Rudolf Hilferding

Das Finanzkapital


Fünfter Abschnitt
Zur Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals


XXII. Kapitel
Der Kapitalexport und der Kampf
um das Wirtschaftsgebiet


Während auf der einen Seite die Verallgemeinerung des Schutzzollsystems den Weltmarkt immer mehr in einzelne staatlich getrennte Wirtschaftsgebiete zu zerlegen strebt, steigert die Entwicklung zum Finanzkapital die Bedeutung der Größe des Wirtschaftsgebietes. Diese ist für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion stets von großer Bedeutung gewesen. [1] Je größer und bevölkerter ein Wirtschaftsgebiet, desto größer kann die Betriebseinheit sein, desto geringer also die Produktionskosten, desto stärker auch die Spezialisation innerhalb der Betriebe, was ebenfalls Herabsetzung der Produktionskosten bedeutet. Je größer das Wirtschaftsgebiet, desto eher kann der Standort der Industrien dorthin verlegt werden, wo die günstigsten natürlichen Bedingungen vorhanden, die Produktivität der Arbeit am größten ist. Je ausgedehnter das Gebiet, desto mannigfaltiger die Produktion, desto wahrscheinlicher, daß sich die Produktionszweige untereinander ergänzen und Transportkosten durch Einfuhr von außen erspart werden. Störungen der Produktion durch Verschiebungen der Nachfrage, durch natürliche Katastrophen werden im größeren Gebiet leichter ausgeglichen. Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß bei entwickelter kapitalistischer Produktion der Freihandel, der den ganzen Weltmarkt zu einem einzigen Wirtschaftsgebiet verbinden würde, die größte Produktivität der Arbeit und die rationellste internationale Arbeitsteilung gewähren würde. Aber auch bei Freihandel genießt die Industrie auf dem eigenen nationalstaatlichen Markt gewisse Vorteile wegen ihrer Kenntnis der Landessitten, der Konsumtionsgewohnheiten, der leichteren Verständigung und vor allem auch durch den Schutz, den ihr die geringere Entfernung, also die Ersparung von Transportkosten gewährt und der noch durch die Maßregeln der Tarifpolitik gesteigert wird. Dagegen erwachsen der fremden Industrie aus den Verschiedenheiten der Sprache, des Rechtes, der Währung usw. gewisse Hindernisse. Der Schutzzoll aber steigert die Nachteile des kleineren Wirtschaftsgebietes außerordentlich, indem er die Ausfuhr hemmt, somit die mögliche Betriebsgröße verkleinert, der Spezialisation entgegenwirkt und dadurch die Produktionskosten ebenso steigert wie durch die Verhinderung rationeller internationaler Arbeitsteilung. Es ist vor allem der Größe ihres Wirtschaftsgebietes geschuldet, die eine außerordentliche Spezialisation im Umfang der Betriebe zuläßt, wenn sich die Vereinigten Staaten auch unter Schutzzollregime industriell so rasch entwickeln konnten. Je kleiner das Wirtschaftsgebiet bei bereits entwickelter kapitalistischer Produktion, wenn der Erziehungszoll also seine Funktion bereits erfüllt hat, desto stärker im allgemeinen das Interesse des betreffenden Staates am Freihandel. Daher die starken freihändlerischen Interessen etwa Belgiens. Es kommt hinzu, daß je kleiner das Gebiet, desto einseitiger gleichsam die Verteilung der natürlichen Bedingungen der Produktivität, desto geringer also die Zahl der entwicklungsfähigen Industriezweige, desto stärker das Interesse an ausländischer Zufuhr jener Waren, für deren Produktion das eigene Wirtschaftsgebiet weniger geeignet ist.

Dagegen bedeutet der Schutzzoll eine Einschränkung des Wirtschaftsgebietes und damit eine Hemmung der Entwicklung der Produktivkräfte, da er das Größenmaß der industriellen Betriebe verkleinert, die Spezialisierung erschwert und schließlich jene internationale Arbeitsteilung hindert, die bewirkt, daß das Kapital sich jenen Produktionszweigen zuwendet, für die das betreffende Land die günstigsten Vorbedingungen besitzt; dies aber fällt bei dem modernen Hochschutzzoll um so mehr ins Gewicht, da seine Zollsätze oft weniger aus Rücksicht auf die produktionstechnische Lage der einzelnen Industriezweige festgestellt werden, sondern vielfach das Resultat politischer Machtkämpfe der einzelnen industriellen Schichten darstellen, von deren Einfluß auf die Staatsgewalt ihre Gestaltung schließlich abhängt. Ist aber auch der Schutzzoll ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und damit für die der Industrie, so bedeutet er für die Kapitalistenklasse unmittelbar eine Erhöhung des Profits. Vor allem erschwert der Freihandel die Kartellierung, nimmt den kartellfähigen Industrien, sofern nicht durch Frachtenschutz (wie bei Kohle) oder durch ein natürliches Monopol (wie etwa in der deutschen Kaliproduktion) eine Monopolstellung gewährleistet ist, das Monopol auf dem inländischen Markt. Damit fallen aber die Extraprofite weg, die aus der Ausnützung des Kartellschutzzolles fließen.

Zwar ist es gewiß, daß die Monopolisierung auch fortschreitet ohne Schutzzoll. Aber einmal wird dadurch das Tempo sehr erschwert, zweitens auch die Festigkeit der Kartelle geringer, und drittens ist der Widerstand gegen internationale Kartelle zu fürchten, da diese unmittelbar als national fremde Ausbeutungsmächte empfunden werden. Dagegen sichert der Schutzzoll dem Kartell den nationalen Markt und verleiht ihm viel größere Festigkeit nicht nur durch den Ausschluß der Konkurrenz, sondern weil die Ausnützungsmöglichkeit des Schutzzolles unmittelbar wirkende Triebkraft zum Abschluß der Kartellierung wird. Aber auch die internationale Kartellierung, die ja schließlich auch bei Freihandel auf Grund einer viel weiter fortgeschrittenen Konzentration eintreten würde, wird durch den Schutzzoll beschleunigt, indem er den Abschluß von Kartellen in Form vor allem von Rayonierungs- und Preisvereinigungskartellen erleichtert, da es sich nicht um Zusammenfassung von vereinzelten Produzenten auf dem Weltmarkt handelt, wie es bei Freihandelsregime der Fall wäre, sondern um den Zusammenschluß der schon gefestigten nationalen Kartelle untereinander. Der Schutzzoll setzt als Kontrahenten die einzelnen Kartelle und verringert so die Zahl der Teilnehmenden außerordentlich. Auch insofern erleichtert der Schutzzoll die Basis für die Vereinbarung, als er den nationalen Markt von vornherein den nationalen Kartellen reserviert. Je mehr es aber solche durch den Schutzzoll der Konkurrenz entzogene und bestimmten nationalen Kartellen reservierte Märkte gibt, desto leichter einmal die Verständigung über die freien Märkte, desto fester aber auch die internationale Vereinbarung, da deren Bruch den Outsidern nicht so große Aussicht auf Konkurrenzerfolge gewährt wie bei Freihandel.

So gibt es hier zwei entgegengesetzte Tendenzen. Einerseits wird der Schutzzoll für die Kartelle zu einer Angriffswaffe im Konkurrenzkampf, wodurch der Preiskampf verschärft wird, während gleichzeitig durch Anwendung staatlicher Machtmittel, diplomatischer Interventionen, die Stellung im Konkurrenzkampf zu verstärken gesucht wird. Anderseits stabilisiert der Schutzzoll die nationalen Kartelle und schafft so Erleichterung für den Abschluß interkartellistischer Gebilde. Resultat dieser Tendenzen ist, daß diese internationalen Vereinbarungen eher Waffenstillstand bedeuten als dauernde Interessengemeinschaft, da jede Verschiebung in der Schutzzollrüstung, jede Änderung in den staatlichen Marktverhältnissen die Grundlage der Vereinbarungen ändert und neue Verträge erforderlich macht. Nur dort kommt es zu festeren Gebilden, wo entweder der Freihandel die nationalen Schranken mehr oder weniger beseitigt oder wo die Grundlage des Kartells nicht durch den Schutzzoll, sondern vor allem durch ein natürliches Monopol gegeben ist, wie zum Beispiel beim Petroleum.

Zugleich wird durch die Kartellierung die unmittelbare Bedeutung der Größe des Wirtschaftsgebietes für die Höhe des Profits außerordentlich gesteigert. Wir haben gesehen, daß der Schutzzoll dem kapitalistischen Monopol für den Absatz auf dem inländischen Markt einen Extraprofit gewährt. Je größer das Wirtschaftsgebiet, desto größer aber der inländische Absatz (man denke etwa an den zum Export gelangenden Teil der Stahlwerke der Vereinigten Staaten auf der einen, Belgiens auf der anderen Seite), desto größer also der Kartellprofit. Je größer dieser, desto höher können die Exportprämien sein, desto stärker wird also die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig mit dem aktiveren Eingreifen in die Weltpolitik, die durch die Kolonialleidenschaft verursacht war, entstand das Bestreben, das durch die Schutzzollmauer umgebene Wirtschaftsgebiet so umfangreich als möglich zu gestalten.

Soweit die Wirkungen des Schutzzolles die Höhe der Profitrate ungünstig beeinflussen, sucht das Kartell sie zu überwinden durch Mittel, die ihm das Schutzzollsystem selbst an die Hand gibt. Einmal erlaubt die Entwicklung der Exportprämien, wie sie der Schutzzoll mit sich bringt, die Überwindung oder wenigstens die teilweise Überwindung der fremden Schutzzollmauem und verhütet so bis zu einem gewissen Grad die Einschränkung der Produktion. Wieder wird das um so eher möglich sein, je größer die durch den eigenen Schutzzoll prämiierte Inlandsproduktion ist. So entspringt hier abermals wieder nicht das Interesse am Freihandel, sondern nach Ausdehnung des eigenen Wirtschaftsgebietes und nach Erhöhung der Zölle. Sofern aber dieses Mittel versagt, setzt der Kapitalexport in Form der Errichtung von Fabriken im Ausland ein. Die durch den Schutzzoll der fremden Länder bedrohte Industriesphäre nützt jetzt selbst diesen Schutzzoll aus, indem sie einen Teil der Produktion in das Ausland verlegt. Wird damit auch die Ausdehnung des Stammbetriebes unmöglich und geht die Steigerung der Profitrate durch Verbilligung der Produktionskosten so weit verloren, so wird das wieder wettgemacht durch die Erhöhung des Profits, der die Preissteigerung der von demselben Kapitalbesitzer jetzt im Ausland erzeugten Produkte diesem gewährt. So wird der Kapitalexport, der in anderer Form durch den Schutzzoll des eigenen Landes mächtig angeregt wird, durch den des fremden Landes gleichfalls gefördert und trägt zugleich zur Durchkapitalisierung der Welt und zur Internationalisierung des Kapitals bei.

So wird die Wirkung der Senkung der Profitrate, die durch die Hemmung der Produktivität durch den modernen Schutzzoll bewirkt wird, aufgehoben, soweit die Profitrate in Betracht kommt. Der Freihandel erscheint so dem Kapital überflüssig und schädlich. Die Hemmung der Produktivität infolge der Verkleinerung des Wirtschaftsgebietes sucht es wettzumachen nicht durch Übergang zum Freihandel, sondern durch Erweiterung des eigenen Wirtschaftsgebietes und Forcierung des Kapitalexports. [2]

Verstärkt so die moderne Schutzzollpolitik den immer vorhandenen Drang des Kapitals nach ständiger Expansion seines Gebietes, so führt die Konzentration allen brachliegenden Geldkapitals in den Händen der Banken zur planmäßigen Organisation des Kapitalexports; die Verbindung der Banken mit der Industrie läßt sie die Gewährung von Geldkapital an die Bedingung knüpfen, daß dieses Geldkapital zur Beschäftigung ihrer Industrie verwandt wird. Damit wird der Kapitalexport in allen seinen Formen außerordentlich beschleunigt.

Wir verstehen unter Kapitalexport die Ausfuhr von Wert, der bestimmt ist, im Ausland Mehrwert zu hecken. Es ist dabei wesentlich, daß der Mehrwert zur Verfügung des inländischen Kapitals bleibt. Wenn zum Beispiel ein deutscher Kapitalist mit seinem Kapital nach Kanada auswandert, dort produziert und nicht mehr in die Heimat zurückkehrt, so bedeutet das Verlust für das deutsche Kapital, Entnationalisierung des Kapitals; es ist nicht Kapitalexport, sondern Kapitalübertragung. Diese Kapitalübertragung bildet einen Abzug von dem inländischen und einen Zuwachs des ausländischen Kapitals. Von Kapitalexport kann man nur sprechen, wenn das im Ausland verwendete Kapital zur Verfügung des Inlandes bleibt und über den durch dieses Kapital erzeugten Mehrwert von inländischen Kapitalisten verfügt werden kann. Dieses Kapital bildet dann einen Posten in der nationalen „Forderungsbilanz“, der jedes Jahr fällige Mehrwert in der nationalen Zahlungsbilanz. Der Kapitalexport vermindert pro tanto die einheimische Kapitalmenge und vermehrt die nationale Revenue um den erzeugten Mehrwert.

Die Aktiengesellschaft und die entwickelte Kreditorganisation befördern den Kapitalexport und ändern insofern den Charakter, als sie die Auswanderung des Kapitals losgelöst vom Unternehmer ermöglichen, das Eigentum also viel länger oder dauernd dem Exportland verbleibt und die Nationalisierung des Kapitals erschwert wird. Wo Kapitalexport zum Zwecke landwirtschaftlicher Produktion stattfindet, findet die Nationalisierung gewöhnlich viel rascher statt, wie dies das Beispiel vor allem der Vereinigten Staaten beweist.

Der Kapitalexport kann vom Standpunkt des exportierenden Landes aus in zwei Formen erfolgen: Das Kapital wandert ins Ausland als zinstragendes oder als profittragendes Kapital. Als letzteres kann es wieder als industrielles Kapital, Handels- oder Bankkapital fungieren. Vom Standpunkt des Landes, in das Kapital exportiert wird, kommt auch in Betracht, aus welchen Teilen des Mehrwerts der Zins gezahlt wird. Der Zins, der auf im Auslande befindliche Pfandbriefe zu entrichten ist, bedeutet, daß ein Teil der Grundrente [3], der Zins, der auf Obligationen industrieller Unternehmungen zu entrichten ist, daß ein Teil des industriellen Profits ins Ausland fließt.

Mit der Entwicklung zum Finanzkapital in Europa wandert das europäische Kapital häufig bereits als solches aus; eine deutsche Großbank gründet eine Filiale im Auslande; diese vermittelt eine Anleihe, deren Erlös zur Errichtung einer Elektrizitätsanlage verwendet wird; die Errichtung wird der Elektrizitätsgesellschaft übertragen, mit der die Bank in der Heimat in Verbindung steht. Oder der Prozeß vereinfacht sich noch. Die ausländische Bankfiliale gründet im Ausland ein industrielles Unternehmen, emittiert die Aktien in der Heimat und überträgt die Lieferungen wieder denjenigen Unternehmungen, mit denen die Hauptbank in Verbindung steht. Auf größtem Maßstab vollzieht sich der Vorgang, sobald die Anleihegeschäfte der Staaten in den Dienst der Beschaffung von Industrielieferungen gestellt werden. Es ist die innige Verbindung von Bank- und Industriekapital, die diese Entwicklung des Kapitalexports rasch fördert.

Bedingung des Kapitalexports ist Verschiedenheit der Profitrate; der Kapitalexport ist das Mittel zur Ausgleichung der nationalen Profitraten. Die Höhe des Profits ist abhängig von der organischen Zusammensetzung des Kapitals, also von der Höhe der kapitalistischen Entwicklung. Je fortgeschrittener diese, desto niedriger die allgemeine Profitrate. Zu dieser allgemeinen Bestimmung, die hier weniger in Betracht kommt, da es sich um Weltmarktswaren handelt, deren Preis durch die entwickeltsten Produktionsmethoden bestimmt.wird, treten aber spezielle hinzu. Was zunächst die Zinsrate anlangt, so ist diese in Ländern mit geringer kapitalistischer Entwicklung und mangelnder Kredit- und Bankorganisation viel höher als in den entwickelten kapitalistischen Staaten, wozu noch kommt, daß in dem Zins meist noch Teile des Arbeitslohnes oder Unternehmergewinns enthalten sind. Der hohe Zins bildet unmittelbaren Anreiz für den Export von Leihkapital. Der Unternehmergewinn steht höher, weil die Arbeitskraft außerordentlich billig, ihre geringere Qualität durch überlange Arbeitszeit ausgeglichen wird. Dann aber, weil die Grundrente niedrig oder nominell ist, da noch viel freies Land, sei es von Natur, sei es durch gewaltsame Expropriation der Eingeborenen, vorhanden ist, der niedrige Bodenpreis also die Produktionskosten verbilligt. Dazu kommt Erhöhung des Profits durch Privilegien und Monopole. Handelt es sich aber um Produkte, deren Absatzgebiet der neue Markt selbst bildete, so werden hohe Extraprofite realisiert, da hier die kapitalistisch erzeugten Waren in Konkurrenz mit handwerksmäßig erzeugten treten.

Wie immer der Kapitalexport erfolgt, stets bedeutet er, daß die Aufnahmefähigkeit des fremden Marktes steigt. Die alte Schranke für den Warenexport bildete die Aufnahmefähigkeit der fremden Märkte für die europäischen Industrieprodukte. Deren Konsumfähigkeit war beschränkt durch die Verfügung über Überschüsse aus ihrer naturalwirtschaftlichen oder sonst unentwickelten Produktion, deren Produktivität nicht rasch gesteigert und die noch weniger in kurzer Zeit in Produktion für den Markt umgewandelt werden konnte. So ist es ohne weiteres verständlich, daß die englische kapitalistische, also ungeheuer elastischere und expansionsfähigere Produktion sehr rasch den Bedürfnissen des neu erschlossenen Marktes genügte und sie überholte, was rückwirkend als Überproduktion der Textilindustrie erschien. Anderseits aber war die Konsumfähigkeit Englands für die spezifischen Produkte der neuerschlossenen Märkte begrenzt. Zwar war diese Konsumfähigkeit, rein quantitativ betrachtet, natürlich ungeheuer größer als die der fremden Märkte. Aber hier kam entscheidend in Betracht die qualitative Beschaffenheit, der Gebrauchswert der Produkte, die die fremden Märkte, als Äquivalent für die englischen Waren, zurückschicken konnten. Soweit es sich da um spezifische Produkte der Luxuskonsumtion handelte, war ihr Konsum in England beschränkt; anderseits suchte sich namentlich die Textilindustrie außerordentlich rasch auszudehnen; die Ausfuhr der Textilprodukte steigerte aber die Einfuhr der Kolonialprodukte, die Luxuskonsumtion dehnte sich aber durchaus nicht in demselben Maße aus; vielmehr forderte die rasche Ausdehnung der Textilproduktion, daß der Profit in steigender Rate akkumuliert, nicht aber in Luxusprodukten konsumiert wurde; daher endet jede Neuerschließung fremder Märkte mit Krisen in England, die einerseits eingeleitet werden vom Preisfall der Textilprodukte im Ausland, anderseits vom Preissturz der Kolonialprodukte in England; jede Geschichte englischer Krisen zeigt die Bedeutung dieser spezifischen Krisenursachen; man beachte, mit welcher Sorgfalt etwa Tooke die Preise aller Kolonialprodukte verfolgt und wie regelmäßig die älteren Industriekrisen von völligem Zusammenbruch dieser Handelszweige begleitet sind. Die Änderung tritt erst mit der Entwicklung des modernen Transportsystems ein, die das Schwergewicht auf die Eisenindustrie verlegt, während gleichzeitig sich der Verkehr mit den neuerschlossenen Märkten immer mehr in der Richtung verschiebt, daß es sich nicht mehr um bloßen Warenverkehr, sondern um Kapitalexport handelt.

Schon der Export des Kapitals als Leihkapital erweitert die Aufnahmefähigkeit des neuerschlossenen Marktes ganz außerordentlich. Gesetzt, ein neuerschlossener Markt wäre etwa imstande, für 1 Million Pfund Waren zu exportieren, so ist seine Aufnahmefähigkeit bei Warenaustausch – Austausch zu gleichen Werten vorausgesetzt – ebenfalls gleich 1 Million Pfund. Wenn aber dieser Wert nicht als Ware, sondern als Leihkapital, zum Beispiel in der Form einer Staatsanleihe, in das Land exportiert wird, so dient der Wert von 1 Million Pfund, über die der neue Markt durch Ausfuhr seines Überschusses verfügen kann, nicht zum Austausch gegen Waren, sondern zur Verzinsung von Kapital. In dieses Land kann also jetzt nicht nur ein Wert von 1 Million Pfund exportiert werden, sondern sage von 10 Millionen Pfund, wenn dieser Wert als Kapital dorthin geschickt wird und der Zins 10 Prozent beträgt, und von 20 Millionen Pfund, falls der Zins auf 5 Prozent sinkt. Dies zeigt zugleich die große Bedeutung des Sinkens der Zinsrate für die Erweiterungsfähigkeit des Marktes. Die scharfe Konkurrenz des fremden Leihkapitals hat die Tendenz, die Zinsrate auch in zurückgebliebenen Ländern rasch zu senken und damit wieder die Möglichkeit des Kapitalexports zu steigern. Weitaus bedeutender noch als der Export in Form des Leihkapitals ist die Wirkung des Exports des industriellen Kapitals, und dies ist ja auch die Ursache, warum der Export des Kapitals in der Form des industriellen Kapitals immer größere Bedeutung erlangt. Denn die Übertragung kapitalistischer Produktion auf den fremden Markt macht diesen von den Schranken der eigenen Konsumtionskraft völlig frei. Der Ertrag dieser neuen Produktion sichert ja die Verwertung des Kapitals. Für den Absatz aber kommt durchaus nicht der neuerschlossene Markt allein in Betracht. Vielmehr wendet sich das Kapital auch in diesen neuen Gebieten Produktionszweigen zu, deren Absatz auf dem Weltmarkt gesichert ist. Die Kapitalisierung Südafrikas zum Beispiel ist völlig losgelöst von der Aufnahmefähigkeit Südafrikas, da der Hauptproduktionszweig, die Ausbeutung der Goldminen, in seiner Absatzmöglichkeit geradezu unbeschränkt ist und die Kapitalisierung hier nur abhängt von der natürlichen Ausdehnungsfähigkeit des Abbaues und dem Vorhandensein einer genügenden Arbeiterbevölkerung. Ebenso ist zum Beispiel die Ausbeutung von Kupferlagern unabhängig von der Konsumtionskraft der Kolonie, während die eigentlichen Konsumtionsmittelindustrien, die ihren Absatz auf dem neuen Markt selbst größtenteils finden müssen, in ihrer Ausdehnung sehr rasch auf die Schranken der Konsumtionsfähigkeit stoßen.

So erweitert der Kapitalexport jene Schranke, die aus der Konsumtionsfähigkeit des neuen Marktes entspringt. Zugleich aber bewirkt die Übertragung kapitalistischer Transport- und Produktionsmethoden auf das fremde Land hier eine rasche ökonomische Entwicklung, die Entstehung eines größeren inneren Marktes durch Auflösung der naturalwirtschaftlichen Zusammenhänge, die Ausdehnung der Produktion für den Markt und damit die Vermehrung jener Produkte, die ausgeführt werden und damit wieder zu neuer Verzinsung neu importierten Kapitals dienen können. Bedeutete die Erschließung von Kolonien und neuen Märkten früher vor allem die Erschließung neuer Konsumtionsmittel, so wendet sich heute die Neuanlage von Kapital hauptsächlich Zweigen zu, die Rohmaterial für die Industrie liefern. Gleichzeitig mit der Ausdehnung der heimischen Industrie, die den Bedürfnissen des Kapitalexports dient, wendet sich das exportierte Kapital der Produktion von Rohstoffen für diese Industrien zu. Damit finden die Produkte des exportierten Kapitals im Heimatlande Aufnahme, und jener enge Zirkel, in dem die Produktion in England sich bewegte, erfährt eine außerordentliche Erweiterung durch die gegenseitige Alimentierung von heimischer Industrie und der Erzeugung des exportierten Kapitals.

Wir wissen aber, daß die Erschließung neuer Märkte ein wichtiges Moment ist, um eine industrielle Depression zu beenden, die Dauer der Prosperität zu verlängern und die Krisenwirkungen abzuschwächen. Der Kapitalexport beschleunigt die Erschließung der fremden Länder und entwickelt auf größtem Maßstabe ihre Produktivkräfte. Gleichzeitig steigert er die Produktion im Inland, die jene Waren liefern muß, die als Kapital ins Ausland gesandt werden. So wird er zu einer mächtigen Triebkraft der kapitalistischen Produktion, die mit der Verallgemeinerung des Kapitalexports in eine neue Sturm- und Drangperiode [4] eintritt, während der der Zyklus von Prosperität und Depression verkürzt, die Krise gemildert erscheint. Die rasche Steigerung der Produktion erzeugt auch eine Steigerung der Nachfrage nach Arbeitskraft, die die Gewerkschaften begünstigt; die immanenten Verelendungstendenzen des Kapitalismus scheinen in den Ländern alter kapitalistischer Entwicklung überwunden. Der rasche Aufstieg der Produktion läßt die Schäden der kapitalistischen Gesellschaft nicht zum Bewußtsein kommen und schafft eine optimistische Beurteilung ihrer Lebenskraft.

Die raschere oder langsamere Erschließung der Kolonien und neuen Märkte wird jetzt wesentlich abhängig von ihrer Fähigkeit, zu Kapitalanlagen zu dienen. Diese ist aber immer größer, je reicher die Kolonie an solchen Produkten ist, deren Produktion kapitalistisch zu betreiben, deren Absatz auf dem Weltmarkt gesichert und die für die heimische Industrie von Wichtigkeit ist. Die rasche Expansion des Kapitalismus seit 1895 hat aber eine Preissteigerung vor allem der Metalle und der Baumwolle bewirkt und damit den Drang, neue Quellen für diese wichtigsten Rohmaterialien zu erschließen, stark gesteigert. So sucht das Exportkapital vor allem Betätigung in Gebieten, die diese Produkte zu produzieren fähig sind, und wendet sich diesen Sphären zu, von denen namentlich der Bergbau sofort hochkapitalistisch betrieben wird. Durch diese Produktion steigert sich wieder der Überschuß, den die Kolonie ausführen kann, und damit ist die Möglichkeit neuer Kapitalanlagen gegeben. So wird das Tempo der Kapitalisierung der neuen Märkte außerordentlich beschleunigt; das Hindernis für die Erschließung ist nicht der Mangel an Kapital in diesem Lande, dieser wird vielmehr durch Kapitaleinfuhr beseitigt; immer mehr macht sich in den meisten Fällen ein anderer Umstand störend geltend: der Mangel an „freier“, das heißt an Lohnarbeit. Die Arbeiterfrage nimmt akute Formen an und erscheint nur zu lösen durch gewaltsame Mittel.

Wie stets, wenn das Kapital sich zum erstenmal Verhältnissen gegenübersieht, die seinem Verwertungsbedürfnis widersprechen und deren ökonomische Überwindung nur allmählich und viel zu langsam vor sich gehen würde, appelliert es an die Staatsgewalt und stellt sie in den Dienst gewaltsamer Expropriation, die das nötige freie Lohnproletariat schafft, mag es sich nun, wie in seinen Anfängen, um europäische Bauern, um die Indianer Mexikos und Perus oder, wie heute, um die Neger Afrikas handeln. [5] Die gewaltsamen Methoden gehören zum Wesen der Kolonialpolitik, die ohne sie ihren kapitalistischen Sinn verlieren würde, und bilden ebenso einen integrierenden Bestandteil derselben, wie das Vorhandensein eines besitzlosen Proletariats überhaupt eine conditio sine qua non des Kapitalismus ist. Kolonialpolitik treiben, aber ihre gewaltsamen Methoden beseitigen zu können, ist eine nicht ernster zu beurteilende Einbildung, wie das Proletariat abschaffen, aber den Kapitalismus erhalten zu wollen.

Die Methoden der Arbeitserzwingung sind mannigfach. Hauptmittel ist die Expropriation der Eingeborenen, denen das Land und damit die Grundlage ihrer bisherigen Existenz genommen wird. Das Land wird an die Eroberer abgetreten, wobei zugleich immer mehr die Tendenz sich geltend macht, es nicht an einzelne Einwanderer, sondern an große Landgesellschaften zu vergeben. Das ist namentlich der Fall, wenn es sich um Ausbeutung von Bergwerksprodukten handelt. Hier wird plötzlich nach den Methoden der ursprünglichen Akkumulation kapitalistischer Reichtum in der Hand weniger Kapitalmagnaten geschaffen, während die kleinen Ansiedler das Nachsehen haben. Man denke an die gewaltigen Reichtümer, die auf diese Weise in den Händen der Gruppe, die die Goldminen und Diamantenfelder des englischen Südafrika und in verkleinertem Maßstab in den Händen der deutschen Kolonialgesellschaften, die in engster Verbindung mit den Großbanken stehen, in Südwestafrika konzentriert werden. Die Expropriation schafft zugleich in den freigesetzten Eingeborenen ein Proletariat, das zum willenlosen Objekt der Ausbeutung werden muß. Die Expropriation selbst wird ermöglicht durch den Widerstand, den die Ansprüche der Eroberer naturgemäß bei den Eingeborenen finden müssen. Das gewalttätige Auftreten der Einwanderer schafft selbst die Konflikte, die das staatliche Eingreifen „nötig“ machen, und der Staat sorgt dann dafür, daß gründliche Arbeit gemacht wird. Das Streben des Kapitals nach widerstandslosen Ausbeutungsobjekten wird als „Befriedung“ des Gebietes nunmehr Staatszweck, für dessen Erfüllung die gesamte Nation, das heißt in erster Linie die proletarischen Soldaten und Steuerträger des Mutterlandes aufzukommen haben.

Wo die Expropriation nicht auf einmal so radikal gelingt, wird derselbe Zweck erreicht durch Einrichtung eines Steuersystems, das von den Eingeborenen Geldbeiträge in einer Höhe verlangt, die nur aufzubringen sind durch unablässige Arbeit im Dienst des fremden Kapitals. Diese Erziehung zur Arbeit hat seine Vollendung erreicht im belgischen Kongo, wo neben der erdrückenden Besteuerung chronische Gewaltanwendung der infamsten Art, Betrug und Hinterlist die Mittel kapitalistischer Akkumulation darstellen. Die Sklaverei wird aufs neue ein ökonomisches Ideal und damit zugleich jener Geist der Bestialität, der sich aus den Kolonien auf die Träger der Kolonialinteressen der Heimat überträgt und hier seine widerlichen Orgien feiert. [6]

Reicht die einheimische Bevölkerung nicht aus, sei es, weil durch ein Übermaß von Eifer bei der Expropriation die Eingeborenen nicht nur vom Land, sondern auch vom Leben befreit wurden, sei es, weil die Bevölkerung nicht widerstandsfähig oder auch nicht zahlreich genug ist, um die gewünschte Höhe der Mehrwertrate zu liefern, so sucht das Kapital die Arbeiterfrage durch Heranziehung von fremder Arbeit zu lösen. Die Kulieinfuhr wird organisiert und zugleich durch das raffinierte System der Kontraktsklaverei dafür gesorgt, daß die Gesetze von Angebot und Nachfrage auf diesem Arbeitsmarkt keine unangenehmen Wirkungen ausüben können. Allerdings ist diese Lösung der Arbeiterfrage für das Kapital keine radikale. Die Heranziehung von Kulis stößt einerseits in allen Ländern, wo für weiße Lohnarbeit Raum ist, auf immer stärkeren Widerstand der weißen Arbeiter. Zugleich erscheint sie aber auch den herrschenden Schichten dort gefährlich, wo die europäische Kolonialpolitik in Interessenkonflikte gerät mit dem immer stärker werdenden Expansionsstreben Japans, dem in absehbarer Zeit China selbst nachfolgen muß. [7]

Wird so die Heranziehung gelber Arbeit eingeschränkt, so ist anderseits die Ausdehnung des Feldes der weißen Arbeit noch beschränkter. Die Freisetzung von Arbeitern durch die Entwicklung des Kapitalismus ist für Europa zu einem großen Teil zum Stillstand gelangt. Die rasche Expansion des Kapitalismus hat in den vorgeschrittensten Ländern zum Teil und für die Epoche dieser Sturm- und Drangperiode sogar eine Gegentendenz geschaffen.

So stößt der deutsche Kapitalismus in den beiden letzten Hochkonjunkturperioden selbst auf die Schranke der Arbeiterbevölkerung und muß die notwendige Rekrutierung der industriellen Reservearmee mit ausländischen Arbeitern besorgen. In weil größerem Maßstab ist auch der Kapitalismus der Vereinigten Staaten auf die Heranziehung von Einwanderern angewiesen, während die verlangsamte Entwicklung Englands auch in der fühlbareren Arbeitslosigkeit erscheint. So hat sich das Auswanderergebiet Europas verengt auf Süd- und Südosteuropa und Rußland. Gleichzeitig ist über infolge der raschen Expansion das Bedürfnis nach Lohnarbeit außerordentlich gewachsen.

Die Staaten, die aus sozial- oder weltpolitischen Gründen die asiatische Einwanderung ausschließen, stoßen so bei ihrer Expansion auf die Schranke der Bevölkerung, und diese Schranke ist gerade für die Gebiete, wo die kapitalistische Entwicklung am aussichtsreichsten, am schwersten zu überwinden, wie zum Beispiel in Kanada und Australien. Es kommt hinzu, daß in diesen Gebieten mit großer Ausdehnung der Terra libera die Ausdehnung der Agrikultur gleichfalls eine rasch steigende zuschüssige Bevölkerung verlangt und der Entstehung eines besitzlosen Proletariats stark entgegenwirkt. Das eigene Wachstum der Bevölkerung dieser Gebiete ist jedoch zum Teil ein außerordentlich geringes. Aber auch die Bevölkerungsvermehrung in den entwickelten europäischen Staaten verlangsamt sich ständig [8], wodurch die zur Auswanderung verfügbare Überschußbevölkerung abnimmt.

Dieses verlangsamte Wachstum macht sich aber gerade in den Gegenden geltend, die für die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produkte von großer Bedeutung sind, in Kanada, Australien und Argentinien. Diese Verlangsamung bewirkt die Tendenz zum Steigen der Agrikulturprodukte, die trotz der an sich starken Erweiterungsfähigkeit landwirtschaftlicher Produktion sich stets stärker akzentuiert.

Aber die Schranke der Bevölkerung ist stets nur eine relative. Sie erklärt, warum die kapitalistische Expansion nicht noch stürmischer vorangeht, aber sie hebt die Expansion selbst keineswegs auf. Sie trägt zudem ihr Heilmittel in sich. Abgesehen von der Schaffung freier Lohnarbeit oder Zwangsarbeit in den eigentlichen Kolonialgebieten, abgesehen von der stets wirkenden relativen Freisetzung weißer Arbeit durch technische Fortschritte in den kapitalistischen Mutterländern, die sich bei Verlangsamung der Expansion zu einer absoluten steigern würde, würde eine stärkere Einschränkung der kapitalistischen Expansion in den Kolonisierungsgebieten weißer Arbeit zur Folge haben, daß der Kapitalismus sich in noch höherem Maße den noch rückständigen agrarischen Gebieten Europas selbst unter Überwindung der entgegenstehenden politischen Schranken zuwendet und sich damit Gebiete erschließt, wo sein Auftreten durch Zerstörung der ländlichen Hausindustrie und Freisetzung der agrarischen Bevölkerung in größtem Maßstabe Material für die Verstärkung der Auswanderung lieferte.

Sind aber die neuen Märkte nicht mehr bloße Absatzgebiete, sondern Anlagesphären von Kapital, so bringt dies auch eine Änderung in der politischen Haltung der kapitalexportierenden Länder mit sich.

Der bloße Handel, soweit er nicht mit Raub und Plünderung verbundener Kolonialhandel war, sondern den Handel mit einer weißen oder gelben widerstandsfähigen und verhältnismäßig hoch entwickelten Bevölkerung umfaßte, ließ die sozialen und politischen Verhältnisse dieser Länder in ihrer Grundlage lange unberührt und beschränkte sich nur auf die ökonomischen Beziehungen. Solange eine Staatsmacht vorhanden und halbwegs für Ordnung sorgen kann, ist die unmittelbare Beherrschung weniger wichtig. Das ändert sich mit dem Überhandnehmen des Kapitalexports. Es handelt sich dann um viel größere Interessen. Das Risiko ist viel größer, wenn in fremdem Lande Eisenbahnen gebaut, Land erworben, Hafenanlagen angelegt, Bergwerke gegründet und betrieben werden, als wenn bloß Waren gekauft und verkauft werden.

Die Rückständigkeit der Rechtsverhältnisse wird so zu einer Schranke, deren Überwindung auch mit gewaltsamen Mitteln das Finanzkapital immer stürmischer fordert. Dies führt zu immer schärfer werdenden Konflikten zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten und der Staatsgewalt der rückständigen Gebiete, zu immer dringender werdenden Versuchen, diesen Gebieten die dem Kapitalismus entsprechenden Rechtsverhältnisse aufzuzwingen, sei es mit Schonung oder aber mit Vernichtung der bisherigen Gewalten. Zugleich bringt die Konkurrenz um die so neu eröffne ten Anlagesphären neue Gegensätze und Konflikte zwischen den entwickelten kapitalistischen Staaten selbst mit sich. In den neu erschlossenen Ländern selbst aber steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewußtsein erwachenden Völker gegen die Eindringlinge, der sich leicht zu gefährlichen Maßnahmen gegen das Fremdkapital steigern kann. Die alten sozialen Verhältnisse werden völlig revolutioniert, die agrarische, tausendjährige Gebundenheit der „geschichtslosen Nationen“ gesprengt, diese selbst in den kapitalistischen Strudel hineingezogen. Der Kapitalismus selbst gibt den Unterworfenen allmählich die Mittel und Wege zu ihrer Befreiung. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren. Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.

Daher der Ruf aller in fremden Ländern interessierten Kapitalisten nach der starken Staatsmacht, deren Autorität ihre Interessen auch in den fernsten Winkeln der Welt beschützt, der Ruf nach der Kriegsflagge, die überall gesehen werden muß, damit die Handelsflagge überall aufgepflanzt werden kann. Am wohlsten fühlt sich aber das Exportkapital bei völliger Beherrschung des neuen Gebietes durch die Staatsmacht seines Landes. Denn dann ist der Kapitalexport anderer Länder ausgeschlossen, es genießt eine privilegierte Stellung, und seine Profite erhalten womöglich noch die Garantie des Staates. So wirkt auch der Kapitalexport für eine imperialistische Politik.

Der Kapitalexport hat, besonders seitdem er in der Form des industriellen und des Finanzkapitals erfolgt, die Umwälzung aller alten sozialen Verhältnisse und die Einbeziehung der Erde in den Kapitalismus ungeheuer beschleunigt. Die kapitalistische Entwicklung erfolgte nicht autochthon in jedem einzelnen Lande, sondern mit dem Kapital wurden zugleich kapitalistische Produktion und Ausbeutungsverhältnisse importiert, und zwar stets auf der in dem fortgeschrittensten Land erreichten Stufe. So wie heute eine neuentstehende Industrie sich nicht erst aus handwerksmäßigen Anfängen und Technik zu modernen Riesenbetrieben entwickelt, sondern von vornherein als hochkapitalistisches Unternehmen gegründet wird, so wird auch der Kapitalismus heute auf seiner jeweils vollendeten Stufe in ein neues Land importiert und entfaltet daher seine revolutionierende Wirkung mit viel größerer Wucht und in viel kürzerer Zeit, als sie etwa die kapitalistische Entwicklung Hollands und Englands erfordert hat.

Epoche in der Geschichte des Kapitalexports macht die Umwälzung im Transportwesen. Eisenbahnen und Dampfschiffe haben an sich für den Kapitalismus kolossale Bedeutung wegen der Verkürzung der Umlaufszeit. Dadurch wird einmal Zirkulationskapital freigesetzt, dann die Profitrate gesteigert. Die Verbilligung des Rohmaterials senkt den Kostpreis und erweitert den Konsum. Sodann schaffen erst Eisenbahnen und Dampfschiffe jene großen Wirtschaftsgebiete, die die modernen Riesenbetriebe mit ihrer Massenproduktion ermöglichen. Vor allem aber waren die Eisenbahnen das wichtigste Mittel der Erschließung der fremden Absatzmärkte. Nur durch sie wurde die Verwendung der Produkte dieser Länder durch Europa in so kolossalem Maßstab möglich, wurde der Markt so rasch zum Weltmarkt erweitert. Noch wichtiger war aber, daß jetzt Kapitalexport im größten Umfang nötig wurde zum Bau dieser Eisenbahnen, die fast ausschließlich mit europäischem Kapital, namentlich mit englischem gebaut wurden.

Der Kapitalexport aber war das Monopol Englands und sicherte diesem Lande zugleich die Herrschaft über den Weltmarkt. Industriell wie finanziell brauchte also England den Wettbewerb anderer nicht zu fürchten. Sein Ideal blieb daher die Freiheit des Marktes. Umgekehrt mußte die Überlegenheit Englands alle anderen Staaten um so mehr dazu treiben, ihre Herrschaft über einmal erworbene Gebiete zu behalten und auszudehnen, um wenigstens innerhalb ihrer Grenzen vor der übermächtigen Konkurrenz Englands geschützt zu sein.

Anders aber, sobald Englands Monopol gebrochen war und dem infolge des Freihandels nicht wirksam genug organisierten englischen Kapitalismus in dem amerikanischen und deutschen überlegene Konkurrenten erwuchsen. Die Entwicklung zum Finanzkapital schuf in diesen Staaten einen starken Drang zum Kapitalexport. Wir haben gesehen, wie die Entwicklung des Aktienwesens und der Kartelle Gründergewinne schafft, die als nach Verwendung strebendes Kapital den Banken zufließen. Dazu kommt, daß das Schutzzollsystem den inländischen Konsum einengt und daher den Export forcieren läßt. Zugleich ist in den durch den Kartellschutzzoll ermöglichten Exportprämien ein Mittel gegeben, um auf neutralen Märkten England eine übermächtige Konkurrenz zu bereiten, die um so gefährlicher ist, als die jüngere Großindustrie dieser Länder durch ihre neuen Einrichtungen teilweise der englischen technisch überlegen ist. Sind aber die Exportprämien ein wichtiges Mittel im internationalen Konkurrenzkampf geworden, so ist dieses Mittel um so wirksamer, je höher die Exportprämien sein können. Diese Höhe hängt ab von der Höhe des Zolles. Seine Erhöhung wird jetzt das Interesse jeder nationalen Kapitalistenklasse. Und hier gibt es auf die Dauer kein Zurückbleiben. Der Schutzzoll des einen Landes zieht mit Notwendigkeit den des anderen nach sich, und um so sicherer, je entwickelter der Kapitalismus in diesem Lande, je mächtiger und verbreiteter die kapitalistischen Monopole. Die Höhe des Schutzzolles wird entscheidendes Moment im internationalen Konkurrenzkampf. Die Erhöhung in dem einen Lande muß sofort vom anderen nachgemacht werden, um die Konkurrenzbedingungen nicht zu verschlechtern, um auf dem Weltmarkt nicht zu unterliegen. Auch der industrielle Schutzzoll wird, was der agrarische seiner Natur nach ist, zu einer Schraube ohne Ende.

Aber der Konkurrenzkampf, der allein durch den billigeren Preis der Ware ausgefochten werden muß, droht immer verlustbringend zu werden oder doch nicht den vollen Durchschnittsprofit abzuwerfen. Ausschluß der Konkurrenz wird auch hier das Ideal der großen Kapitalistenvereinigungen. Dies um so eher, als für sie der Export, wie wir gesehen haben, zu einer dringenden Notwendigkeit wird, die unter allen Umständen erfüllt werden muß, weil die technischen Bedingungen einer möglichst großen Stufenleiter der Produktion dies gebieterisch verlangen. Aber auf dem Weltmarkt herrscht Konkurrenz, und so bleibt zunächst nichts übrig, als die eine Art der Konkurrenz durch eine andere minder gefährliche zu ersetzen; an Stelle der Konkurrenz auf dem Warenmarkt, wo nur der Preis der Ware entscheidet, tritt die Konkurrenz auf dem Kapitalmarkt, im Angebot von Leihkapital, dessen Gewährung bereits an die Bedingung späterer Warenübernahme geknüpft ist. Der Kapitalexport wird jetzt zum Mittel, die industriellen Lieferungen dem kapitalexportierenden Lande zu sichern. Der Abnehmer hat jetzt keine Wahl; er wird zum Schuldner und damit zum Abhängigen, der die Bedingungen des Gläubigers akzeptieren muß; Serbien bekommt von Österreich, Deutschland oder Frankreich nur eine Anleihe, wenn es sich verpflichtet, seine Kanonen oder sein Eisenbahnmaterial von Skoda, Krupp oder Schneider zu beziehen. Der Kampf um den Warenabsatz wird zum Kampf uni die Anlagesphären des Leihkapitals zwischen den nationalen Bankgruppen, und da wegen des internationalen Ausgleichs der Zinssätze die ökonomische Konkurrenz hier innerhalb relativ enger Schranken gebannt ist, so wird der ökonomische Kampf rasch zu einem Machtkampf, der mit politischen Waffen geführt wird.

Ökonomisch aber bleibt gerade in diesen Kämpfen den alten kapitalistischen Staaten ein Vorsprung. England [9] besitzt eine alte, mit Kapital gesättigte Industrie, die aus den Zeiten des englischen Weltmarktmonopols für die Bedürfnisse des Weltmarktes zugeschnitten, sich relativ langsamer entwickelt als die deutsche oder amerikanische, ihre Expansionsfähigkeit ist geringer. Anderseits ist aber das akkumulierte Kapital außerordentlich groß, und aus seinen auswärtigen Anlagen fließen stets neue, zu akkumulierende Profitmassen nach England. Das Verhältnis der zu akkumulierenden Kapitalmassen zu dem im Inlande anlagefähigen Kapital ist hier am größten, daher der Drang zu auswärtigen Anlagen hier am stärksten, der geforderte Zinsfuß am geringsten. Aus anderen Ursachen ist auch in Frankreich dieselbe Wirkung eingetreten. Auch hier alter akkumulierter, wenn auch nach seinen Eigentumsverhältnissen nicht so konzentrierter, doch durch das Bankwesen zentralisierter Reichtum neben fortwährendem Zufluß aus auswärtigen Anlagen auf der einen Seite, auf der anderen eine stagnierende industrielle Entwicklung im eigenen Land, daher auch hier starker Exportdrang des Kapitals. Dieser Vorsprung kann nur politisch wettgemacht werden durch stärkeren Druck der Diplomatie, ein gefährliches und daher begrenztes Mittel, oder aber ökonomisch durch Preisopfer, die eine eventuell höhere Verzinsung aufwiegen.

Die Heftigkeit der Konkurrenz weckt aber das Streben nach ihrer Aufhebung. Am einfachsten kann dies geschehen, wenn Teile des Weltmarktes in den nationalen Markt einbezogen werden, also durch Einverleibung fremder Gebiete, durch die Kolonialpolitik. War der Freihandel gegen die Kolonien gleichgültig, so führt der Schutzzoll unmittelbar zu größerer Aktivität auf kolonial-politischem Gebiet. Hier stoßen die Interessen der Staaten unmittelbar feindlich aufeinander.

In derselben Richtung wirkt auch ein anderes Moment. Schon rein quantitativ ist es für ein Land vorteilhafter, wenn es sein Kapital in Form von profittragendem als in Form von zinstragendem exportiert, da ja der Profit größer ist als der Zins. Dann aber bleibt die Verfügung über das Kapital eine unmittelbarere, die Kontrolle eine direktere, wenn die exportierenden Kapitalisten ihr Kapital als industrielles anlegen. Der Einfluß des englischen Kapitals, das in amerikanischen Eisenbahnbonds, also als zinstragendes Kapital angelegt ist, auf die Politik der amerikanischen Eisenbahnherren ist ein minimaler, während er ausschlaggebend ist, wo das industrielle Unternehmen selbst mit englischem Kapital betrieben wird. Träger des industriellen Kapitalexports sind aber heute vor allem die Kartelle und Trusts, und zwar aus verschiedenen Gründen. Einmal sind sie am stärksten in den schweren Industrien, wo, wie wir gesehen haben, der Drang nach Kapitalexport am stärksten ist, um neue Absatzmärkte für die eigene riesig anschwellende Produktion zu gewinnen. Der Bau von Eisenbahnen, die Ausbeutung der Bergwerke, die Vermehrung der Kriegsrüstungen fremder Staaten, die Errichtung von Elektrizitätsanlagen ist vor allem das Interesse dieser schweren monopolistischen Industrien. Hinter ihnen stehen auch die mit diesen Zweigen am engsten verbundenen großen Banken. Dazu kommt, daß der Drang nach Ausdehnung der Produktion bei den kartellierten Industrien einerseits sehr stark ist, anderseits der Ausdehnung für den Inlandsmarkt der hohe Kartellpreis entgegensteht, so daß die Expansion die beste Möglichkeit gewährt, dem Ausdehnungsbedürfnis nachzukommen. Zudem verfügen die Kartelle vermöge ihrer Extraprofite über stets zur Akkumulation bereite Kapitalien, die sie am liebsten in ihren eigenen Sphären, wo die Profitrate am höchsten, anlegen wollen. Zugleich ist hier die Verknüpfung von Banken und Industrie am engsten, und die Möglichkeit des Gründergewinns durch Emission der Aktien von Unternehmungen wird ein starkes Motiv zum Kapitalexport. So sehen wir heute den stärksten Drang nach industriellem Kapitalexport bei den Ländern mit der organisatorisch fortgeschrittensten Industrie, bei Deutschland und den Vereinigten Staaten. Dies erklärt die eigentümliche Erscheinung, daß diese Staaten einerseits Kapital exportieren, anderseits das für die eigene Volkswirtschaft nötige Kapital zum Teil vom Ausland importieren. Sie exportieren vor allem industrielles Kapital und erweitern so die eigene Industrie, deren Betriebskapital sie zum Teil in Form von Leihkapital aus Ländern mit langsamerer industrieller Entwicklung, aber mit größerem akkumulierten Kapitalreichtum beziehen. Sie profitieren dabei nicht nur die Differenz zwischen dem industriellen Profit, den sie auf den fremden Märkten machen, und dem viel niedrigeren Zins, den sie auf das geliehene Kapital in England oder Frankreich zu entrichten haben, sondern sie sichern sich durch diese Art des Kapitalexports zugleich die raschere Ausdehnung der eigenen Industrie. So exportieren die Vereinigten Staaten in größtem Maßstab industrieUes Kapital nach Südamerika, während sie gleichzeitig Leihkapital aus England, Holland, Frankreich usw. importieren, in Form von Bonds und Obligationen [10] zum Betrieb ihrer eigenen Industrie.

So gewährt die Kartellierung und Trustierung auch in dieser Beziehung durch Forcierung des Kapitalexports den Kapitalisten des Landes, wo die Monopolisierung der Industrie am fortgeschrittensten ist, einen Vorsprung vor Ländern mit niedriger organisierter Industrie und erweckt so einerseits in diesen Ländern das Bestreben, durch den Schutzzoll die Kartellierung der eigenen Industrie zu beschleunigen, während sie in den fortgeschritteneren Ländern das Bestreben stärkt, die Fortdauer des Kapitalexports unter allen Umständen sich zu sichern durch Ausschluß jeder Konkurrenz fremden Kapitals.

Ist der Kapitalexport in seinen entwickeltsten Formen getragen von den Kapitalsphären, deren Konzentration am fortgeschrittensten ist, so beschleunigt er rückwirkend die Macht und die Akkumulation dieser Sphären. Es sind die größten Banken und die größten Industriezweige, die für sich die besten Bedingungen für die Verwertung des Kapitals auf fremden Märkten erlangen. Großbanken und Großindustrie fallen hier die reichen Extraprofite zu, an denen teilzunehmen kleinere Kapitalmächte gar nicht denken können.

Die Politik des Finanzkapitals verfolgt somit drei Ziele: erstens Herstellung eines möglichst großen Wirtschaftsgebietes, das zweitens durch Schutzzollmauem gegen die ausländische Konkurrenz abgeschlossen und damit drittens zum Exploitationsgebiet der nationalen monopolistischen Vereinigungen wird. Diese Forderungen aber mußten in schärfsten Widerspruch geraten zu der Wirtschaftspolitik, die das industrielle Kapital während seiner Alleinherrschaft (in dem doppelten Sinn, daß ihm das kommerzielle und Bankkapital untergeordnet und daß es zugleich die Alleinherrschaft auf dem Weltmarkt innehatte) in England in klassischer Vollendung durchgeführt hatte. Und dies um so mehr, als die Durchsetzung der Politik des Finanzkapitals in den anderen Ländern immer mehr auch die Interessen des englischen industriellen Kapitals bedrohte. War ja das Freihandelsland der naturgemäße Angriffspunkt der ausländischen Konkurrenz. Zwar hat das „dumping“ für die englische Industrie auch seine Vorteile. Die Verfeinerungsindustrie gewann durch die Schleuderkonkurrenz billigeres Rohmaterial. Aber anderseits schädigte dies eben die Rohmaterialindustrien. Dann aber muß mit dem Fortschreiten der Kartellierung, mit der Zusammenfassung immer weiterer Produktionsstufen und mit der Ausbildung des Exportprämiensystems auch die Stunde für diejenigen englischen Industrien schlagen, die bisher von dem „dumping“ profitiert hatten. Dazu kommt aber als wichtigstes Moment, daß der Zoll die Aussicht auf eine Ära rascher Monopolisierung mit ihren Aussichten auf Extraprofite und Gründergewinne eröffnet, die für das englische Kapital eine große Verlockung bilden.

Anderseits ist eine Vereinigung Englands mit seinen Kolonien durch einen Schutzzoll durchaus möglich. Die autonomen Kolonien Englands sind zumeist Staaten, die vor allem als Rohstofflieferanten [11] für England und als Abnehmer von industriellen Produkten in Betracht kommen. [12] Die Schutzzoll- und besonders die agrarische Schutzzollpolitik der anderen Staaten hat sie ohnehin auf England als ihren Hauptabsatzmarkt hingelenkt. Soweit aber die englische Industrie die Entwicklung ihrer eigenen hindern würde, befinden sich jene Staaten noch im Stadium des Erziehungszolles, das heißt in einem Stadium, das das Ausmaß der Zölle nicht über eine gewisse Höhe hinaus verträgt, weil die Einfuhr ausländischer Industrieprodukte zur Versorgung des eigenen Marktes unbedingt nötig ist. Es läßt sich also ein höherer Kartellschutzzoll des gesamten britischen Reiches bei Beibehaltung „innerstaatlicher“ Erziehungszolle sehr wohl durchführen, und die Aussicht auf ein solches Wirtschaftsgebiet, das außerdem sowohl politisch als ökonomisch stark genug wäre, um der Verdrängung britischer Industrien durch Erhöhung der Schutzzölle anderer Staaten Schranken zu setzen, ist geeignet, die gesamte Kapitalistenklasse zu vereinigen. [13] Dazu kommt, daß das in den Kolonien arbeitende Kapital zum weitaus überwiegenden Teil im Besitz englischer Kapitalisten ist, für die der Reichsschutzzoll viel wichtiger ist als die stärkere Erhöhung, die autonome koloniale Zolltarife bringen würden. [14]

Die Vereinigten Staaten sind an sich ein auch für die Ära des Imperialismus genügend großes Wirtschaftsgebiet, dessen Expansionsrichtung übrigens geographisch gegeben ist. Die panamerikanische Bewegung, die in der Monroedoktrin ihren ersten politischen Ausdruck gefunden hat, steht erst im Beginn und hat infolge des ungeheuren Übergewichts der Vereinigten Staaten noch große Aussichten.

Anders steht es in Europa, wo die staatliche Zersplitterung ökonomisch gegensätzliche Interessen geschaffen hat, die ihrer ökonomischen Aufhebung durch einen mitteleuropäischen Zollverein sehr schwere Hindernisse entgegenstellen. Hier handelt es sich nicht, wie bei dem britischen Imperium, um einander ergänzende Teile, sondern um mehr oder weniger gleichartige und daher in gegenseitiger Konkurrenz feindlich einander gegenüberstehende Gebilde.

Diese Feindschaft aber wird durch die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals außerordentlich gesteigert, wobei der Gegensatz entspringt nicht aus dem Streben nach Herstellung einheitlicher Wirtschaftsgebiete in Europa selbst wie im 19. Jahrhundert, sondern aus dem Streben nach Einverleibung fremder neutraler Märkte, in dessen Dienst jetzt die nationalen Machtmittel der europäischen Staaten gestellt werden. Denn es handelt sich nicht um die Einverleibung kapitalistisch bereits hochentwickelter Länder, deren Industrie selbst exportfähig ist und für die des erobernden Landes nur vermehrte Konkurrenz bedeuten würde, in jedem Falle aber als Anlagesphäre für das überschüssige Kapital des anderen Landes wenig in Betracht käme. In Betracht kommen vielmehr vor allem Gebiete, die noch nicht erschlossen sind, deren Erschließung aber gerade für die mächtigsten Kapitalistengruppen von großer Bedeutung sein kann, also hauptsächlich nur überseeische Kolonialgebiete. Denn hier ist für das Kapital Gelegenheit gegeben, im großen Maßstab Kapital anzulegen. Insbesondere absorbiert die Schaffung des modernen Transportsystems, der Eisenbahnen und Dampferverbindungen gewaltige Kapitalmassen. [15]

Der Staat sorgt dafür, daß die lebendige Arbeit in den Kolonien zu Bedingungen zur Verfügung stellt, die Extraprofit erlauben. Zugleich sichert er in vielen Fällen den Gesamtprofit durch Übernahme der Staatsgarantie. Der natürliche Reichtum der Kolonien wird ebenfalls zu einer Quelle von Extraprofiten. Namentlich handelt es sich hier um die Verbilligung des Rohmaterials, also um Senkung des Kostpreises der Industrieprodukte. In den Kolonien ist die Grundrente noch nicht oder nur im geringsten Maße entwickelt. Die Vertreibung oder Ausrottung der Einheimischen, im günstigsten Falle ihre Verwandlung aus Hirten oder Jägern in Kontraktsklaven oder auf kleine feste Bezirke beschränkte Ackerhauer schafft mit einem Schlage freien Boden, der nur einen nominellen Preis hat. Ist der Boden sonst fruchtbar, so vermag er der einheimischen Industrie ihre Rohstoffe, zum Beispiel Baumwolle, weit billiger zu liefern als die alten Bezugsquellen. Selbst wenn dies nicht im Preise zum Ausdruck kommt, weil zum Beispiel für Baumwolle der amerikanische Preis bestimmend bleibt, so bedeutet das doch, daß ein Teil der Grundrente, der sonst den amerikanischen Farmern gezahlt werden müßte, nunmehr den Besitzern der kolonialen Plantagen zufällt.

Noch wichtiger ist die Rohstoffversorgung der metallverarbeitenden Industrie. Die rasche Entwicklung der metallverarbeitenden Industrien hat trotz aller technischen Fortschritte die Tendenz, die Metallpreise zu erhöhen, die noch gefördert wird durch die kapitalistische Monopolisierung. Um so wichtiger wird es, im eigenen Wirtschaftsgebiet Bezugsquellen für diese Rohstoffe zu haben. [16]

Das Streben nach Kolonialerwerb führt so zu einem stets wachsenden Gegensatz zwischen den großen Wirtschaftsgebieten und wirkt in Europa auf das Verhältnis der einzelnen Staaten entscheidend zurück. Die verschiedenen natürlichen Bedingungen, die innerhalb eines einzigen großen Wirtschaftsgebietes wie dem der Vereinigten Staaten ein Springquell rascher ökonomischer Entfaltung werden, hemmen umgekehrt in Europa, wo sie in mannigfachster, vom Standpunkt der Ökonomie zufälliger und also irrationeller Weise auf eine große Anzahl kleiner Wirtschaftsgebiete verteilt sind, die ökonomische Entwicklung und differenzieren diese zugunsten der größeren und zum Nachteil der kleineren Wirtschaftsgebiete um so mehr, da kein Freihandel diese Gebiete zu einer höheren wirtschaftlichen Einheit verbindet. Diese ökonomische Ungleichheit bedeutet aber für die Staaten dasselbe, was innerhalb der Staaten für die einzelnen Schichten: die Abhängigkeit der ökonomisch Stärkeren von den Schwächeren. Das ökonomische Mittel ist auch hier der Kapitalexport. Das kapitalreiche Land exportiert das Kapital als Leihkapital; es wird Gläubiger des Schuldnerlandes.

Solange der Kapitalexport wesentlich dazu diente, in dem zurückgebliebenen Lande einmal das Transportsystem zu schaffen, zweitens die Konsummittelindustrien zu entwickeln, so lange förderte er die kapitalistische Entfaltung dieses Landes. Zwar hatte auch diese Methode für das betreffende Land seine Nachteile; der größte Teil des Profits floß ins Ausland, um hier teils als Revenue ausgegeben zu werden, ohne also Industrien des Schuldnerlandes zu beschäftigen, oder aber um akkumuliert zu werden. Diese Akkumulation brauchte natürlich durchaus nicht in dem Lande stattzufinden, aus dem der Profit stammte; durch diesen kapitalistischen „Absentismus“ [17] wurde in diesem Lande aber die Akkumulation, also die Weiterentwicklung des Kapitalismus außerordentlich verlangsamt. In großen Wirtschaftsgebieten, in denen sich der Kapitalismus auch aus den einheimischen Bedingungen heraus rasch entwickeln mußte, fand bald eine nationale Assimilation des ausländischen Kapitals statt. So hat Deutschland sehr rasch das belgische und französische Kapital, das namentlich im Bergbau Rheinland-Westfalens große Bedeutung hatte, national assimiliert. In den kleinen Wirtschaftsgebieten aber war diese Assimilation sehr erschwert, da das Entstehen einer heimischen Kapitalistenklasse viel langsamer und schwieriger vor sich ging.

Vollends unmöglich wurde diese Emanzipation, sobald der Charakter des Kapitalexports sich änderte, die Kapitalistenklassen der großen Wirtschaftsgebiete weniger Konsumtionsmittelindustrien in fremden Ländern zu schaffen versuchten, sondern vielmehr darauf ausgingen, sich die Herrschaft über das Rohmaterial ihrer sich immer stärker entwickelnden Produktionsmittelindustrien zu sichern. So kamen die Minen und Bergwerke der Staaten der Pyrenäenhalbinsel unter die Gewalt fremden Kapitals, das jetzt nicht als Leihkapital exportiert wurde, sondern direkt in diesen Minen angelegt wurde, so – unter größerem Widerstand – auch die Erdschätze Skandinaviens, besonders Schwedens. Diesen Ländern wurde in einer Zeit, wo sie vielleicht sonst zur Begründung der hauptsächlichsten der modernen Industrien, einer eigenen Eisenindustrie, hätten übergehen können, das Rohmaterial entzogen zugunsten der englischen, deutschen und französischen Industrie. So blieb ihre kapitalistische Entwicklung, damit aber auch ihre politische und finanzielle, in den Anfängen stecken. Ökonomisch dem ausländischen Kapital tributär [18], wurden sie auch politisch zu Staaten zweiter Ordnung, auf den Schutz der Großen angewiesen.

Anderseits stellte die wachsende Bedeutung der kapitalistischen Kolonialpolitik England vor die Aufgabe, sein Kolonialreich zu sichern, und diese Aufgabe war gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft zur See und mit dem Schutze des Weges nach Indien. Dazu aber bedurfte es der Verfügung der Häfen am Atlantischen Ozean, und dies mußte England dazu treiben, mit den Uferstaaten des Atlantischen Ozeans gute Beziehungen zu unterhalten. Und es konnte dies politisch erreichen, weil es ökonomisch die kleineren dieser Staaten durch seinen Kapitalexport in Abhängigkeit hielt. Die Stärke der englischen Flotte mußte auch Frankreich auf die Seite Englands treiben, sobald der Anspruch Deutschlands auf seinen Anteil an der Kolonialpolitik Frankreich in Gegensatz zu Deutschland brachte und es ebenso wie alle anderen kolonialbesitzenden Länder um seinen Besitz besorgt machte. So entwickelte sich die Tendenz, zwar nicht die Zollschranken innerhalb Europas aufzuheben und dadurch ein großes einheitliches Wirtschaftsgebiet zu schaffen, wohl aber die kleineren politischen, wirtschaftlich daher zurückgebliebenen Einheiten um größere politisch zu gruppieren. Diese politischen Beziehungen wirken umgekehrt zurück auf die ökonomischen und machen das politisch in Gefolgschaft befindliche Land zur besonderen Anlagesphäre des Kapitals des Schutzlandes. Die Diplomatie steht dabei unmittelbar im Dienste des anlagesuchenden Kapitals.

Soweit aber die kleineren Staaten noch nicht in „fester Hand“ sind, werden sie zum Tummelplatz der Konkurrenz des ausländischen Kapitals. Aber auch liier sucht man die Entscheidung herbeizuführen durch politische Maßregeln. An die Lieferung von Kanonen wird zum Beispiel für Serbien zugleich die politische Entscheidung geknüpft, ob es französisch-russische Unterstützung oder deutsch-österreichische wählen soll. [19] Die politische Macht wird somit im ökonomischen Konkurrenzkampf entscheidend, und für das Einanzkapital wird die staatliche Machtstellung unmittelbares Profitinteresse. Die Diplomatie erhält jetzt als wichtigste Funktion die Vertretung des Finanzkapitals. Zu den rein politischen Waffen treten handelspolitische [20], und die Sätze eines Handelsvertrages werden bestimmt, nicht mehr allein durch die Interessen des Warenaustausches, sondern auch durch die größere oder geringere Bereitwilligkeit des kleineren Staates, dem Finanzkapital des größeren vor der Konkurrenz den Vorzug zu geben.

Je kleiner aber das Wirtschaftsgebiet, desto geringer die Macht, den Konkurrenzkampf mittels hoher Exportprämien siegreich bestehen zu können, desto stärker der Drang nach Kapitalexport, um an der wirtschaftlichen Entwicklung anderer größerer Mächte und ihren höheren Profiten teilzunehmen; und je größer die Masse des bereits akkumulierten Reichtums im eigenen Land, desto eher kann dieses Bedürfnis befriedigt werden.

Auch hier sind entgegengesetzte Tendenzen wirksam. Je größer das Wirtschaftsgebiet, je größer die Staatsmacht, desto günstiger die Stellung des nationalen Kapitals auf dem Weltmarkt. So wird das Finanzkapital zum Träger der Idee der Stärkung der Staatsmacht mit allen Mitteln. Je größer aber die historisch gewordenen Unterschiede in der Staatsmacht, desto verschiedener die Konkurrenzbedingungen, desto erbitterter, weil desto aussichtsreicher der Kampf der großen Wirtschaftsgebiete um die Beherrschung des Weltmarktes. Dieser Kampf wird um so schärfer, je entwickelter das Finanzkapital, je stärker sein Streben nach Monopolisierung von Stücken des Weltmarktes für das nationale Kapital; je weiter aber der Prozeß der Monopolisierung bereits fortgeschritten, desto erbitterter der Kampf um den Rest. War durch das englische Freihandelssystem dieser Gegensatz noch erträglich gemacht, so muß er durch den in kurzer Zeit notwendigerweise erfolgenden Übergang zum Schutzzoll eine außerordentliche Verschärfung erfahren. Der Widerspruch zwischen der Entwicklung des deutschen Kapitalismus und der verhältnismäßigen Kleinheit seines Wirtschaftsgebietes wird dann außerordentlich gesteigert. Während Deutschland in seiner industriellen Entfaltung rapid fortschreitet, wird ihm sein Konkurrenzgebiet plötzlich geschmälert. Und dies ist um so empfindlicher, als Deutschland aus historischen Gründen [21], also für den heutigen Kapitalismus, der auf das Vergangene, wenn es nicht akkumulierte „vergangene Arbeit“ ist, nichts gibt, zufälligen Gründen keinen in Betracht kommenden Kolonialbesitz hat, während nicht nur seine stärksten Konkurrenten England und die Vereinigten Staaten, für die ihr ganzer Kontinent ökonomisch Kolonialcharakter trägt, sondern auch die kleineren Mächte, Frankreich, Belgien, Holland über beträchtlichen Kolonialbesitz verfügen und sein künftiger Konkurrent Rußland gleichfalls ein ungeheuer größeres Wirtschaftsgebiet besitzt. Es ist eine Situation, die den Gegensatz zwischen Deutschland und England mit ihren Trabanten außerordentlich verschärfen muß, eine Situation, die zu einer gewaltsamen Lösung hindrängt.

Diese wäre längst eingetreten, wenn nicht entgegengesetzte Ursachen entgegengewirkt hätten. Denn der Kapitalexport schafft selbst Tendenzen, die einer solchen gewaltsamen Lösung widerstreben. Die Ungleichheit der industriellen Entwicklung bewirkt eine gewisse Differenzierung in den Formen des Kapitalexports. Die direkte Anteilnahme an der Erschließung der industriell rückständigen oder langsamer sich entwickelnden Länder fällt jenen zu, in denen die industrielle Entwicklung, sowohl was die technische als auch was die organisatorische Seite anlangt, die höchste Form erreicht hat. Dazu gehören vor allem Deutschland und die Vereinigten Staaten, in zweiter Linie England und Belgien. Die anderen Länder mit alter kapitalistischer Entwicklung nehmen am Kapitalexport mehr in der Form von Leihkapital Anteil als in der Form der Errichtung von Fabriken. Das führt dazu, daß zum Beispiel französisches, holländisches, im hohen Maße aber auch englisches Kapital zum Leihkapital wird für Industrien unter deutscher und amerikanischer Leitung. So entstehen Tendenzen zu einer Solidarität internationaler Kapitalsinteressen. Französisches Kapital wird als Leihkapital interessiert an den Fortschritten deutscher Industrien in Südamerika usw. Zugleich erlaubt eine solche Verbindung, die die Kapitalsmacht außerordentlich steigert, eine noch raschere Erschließung fremder Gebiete, die noch erleichtert wird durch den verstärkten Driuk der verbundenen Staaten. [22]

Welche von diesen Tendenzen überwiegt, ist in den konkreten Fällen verschieden und hängt vor allem ab von den Gewinnaussichten, die durch die Ausfechtung des Kampfes eröffnet werden. Es spielen hier ähnliche Verhältnisse eine Rolle auf internationalem und interstaatlichem Maßstab, wie diejenigen es sind, welche darüber entscheiden, ob innerhalb einer Industriesphäre der Konkurrenzkampf weiterdauert oder durch ein Kartell oder einen Trust für kürzere oder längere Zeit beendet wird. Je größer die Machtunterschiede, desto wahrscheinlicher im allgemeinen der Kampf. Aber jeder siegreiche Kampf würde zugleich eine Stärkung des Siegers herbeiführen, die eine Machtverschiebung zu seinen Gunsten und zuungunsten aller anderen herbeiführen würde. Daher die internationale Besitzstandpolitik der neuesten Zeit, die ganz an die Gleichgewichtspolitik der Frühstadien des Kapitalismus erinnert. Dazu kommt die Furcht vor den innerpolitischen Folgen eines Krieges, die durch die sozialistische Bewegung erzeugt wird. Anderseits ist aber der Entscheid über Krieg und Frieden nicht in der Hand der hochkapitalistischen Staaten allein gelegen, wo die Gegentendenzen gegen die kriegerische Entwicklung am stärksten ausgeprägt sind. Das kapitalistische Erwachen der Nationen des östlichen Europas und Asiens ist von Machtverschiebungen begleitet, die auf die Großstaaten zurückwirkend auch hier die vorhandenen Gegensätze zur Entladung bringen können.

Wird aber die politische Macht des Staates auf dem Weltmarkt zu einem Konkurrenzmittel des Finanzkapitals, so bedeutet dies natürlich die völlige Änderung des Verhaltens des Bürgertums zum Staate. Trägerin der Staatsfeindschaft war das Bürgertum im Kampfe gegen den ökonomischen Merkantilismus und den politischen Absolutismus. Der Liberalismus war wirklich destruktiv, bedeutete in der Tat den „Umsturz“ der Staatsgewalt und die Lösung der alten Bindungen. Das ganze mühsam aufgebaute System der ländlichen Abhängigkeitsverhältnisse und der städtischen genossenschaftlichen Bindungen mit seinem komplizierten Überbau von Privilegien und Monopolen wurde über den Haufen geworfen. Sein Sieg bedeutete zunächst eine gewaltige Machtminderung der Staatsgewalt. Das ökonomische Leben sollte, wenigstens dem Prinzip nach, der staatlichen Regelung gänzlich entrückt sein und politisch der Staat sich auf die Überwachung der Sicherheit und die Herstellung der bürgerlichen Gleichheit beschränken. So war der Liberalismus rein negierend, im schroffsten Gegensatz zu dem Staat des merkantilistischen Frühkapitalismus, der im Prinzip alles regeln wollte, im Gegensatz auch zu allen sozialistischen Systemen, die nicht destruktiv, sondern konstruktiv an Stelle der Anarchie und der Freiheit der Konkurrenz die bewußte Regelung durch die ihr ökonomisches Leben und damit sich selbst organisierende Gesellschaft setzen wollen. Es ist nur natürlich, daß das liberale Prinzip am ehesten noch in England zur. Verwirklichung gelangte, wo es getragen war von einer freihändlerischen Bourgeoisie, die auch durch den Gegensatz zum Proletariat nur während kurzer Perioden zur Anrufung der Staatsmacht gezwungen wurde. Aber auch in England stieß seine Verwirklichung auf den Widerstand nicht nur der Eilten Aristokratie, die Schutzzollpolitik trieb, also dem liberalen Prinzip widerstrebte, sondern auch zum Teil auf den des Handels und des mit auswärtigen Anlagen rechnenden Bankkapitals, das vor allem die Aufrechterhaltung der Seeherrschaft verlangte, ein Verlangen, das von den an den Kolonien interessierten Schichten aufs nachdrücklichste unterstützt wurde. Auf dem Kontinent aber konnte die liberale Staatsauffassung von vornherein nur mit starken Umbiegungen zur Herrschaft gelangen. Während aber - ein charakteristischer Gegensatz zwischen Ideologie und Wirklichkeit – der kontinentale, von den Franzosen in klassischer Weise ausgebildete Liberalismus alle theoretischen Konsequenzen für alle Gebiete des politischen und des geistigen Lebens überhaupt mit viel größerer Kühnheit und schärferer Konsequenz zog als der englische, da sein späteres Auftreten ihn mit einem ganz anderen wissenschaftlichen Rüstzeug versah als den englischen – seine Formulierung war darum auch viel umfassender und seine Grundlage die rationalistische Philosophie, während der englische wesentlich auf Ökonomie gegründet war –, waren der praktischen Verwirklichung auf dem Kontinent von vornherein bestimmte Schranken gesetzt. Wie sollte auch die Forderung des Liberalismus nach Herabdrückung der Staatsgewalt von einer Bourgeoisie erfüllt werden können, die ökonomisch den Staat als den gewaltigsten Hebel ihrer Entwicklung brauchte, für die es sich nur darum handeln konnte, nicht den Staat abzuschaffen, sondern ihn umzuschaffen aus einem Hindernis in ein Vehikel ihrer eigenen Entwicklung. Was die kontinentale Bourgeoisie vor allem brauchte, war die Überwindung der Kleinstaaterei, war, an Stelle der Ohnmacht des Kleinstaates die Übermacht des Einheitsstaates zu setzen. Das Bedürfnis der Schaffung des Nationalstaates mußte die Bourgeoisie von vornherein staatserhaltend machen. Auf dem Kontinent aber handelte es sich nicht um Seemacht, sondern um Landmacht. Das moderne Heer aber ist ein ganz anderes Mittel, die staatliche Macht der Gesellschaft entgegenzusetzen, wie die Flotte. Es bedeutet von vornherein die Verselbständigung der staatlichen Macht in den Händen derjenigen, die das Heer zur Verfügung haben. Anderseits mußte die allgemeine Wehrpflicht, die die Massen bewaffnete, der Bourgeoisie sehr bald die Überzeugung beibringen, daß, sollte das Heer nicht eine Bedrohung ihrer Herrschaft werden, es einer streng hierarchischen Organisation bedürfe, mit einem abgeschlossenen Offizierskorps, das ein gefügiges Werkzeug des Staates war. Konnte also der Liberalismus in Ländern wie Deutschland, Italien oder Österreich sein Staatsprogramm nicht durchführen, so waren auch in Frankreich seinem Streben bald Schranken gesetzt, da die französische Bourgeoisie handelspolitisch den Staat nicht entbehren konnte. Dazu kam, daß der Sieg der Französischen Revolution Frankreich notwendigerweise in einen Krieg nach zwei Fronten verwickeln mußte; es mußte gegen den Feudalismus des Kontinents seine revolutionären Errungenschaften sichern, anderseits bedeutete die Schaffung eines neuen Reiches des modernen Kapitalismus die Bedrohung der alten Stellung Englands auf dem Weltmarkt, und so mußte Frankreich gleichzeitig mit England um die Herrschaft auf dem Weltmarkt den Kampf aufnehmen. Seine Niederlage stärkte in England die Macht des Grundbesitzes, des Handels-, Bank- und Kolonialkapitals und damit der Staatsmacht über das industrielle Kapital und verzögerte so den endgültigen Antritt der Herrschaft des englischen Industriekapitals und den Sieg des Freihandels. Anderseits machte der Sieg Englands das industrielle Kapital Europas notwendigerweise zum Anhänger des Schutzzolls und vereitelte den Sieg des wirtschaftlichen Liberalismus völlig, schuf aber damit zugleich die Bedingungen für die raschere Entwicklung des Finanzkapitals auf dem Kontinent.

Der Anpassung der Ideologie und der Staatsauffassung des Bürgertums an die Bedürfnisse des Finanzkapitals stand so in Europa von vornherein ein geringeres Hindernis entgegen; und vollends mußte der Umstand, daß die Einigung Deutschlands auf konterrevolutionärem Wege erfolgte, hier die Stellung der Staatsgewalt im Bewußtsein des Volkes außerordentlich stärken, während in Frankreich die militärische Niederlage alle Kräfte zunächst auf Wiederherstellung der Staatsmacht konzentrieren ließ. So stießen denn die Bedürfnisse des Finanzkapitals auf ideologische Elemente, die es leicht benützen konnte, um aus ihnen die neue, seinen Interessen angepaßte Ideologie zu schaffen.

Diese Ideologie ist aber der des Liberalismus völlig entgegengesetzt; das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft; es hat keinen Sinn für die Selbständigkeit des Einzclkapitalisten, sondern verlangt seine Bindung; es verabscheut die Anarchie der Konkurrenz und will die Organisation, freilich nur, um auf immer höherer Stufenleiter die Konkurrenz aufnehmen zu können. Aber um dies durchzusetzen, um seine Übermacht zu erhalten und zu vergrößern, braucht es den Staat, der ihm durch seine Zollpolitik und Tarifpolitik den inländischen Markt sichern, die Eroberung ausländischer Märkte erleichtern soll. Es braucht einen politisch mächtigen Staat, der in seiner Handelspolitik nicht auf die entgegengesetzten Interessen anderer Staaten Rücksicht zu nehmen braucht. [23] Es bedarf schließlich eines starken Staates, der seine finanziellen Interessen im Ausland zur Geltung bringt, seine politische Macht einsetzt, um den kleineren Staaten günstige Lieferungsverträge und günstige Handelsverträge abzunötigen. Einen Staat, der überall in der Welt eingreifen kann, um die ganze Welt in Anlagesphären für sein Finanzkapital verwandeln zu können. Das Finanzkapital braucht endlich einen Staat, der stark genug ist, um Expansionspolitik treiben und neue Kolonien sich einverleiben zu können. War der Liberalismus ein Gegner der staatlichen Machtpolitik, wollte er seine Herrschaft sichern gegenüber den alten Gewalten der Aristokratie und Bürokratie, indem er ihnen die staatlichen Machtmittel in möglichst geringem Umfang gewährte, so wird die Machtpolitik ohne jede Schranke zur Forderung des Finanzkapitalismus, und es wäre dies der Fall, auch wenn die Ausgaben für den Militarismus und Marinismus nicht unmittelbar gerade den mächtigsten kapitalistischen Schichten wichtigen Absatz mit meist monopolistischen Gewinnen sichern würde.

Das Verlangen nach Expansionspolitik aber revolutioniert auch die ganze Weltanschauung des Bürgertums. Es hört auf, friedlich und humanitär zu sein. Die alten Freihändler glaubten an den Freihandel nicht nur als die richtigste ökonomische Politik, sondern auch als Ausgangspunkt einer Ära des Friedens. Das Finanzkapital hat diesen Glauben längst verloren. Es hält nichts von der Harmonie der kapitalistischen Interessen, sondern weiß, daß der Konkurrenzkampf immer mehr zu einem politischen Machtkampf wird. Das Friedensideal verblaßt, an Stelle der Idee der Humanität tritt das Ideal der Größe und Macht des Staates. Der moderne Staat aber ist entstanden als Verwirklichung des Strebens der Nationen zur Einheit. Der nationale Gedanke, der in der Konstituierung der Nation als Grundlage des Staates seine natürliche Grenze fand, da er das Recht aller Nationen auf eigene staatliche Gestaltung anerkannte und damit die Grenzen des Staates in den natürlichen Grenzen der Nation gegeben sah, wird jetzt gewandelt zu dem Gedanken der Erhöhung der eigenen Nation über die anderen. [24] Als Ideal erscheint es jetzt, der eigenen Nation die Herrschaft über die Welt zu sichern, ein Streben, ebenso unbegrenzt wie das Profitstreben des Kapitals, dem es entsprang. Das Kapital wird zum Eroberer der Welt, und mit jedem neuen Lande erobert es die neue Grenze, die es zu überschreiten gilt. Dieses Streben wird zur ökonomischen Notwendigkeit, da jedes Zurückbleiben den Profit des Finanzkapitals senkt, seine Konkurrenzfähigkeit verringert und schließlich das kleinere Wirtschaftsgebiet zum Tributpflichtigen des größeren machen kann. Ökonomisch begründet, wird es ideologisch gerechtfertigt durch jene merkwürdige Umbiegung des nationalen Gedankens, der nicht mehr das Recht jeder Nation auf politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anerkennt und der nicht mehr Ausdruck ist des demokratischen Glaubenssatzes von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, auf nationalem Maßstab. Vielmehr spiegelt sich die ökonomische Bevorzugung des Monopols wider in der bevorzugten Stellung, die der eigenen Nation zukommen muß. Diese erscheint als auserwählt vor allen anderen. Da die Unterwerfung fremder Nationen mit Gewalt, also auf sehr natürlichem Wege vor sich geht, scheint die herrschende Nation diese Herrschaft ihren besonderen natürlichen Eigenschaften zu verdanken, also ihren Rasseneigenschaften. In der Rassenideologie ersteht so eine naturwissenschaftlich verkleidete Begründung des Machtstrebens des Finanzkapitals, das so die naturwissenschaftliche Bedingtheit und Notwendigkeit seiner Handlungen nachweist. An Stelle des demokratischen Gleichheitsideals ist ein oligarchisches Herrschaftsideal getreten.

Umfaßt aber dieses Ideal auf dem Gebiete der auswärtigen Politik scheinbar die ganze Nation, so schlägt es auf dem Gebiete der inneren in die Betonung des Herrenstandpunktes gegenüber der Arbeiterklasse um. Zugleich stärkt die zunehmende Macht der Arbeiter das Streben des Kapitals, die Staatsmacht als Sicherung gegen die proletarischen Forderungen noch weiter zu verstärken.

So entsteht die Ideologie des Imperialismus als Überwindung der alten liberalen Ideale. Sie spottet deren Naivität. Welche Illusion, in der Welt des kapitalistischen Kampfes, wo die Überlegenheit der Waffen allein entscheidet, an eine Harmonie der Interessen zu glauben! Welche Illusion, das Reich des ewigen Friedens zu erwarten und ein Völkerrecht zu predigen, wo nur die Macht allein über das Geschick der Völker entscheidet. Welche Torheit, die Regelung der Rechtsbeziehungen innerhalb der Staaten über die staatlichen Grenzen hinaustragen zu wollen, welche unverantwortliche Geschäftsstörung diese Humanitätsduselei, die aus den Arbeitern eine Frage gemacht, im Inlande die Sozialreform erfunden hat, in den Kolonien die Kontraktsklaverei, die einzige Möglichkeit rationeller Ausbeutung, beseitigen will. Ewige Gerechtigkeit ist ein schöner Traum, aber mit Moral baut man nicht einmal im Inlande Eisenbahnen. Wie sollen wir die Welt erobern, wenn wir auf die Bekehrung der Konkurrenz warten wollen?

Aber an Stelle der verblichenen Ideale des Bürgertums setzt der Imperialismus diese Auflösung aBer Illusionen nur, um selbst eine neue und größere zu erwecken. Er ist nüchtern bei der Abwägung des realen Widerstreits kapitalistischer Interessengruppen, und er begreift die ganze Politik als Geschäft miteinander kämpfender, aber auch miteinander sich vereinigender kapitalistischer Syndikate. Aber er wird hinreißend und berauschend, wenn er sein eigenes Ideal enthüllt. Der Imperialist will nichts für sich; er ist aber auch kein Illusionist und Träumer, der das unentwirrbare Gewirr der Rassen auf allen Entwicklungsstufen und mit allen Entwicklungsmöglichkeiten statt als farbenprächtige Wirklichkeit in den blutleeren Begriff der Menschheit auflöst. Mit harten, klaren Augen blickt er auf das Gemenge der Völker und erblickt über ihnen allen die eigene Nation. Sie ist wirklich, sie lebt in dem mächtigen, immer mächtiger und größer werdenden Staate, und ihrer Erhöhung gilt all sein Streben. Die Hingabe des Einzelinteresses an ein höheres Allgemeininteresse, das die Bedingung jeder lebensfähigen sozialen Ideologie ausmacht, ist damit gewonnen, der volksfremde Staat und die Nation selbst zu einer Einheit verbunden und die nationale Idee als Triebkraft in den Dienst der Politik gestellt. Die Klassengegensätze sind verschwunden und aufgehoben in dem Dienst der Gesamtheit. An Stelle des für die Besitzenden ausweglosen, gefährlichen Kampfes der Klassen ist die gemeinsame Aktion der zum gleichen Ziel nationaler Größe vereinten Nation getreten.

Dieses Ideal, das ein neues Band um die zerrissene bürgerliche Gesellschaft zu legen scheint, mußte um so mehr begeisterten Widerhall finden, als unterdessen der Zersetzungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft weitere Fortschritte gemacht hat.


Anmerkungen

1. Siehe Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie,Marx-Studien“, Bd. II, S. 178 ff.

2. Charakteristisch ist folgendes Beispiel, das zugleich ein internationales Kartell und die Wirkung des Kapitalexports zeigt.

„Ein sehr wichtiger, seit langem in Großbritannien, vornehmlich in Schottland heimischer Industriezweig ist die Nähfadenerzeugung. Die vier größten, diese Industrie geradezu beherrschenden Finnen, Coats & Co., Clark & Co., Brook & Bros., Chodwich & Bros., sind seit 1896 zu einer unter der Bezeichnung J. & P. Coats Limited bekannten Betriebsgemeinschaft vereinigt, die auch noch eine Reihe kleinerer englischer Fabriken und eine 15 amerikanische Gesellschaften umfassende Vereinigung umschließt. Dieser sogenannte ‚Thread Combine‘ mit 5.500.000 Pfund Sterling Kapital stellt eine der größten industriellen Vereinigungen der Welt dar. Schon vor dem Zusammenschluß hatten die Firmen Coats und Clark sich durch die Schutzzollpolitik der Vereinigten Staaten veranlaßt gesehen, eigene Fabriketablissements in den Vereinigten Staaten zu gründen, um den gegen ihre Fabrikate gerichteten hohen dortigen Tarifsätzen die Spitze abzubrechen. Dieses Verfahren hat die Vereinigung weiter verfolgt und sich auch durch bedeutenden Aktienerwerb bei den Gesellschaften der einschlägigen Industrie in Nordamerika und anderen Ländern (also Kapitalauswanderung in bedeutendem Maßstabe) die Kontrolle über dieselben gesichert. Also die englischen Industriellen fabrizieren im Ausland; den Schaden trägt durch die Verringerung der Arbeitsgelegenheit die englische Arbeiterschaft und am letzten Ende die ganze Nation. Der Fadentrust hat allen Anlaß, dieselbe Politik weiterzuverfolgen; denn es wird unwidersprochen behauptet, daß der im Betriebsjahr 1903/04 erzielte Gewinn von 2,58 Millionen Pfund Sterling hauptsächlich gerade aus den im Ausland angelegten Fabriken geflossen sei. Wann aber die erstarkende ausländische Industrie das Joch der englischen ‚Kontrolle‘ abschütteln und ihren Zinstribut verringern wird, ist auch nur eine Frage der Zeit.“ Schwab, a. a. O., S. 42.

3. So fließt zum Beispiel ein Teil der ungarischen Grundrente nach Österreich zur Zinszahlung der in Österreich umlaufenden Pfandbriefe ungarischer Hypothekenanstalten.

4. Nach, dem treffenden Ausdruck von Parvus, Die Handelskrise und die Gewerkschaften, München 1901.

5. Siehe die Beispiele bei Parvus, Die Kolonialpolitik und der Zusammenbruch, Leipzig 1907, S. 63 ff.

6. Man denke zum Beispiel an die schmähliche Begeisterung in dem Lande der Dichter und Denker für einen Carl Peters. Dieser Zusammenhang war schon den englischen Freihändlern klar und seine Betonung ein gutes Agitationsmittel gegen die Kolonialpolitik. So sagt Cobden: „Is it possible, that we can play the part of despot and butcher there (in India), without finding our character deteriorate at home?“ Zitiert bei Schulze-Gävernitz, l. c., Anm. 104.

7. Siehe darüber die Diskussion über die Einwanderungsfrage in der Neuen Zeit, XXVI, 1., insbesondere Otto Bauer, Proletarische Wanderungen, und Max Schippel, Die fremden Arbeitskräfte und die Gesetzgebung der verschiedenen Länder.

8. Siehe darüber zum Beispiel die Angaben bei Paul Mombert, Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland, 1907. So kamen in Europa auf 1.000 Bewohner Lebendgeburten im Durchschnitt der Jahre:

1841–1850

 

37,8

        

1881–1885

 

38,4

1851–1860

37,8

1886–1890

37,8

1861–1870

38,6

1891–1895

37,2

1871–1875

39,1

1896–1900

36,9

1876–1880

38,7

1901

36,5

Ebenso ist der Rückgang der Geburtenziffern sehr beträchtlich in den Vereinigten Staaten und erstaunlich in Australien. In Neusüdwales zum Beispiel tarnen auf 1000 verheiratete Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren im Jahre 1861: 340,8, im Jahre 1901: 235,3 eheliche Geburten. (Siehe auch die Angaben bei Schulze-Gävernitz, l. c., S. 195, der den Notschrei des Regierungsstatistikers Coghlen zitiert: „Das Problem der niedergehenden Geburtsziffer ist von einer alles überragenden Bedeutung und für Australien mehr als für irgendein anderes Land. Von seiner befriedigenden Lösung hängt es ab, ob unser Land jemals einen Platz unter den großen Nationen der Welt einnehmen wird.“)

Die Bevölkerungsvermehrung ist also in den angeführten Gebieten ganz allein dem bedeutenden Rückgang der Sterblichkeit zuzuschreiben, die stärker fiel als die Geburten. In Deutschland ist bis jetzt die Sterblichkeit weit rascher als die Fruchtbarkeit gefallen.

„Hält der Rückgang der letzteren noch weiter an, so muß ein Punkt kommen, das liegt in der Natur der Sache, wo die Verringerung der Sterblichkeit langsamer vor sich geht und sich das Abnahmeverhältnis beider umkehrt. Damit muß aber auch der Geburtenüberschuß eine sinkende Tendenz einschlagen.“ (Mombert, S. 263)

Dies letztere trifft zum Beispiel bereits für England und Wales, Schottland und Schweden zu.

Für dieses Stadium kapitalistischer Expansion ist auch das Schlußurteil Momberts zutreffend:

„Vielleicht wird man in nicht allzu ferner Zeit den Kernpunkt der Bevölkerungsfrage, auch in anderen Ländern als in Frankreich, weniger in einer zu starken als in einer zu schwachen Bevölkerungszunahme zu erblicken haben.“ (S. 280)

9. Das britische, im Ausland angelegte Kapital wurde 1900 auf 2500 Millionen Pfund Sterling geschätzt und eine jährliche Zunahme von 50 Millionen, davon 30 Millionen in Effekten, angenommen. Seine Kapitalanlagen im Ausland scheinen schneller zu wachsen als die im Inland; wenigstens hat sich das britische Gesamteinkommen in den Jahren 1865 bis 1898 nur etwa verdoppelt, während das Einkommen aus dem Ausland sich in demselben Zeitraum verneunfacht hat. (Giffen) Detaillierte Angaben enthält ein Vortrag von George Paish, veröffentlicht im Journal of the Royal Statistical Society, September 1909. Danach betrug 1906/07 das Einkommen aus Staatsanleihen Indiens 8.768.237 Pfund Sterling, der übrigen Kolonien 13.952.722 Pfund Sterling, aller anderen Länder 8.338.124 Pfund Sterling, zusammen 31.039.083 Pfund Sterling gegen 25.374.192 Pfund Sterling im Jahre 1897/98. Das Einkommen aus anderen Effekten (Eisenbahnen!) wird auf 48.521.000 Pfund Sterling angegeben. Die Summe des ausländischen Kapitals wird auf 2.700 Millionen Pfund Sterling berechnet, wovon 1.700 Millionen Pfund Sterling in Eisenbahnen angelegt sind. Das Einkommen daraus wird auf 140 Millionen Pfund Sterling geschätzt, was einer Verzinsung von 5,2 Prozent entspricht. Dabei dürften diese Schätzungen noch hinter der Wirklichkeit nicht unerheblich Zurückbleiben.

Das französische Auslandskapital schätzte P. Leroy Beaulin auf 34 Milliarden Franc; 1905 dürfte es auf 40 Milliarden angewachsen sein. Die jährliche Neuinvestition wird auf 1.500 Millionen Franc geschätzt.

Den Auslandsbesitz Deutschlands hat Schmoller in dem bekannten Bericht zur Börsenenquetekommission 1892 auf 10 Milliarden geschätzt, W. Christians auf 13 Milliarden, aus denen .500 bis 600 Millionen Mark als Gewinn jährlich resultieren. Für 1906 schätzt Sartorius 16 Milliarden Effekten und 10 Milliarden sonstigen Auslandsbesitz und jährliche Einnahmen von zirka 1240 Millionen Mark. Nähere Angabe bei Sartorius, a. a. O., S. 88 ff.

10. Auch wo das europäische Kapital in Form von amerikanischen Aktien angelegt ist, bezieht es oft nicht mehr als Zins, da der Untemehmergewinn schon im Gründergewinn der amerikanischen Banken antizipiert ist.

11. „In den letzten 20 Jahren hat die Zufuhr von Weizen und sonstigem Getreide aus dem Ausland um 4 Millionen Pfund Sterling oder 9 Prozent, aus den britischen Besitzungen dagegen um 9¼ Millionen Pfund Sterling oder 84 Prozent zugenommen. 16½ Millionen Pfund Sterling oder 79 Prozent Zunahme zeigt die Fleischzufuhr aus dem Ausland, 8 Millionen Pfund Sterling oder 230 Prozent die aus den britischen Besitzungen. 9½ Millionen Pfund Sterling oder 60 Prozent Zunahme zeigt die Einfuhr von Butter und Käse aus fremden Ländern, 630 Prozent die aus den britischen Besitzungen.

Die Zufuhr von allen Getreidearten aus britischen Besitzungen betrug 1895: 7.722.000 Pfund Sterling; 1905: 20.345.000 Pfund Sterling, eine Zunahme von 12.623.000 Pfund Sterling oder 163 Prozent. Gleichzeitig stieg die auswärtige Zufuhr nur von 45.359.000 Pfund Sterling auf 49.684.000 Pfund Sterling, eine Zunahme von 4.323.000 Pfund Sterling oder 9,5 Prozent. 1895 lieferte das Ausland 85,4 Prozent und die britischen Kolonien 14,6 Prozent des Getreidebedarfs des Vereinigten Königreichs. 1905 sandte das Ausland 71 Prozent und die britischen Kolonien 29 Prozent.“ W. A. S. Hewins, Das britische Reich, in Die Weltwirtschaft, herausgegeben von Ernst v. Halle, 1. Jahrg. 1906, III. Teil, S. 7.

12. Nach den Angaben der Chamberlainschen Tarifkommission (zitiert bei Schulze-Gävernitz, l. c., S. 216) betrug 1902 der Wert der Einfuhr aus Großbritannien per Kopf:

in Deutschland, Holland, Belgien

 

Pfund Sterling

 

0.11.8

in Frankreich

 

0.  8.0

in den Vereinigten Staaten

0.  6.3

in Natal

8.  6.0

in der Kapkolonie

6.19.6

in Australien

5.  5.6

in Neuseeland

7.  5.7

in Kanada

1.18.4

Die britischen Kolonien führten im Jahre 1901 ein:

vom Mutterland

   

123,5

Millionen Pfund Sterling

von anderen britischen Besitzungen

  68,0

 

vom Ausland

  90,0

Ausfuhr des Vereinigten Königreiches in Millionen Pfund Sterling:

 

 

1866

 

1872

 

1882

 

1902

nach den britischen Besitzungen

53,7

  60,6

84,8

109,0

nach Europa

63,8

108,0

85,3

  96,5

nach dem nichtbritischen Asien, Afrika und Südamerika

42,9

  47,0

40,3

  54,1

nach den Vereinigten Staaten

28,5

  40,7

31,0

  23,8

13. Deshalb wird dieser Gesichtspunkt auch von Chamberlain stets in den Vordergrund seiner Agitation gerückt.

„Mir scheint, daß die Richtung der Zeit dahin geht, alle Macht in den Händen der großen Reiche zu vereinigen. Die kleineren Länder, die, welche nicht fortschreiten, scheinen bestimmt zu sein, in eine untergeordnete Stellung zu rücken. Bleibt aber Greater Britain einig, so kann kein Reich der Welt es übertreffen an Ausdehnung, an Volkszahl, an Reichtum und an Mannigfaltigkeit der Hilfsquellen.“ Rede Chamberlains vom 31. März 1897, zitiert bei Marie Schwab, Chamberlains Handelspolitik, Jena 1905, S. 6.

14. Das gesamtkapitalistische Interesse an der Tarifreform und dem Imperialismus, wobei das der Verfeinerungsindustrien, die bisher freihändlerisch waren oder sind, geschickt in den Vordergrund gerückt ist, faßt Professor Hewins folgendermaßen zusammen:

„Das Vereinigte Königreich importiert heute seine Nahrungsmittel aus gewissen Ländern, mit denen es keine Reziprozitätsveranstaltungen besitzt. So muß es zur Bezahlung seiner Nahrungsmittelrechnung auf den komplizierten Apparat internationalen Verkehrs zurückgreifen und ständig neue Absatzmärkte für seine Fabrikate in der Welt suchen und durch reziproke Beziehungen zwischen den Ländern seine Schulden liquidieren. Auf die Dauer scheint diese Gewerbepolitik aus folgenden Gründen unmöglich:

  1. Die Zahl der auf diese Weise britischen Manufakturimporten geöffneten Länder nimmt ständig ab, und auf den Märkten des Fernen Ostens zum Beispiel werden wir mit Sicherheit und in Kürze der unwiderstehlichen Konkurrenz Japans begegnen.
     
  2. Die Notwendigkeit, ständig andere Märkte als Länder wie Deutschland und die Vereinigten Staaten, wiederum abgesehen von den Kolonien, für unsere Produkte zu suchen, hat einen schädigenden Einfluß auf den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung in England. Der natürliche Entwicklungsgang war, daß die englischen Industrien immer höheren Stufen zustrebten, höher geschulte Arbeiter beschäftigten und höhere technische Tüchtigkeit entfalteten. Tatsächlich aber dürfte der Entwicklungsgang sich erheblich abweichend gestalten. Die zivilisierten und fortschrittlichen Märkte schließen sich, und gezwungen, mit den rückständigen Teilen der Welt zu handeln, muß das britische Gewerbe deren Bedürfnissen entsprechende Waren erzeugen.
     
  3. Ergibt sich hier ein direkter Konflikt zweier entgegengesetzter Tendenzen. Gerade in diesen großen Stapelwaren können auch die jüngeren Industriestaaten große Fortschritte machen. Deutschland, Belgien, die Vereinigten Staaten, Österreich und selbst Japan können auf diesen Gebieten mit uns konkurrieren und sich gleichfalls in den gedachten Ländern einführen. Anderseits zeigt sich in der englischen Industrie die Tendenz, mehr Spezialitäten als die Stapelgewerbe zu entfalten und damit teurere Waren zu produzieren. So kommt Großbritannien auf den Gebieten, von denen es ständig mehr für die Bezahlung seiner Nahrungsmittel abhängt, mehr und mehr ins Hintertreffen. Aus solchen Erwägungen aber heraus gewinnt im ganzen Reich das Streben nach der Organisation des größeren britischen Gewerbelebens seine Bedeutung.“ Hewins, a. a. O., S. 37.

15. Welche Wichtigkeit der Ausbau des kolonialen Eisenbahnwesens zum Beispiel für England besitzt, zeigen folgende Angaben:

„1880 besaß das britische Reich 40.000 englische Meilen Eisenbahn, davon drei Achtel im Vereinigten Königreich, fünf Achtel in den überseeischen Besitzungen und Kolonien. 1904 hatte sich das Schienennetz auf 95.000 englische Meilen vermehrt, davon nur noch zwei Neuntel im Vereinigten Königreich. Die Länge der Eisenbahnen hatte daher um 26 Prozent, über See um 223 Prozent zugenommen. Die schnelle Entwicklung der Kolonien beruht natürlich auf einer raschen Auf Schließung von Gebieten, in denen es früher Eisenbahnen nicht gab oder wo diese nur in primitivem Zustand waren. Seit 1880 haben sich die Eisenbahnen von Indien und Kanada verdreifacht, von Australien vervierfacht, von Südafrika verfünffacht.

Außerhalb des Vereinigten Königreiches befindet sich die größte Eisenbahndichtigkeit im Verhältnis zur Bevölkerungsdichtigkeit im australischen Commonwealth, wo es per 1.000 Einwohner 3,86 Meilen Eisenbahnen gibt, gegen 3,76 in Kanada und 0,19 in Indien.

Bemerkenswerterweise erscheint das an sich große Eisenbahnnetz des Vereinigten Königreiches klein im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo nach Poors Railroad Manual 1904 212.349 Meilen, mehr als der doppelte Umfang des britischen Reiches, in Betrieb waren, trotzdem letzteres die fünffache Bevölkerung umfaßt. Es ergibt sich daraus ein Ausblick auf eine weitere, extensive, fast unbegrenzte Ausdehnung und Entwicklung der Bahnen innerhalb des Reiches.

Ungefähr das gesamte Kapital zum Bau all dieser Bahnen ist im Vereinigten Königreich aufgebracht; die in britischen Bahnen außerhalb des Mutterlandes angelegten Summen sind auf etwa 850 Millionen Pfund Sterling zu schätzen, die Jahreseinnahmen auf 75 Millionen Pfund Sterling brutto und etwa 30 Millionen Pfund Sterling netto. Unter Berücksichtigung der Zahlen für das Vereinigte Königreich selbst schätze ich das gesamte Eisenbahnanlagekapital des britischen Reiches auf etwa 2.100 Millionen Pfund Sterling, was der Zahl der Vereinigten Staaten – 2.800 Millionen Pfund Sterling – erheblich näher kommt als die Länge. Die Nettoeinnahmen der Bahnen betragen etwa 70 bis 75 Millionen Pfund Sterling per Jahr oder 3 Prozent des Anlagekapitals.“ Hewins, l. c., S. 34.

16. Herr Dernburg kannte deshalb die Psychologie der Kapitalisten sehr genau, wenn er in seinen Agitationsreden immer wieder gerade die Möglichkeit betonte, daß die deutschen Kolonien die deutschen Kapitalisten in Baumwolle und Kupfer von Amerika emanzipieren würden.

17. Siehe die scharfsinnige Analyse der Folgen dieser Erscheinung für Rußland bei Kautsky, Der amerikanische Arbeiter, Neue Zeit, XXIV., 1., S. 676 ff.

18. Dasselbe ist der Fall bei Rußland, dem aber die nationale Assimilation, in der es teilweise schon begriffen ist, wegen der Größe des Gebietes viel leichter gelingen wird, zu welchem Zwecke der Staatsbankrott das radikalste Mittel wäre.

19. leinere Staaten können dagegen bei Anleiheverhandlungen nur schwer Bedingungen knüpfen für Industrielieferungen, zum Teil auch deswegen, weil ihre Industrien weniger leistungsfähig sind. „Man hat den niederländischen Bankinstituten wohl mit Recht vorgeworfen, daß sie das Ausland häufig mit Kapital ohne irgendwelche Bedingungen versehen ...“ Die Börse „gab dem Ausland, zuletzt Südamerika (seil, im Jahre 1903), größere Kapitalien, ohne daran Bedingungen zugunsten der niederländischen Industrie zu knüpfen, wie es in Belgien, Deutschland und England öfters geschieht“. G. Hesselink, Holland, in Halles Weltwirtschaft, III. Teil, S. 118.

20. Über die Überlegenheit, die dabei das größere Wirtschaftsgebiet genießt, siehe Richard Schüller, Schutzzoll und Freihandel, Wien 1905, S. 247:

„Der Außenhandel eines wenig umfangreichen Gebietes ist im Verhältnis zu seiner Produktion groß und daher für dieses Land wichtig, für die ausländischen Großstaaten aber, aus denen es Waren importiert und nach denen es exportieren will, ist dieser Handelsverkehr im Vergleich mit ihrer Erzeugung von geringerer Bedeutung. Es gelingt dem kleinen Staat daher weniger, seine Interessen in Verträgen entsprechend zu wahren und die anderen zur Anpassung ihrer Handelspolitik an seine Bedürfnisse zu bewegen.“

21. Siehe Karl Emil, Der deutsche Imperialismus und die innere Politik, Neue Zeit, XXVI, 1.

22. Ein Beispiel solcher Entwicklung bietet der vorläufige Ausgang des marokkanischen Streites, bei dem die Verbindung von Krupp und Schneider-Creuzot zur gemeinsamen Exploitation der marokkanisch-algerischen Erzlager eine Vereinbarung der beiden Staaten zur Folge hatte, deren Druck sich Marokko viel weniger entziehen kann, als wenn es beide Staaten gegeneinander ausspielen könnte.

23. Man denke, wie wichtig es für die internationale Durchsetzung der letzten deutschen Handelsverträge geworden ist, daß die politische Macht Rußlands infolge der Verwicklungen im Fernen Osten so geschwächt war, daß ein politischer Druck nicht möglich war.

24. Siehe Otto Bauer, Marx-Studien, II., § 30, S. 491 ff., Der Imperialismus und das Nationalitätsprinzip.


Zuletzt aktualisiert am 27. September 2016