produktiven in Anspruch genommen, um die Produktion zu erweitern; das heißt, der entliehene Wert, in Produktivkapital verwandelt, verwertet sich, wirft Profit ab. Dessen Höhe hängt caeteris paribus ab von den Preisen. Die Schwankungen der Warenpreise während der Konjunkturperiode sind aber ganz andere als Schwankungen von 5 Prozent. Jeder Blick auf eine Preistabelle sagt, daß solche von 50 und 100 Prozent und mehr nichts Seltenes sind. Nun mögen dieProfite nicht im selben Umfang steigen, weil die Kostpreise zunehmen. Aber jedenfalls sind auch die Steigerungen des Profits der Industriellen während Prosperität und Hochkonjunktur unvergleichlich größer als 5 Prozent. Würden die Profite der Industriellen nicht aus anderen Gründen zum Sinken kommen, ein Zinsfuß von 7 Prozent würde die Akkumulation wirklich nicht zum Stehen bringen. Würde zum Beispiel das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat zu Hochkonjunkturpreisen seine ganze Förderung absetzen können, so würde es keinen Moment Bedenken tragen, auch einen Zins von 10 Prozent für das ausgeliehene Kapital, das ja nur einen Teil seines Kapitals ausmacht, zu bezahlen, da es auch für diesen Teil über den Zins hinaus noch Unternehmergewinn verdienen würde. [6]

Die merkwürdige Vorstellung, daß der Zins allmählich den Unternehmergewinn auffräße, wird noch befestigt durch die absolute Begriffslosigkeit, die über Kategorien wie Profit, Unternehmergewinn, Aufsichtslohn, Zins, Dividende usw. herrscht. Mit der Verbreitung der Aktiengesellschaft ist diese Begriffslosigkeit noch gewachsen. Die Dividende erscheint als Zins, aber als ein merkwürdig schwankender Zins gegenüber dem in jedem Moment fixierten des Leihzinses. Der Unterschied von Leihkapital und produktivem Kapital erscheint jetzt nicht mehr als der von zinstragendem und profitproduzierendem Kapital. Vielmehr erscheinen beide als zinstragendes Kapital. Nur daß das „flüssige“ Kapital immer einen in jedem Moment bestimmten Zins abwirft, der täglich auf der Börse notiert wird, während das „fixe“ Kapital einen Zins abwirft, den man nur aus der Dividendenerklärung erfährt. Die Verschiedenheit in der Gewißheit des Ertrages wird dann noch auf die Verschiedenheit des „flüssigen“, das heißt Geldkapitals, und des „fixen“, das heißt industriellen Kapitals, zurückgeführt. Verwechselt man so alle qualitativen Unterschiede, dann ist es kein Wunder, daß man über die quantitativen die merkwürdigsten Vorstellungen produziert und sich einbildet, in den Schwankungen des Zinsfußes eine genügende Erklärung gefunden zu haben, um den Mechanismus des Konjunkturumschwunges erklären zu können.


Anmerkungen

1. Dieser aus ökonomischen Erscheinungen selbst entspringenden Versuchung ist nicht nur Tugan-Baranowski, sondern auch Otto Bauer in seiner so scharfsinnigen und anregenden Darstellung der Marxschen Krisentheorie erlegen. (Neue Zeit, XXIII., 1., S. 133 ff.)

2. Dies war zum Beispiel der Fall in der Depressionsperiode nach 1890. Das ganze Jahr 1893 war ein solches mit außerordentlich reichlichem Geldangebot und niedrigem Zins. Ende Februar 1894 betrug der Londoner Bankdiskont 2 Prozent, der Privatdiskont Mitte März 1 Prozent. Mitte Jänner 1895 stand der Londoner Privatdiskont zwischen ½ und ⅞ Prozent. Trotz der lang andauernden und ungewöhnlich starken Geldflüssigkeit setzte der Aufschwung aber erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1895 ein.

3. Überhaupt nimmt neuerdings im Zusammenhang mit der Vernachlässigung theoretischer Betrachtungsweise die Unsitte stark überhand, aus einigen Beobachtungen weniger Jahre allgemeine Folgerungen abzuleiten und die Erscheinungen einer Teilphase eines industriellen Zyklus, bestenfalls eines bestimmten, eigenartig charakterisierten Zyklus, zu allgemeinen „Gesetzen“ zu erheben. Andere lehnen dafür jede allgemeine Erkenntnis ab und trösten sich mit der Lebensweisheit des qui vivra, verra. Sie reduzieren bewußt nationalökonomische Erkenntnis auf einen Hintertreppenwitz.

4. Auf die Spitze getrieben ist diese Verwechslung in der Krisentheorie Tugan-Baranowskis. Diese sieht nur die spezifischen ökonomischen Formbestimmtheiten kapitalistischer Produktion und übersieht dabei die aller Produktion, welch immer ihre historische Form, gemeinsamen natürlichen Bedingungen und kommt daher zur sonderbaren Vorstellung einer Produktion, die nur für die Produktion vorhanden ist, während die Konsumtion nur als ein lästiges Akzidenz erscheint. Ist dies schon „Wahnsinn“, so hat es doch „Methode“, und zwar marxistische, da eben diese Analyse der historischen Formbestimmtheit der kapitalistischen Produktion spezifisch marxistisch ist. Es ist verrückt gewordener Marxismus, aber doch Marxismus, was die Tugansche Theorie zugleich so sonderbar und so anregend macht. Tugan fühlt dies übrigens selbst, wenn er es auch nicht weiß. Daher seine so heftige Polemik gegen den „gesunden Menschenverstand“ seiner Gegner.

5. Und nicht erst seit heute.

„Die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie zeigt sich u. a. darin, daß sie die Expansion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache macht.“ Marx, Kapital, I., S. 598.(Neuausgabe, S. 667. Die Red.)

6. Daß hoher Zins noch keine Krise erzeugt, dafür folgendes Beispiel: Im Jahre 1864 war Englands Zahlungsbilanz passiv. Infolge des amerikanischen Bürgerkrieges stockte die Baumwollzufuhr; dafür vermehrte sich die Zufuhr der Baumwolle aus Ostindien und Ägypten und schwellte die Einfuhr aus diesen Ländern an: für Ostindien von 15 Millionen Pfund (1860) auf 52 Millionen Pfund (1864), für Ägypten von 10 Millionen Pfund auf beinahe 20 Millionen Pfund. Die Bank erhöhte ihren Diskont, um den Abfluß von Metall zu hindern. Während des Jahres 1864 schwankte der Diskont von 6 Prozent bis 9 Prozent. Trotzdem beschränkte sich die Krise ausschließlich auf den Geldmarkt; auf dem Warenmarkt fand nur unbedeutendes Steigen statt, und „trotz einer Diskonthöhe, welche in früheren Zeiten nur während einer äußersten Geldklemme anzutreffen war, haben Handel und Industrie keine bedeutenden Erschütterungen erfahren“. „Trotz des fortdauernden Baumwollhungers war der englische Handel während dieser ganzen Zeit keineswegs gedrückt.“ (Tugan-Baranowski, l. c., S. 139)


Zuletzt aktualisiert am 27. September 2016