Rudolf Hilferding

Das Finanzkapital


Fünfter Abschnitt
Zur Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals


XXV. Kapitel
Das Proletariat und der Imperialismus


Die Wirtschaftspolitik des Proletariats steht im Grundwiderspruch zu der der Kapitalisten, und jede Stellungnahme in Einzelfragen ist durch diesen Gegensatz gekennzeichnet. Der Kampf der Lohnarbeit gegen das Kapital ist zunächst ein Kampf um den Anteil an dem von der Arbeiterklasse (einschließlich der produktiven Angestellten und Produktionsleiter) geschaffenen Neuwert des jährlichen Produkts. Dieser Kampf erscheint unmittelbar als Kampf um den Arbeitsvertrag und setzt sich fort in den Kämpfen um die staatliche Wirtschaftspolitik. In der Handelspolitik verlangt das Interesse der Arbeiter vor allem die Ausdehnung des inneren Marktes. Je größer der Arbeitslohn, desto größer der Teil des Neuwerts, der unmittelbar Nachfrage nach Ware bildet, und zwar nach Konsumtionsmitteln. Ausdehnung der Konsumtionsmittelindustrien, der Industrien der Fertigfabrikate überhaupt bedeutet aber Erweiterung der Sphären mit im allgemeinen niedrigerer organischer Zusammensetzung, das heißt also der Industrien mit großem Arbeitsfassungsvermögen. Dies bewirkt rasches Steigen der Arbeitsnachfrage und damit günstigere Stellung der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt, Stärkung der gewerkschaftlichen Organisation und Vergrößerung der Siegesaussichten für neue Lohnkämpfe. Umgekehrt ist das Interesse der Unternehmer. Die Erweiterung des inneren Marktes durch Lohnerhöhung bedeutet für sie eine Senkung der Profitrate mit der Aussicht auf erneute Senkung, die wieder Verlangsamung der Akkumulation bewirkt; zugleich wird ihr Kapital in die Industrien der Fertigfabrikate gedrängt, wo die Konkurrenz am größten, die Kartellierungsfähigkeit am geringsten ist. Ihr Interesse ist es zwar, den Markt zu erweitern, aber nicht auf Kosten der Profitrate; dies wird erreicht, wenn sie bei gleichbleibendem inneren Markt den äußeren Markt ausdehnen. Ein Teil des Neuprodukts wird nicht Einkommen der Arbeiter und vermehrt nicht die Nachfrage nach inländischen Produkten; aber es wird als Kapital angelegt, das zur Produktion für den ausländischen Markt dient. In diesem Falle ist also die Profitrate höher und die Akkumulation rascher. Daher die Handelspolitik der Unternehmer vor allem immer den äußeren, die der Arbeiter den inneren Markt im Auge hat und sich so insbesondere in Lohnpolitik auflöst.

Solange die Schutzzölle Erziehungszölle namentlich für die Fertigindustrien bedeuten, solange sind sie nicht im Widerspruch mit den Interessen der Lohnarbeit. Sie schädigen zwar den Arbeiter als Konsumenten, aber sie beschleunigen die industrielle Entwicklung und können ihn daher als Produzenten entschädigen, falls die Gewerkschaften entwickelt genug sind, die Situation auszunützen. Die Leidtragenden dieser Periode des Schutzzolles sind viel mehr die Handwerker, Hausindustriellen und Bauern als die Fabrikarbeiter. Anders aber, sobald der Schutzzoll zum Kartellschutzzoll wird. Wir wissen, daß die Kartelle vor allem sich in den organisch höchstentwickelten Produktionszweigen entfalten; die Erzeugung von Extraprofit in diesen Sphären hemmt die Entwicklung der Fertigfabrikats- und Konsumtionsindustrien. Zugleich bedeutet die Verteuerung aller Lebensmittel, die die notwendige Verbindung mit den Agrarzöllen mit sich bringt, eine Senkung des Reallohnes und damit eine Verengung des inneren Marktes, soweit dieser durch die Nachfrage der Arbeiter nach Industrieprodukten bestimmt wird. Der Arbeiter wird sowohl als Konsument geschädigt als auch als Produzent, durch die Benachteiligung der Industrien mit hohem Arbeitsfassungsvermögen. Zugleich aber bedeutet die Kartellierung eine Stärkung der Unternehmer in ihrer Stellung auf dem Arbeitsmarkt, eine Schwächung der Gewerkschaften. Dann aber ist der Kartellschutzzoll der stärkste Anreiz zur Steigerung des Kapitalexports und führt mit Notwendigkeit zur Expansionspolitik des Imperialismus.

Wir haben gesehen, daß der Kapitalexport die Bedingung der raschen Expansion des Kapitalismus ist. Diese Expansion ist sozial die Lebensbedingung der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, zugleich ökonomisch die Bedingung der Aufrechterhaltung und zeitweisen Steigerung der Profitrate. Diese Expansionspolitik vereinigt sämtliche Schichten der Besitzenden in den Dienst des Finanzkapitals. Schutzzoll und Expansion werden so die gemeinsame Forderung der herrschenden Klasse. Die Abkehr der kapitalistischen. Klassen von der Freihandelspolitik bedeutet aber deren völlige Aussichtslosigkeit. Denn der Freihandel ist keine positive Forderung des Proletariats; für dieses ist er nur die Abwehr der Schutzzollpolitik, die die schnellere und straffere Kartellierung, damit die Stärkung der Unternehmerorganisation, die Verschärfung der nationalen Gegensätze, die Steigerung der Rüstungen, das Wachsen des Steuerdruckes, die Verteuerung der Lebenshaltung, die Vergrößerung der Staatsmacht, die Schwächung der Demokratie, das Auftauchen einer arbeiterfeindlichen, gewalttätigen Ideologie bedeutet. Sobald die Abkehr der Bourgeoisie vom Freihandel erfolgt ist, wird der Kampf um den Freihandel aussichtslos, da ja das Proletariat allein zu schwach ist, um seine Politik den Herrschenden aufzuzwingen.

Das kann aber durchaus nicht bedeuten, daß das Proletariat sieh nunmehr zur modernen Schutzzollpolitik bekehrt, mit der der Imperialismus unauflöslich verknüpft ist. Daß es die Notwendigkeit dieser Politik für die Kapitalistenklasse und damit ihren Sieg, solange die Kapitalistenklasse die Herrschaft ausübt, eingesehen hat, ist kein Grund für das Proletariat, nunmehr auf eigene Politik zu verzichten und vor der Politik seiner Feinde zu kapitulieren oder sich gar noch in Illusionen einzuspinnen über den angeblichen Nutzen, den die Verallgemeinerung und Steigerung der Ausbeutung für seine Klassenlage bedeutet. Das hindert das Proletariat aber nicht, einzusehen, daß die imperialistische Politik erst die Revolution, die der Kapitalismus bedeutet, verallgemeinert und damit zugleich die Bedingungen für den Sieg des Sozialismus. Jedoch sowenig die Überzeugung, daß die Politik des Finanzkapitals zu kriegerischen Entwicklungen und damit zur Auslösung revolutionärer Stürme führen muß, das Proletariat von seiner unerbittlichen Feindschaft gegen den Militarismus und die Kriegspolitik abbringen kann, ebensowenig kann es, weil schließlich die Expansionspolitik des Kapitals die mächtigste Förderin seines schließlichen Sieges ist, diese Politik unterstützen. Umgekehrt kann vielmehr der Sieg nur aus dem beständigen Kampf gegen diese Politik hervorgehen, weil nur dann das Proletariat der Erbe des Zusammenbruches werden kann, zu dem diese Politik führen muß, wobei es sich aber um einen politischen und sozialen, nicht um einen ökonomischen Zusammenbruch handelt, der überhaupt keine rationelle Vorstellung ist. Schutzzoll und Kartelle bedeuten Verteuerung der Lebenshaltung, die Unternehmerorganisationen stärken die Widerstandskraft des Kapitals gegen den Ansturm der Gewerkschaften; die Rüstungs- und Kolonialpolitik steigert immer rascher die Steuerlast, die das Proletariat aufzubringen hat; das notwendige Ergebnis dieser Politik, der gewaltsame Zusammenstoß der kapitalistischen Staaten, bedeutet eine ungeheure akute Steigerung des Elends; aber all diese die Volksmassen revolutionierenden Kräfte können nur dann in den Dienst einer Neugestaltung der Wirtschaft gestellt werden, wenn die Klasse, die die Schöpferin der neuen Gesellschaft werden muß, in ihrem Bewußtsein diese ganze Politik und ihre notwendigen Ergebnisse antizipiert. Dies kann aber nur geschehen, wenn die notwendigen Folgen dieser Politik gegen die Interessen der Volksmassen den Massen fort und fort klargemacht werden, was wieder nur erfolgen kann in der beständigen, rücksichtslosen Bekämpfung der imperialistischen Politik.

Kann aber das Kapital keine andere Politik machen als die imperialistische, so kann das Proletariat der imperialistischen nicht eine Politik entgegensetzen, die die Politik der Zeit der Alleinherrschaft des industriellen Kapitals war; es ist nicht Sache des Proletariats, der fortgeschritteneren kapitalistischen Politik gegenüber die überwundene der Freihandelsära und der Staatsfeindschaft entgegenzusetzen. Die Antwort des Proletariats auf die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, kann nur der Sozialismus sein. Nicht das reaktionär gewordene Ideal der Wiederherstellung der freien Konkurrenz, sondern völlige Aufhebung der Konkurrenz durch Überwindung des Kapitalismus kann jetzt allein das Ziel proletarischer Politik sein. Dem bürgerlichen Dilemma: Schutzzoll oder Freihandel? entrinnt das Proletariat mit der Antwort: Weder Schutzzoll noch Freihandel, sondern Sozialismus, Organisation der Produktion, bewußte Regelung der Wirtschaft nicht durch und zu Nutzen der Kapitalmagnaten, sondern durch und zu Nutzen der Gesamtheit der Gesellschaft, die sich endlich auch die Wirtschaft unterwirft, wie sie sich die Natur unterworfen hat, seitdem sie ihren Bewegungsgesetzen auf die Spur gekommen ist. Der Sozialismus hört auf, ein fernes Ideal zu sein, hört selbst auf, ein „Endziel“ zu sein, das nur richtunggebend auf die „Gegenwartsforderungen“ einwirkt, und wird zu einem wesentlichen Bestandteil der unmittelbaren praktischen Politik des Proletariats. Gerade in jenen Ländern, in denen sich die Politik des Bürgertums am vollständigsten durchgesetzt hat, die politisch-demokratischen Forderungen der Arbeiterklasse in ihren sozial bedeutsamsten Stücken verwirklicht sind, muß der Sozialismus als einzige Antwort auf den Imperialismus in den Vordergrund der Propaganda gerückt werden, um die Unabhängigkeit der Arbeiterpolitik zu sichern und ihre Überlegenheit zur Wahrung der proletarischen Interessen zu erweisen.

Das Finanzkapital bringt die Verfügung über die gesellschaftliche Produktion immer mehr in die Hände einer geringen Anzahl größter Kapitalsassoziationen; es trennt die Leitung der Produktion von dem Eigentum und vergesellschaftet die Produktion bis zu jener Grenze, die innerhalb des Kapitalismus zu erreichen ist. Die Schranken kapitalistischer Vergesellschaftung werden gebildet erstens durch die Teilung des Weltmarktes in die nationalen Wirtschaftsgebiete der einzelnen Staaten, die nur mühsam und unvollkommen durch die internationale Kartellierung überwunden werden kann; zugleich verlängert diese Teilung die Dauer des Konkurrenzkampfes, den die Kartelle und Trusts mit Hilfe der staatlichen Machtmittel untereinander ausfechten. Zweitens, was hier der Vollständigkeit wegen erwähnt werden muß, durch die Grundrentenbildung, die die Konzentration in der Landwirtschaft hemmt; drittens durch die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensfähigkeit der Mittel- und Kleinbetriebe.

Das Finanzkapital bedeutet seiner Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Es ist aber Vergesellschaftung in antagonistischer Form; die Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion bleibt in den Händen einer Oligarchie. Der Kampf um die Depossedierung dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat.

Die vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletariat eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten. Von diesen Produktionszweigen sind alle anderen abhängig, und die Herrschaft über die Großindustrie bedeutet so bereits die wirksamste gesellschaftliche Kontrolle auch ohne jede weitere unmittelbare Vergesellschaftung. Die Gesellschaft, die über den Bergbau, die Eisenindustrie hinunter bis zur Maschinenindustrie, die Elektrizitäts-, die chemische Industrie verfügt, die über das Transportsystem herrscht, hat durch die Beherrschung dieser wichtigsten Produktionssphären die Verteilung des Rohmaterials an die anderen Industrien und den Transport ihrer Produkte in der Hand und kann so diese gleichfalls beherrschen. Die Besitzergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten und in der Übergangszeit, solange kapitalistische Verrechnung sich noch als opportun erweist, die Politik des Sozialismus in ihren Anfängen außerordentlich erleichtern. Die Expropriation braucht sich gar nicht auf die große Zahl bäuerlicher und gewerblicher Kleinbetriebe zu erstrecken, da diese durch die Besitzergreifung der Großindustrie, von der sie längst abhängig geworden sind, mittelbar vergesellschaftet werden wie jene unmittelbar. Es ist daher möglich, den Expropriationsprozeß gerade dort, wo er wegen seiner Dezentralisation langwierig und politisch gefährlich wäre, in langsamer Entwicklung ausreifen, das heißt aus dem einmaligen Expropriationsakt der Staatsgewalt eine allmähliche Vergesellschaftung durch ökonomische Vorteile, die die Gesellschaft bewußt gewährt, zu machen, weil das Finanzkapital die Expropriation, soweit sie für den Sozialismus notwendig, bereits besorgt hat.

Schafft so das Finanzkapital organisatorisch die letzten Voraussetzungen für den Sozialismus, so macht es auch politisch den Übergang leichter. Die Aktion der Kapitalistenklasse selbst, wie sie sich in der imperialistischen Politik darstellt, weist das Proletariat mit Notwendigkeit auf den Weg selbständiger Klassenpolitik, die nur mit der schließlichen Überwindung des Kapitalismus überhaupt enden kann. Solange als der Grundsatz des laisser faire herrschte, die Intervention des Staates in die wirtschaftlichen Angelegenheiten und damit der Charakter des Staates als einer Organisation der Klassenherrschaft verhüllt war, gehörte ein verhältnismäßig hoher Grad von Einsicht dazu, die Notwendigkeit des politischen Kampfes und vor allem die Notwendigkeit des politischen Endzieles, die Eroberung der Staatsgewalt, zu begreifen. Ist es doch kein Zufall, daß gerade in England, dem klassischen Land der Nichteinmischung, auch das Aufkommen einer selbständigen politischen Aktion der Arbeiterklasse so erschwert war. Dies ändert sich nun. Die Kapitalistenklasse ergreift unmittelbar, unverhüllt, handgreiflich Besitz von der staatlichen Organisation und macht sie zum Werkzeug ihrer Exploitationsinteressen in einer Weise, die auch dem letzten Proletarier fühlbar wird, der nun erkennen muß, daß die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat sein nächstes, persönliches Interesse ist. Die offenkundige Besitznahme des Staates durch die Kapitalistenklasse zwingt unmittelbar jedem Proletarier das Streben nach Eroberung der politischen Macht auf, als dem einzigen Mittel, seiner Exploitation ein Ende zu setzen. [1]

Der Kampf gegen den Imperialismus steigert alle Klassengegensätze innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Das Proletariat als entschiedenster Feind des Imperialismus erhält aber Zuzug aus anderen Klassen. Der Imperialismus, der anfangs von allen anderen Klassen unterstützt wurde, schlägt schließlich seine Anhänger in die Flucht. Je weiter die Monopolisierung fortschreitet, desto mehr drückt die Last der Extraprofite auf alle anderen Klassen. Die Verteuerung durch die Trusts senkt ihre Lebenshaltung, und das um so mehr, als die steigende Tendenz der Nahrungsmittelpreise auch die notwendigsten Lebensmittel in die Höhe treibt. Gleichzeitig steigt der Steuerdruck, der auch die Mittelschichten trifft. Und diese selbst werden immer rebellischer. Die Angestellten sehen immer mehr ihre Karriereaussichten schwinden und fühlen sich immer mehr als ausgebeutete Proletarier. Auch die Mittelschichten des Handels und des Gewerbes gewahren ihre Abhängigkeit von den Kartellen, die sie in bloße auf Provision gestellte Agenten verwandelt. All diese Gegensätze aber müssen sich in dem Augenblick zur Unerträglichkeit verschärfen, in dem die Expansion des Kapitals in eine Periode langsameren Fortschreitens eintritt. Dies ist aber dann der Fall, wenn die Entwicklung der Aktiengesellschaften und Kartelle nicht mehr so rasch vor sich geht, die Entstehung neuer Gründergewinne, damit der Drang nach Export des Kapitals verlangsamt wird. Er muß sich aber verlangsamen, wenn die rasche Erschließung der fremden Länder durch die Einführung des Kapitalismus eine Verzögerung erfährt. Die Erschließung des Fernen Ostens, die rapide Entwicklung Kanadas, Südafrikas und Südamerikas haben einen Hauptanteil daran getragen, daß die Entwicklung des Kapitalismus so schwindelnd jäh und nur durch kurze Depressionen unterbrochen seit 1895 vor sich gegangen ist. Verlangsamt sich aber diese Entwicklung, so muß der Druck der Kartelle auf dem inländischen Markt um so schärfer in Erscheinung treten; denn es sind gerade die Perioden der Depression, in der die Konzentration am raschesten vor sich geht. Zugleich wird mit der langsameren Ausdehnung des Weltmarktes der Gegensatz zwischen den kapitalistischen Nationen um ihren Anteil noch verschärft, und das um so mehr, wenn große, bisher der Konkurrenz freie Märkte durch die Ausdehnung der Schutzzölle, zum Beispiel auf England, der Konkurrenz anderer Länder entrückt werden. Die Kriegsgefahr steigert die Rüstungen und den Steuerdruck und treibt schließlich die in ihrer Lebenshaltung immer mehr bedrohten Mittelschichten in die Reihen des Proletariats, das aus der Schwächung der Staatsmacht und dem kriegerischen Zusammenprall die Früchte erntet. [2]

Es ist ein historisches Gesetz: In den auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaftsformationen gehen die großen sozialen Umwälzungen erst vor sich, wenn die herrschende Klasse bereits den höchstmöglichen Stand der Konzentration ihrer Macht erreicht hat. Die ökonomische Macht der herrschenden Klasse bedeutet stets zugleich Macht über Menschen, Verfügung über menschliche Arbeitskraft. Damit wird aber der ökonomische Herrscher abhängig von der Macht der Beherrschten. Denn indem er selbst an Macht zunimmt, stärkt er zugleich die Macht derer, die ihm in Klassenfeindschaft gegenüberstehen. Als Beherrschte aber erscheinen sie machtlos. Ihre Macht, die sich erst im Kampf, im Sturze der Macht der herrschenden Klasse beweisen kann, erscheint latent, während die Macht der Herrschenden die allein offensichtliche ist. Erst im Zusammenprall der beiden Mächte, also in der revolutionären Periode, erweist sich die Macht der Unterworfenen als real.

Ökonomische Macht bedeutet zugleich politische Macht. Die Herrschaft über die Wirtschaft gibt zugleich die Verfügung über die Machtmittel der Staatsgewalt. Je stärker die Konzentration in der wirtschaftlichen Sphäre, desto unumschränkter die Beherrschung des Staates. Diese straffe Zusammenfassung aller Machtmittel des Staates erscheint als seine höchste Machtentfaltung, der Staat als unüberwindliches Instrument der Aufrechterhaltung der ökonomischen Herrschaft, damit aber zugleich die Eroberung der politischen Macht als Vorbedingung der ökonomischen Befreiung. Die bürgerliche Revolution setzte erst ein, als der absolute Staat nach Überwindung der innerstaatlichen territorialen Gewalten der großen Grundherren in sich alle Machtmittel vereinigt hatte, während die Konzentration politischer Macht in den Händen einiger größter Grundherren selbst die Voraussetzung für den Sieg des absoluten Königtums gebildet hatte. So ist der Sieg des Proletariats geknüpft an die Konzentration der ökonomischen Macht in den Händen weniger Kapitalmagnaten oder Magnatenvereinigungen und an deren Herrschaft über die Staatsmacht.

Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machtvollkommenheit in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten. Zugleich macht es die Diktatur der nationalen Kapitalbeherrscher des einen Landes immer unverträglicher mit den kapitalistischen Interessen des anderen Landes und die Herrschaft des Kapitals innerhalb des Landes immer unvereinbarer mit den Interessen der durch das Finanzkapital ausgebeuteten, aber auch zum Kampf aufgerufenen Volksmassen. In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.


Anmerkungen

1. „Das moderne Schutzzollsystem, und dies ist seine historische Bedeutung, leitet die letzte Phase des Kapitalismus ein. Um dem Falle der Profitrate, diesem Bewegungsgesetz des Kapitalismus, Einhalt zu tun, beseitigt das Kapital die freie Konkurrenz, organisiert sich und wird durch seine Organisation in den Stand gesetzt, sich der staatlichen Macht zu bemächtigen, um dieselbe nunmehr unmittelbar und direkt in den Dienst seines Ausbeutungsinteresses zu stellen. Nicht mehr die Arbeiterschaft allein, die gesamte Bevölkerung wird dem Profitstreben der Kapitalistenklasse unterworfen. Alle Machtmittel, über die die Gesellschaft verfügt, werden bewußt zusammengefaßt, um sie in Ausbeutungsmittel der Gesellschaft durch das Kapital zu verwandeln. Es ist direkte Vorstufe der sozialistischen Gesellschaft, weil es ihre vollständige Negation ist: bewußte Vergesellschaftung aller in der heutigen Gesellschaft vorhandenen wirtschaftlichen Potenzen, aber eine Zusammenfassung nicht im Interesse der Gesamtheit, sondern um den Grad der Ausbeutung der Gesamtheit auf eine bisher unerhörte Art zu steigern. Aber das Klare, Augenscheinliche dieses Zustandes ist es gerade, das seine Dauer unmöglich macht. Er erweckt gegenüber der Aktion der Kapitalistenklasse, der die Konzentration der Produktionsmittel die Konzentration ihres Bewußtseins und ihres Handelns gebracht hat, die Aktion des Proletariats, das sich seiner Macht nur bewußt zu werden braucht, um sie unwiderstehlich zu machen.“ Rudolf Hilferding, Der Funktionswandel des Schutzzolls, Neue Zeit, XXI, 2.

2. Siehe Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, insbesondere das Schlußkapitel Ein neues Zeitalter der Revolutionen.


Zuletzt aktualisiert am 27. September 2016