Rudolf Hilferding

 

Aus der Vorgeschichte der Marxschen Ökonomie

(1911)


Die Neue Zeit, 29 Jg., Bd. 2 (1911), H. 43, S. 572–581, H. 44, S. 620–628, H. 51, S. 885–894, 30 Jg., Bd. 1, (1912), H. 10, S. 343–354.
Transkription: Daniel Gaido.
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„Die Entwicklung der Staatsökonomie zeigt das Interessante, wie der Gedanke (siehe Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet.“ (Hegel, Rechtsphilosophie, § 189)

Einundfünfzig Jahre hat es gedauert, bis das ökonomische Werk von Karl Marx, dessen Anfang 1859 mit der Kritik der politischen Ökonomie der Oeffentlichkeit übergeben worden war, siebenundzwanzig Jahre nach dem Tode des Verfassers mit dem letzten Bande der Theorien über den Mehrwert seinen Abschluß gefunden hat. Mit peinlicher Genauigkeit, liebevoller Sorgfalt und pietätvoller Behutsamkeit hat Karl Kautsky, nach Engels’ Tode der berufene Bewahrer des Marxschen Nachlasses, sich bemüht, aus dem hinterlassenen Manuskript die vier Bände herzustellen, die uns Marx als den Historiker der Nationalökonomie zeigen. Wer je Gelegenheit gehabt hat, das Marxsche Manuskript in seiner ursprünglichen Fassung auch nur flüchtig zu betrachten, weiß, welch große und mühevolle Arbeit in dieser Herausgebertätigkeit enthalten ist, wie sehr die wissenschaftliche Welt Kautsky zu Dank verpflichtet ist. Wir würden aber gerade an dieser Stelle eine Tätigkeit, die über allem Lobe steht und für deren Gelingen nicht nur die wissenschaftliche Voraussetzung, sondern auch die volle Hingabe an das Werk des Meisters die unumgängliche Voraussetzung bildete, nicht besonders hervorheben, wäre nicht gerade diese Hervorhebung nötig, um den Ausdruck eines dringenden Wunsches vor jedem Verdacht zu schützen, als wäre es nur im entferntesten von persönlichen Bedenken gegen die Herausgeber des Marxschen Nachlasses diktiert und entspränge anderen als rein wissenschaftlichen Interessen. Engels hat in den Vorreden zum zweiten und dritten Bande des Kapital bereits dargelegt, wie sehr er sich bemüht hat, nur Marx zu Worte kommen zu lassen und selbst ganz hinter das Werk des Freundes zurückzutreten, und Kautskty ist diesem Programm treu geblieben. Und trotzdem läßt sich der Wunsch nicht unterdrücken, es möchten der wiffenschaftlichen Forschung die ökonomischen Manuskripte von Marx in ihrer ursprünglichen Gestalt und Vollständigkeit erschlossen werden. Denn so sehr auch die Herausgeber auf ihre Selbstauschaltung bedacht gewesen sind, so läßt sich doch das subjektive Ermessen bei solcher Arbeit nicht völlig vermeiden. In der Anordnung des Stoffes, den unvermeidlichen Hinweglassungen und Zusätzen macht es sich geltend und bewirkt, daß wir ein Werk besitzen, das eben doch nicht ausschließlich von Marx herrührt. Es wäre aber von außerordentlicher Wichtigkeit, die Marxschen Gedankergänge in ihrer ganzen Vollständigkeit zu besitzen. Denn es ist das Zeichen des Genies und namentlich eines Genies von der logischen Energie und unerhörten Kraft der Abstraktion, das Marx gewesen ist, daß eine Reihe von Gedanken sich bilden, deren letzte Konsequenzen erst viel später eintretende Tatsachenkomplexe erhellen, Gedanken, die zur Zeit ihrer Entstehung kaum ihrem Denker, sicher keinem anderen, ihr Letztes enthüllen. So klärt sich die Bedeutung der Marxschen Geldtheorie erst völlig auf, wenn man sie auf die Währungsphänomnene anzuwenden sucht, die gerade der Entwicklung der neuesten Zeit angehören, und führt an manchen Punkten zu Schlußfolgerungen, die Marx selbst, weil den Gedanken noch die Anschauung fehlte, die die Zukunft produzieren sollte, noch nicht gezogen hat, die aber Spätere mit viel geringerer Anstrengung des Geistes zu ziehen imstande sind.

So sind viele der Ausführungen, die der zweite und dritte Band des Kapital über den kapitalistischen Kredit enthalten, in ihrer ganzen folgenschweren Bedeutung erst klar geworden, als sie in der modernen Entwicklung des Finanzkapitals ihre Illustration erhielten. Und gerade der fünfte Abschnitt des dritten Bandes, der die glänzende Untersuchung über das zinstragende Kapital enthält, ist nach dem Zeugnis von Engels derjenige, der am meisten der Überarbeitung unterzogen wurde, also am ehesten fremde subjektive Beimischung enthält, während hier zugleich auch Kürzungen vornehmlich illustrierenden Materials vorgenommen werden mußten, die den Rahmen eines lesbaren Buches gesprengt hätten.

Dazu kommt noch ein anderes, das den Wunsch, die Manuskripte einem weiteren Kreise zugänglich zu machen, zu unterstützen sehr geeignet erscheint. Gerade die Theorien über den Mehrwert lassen besonders in jenen Partien, die theoretische Exkurse enthalten, den Leser einen tiefen Einblick tun in die Art dieses Denkens, das die schwierigsten Probleme wissenschaftlicher Forschung bezwang. Es ist eine Hochschule des Denkens, die hier eröffnet ist, und es ist kein Zweifel, daß für solche Denklehre, die von unvergleichlichem erzieherischen Werte wäre, durch die Veröffentlichung der Manuskripte noch unendlich viel zu gewinnen wäre. Man würde das Marxsche Denken an seiner wundervollen Arbeit sehen, dürfte den Versuch unternehmen, mitzudenken und zu lernen, was nirgends anderswo zu lernen möglich wäre. Hätten wir Akademien der Wissenschaften, die ihren Namen verdienten, hier wäre für sie eine dringende Aufgabe. So aber, glauben wir, bleibt es ein nobile officium, eine edle Verpflichtung der deutschen Partei, der Erbin des Marx-Engelsschen Nachlasses, unbekümmert um finanzielle Bedenken, das zu tun, was, wie die Dinge liegen, sie heute allein zu tun imstande und deshalb verpflichtet ist. Eine wahrhaft wissenschaftliche Gesamtausgabe des Marx-Engelsschen Werkes, für die das Bedürfnis sich bereits geltend macht, wäre schwer denkbar, ohne auch die Herausgabe der Manuskripte zu bringen. Zumindest aber müßte dafür gesorgt werden, daß, solange eine Drucklegung nicht erfolgt, doch wenigstens eine Anzahl Kopien der Manuskripte hergestellt und im Archiv der Partei und vielleicht in einigen guten Bibliotheken zur Verfügung gestellt würden.
 

1. Zur Methode der Geschichtschreibung der Wissenschaft

I.

„Man muß die Gegenstände schon in ziemlich hohem Grade kennen, wenn man die Regeln angeben will, wie sich eine Wissenschaft von ihnen zustande bringen lasse.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, I. Transzendentale Elementarlehre. Zweiter Teil. Die transzendentale Logik. Einleitung. Idee einer transzendentalen Logik. Erste Abteilung. Die transzendentale Analytik)

Die Theorien über den Mehrwert sind von großer Bedeutung nicht nur für die Entwicklungsgeschichte des nationalökonomischen Denkens. Sie erwecken darüber hinaus das stärkste Interesse vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung aus. Denn sie zeigen uns Marx nicht allein als Ökonomen, sondern als Darsteller der Geschichte der Wissenschaft, und ist es doch zudem der bisher einzige Versuch, die Wissenschaft vom Standpunkt marxistischer Auffassung zu ergründen.

Prüft man nun die Darstellung der gesamten drei Bände auf ihre Methode, so ergibt sich zunächst eine große Überraschung: das ist ja Hegel! Was Marx zur Darstellung bringt, ist die Selbstentwicklung der nationalökonomischen Wissenschaft, wie sie mit der erchen richtigen Einsicht Pettys und Franklins beginnt, die die Arbeit als Gemeinsames von Ware und Geld erkennen, um in dem Marxschen System zu enden. Und der Vergleich mit Hegel drängt sich auf, für den die Geschichte der Philosophie die Selbstentwicklung der Idee ist, die in seinem eigenen System zum Selbstbewußtsein gelangt, so daß die bisherige Geschichte nur die Vorgeschichte der Hegelschen Philosophie in zugleich zeitlicher und logischer Abfolge darstellt.

Man weiß, daß diese Darstellung Hegels unmittelbar aus seiner Geschichtsauffassung folgt, für die die Wirklichkeit nichts anderes ist als die Erscheinung der absoluten Idee, die sich im dialektischen Prozeß von Thesis und Antithesis aus sich selbst zu immer höheren Erscheinungsformen entwickelt. Der Hegelsche Idealismus ist uns heute fremd geworden, die Auffassung der Wirklichkeit als Materialisierung der Idee etwas völlig Mystisches, Unbegreifliches. Nur historisch als äußerste logische Konsequenz des Idealismus, als Ausführung des Gedankengebäudes, dessen Grundlagen bei Kant, Fichte und Schelling bereits vorhanden waren, wird sein System unserem von so ganz anderen Voraussetzungen ausgehenden Denken begreiflich. Erinnern wir uns aber, wie groß der historische Einfluß dieser Lehre war, wie ein ganzes Zeitalter ungeheuerster geistiger Energie und Bemühung um alle Probleme geisteswissenschaftlicher Erkenntnis unter seinem unentrinnbaren Banne stand, gedenken wir der Tatsache, daß die geistige Revolution, die sich an die Namen Feuerbach und Marx knüpft, von diesem System ihren Ausgangspunkt nimmt, dann, nimmt uns die Frage gefangen, was denn eigentlich das die Zeitgenossen so uberwältigende war, das sie dem Einfluß dieser Philosophie so widerstandlos und so lange nachwirkend unterwarf.

Man weiß, daß es der Entwicklungsgedanke war, dessen Anwendung hier zum ersten Male, wenn auch in idealistischer Form, auf alle Gebiete des Geschehens in Natur und Gesellschaft zur konsequenten Durchführuug gelangte, der Hegels Philosophie zur Herrschaft führte. Daß alles Geschehen nicht nur ein Nacheinanderfolgen ist, sondern ein Auseinanderfolgen, und daß diese Auseinanderfolge nach immanenten, der Entwicklung zugrundeliegenden und sie erst verständlich machenden Gesetzen vor sich ging, diese Idee einer Eigengesetzlichkeit der Entwicklung war es, die das Hegelsche System als unverlierbares Besitztum dem Geistesschatz der Menschheit erwarb. War es auch ein idealistisches Mißverständnis, so war es doch Verständnis, das plötzlich den bisher unerklärbaren Gang des Geschehens erhellte.

Und wie eine Bestätigung des Hegelschen Geistesmechanismus, der sich immer aufs neue negierenden Dialektik, konnte es erscheinen, als die kopernikanische Umwälzung des auf die äußerste Spitze getriebenen Idealismus gelang, als die Selbstentwicklung der Idee als die Entwicklung der vergesellschafteten Menschheit oder der menschlichen Gesellschaft erkannt, als der Antrieb dieser Entwicklung gefunden wurde in der Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden realen Welt, die sich in der menschlichem Wirtschaftsweise entscheidend ausdrückt, als an Stelle der sich selbst dialektisch bewegenden Idee der sozial bestimmte Mensch in seiner ganzen Realität, wirkend und bewirkt, ändernd und verändert, als Motor seiner eigenen Geschichte erkannt, die Eigengesetzlichkeit, die der Entwicklung zugrunde liegt, statt als Eigengesetzlichkeit des Absoluten als Eigengesetzlichkeit des sozialen Lebens in den realen Wirtschaftsgesetzen gefunden worden war.

Jedoch der Entwicklungsgedanke, von so weittragender Bedeutung seine Anwendung auf die Geschichte und damit auf die Auffassung des sozialen Geschehens überhaupt war, war er nicht allein, was die Hegelsche Philosophie zur Vorläuferin und Vorbereiterin der Sozialtheorie gemacht hat.

War die Wirklichkeit nichts anderes als die Objektivierung der Idee, so konnte die Idee nur bewußt, also die Aufgabe der Philosophie erfüllt werden in dem begrifflichen Erfassen der Wirklichkeit. „Auf allen Seiten seiner Werke“, sagt Lassalle in der Vorrede zum System der erworbenen Rechte, „hat Hegel stets unermüdlich hervorgehoben, daß die Philosophie identisch mit der Totalität der Empirie sei, daß die Philosophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in die empirischen Wissenschaften.“ Und ebenso sagt Max Adler:

Versucht man die Philosophie Hegels aus ihren von ihm selbst klar entwickelten Motiven zu verstehen, so gewinnt man einen ganz anderen, Eindruck von ihr als den, baß sie eine bloße Verirrung phantastischer Spekulation gewesen sei. Vielmehr scheint dann die enorme Wirkung, welche die Philosophie Hegels auf ihre Zeitgenossen ausgeübt hatte, und die bleibende Nachwirkung, die auch heute noch von ihr ausgeht, gerade darin gelegen zu sein, daß sie trotz ihrer konstruktiven Form und trotz ihrer Metaphysik des absoluten Geistes in gewissem Sinne gegenüber der bei Fichte und Schelling angelangten idealistischen Philosophie eine Rückkehr zur Wirklichkeit darstellt, eine Tendenz zur gesetzmäßigen Erfassung der Erfahrung selbst anstatt der bloßen Spekulation über sie. [1]

Gerade was unserem heutigen erkenntnistheoretischen Denken ein Rückschritt scheint, war historisch ein ungeheurer Fortschritt: hatte Kant die Problemstellung auf die Formen der Erkenntnis ausgerichtet und eben dadurch die Untersuchung von allem Inhalt des Erkennens weggeführt, so sah Hegel seine Aufgabe gerade in dem Nachweis der Notwendigkeit des Inhalts aller Erfahrung, ein Nachweis, der in der Identität des Werdens der Erfahrung mit der Selbstentwicklung des Begriffs gefunden wurde. So wurde die Wirklichkeit wieder zum Gegenstand der Philosophie, und nur so wurde möglich, daß die Hegelsche Philosophie selbst negiert werden konnte durch die von aller Metaphysik befreite Wissenschaft. Es ist der reiche Wirklichkeitsgehalt des Hegelschen Denkens, der ihr im Gegensatz zum Kantianismus so große historische Wirksamkeit verlieh. Während das Kantsche Denken gerade in seinem fruchtbarsten Wahrheitskern den Zeitgenossen verloren ging, während es überhaupt in seiner Wirkung auf das erkenntnistheoretische Problem begrenzt bleibt und vom Standpunkt der allgemeinen wissenschaftlichen Methodologie aus nach einem Worte Otto Bauers die allerdings nicht zu unterschätzende Rolle der Grenzwacht gegen alle metaphysischen Verirrungen und falschen Problemstellungen übernimmt, ist es die Philosophie Hegels, aus deren Schoße sich der ungeheure geisteswissenschaftliche Fortschritt unserer Zeit entlud.

Indem daher Hegel die Idee zum Demiurg des Wirklichen machte, schuf er zugleich eine bestimmte Methode der Forschung. Und diese Methode, ihres metaphysischen Scheines nur einmal entkleidet, erwies sich als außerordentlich fruchtbar, weil sie in der Tat dem Wesen der geistigen Forschungsarbeit entsprach. Wir wissen es von Marx selbst, wie er ganz bewußt die Methode Hegels auf die Oekonomie übertragen hat. Und zwar ist diese Übertragung nicht in erster Linie dort zu finden, wo sie gewöhnlich gesucht wird, in der Darstellung der realen Gegensätze der Klassen und in der Aufdeckung des Widerspruchs zwischen der sozialhistorischen Beschränktheit der kapitalistischen Produktionsweise und dem gesellschaftlichen Bedürfnis, dessen Träger das Proletariat ist, nach Beherrschung der aus der kapitalistischen Organisation entsprungenen, aber ihr auch immer mehr entwachsenen Produktivkräfte. Ihre spezifische logische Rolle erfüllt sie vielmehr in der Art der Bildung und der Darstellung der ökonomischen Begriffe. [2] Marx hat gerade diese Seite sehr klar in der Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie (Neue Zeit, XXI, 1) auseinandergesetzt:

... Es scheint das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z. B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn, z. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der erste Weg ist <632> der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z. B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von den einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt Das letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens. [3] Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst. z. B. die einfachste ökonomische Kategorie, sage z. B. Tauschwert, unterstellt Bevölkerung, Bevölkerung, produzierend in bestimmten Verhältnissen; auch gewisse Sorte von Familien- oder Gemeinde- oder Staatswesen etc. Er kann nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebnen konkreten, lebendigen Ganzen. Als Kategorie führt dagegen der Tauschwert ein antediluvianisches Dasein. Für das Bewußtsein daher – und das philosophische Bewußtsein ist so bestimmt –, dem das begreifende Denken der wirkliche Mensch und daher die begriffne Welt als solche erst das wirkliche ist, erscheint daher die Bewegung der Kategorien als der wirkliche Produktionsakt – der leider nur einen Anstoß von außen erhält –, dessen Resultat die Welt ist; und dies ist – dies ist aber wieder eine Tautologie – soweit richtig, als die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs aber des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopfe <633> als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt. Das reale Subjekt bleibt nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn; solange sich der Kopf nämlich nur spekulativ verhält, nur theoretisch. Auch bei der theoretischen Methode daher muß das Subjekt, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben. (Marx, Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie])

Es kommt hinzu – und dies befestigt den Schein der Hegelschen Konstruktion –, daß die (logisch) einfachen Kategorien auch historisch vor den konkreteren wirklich existiert haben können, so daß die historische Entwicklung zugleich als logische erscheint.

Geld kann existieren und hat historisch existiert, ehe Kapital existierte, ehe Banken existierten, ehe Lohnarbeit existierte etc. Nach dieser Seite hin kann also gesagt werden, daß die einfachre Kategorie herrschende Verhältnisse eines unentwickeltern Ganzen oder untergeordnete Verhältnisse eines entwickeltern Ganzen ausdrücken kann, die historisch schon Existenz hatten, ehe das Ganze sich nach der Seite entwickelte, die in einer konkretem Kategorie ausgedrückt ist. Insofern entspräche der Gang des abstrakten Denkens, das vom Einfachsten zum Kombinierten aufsteigt, dem wirklichen historischen Prozeß. (Marx, Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie])

Man sieht, was Hegel als Ontologie lehrt [4], ist zugleich oder vielmehr in Wirklichkeit die Methode, der Gang wissenschaftlichen Denkens. War erst die methaphysische Einkleidung beseitigt, so mußte der der Hegelschen Auffassung zugrunde liegende Entwicklungsgedanke zu außerordentlich fruchtbaren Resultaten führen und nirgends zu fruchtbareren als gerade auf dem Gebiet der Geschichte, die nach der Meinung des bürgerlichen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts ein Gewirr von Unsinn und Zufall war, in die erst die Aufklärung künftig von außen her Vernunft zu bringen imstande sein sollte, da dann eben aufgeklärte Menschen die „Geschichte zu machen“ anfangen würden statt der Einsichtslosen aller bisherigen Epochen. Indem Hegel nach der Vernunft in der Geschichte suchte, stellte er zuerst – wenn auch noch in metaphysischer Fragestellung – das Problem ihres notwendigen Verlaufs nach Gesetzen. Alles was ist, und alles was war, ist vernünftig, dieser Satz war nicht nur, wie Engels im Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie zeigt, revolutionär, weil er, darin mit dem Rationalismus, der Weltanschauung des revolutionären Bürgertums, übereinkommend, alles Bestehende vor den Richterstuhl der Vernunft zog, die in ewig erneutem Fortschreiten ihrer Selbstentwicklung alles Bestehende als unvernünftig verwarf, er eröffnete zum erstenmal der bürgerlichen Welt überhaupt das historische Verständnis. War doch bis dahin historische Einsicht viel mehr das Erbteil der in ihrer Herrschaft bedrohten Klassen gewesen, die zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft sich auf die Geschichte beriefen, während das revolutionäre Bürgertum, vom Naturrecht ausgehend, die bisherige Geschichte als unvernunft verwarf. Es sind im allgemeinen die konservativen Schriftsteller, die gegenüber den revolutionär-liberalen das tiefere Geschichtsverständnis voraus haben. Wie ja der Rationalismus gerade wegen der größeren Einfachheit und Geradlinigkeit des Denkens die Anschauungsweise revolutionärer, auf nichts als auf den Kampf bedachter Klassen und deshalb ursprünglich auch die Anschauungsweise der zum Emanzipationsstreben erwachenden Arbeiterklasse ist, die immer wieder trotz der ganz anders gearteten Denkweise des Marxismus die sozialistischen Lösungen weniger in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Relativität, sondern als absolute Postulate der vernünftigen Einsicht anzusehen strebt. Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit allen sozialen Geschehens aber, also auch die relative Notwendigkeit wie der schließliche Untergang des Kapitalismus, wie ihn in grandioser Einfachheit etwa das Kommunistische Manifest zeichnet, ist als direktes Erbe von Hegel dem Marxismus überkommen [5] und hat erst durch die Erkenntnis der ökonomischen Erscheinungen als historischer die fruchtbare Arbeit des Kapital zur Wirklichkeit werden lassen.

Wenn aber nach Hegel die Wirklichkeit die stufenweise Verwirklichung der Idee darstellt, so muß das Begreifen dieser Wirklichkeit, also die Wissenschaft, diese Stufenfolge widerspiegeln, so daß zwischen der Geschichte der Wissenschaft und der wirklichen Entwicklung ein durchgreifender Parallelismus besteht. Wie in der Wirklichkeit die Idee zu immer höherer Vollendung in der Objektivität gelangt, so gleichzeitig zu fortschreitendem Selbstbewußtsein in den Köpfen der Menschen. Geschichte der Wissenschaft schreiben, hieße also dieses fortschreitende Zumbewußtseinkommen darstellen, dem eben die wirkliche Entwicklung entspricht. Die geschichtliche Darstellung der Wissenschaft mußte so zeigen können, wie sich in einer Abfolge, die der logischen Ableitung überall entspricht, aus den ersten Anfängen das vollendete System ergibt.

Hegels Philosophie bedeutete so naturgemäß eine Umwälzung der bisherigen Geschichtschreibung. An Stelle der pragmatischen Darstellung in ihrer chronologischen Auseinanderfolge musste die Selbstentwicklung der Idee auf allen Gebieten des materiellen wie geistigen Geschehens aufgezeigt werden. Hegel selbst versuchte sich an der Geschichte der Philosophie. Der Versuch scheiterte und mußte scheitern, da sich die ontologische Voraussetzung, daß die Wirklichkeit nur Erzeugnis der Idee, die Aufeinanderfolge der philosophischen Systeme daher dieselbe sein müsse wie die Aufeinanderfolge der logischen Begriffe in der Ableitung des Hegelschen Systems, als verfehlt erwies und statt zur Geschichtschreibung zur willkürlichen Konstruktion führte, Zeigt ja doch der Augenschein, sagt Eduard Zeller, „daß es ganz unmöglich ich, die Reihenfolge der Hegelschen oder irgend einer anderen spekulativen Logik in derjenigen der philosophischen Systeme auch nur annäherungsweise aufzuzeigen, wenn man nicht aus den letzteren etwas ganz anderes machen will, als sie in Wirklichkeit sind. Dieser Versuch ist daher im Grundsatz wie in der Ausführung verfehlt, und das Berechtigte an demselben ist nur die Überzeugung von der inneren Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung.“ [6]

Aber wieder drängt sich die Frage auf: Was ist dieses Berechtigte, das Hegel zu seiner Geschichtschreibung verleitete, was ist das Reale, das seiner Illusion zugrunde liegt? Und diese Frage heischt um so dringender Antwort, als ja gerade die Darstellung Marxens uns zur Hegelschen Geschichtschreibung zurückgeführt hat. Vielleicht kommen wir der Beantwortung näher, wenn wir uns nach den spezifischen Bedingungen fragen, die die Geschichte der Wissenschaft ihrem Erforscher stellt.
 

II.

Die Entwicklung der Wissenschaft beschreibt Ernst Mach als Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und Anpassung der Gedanken aneinander. Die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen ist eine biologische Notwendigkeit, eine Bedingung des menschlichen Lebensprozesses, in dem auch die Wissenschaft eine der Waffen im Kampfe ums Dasein ist. Von dieser biologischen Grundauffassung gelangt Mach dort, wo er über die Entstehung und ersten Anfänge der Mechanik oder Mathematik spricht, zu ähnlichen Schlüssen wie die materialistische Geschichtsauffassung. Die Anpassung der Gedanken aneinander aber ich eine logische Funktion unseres Denkens, aus seiner Natur entspringend, Folge und Ursache zugleich des „ökonomischen Denkens“, die alle Erscheinungen aufs sparsamste gleichsam unter eine möglichst geringe Anzahl von Begriffen einzuordnen sucht, die Fülle des Wirklichen unter die möglichst kleine Zahl von Gesetzen zu begreifen strebt. [7]

Von ganz anderen Voraussetzungen hat Kant als Kriterien der wissenschaftlichen Erfahrung die Übereinstimmung der Urteile zur Einheit des Erkennens bezeichnet. Was Mach als Prozeß beschreibt, als den ewig sich er neuernden Anpassungsvorgang, wird hier als Resultat zunächst gesetzt, als logische Bedingung des Wahren. Da aber die Einheit des Erkennens durch jede neue Erkenntnis wieder problematisch wird, so ist auch die Wahrheit nur als Prozeß gegeben, ist die jeweils erreichte Wahrheit nur vorübergehendes Moment in der ewigen Wahrheitssuche. Aber in jedem gegebenen Moment ist die Einheit des Erkennens, das Uebereinstimmen der Gedanken miteinander eine Forderung unseres Denkens.

Die Anpassung der Gedanken aneinander erscheint also als ein aus der Natur des Denkens selbst hervorgehendes, aus dem Streben nach der Einheit der Erkenntnis folgendes Vehikel der wissenschaftlichen Fortschritte. Was Hegel zur Selbstentwicklung der Idee macht, erscheint hier als eine biologisch-natürliche Denkeigenschaft, die eine Bedingung wissenschaftlichen Fortschritts darstellt.

In Wirklichkeit ist aber Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und Anpassung der Gedanken aneinander ein ganz verschiedener Prozeß und von ganz verschiedener Wichtigkeit für die Fortbildung der Wissenschaft. Die Anpassung der Gedanken aneinander ist die allgemeine Bedingung wissenschaftlichen Denkens überhaupt, sie ist logische Voraussetzung dafür, daß wissenschaftliche Denken überhaupt möglich ist. Die logische Kraft der einzelnen Denker ist freilich verschieden, und so mag der eine in dem Gedankenkomplex logische Unstimmigkeiten noch entdecken, die ein anderer übersehen hatte. Und so entwickelt sich innerhalb eines wissenschaftlichen Systems durch rein logische Arbeit, straffere Systematisierung und Anpassung der einzelnen Gedankenelemente ein Fortschritt zur größeren Geschlossenheit. Ein Beispiel: Adam Smith bestimmt den Wert der Waren durch die Quantität der zu ihrer Produktion erheischten Arbeit. Diese Bestimmung verwechselt er oder setzt sie gleich mit einer anderen, wonach der Wert der Waren bestimmt ist durch das Quantum Ware (zum Beispiel Getreide), womit ein bestimmtes Quantum lebendiger Arbeit gekauft werden kann. Er läßt also einmal zum Beispiel den Wert eines Paar Schuhe bestimmt sein durch die 10 Stunden Arbeit, die ihre Erzeugung erfordert hat; dann wieder bestimmt er ihren Wert durch einen Scheffel Getreide, den Lohn eines Arbeiters für einen 10stündigen Arbeitstag. Die zweite Bestimmung ist logisch falsch, weil sie Wert durch Wert bestimmt sein läßt, also einen Zirkelschluß einschließt. Sie ist zugleich tatsächlich falsch, weil der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft (nicht aber in der einfachen Warenproduktion, aus deren Verhältnissen die Illusion Smiths entsprungen sit) [8] für 10stündige Arbeit nicht den Wert von 10 Stunden erhält. Ricardo weist den logischen Fehlschluß nach und beseitigt damit die fehlerhafte Gleichsetzung der Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit mit seiner Bestimmung durch den „Preis der Arbeit“. Er selbst läßt aber die Kategorie „Wert der Arbeit“ bestehen und damit die logische Unstimmigkeit, daß der Wert zum Beispiel einer 10stündigen Arbeit einerseits eben 10 Stunden wert ist, der Arbeiter aber weniger Wert dafür erhält, da sonst kein Mehrwert möglich wäre. Diesen logischen Widerspruch beseitigt dann Marx, indem er nachweist, daß der „Wert, der Arbeit“ überhaupt keine ökonomische Realität besitzt; daß er nur der Ausdruck ist für Wert der Arbeitskraft, der bestimmt ist durch die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit; der Kapitalist kauft die Arbeitskraft, deren Erzeugung zum Beispiel 5 Arbeitsstunden gekostet hat, in denen die Lebensmittel des Arbeiters produziert wurden; der Arbeiter arbeitet zum Beispiel 10 Stunden, in denen er einen Wert von 10 Stunden produziert, zu dessen Aneignung der Kapitalist nur Arbeitslohn im Werte von 5 Stunden auslegen mußte.

Aber indem Marx diesen Schein aufdeckt, erhält er zugleich die Grundlage, auf der er seine Mehrwerttheorie, die gegenüber Ricardo ungleich entwickelter ist, aufbauen kann, Marx’ ökonomisches Denken hatte von vornherein zum Ausgangspunkt die Anpassung der ökonomischen Gedanken, wie sie die klassische Theorie formuliert hatte, an die Tatsachen, mit denen sie offensichtlich nicht mehr übereinstimmten. Und hier war wieder sein Kardinalproblem, die Frage, wie die Gleichheit des Kapitalprofits vereinbar sei mit der Geltung des Wertgesetzes. Ricardo selbst hatte das Problem schon gesehen; er bezeichnete aber die Abweichung der Preise von den Werten, wie sie durch die Ausgleichung der Profite entsteht, als gelegentliche Abweichung des Wertgesetzes, als Ausnahme von der Regel. Was zu Ricardos Zeit, wo die Unterschiede in der organischen Zusammensetzung des Kapitals noch verhältnismäßig unbedeutend waren, gedanklich noch gerade erträglich war, obwohl sich sofort der Widerspruch erhob, war für die Zeit von Marx längst unerträglich geworden und hatte zum Aufgeben der Grundlagen der Theorie geführt, Die neuen Tatsachen, die die ökonomische Entwicklung heraufgeführt hatte, forderten die Anpassung der Gedanken; und diese wieder ließ als ungenügend erscheinen, was früher logisch noch möglich, irrelevant erschien. Um das Problem der Profitrate zu lösen, war jene tiefdringende Analyse und Erneuerung der Werttheorie nötig geworden, die den ersten Band des Kapital ausmacht. Daß dies wirklich der Entwicklungsgang des Marxschen Denkens psychologisch war, geht abgesehen von der methodologischen Erörterung schon aus der Formulierung der Aufgabe hervor, wie wir sie in der Kritik der politischen Ökonomie (2. Auflage, S. 44 ff.) besitzen. Es geht aber zugleich daraus hervor, wie in der Tat all diese Probleme als logische Probleme, als Anpassungsaufgaben erscheinen.

Zugleich aber ergibt sich daraus auch die Einsicht, daß das Entscheidende für den wissenschaftlichen Forschritt die neuen Tatsachen sind. Sind diese für das Bereich der Naturwissenschaften vor allem die neuen Aufgaben, die die Technik stellt, so für die Sozialwissenschaften die neuen gesellschaftlichen Tatsachen, die die ökonomische Entwicklung schafft. Die Anpassung der Gedanken aneinander ist nur die Bedingung der wissenschaftlichen Forschritte, die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen aber der Fortschritt selbst. Zugleich erscheint in der Erfüllung der Bedingung die persönliche, individuelle Schranke der Denkkraft des einzelnen Forschers, so daß unter denselben objektiven Bedingungen, also bei Vorhandensein derselben Tatsachenkomplexe, Fortschritte in der Erkenntnis möglich werden, dadurch, daß der größere Denker noch Anpassungsvorgänge der Gedanken aneinander vollzieht, wo der schwächere Denker die Probleme bereits gelöst sieht. Dies Auseinanderhalten der subjektiven von den objektiven Denkbedingungen ich für die marxistische Geschichtschreibung ein bedeutsames Problem, eine Warnung, die Ableitung der ideologischen Erscheinungen allzusehr zu vereinfachen und damit sich in die Gefahr zu verstricken, den selbständigen Anteil der Bewusstseinsvorgänge an dem wissenschaftlichen Fortschritt zu übersehen.

Diese Anpassung kann aber wieder eine verschiedene sein. Es ist möglich, daß die wissenschaftliche Erfassung neuer Tatsachen die bisherigen Anschauungen vollständig unmöglich macht, das wissenschaftliche System vollständig sprengt oder aber nur einzelne Teile beseitigt, erweitert, modifiziert oder einschränkt, die Grundlagen aber unangetastet läßt. Die ökonomische Theorie nun – in dem umfang, in dem sie Marx in den „Theorien“ betrachtet – ist die Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft, deren Grundtatsache selbst die Warenproduktion ist. Diese bei aller kolossalen und stürmischen Entwicklung gleichbleibende Grundorganisation des Wirtschaftslebens erklärt uns, daß auch die ökonomische Theorie diese Entwicklung darin widerspiegelt, daß sie die schon früh entdeckten Grundgesetze beibehält und diese nur immer weiter ausgestaltet, ohne sie je ganz aufzugeben. Der realen Entwicklung des Kapitalismus entspricht so die logische Entwicklung der Theorie. Von der ersten Formulierung des Arbeitswertgesetzes bei Petty und Franklin bis zu den subtilsten Ausführungen des zweiten und dritten Bandes des Kapital ergibt sich so eine logisch ablaufende Entwicklung. Und dies ist einerseits wirklich so und kann nicht anders sein, da die Wissenschaft nur die begriffliche Erfassung der Wirklichkeit ist (die anders denn als Entwicklung von der einfachen Warenproduktion zum kapitalistischen Weltmarkt nicht zu begreifen ist), deren Grundlagen sich also auch in ihren einfachsten und allgemeinsten Beziehungen bereits den ersten Denkern offenbarten. Andererseits ist sie aber auch wieder bloßer Schein.

Wie Marx in der Oekonomie nach dem inneren Bewegungsgesetz der Gesellschaft sucht, so auch in der Darstellung der Theorie nach dem inneren Entwicklungsgang, der allein das richtige Verständnis gibt. Dieser innere Gang ist aber die Entfaltung der Arbeitswerttheorie, und alles was davon abführt, ist für die Entwicklung der Theorie gleichgültig, kommt für ihre wirkliche Geschichte nicht in Betracht. Wie für Hegel die Geschichte erst mit der Staatsbildung beginnt, staatenlose Nationen noch keine Geschichte haben, so für Marx die Theorie erst mit der ersten Entdeckung der Arbeit als Maß des Wertes. Nur daß diese Stellung ebensowenig willkürlich ist wie etwa die des modernen Chemikers, der die Geschichte der modernen Chemie von der Entdeckung des Sauerstoffs und der Erkenntnis seiner Bedeutung für den Verbrennungsvorgang datiert. Freilich ergibt sich auch hier ein Unterschied der Geschichte der Sozialwissenschaft und der der Naturwissenschaft. Eine Geschichte der Mechanik zum Beispiel, die uns die Entwicklung der Erkenntnis aus den ersten Anfängen bis zur Gegenwart darstellt, wird im wesentlichen die Darstellung der wirklichen wissenschaftlichen Fortschritte enthalten können und damit unser historiches Interesse befriedigen. Die Aufzählung aller der unzähligen Irrtümer, die auf diesem Gebiet unwissenschaftliche Spekulation hervorgebracht, entbehrt des wissenfchaftlich-historischen Interesses, mag sie auch ihren antiquarischen Reiz besitzen oder von ganz anderem Standpunkt aus in einigen ihrer Annahmen den Kulturhistoriker anregen. Anders in der Geschichte der Ökonomie; hier ist die Opposition gegen die wissenschaftliche Ansicht, die Behauptung von im strengen Sinne unwissenschaftlichen Meinungen, soweit sie nur überhaupt größere Beachtung finden, schon deshalb auch historisch wichtig – aber allerdings nicht für die Entwicklung der reinen ökonomischen Theorie –, weil sich in ihnen bestimmte politische Stellungnahme verbirgt. So ist die Stellungnahme des Malthus gegen die Arbeitswerttheorie zugleich eine Verfechtung der aristokratisch-hochkirchlichen Interessen gegen die liberal-bürgerlich-industriellen Forderungen. Die Einbeziehung aller dieser von der Entfaltung der Arbeitswerttheorie abführenden Lehrmeinungen würde aber das Bild der logischen Entwicklung, wie es uns jetzt in der Theorie über den Mehrwert entrollt ist, sofort zerstört haben. Marx unterläßt das nicht aber etwa aus konstruktivem Bedürfnis, sondern weil es in der Tat kein Interesse der ökonomischen Geschichtschreibung ist, sondern einer der reinen Oekonomie an sich fremden soziologischen Stellungnahme. Die von der Entwicklung der Arbeitswerttheorie abweichenden Meinungen erklären sich aus wirtschaftspolitischer Interessiertheit, sind also im Widerspruch mit der wissenschaftlichen Unbefangenheit, im Widerspruch mit der inneren Notwendigkeit der wissenschaftlichen Weiterentwicklung und fallen daher außerhalb des Rahmens einer Darstellung, die nur diese innere Notwendigkeit aufzeigen will.

Was Marx uns also bietet, ist keine Geschichte der ökonomischen Theorie in ihrer historisch-soziologischen, also vor allem praktisch-wirtschaftspolitischen Bedeutung, sondern ist die Aufdeckung ihrer inneren Entwicklung, die sich naturgemäß als logische Auseinanderfolge darstellt. Er eröffnet damit erst das wirkliche Verständnis des Entwicklungsganges der Theorie, die nunmehr nicht als zufällige Aneinanderreihung eines reinen Haufens von Hypothesen und Lehrmeinungen erscheint, sondern als ein natürliches System von aufeinanderfolgenden, aber auch auseinander sich entwickelnder Gedanken. Das störende Beiwerk von dieser Entwicklung fremden Elementen, mögen sie auch auf ihre Zeit noch so große Anziehungskraft ausgeübt haben, ist beseitigt. Natürlich ist solche Geschichtschreibung, die nicht pragmatisch-chronologisch vorgeht, sondern die nur verborgenen Grundlinien des Aufbaus aufdeckt, nur von einem bestimmten Standpunkt aus möglich. [9] Die Geschichte der Ökonomie, wie sie Marx schreibt, ist zugleich die phylogenetische und zum Teil auch die ontogenetische Entwicklungsgeschichte des Marxschen Systems. Aber es ist auch eine einfältige Forderung, daß das anders sein sollte. Besagt doch, solche Forderung nichts anderes, als daß der ökonomische Theoretiker verzichten sollte auf das, was gerade das Kriterium jeder wissenschaftlichen Einsicht ich, auf die Allgemeingültigkeit seiner Ergebnisse. Mutet man ihm damit doch zu, er solle die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit nur für subjektive mehr oder minder wahrscheinliche Ueberzeugung, statt für objektive, also allgemeingültige wissenschaftliche Feststellung halten, eine Zumutung, die nur gestellt werden kann von einem, der die Möglichkeit der Sozialwissenschaft überhaupt leugnet.

Denn für die Geschichtschreibung der Oekonomie wie jeder Wissenschaft gelten die Worte, die Zeller über die philosophische Geschichtschreibung sagt:

Ob nun hiefür, sofern es sich um Geschichte der Philosophie handelt, eine eigene philosophische Ueberzeugung nothwendig oder auch nur vortheilhaft sei, diess würde man wohl kaum gefragt haben, wenn man sich nicht durch die Furcht vor einer philosophischen Geschichtsconstruction zum Verkennen dessen hätte verleiten lassen, was zunächst liegt. Sonst wenigstens wird kaum jemand behaupten, dass die Rechtsgeschichte z. B. von dem am richtigsten dargestellt werde, der keine juristische Ansicht, die Staatengeschichte von dem am besten, der für seine Person keinen politischen Standpunkt hat. Es ist schwer zu begreifen, warum es sich mit der Geschichte der Philosophie anders verhalten sollte; wie der Geschichtschreiber die Lehren der Philosophen auch nur verstehen, nach welchem Masstab er ihre Bedeutung beurtheilen, wie er in den innern Zusammenhang der Systeme eindringen, wie er sich ein Urtheil über ihr gegenseitiges Verhältniss bilden soll, wenn ihn nicht feste philosophische Begriffe bei diesem Geschäft leiten. Je entwickelter aber und je übereinstimmender diese Begriffe sind, um so mehr müssen wir ihm auch ein bestimmtes System zuschreiben; und da nun doch deutlich entwickelte und widerspruchslose Begriffe dem Geschichtschreiber unstreitig zu wünschen sind, so können wir uns der Folgerung nicht entziehen dass es nöthig und gut sei; wenn er ein eigenes philosophisches System zur Betrachtung der früheren Philosophie mitbringe. Möglich freilich, dass dieses System zu beschränkt ist, um ihm das Verständniss seiner Vorgänger durchaus zu erschliessen ; möglich, dass er es auf die Geschichte in verkehrter Weise anwendet, dass er seine eigene Meinung in die Lehren der Früheren hineinträgt, dass er aus dem System construirt, was er nur mit Hülfe desselben zu verstehen sich bemühen sollte. Nur mache man für diese Fehler der Einzelnen nicht den allgemeinen Grundsatz verantwortlich, und noch weniger hoffe man ihnen dadurch zu entgehen, dass man ohne eine eigene philosophische Ueberzeugung an die Geschichte der Philosophie geht. Der menschliche Geist ist nun einmal nicht wie eine unbeschriebene Tafel, und die geschichtlichen Thatsachen spiegeln sich nicht einfach in ihm ab, wie das Lichtbild in der Metallplatte, sondern jede Auffassung eines gegebenen ist durch selbstthätige Beobachtung, Verknüpfung und Beurtheilung der Thatsachen vermittelt. Die geschichtliche Voraussetzungslosigkeit. besteht daher nicht darin, dass man gar keine, sondern darin, dass man die richtigen Voraussetzungen zur Betrachtung des geschehenen mitbringt. Wer keinen philosophischen Standpunkt hat, ist desshalb doch nicht überhaupt ohne Standpunkt, wer sich über philosophische Fragen keine wissenschaftliche Ueberzeugung gebildet hat, der hat darüber eine unwissenschaftliche Meinung; sollen wir zur Geschichte der Philosophie keine eigene Philosophie mitbringen, so heisst diess, wir sollen für ihre Behandlung den unwissenschaftlichen Vorstellungen vor wissenschaftlichen Begriffen den Vorzug geben, und nichts anderes ergiebt sich auch, wenn gesagt wird*), der Geschichtschreiber solle sich in und mit der Geschichte sein System bilden, er solle sich durch die Geschichte von einem vorausgesetzten System emancipiren lassen, um dann erst durch sie das wahre, universelle zu gewinnen. Aus welchem Standpunkt soll er denn die Geschichte selbst betrachten; damit sie ihm diesen Dienst leistet? Aus dem beschränkten; unwahren, von dem er befreit werden muss; damit er die Geschichte richtig auffasst; oder aus dem universellen; zu dem ihm die Geschichte erst verhelfen soll? Jenes ist offenbar so unthunlich; wie dieses, und so bleiben wir schliesslich in dem Kreis; dass nur der die Geschichte der Philosophie ganz versteht, der die vollendete Philosophie besitzt; und nur der zur wahren Philosophie kommt, den das Verständniss der Geschichte zu ihr hinfuhrt. Dieser Kreis ist auch nie ganz zu durchbrechen: die Geschichte der Philosophie ist die Probe für die Wahrheit der Systeme und ein philosophisches System ist die Bedingung für das Verständnis der Geschichte; je wahrer und umfassender eine Philosophie ist, um so Vollständiger wird sie uns die Bedeutung der früheren erkennen lehren, und je unverständlicher uns die Geschichte der Philosophie bleibt, um so mehr Grund haben wir, an der Wahrheit unserer eigenen philosophischen Begriffe zu zweifeln. Was aber hieraus folgt, ist nur dieses, dass wir die wissenschaftliche Arbeit auf dem geschichtlichen so wenig, als auf dem philosophischen Gebiete, jemals für beendigt halten dürfen. Wie vielmehr überhaupt Philosophie und Erfahrungswissenschaft sich. gegenseitig fördern und bedingen, so verhält es sich auch hier: jeder Fortschritt der philosophischen Erkenntnis eröffnet der geschichtlichen Betrachtung neue Gesichtspunkte, erleichtert ihr dasVerständniss der früheren Systeme, ihres Zusammenhangs und ihres Verhältnisses ; umgekehrt belehrt aber auch jede neugewonnene Einsicht in die Art; wie die Aufgaben der philosophischen Forschung von andern gefasst und gelöst worden sind, in die Gründe, den inneren Zusammenhang und die Consequenzen ihrer Annahmen, uns selbst über die Fragen, deren Beantwortung der Philosophie obliegt, über die verschiedenen Wege, welche sie hierfür einschlagen kann, und über die Erfolge, die sie von jedem derselben zu erwarten hat. (Zeller, a. a. O., S. 17 ff.) [10]

Das neue Licht, das die Theorien über den Mehrwert über die bisherige ökonomische Forschung verbreitet, darf uns also zugleich als ein indirekter Beweis für die Wahrheit der marxischen ökonomischen Begriffe gelten.

Die logische Darstellung verhüllt jedoch auf der anderen Seite jenen Gegensatz zwischen Marx und seinen Vorgängern, der aus der soziologische Stellung und was noch wichtiger – aus der fundamentalen Verschiedenheit der sozialtheoretischen Auffassung entspringt. Was Marx von allen seinen Vorgängern unterscheidet, ist die seinem System zugrunde liegende Sozialtheorie, ist die materialistische Geschichtsauffassung. Nicht nur weil sie die Erkenntnis in sich schließt, daß die ökonomischen Kategorien zugleich historische sind; diese Erkenntnis allein ist noch nicht das Wesentliche; sondern vielmehr deshalb, weil erst durch die Aufdeckung der Gegensätzlichkeit des sozialen Lebens der Entwicklungsmechanismus aufgedeckt und gezeigt werden konnte, wie die ökonomischen Kategorien entstehen, sich verändern, untergehen, und wieso dies alles nach Gesetzen geschieht. Das war aber nur möglich, indem als das Wirkliche hinter dem sachlichen Schein der ökonomischen Verhältnisse der vergesellschaftete Mensch und die Art der gesellschaftlichen Beziehungen aufgedeckt wurde, also in der Ökonomie der allgemeinen, der materialistischen Geschichtsauffassung zugrunde liegende Gedanke von dem gesellschaftlichen Menschen als dem Beweger der Geschichte im einzelnen nachgewiesen, damit der sachliche Schein, der ökonomische Fetischismus zerstört und hinter den Preisbewegungen, den Warenumsätzen usw. die Aktion lebendiger Menschen entdeckt wurde.

Gerade diese Eigenartigkeit des Marxismus bleibt in der logischen Darstellungsart der Theorien über den Mehrwert im Dunkeln, so daß Marx selbst nur als Vollender, nicht aber als Umwälzer seiner Wissenschaft erscheinen könnte. Aber auch die tieferliegenden Bewegungsursachen in der Entwicklung der früheren Ökonomie erscheinen zunächst in der Marxschen Geschichtschreibung nicht. Der Grund ist folgender.

Häufig ist das, was als logische Anpassung der Gedanken aneinander imponiert, in Wirklichkeit erst ausgelöst durch das Auftauchen neuer Tatsachen und der Notwendigkeit ihrer Erklärung. Wird aber diese neue Tatsäche als Ursache der besonderen Problemstellung nicht besonders hervorgehoben, da ja in dem geistigen Zusammenhang nicht die Tatsache, sondern die Problemlösung als das Wesentliche erscheint, so kann sich leicht der Schein befestigen, als wäre nur eine neue logische Folgerung aus den vorhandenen Gedankenkomplexen hervorgegangen und erst der logisch vollendete und konsequente Gedanke sei nun in (logischen) Widerspruch mit den übrigen Gedanken geraten, was eine neue Anpassung der Gedanken aneinander verursacht habe. So befestigt sich aufs neue der Schein einer rein logischen Entwicklung des Gedankensystems einer Wissenschaft.

So geht nun in der Hauptsache Marx in den Theorien über den Mehrwert vor. Eine materialistische Geschichtschreibung müßte historisch-genetisch verfahren; sie müßte auf Grund der Darstellung der jeweils erreichten Stufe der wirtschafts-geschichtlichen Entwicklung zeigen, welche Probleme dem ökonomischen Denken überhaupt gestellt werden; wie etwa, um ganz im Groben einiges herauszugreifen, durch die Geldentwertung infolge des Zuflusses der Edelmetalle seit Entdeckung Amerikas und infolge der Münzverschlechterung der Fürsten das Problem nach dem Verhältnis von Ware und Geld entsteht; wie dieses Problem neue Aktualität gewinnt und genauere Erklärung verlangt durch die staatlichen Experimente mit der Papierwährung und deren Entwertung, die Ricardo zum Beispiel zu seinen Untersuchungen treibt; wie die Einführung der Maschinerie zur Unterscheidung zwischen dem sachlichen und persönlichen Bestandteil des Kapitals führt und das Problem der Ausgleichung der Profitrate, die mit der Arbeitswerttheorie unvereinbar scheint, in den Mittelpunkt der ökonomischen Forschung stellt. Und neben diesem objektiven Hervortreten der Probleme muß eine historisch-genetische Geschichtsdarstellung zugleich zeigen, wie die Erklärungsversuche der Ökonomen bedingt sind durch die subjektive Stellung der Autoren als Vertreter bestimmter ökonomischer Klasseninteressen, wie die wirtschaftspolitischen Motive und Interessen die wirtschafts-theoretischen Anschauungen beeinflussen. Die Herrschaft der merkantilistischen, der physiokratischen, der Theorien von Adam Smith und Ricardo, die Auflösung der Theorien in der konservativen Reaktion des Malthus einerseits, der ethisch-sozialistischen Opposition der Sozialisten andererseits ist ja nur der Ausdruck der ökonomischen Herrschaft zuerst des Handels- und dann des Industriekapitals und dessen Anfechtung durch die konservativ-agrarischen Schichten auf der einen, durch das entstehende Proletariat auf der anderen Seite.

Die Darstellung all dieser Momente, die die Geschichte der politischen Ökonomie erst als ideologischen Reflex der realen wirtschaftlichen Entwicklung – die Rückwirkung der Ideologie wäre wieder besonders darzustellen – erweisen würde, ist in den Theorien über den Mehrwert nicht enthalten. Das erklärt sich nur zum Teil aus dem Plan der Arbeit, den wir ja aus der Kritik der politischen Oekonomie kennen. Marx gibt dort zuerst die theoretische Entwicklung der ökonomischen. Kategorie zum Beispiel der Ware oder des Geldes. An die theoretische Darstellung schliesst sich dann die geschichtliche Darstellung der Entwicklung des Begriffs bei der bisherigen Oekonomie an. Es liegt so von vornherein aller Nachdruck auf dem Nachweis der logischen (wissenschaftlichen) Entwicklung des Begriffs, während die psychologische Darlegung, wieso die Autoren zu ihrer Begriffsbildung durch die konkreten ökonomischen Verhältnisse gelangt sind, in den Hintergrund tritt, wenngleich sie häufig mit einigen Strichen meisterhaft skiziert wird. In den Theorien über den Mehrwert tritt das logische Interesse noch stärker hervor als in der Kritik der politischen Oekonomie. Das ist aber auch durchaus gerechtfertigt. Denn in der Geschichte der Wissenschaft erfordert das wirkliche Verständnis zuerst die Darstellung dessen, was Marx ihren inneren Entwicklungsgang nennt. Nur dadurch läßt sich das Wesentliche das für die Fortbildung wirklich Relevante, von dem Unwesentlichen und Gleichgültigen scheiden. Die Darstellung der logischen Entwicklung ist so die Vorarbeit, die geleichet werden muß, um dann zur historisch-genetischen Erklärung zu gelangen.

Gerade die Theorien über den Mehrwert sind ein Beweis, wie fruchtbar solche Vorarbeit, ja wie sie das eigentlich zu Leistende und Wesentliche ich. Das Chaos der unzähligen und unübersehbaren ökonomischen Lehrmeinungen zeigt sich zum erstenmal geordnet. Und das ordnende Prinzip ist nichts Willkürliches, von außen an den Gang der Wissenschaft Herangebrachtes. Vielmehr wird das innere Band sichtbar, an dem all die Gedanken aufgereiht erscheinen, die für den Fortschritt des Erkennens wesentlich sind. Auch hier erweist sich Marx als der große Realist, der hinter der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen das Gesetz ihres Werdens erspäht.

Aus der Natur des dargestellten Gegenstandes aber ergibt sich noch ein Anderes, was das, was wir eben als Mangel kennen gelernt haben, wieder zu einem Teile wenigstens aufhebt. Wir wissen, daß die ökonomischen Theorien auf die Erkenntnis der Gesetzlichkeit des sozialen Lebens gehen; diese Gesetzlichkeit soll aber erforscht werden, um auf Grund dieser Erkenntnis das soziale Leben zu regeln; die Theorie steht im Dienste der Politik, wie Wissenschaft überhaupt im Dienste der Praxis, woran nichts ändert, daß es das Ideal jedes wissenschaftlichen Arbeiters sein muß, die Wissenschaft nur um der Wissenschaft wegen zu treiben, solange er eben wissenschaftlich forscht. Indem aber die Ökonomie der Wirtschäftspolitik dient, werden die Ökonomen in ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme motiviert oder determiniert durch die wirtschaftspolitischen Ideale und Interessen. Diese drücken sich bewußt oder unbewußt in ihrer wissenschaftlichen Stellungnahme aus. Was aber bei der historisch-genetischen Untersuchung, wie die Forscher zu ihren Resultaten gelangt seien, Voraussetzung wäre, erscheint in dem ökonomischen System selbst als Resultat, als Forderung der Wirtschaftspolitik des Forschers. Indem Marx die Oekonomen analysiert, die wirtschaftspolitischen Konsequenzen ihrer Systeme oft bis ins einzelne verfolgt, legt er zugleich die Klasseneinflüsse, aus denen das System erwachsen, die praktischen Antriebe der theoretischen Stellungnahme auf das überraschendste bloß. Unstreitig am meisterhaftesten ist diese Leistung bei der Betrachtung der Physiokratie gelungen, wo die Darlegung der praktischen Politik alles Rätselvolle in der Theorie enthüllt, das frühere Betrachter so oft in die Irre geführt hat.

Daß aber aus der logischen Betrachtung des Systems unmittelbar solche historisch-genetische Erkenntnisse gewonnen werden können, liegt in der Natur der Sozialwissenschaft begründet. Das soziale Denken ist bestimmt durch das soziale Sein, das selbst wieder die denkenden Menschen in sich enthält. Was den Menschen determiniert, erscheint ihm selbst als Ziel seines Wollens. Denn der Wille wird nicht anders bestimmt, als indem im Wollenden bestimmte Ziele erwachen. Nur indem er die Ziele ausführt, als Zielbewußter handelt, verwirklicht sich die Notwendigkeit. Daß er ein Ziel hat, also die Tat nur von ihm als Handelnden vollbracht werden kann, gibt dem Menschen das Bewußtsein der Willensfreiheit. Daß er aber für den außenstehenden Betrachter das Ziel haben muß, macht die Notwendigkeit der menschlichen Geschichte und die Möglichkeit ihrer Erkenntnis aus. Die ökonomischen Forscher setzen aber in ihrer Wirtschaftspolitik jene Ziele, deren Erkenntnis dem Betrachter zugleich ihre Motive verrät. Indem die Physiokraten, die in der Theorie sich als Vertreter des Grundeigentums auszugeben scheinen, in ihrer Politik die Ziele des industriellen Kapitals verfechten, verraten sie sich uns als die Wortführer der Kapitalistenklasse, und die Erkenntnis ihres Motivs erklärt uns zugleich die Eigentümlichkeit ihrer theoretischen Stellungnahme.
 

2. Von Ricardo bis Jones

Das Erscheinen des dritten Bandes der Theorien über den Mehrwert macht einer alten Legende definitiv – aktenmäßig – ein Ende. Als der dritte Band des Kapital erschienen war, behaupteten bürgerliche Ökonomen, die Erklärung der Ausgleichung der Profitrate stehe mit der Arbeitwerttheorie des ersten Bandes in Widerspruch. Marx hätte in Wirklichkeit von seiner Werttheorie ausgehend das Problem nicht erklären können; das müsse ihm, dem starken Logiker, auch bewußt gewesen sein. Aber da er doch die Lösung angekündigt, deren Unmöglichkeit er im Fortgang seiner Untersuchung wohl gefühlt hätte, so habe er durch die dialektischen Künste des dritten Bandes eine Scheinlösung vorgespiegelt. Der Erfinderruhm für diese tiefe Auffassung gebührt dem italienischen Universitätsprofessor Loria. Herr Böhm-Bawerk hat sie in freier Übersetzung ins Deutsche übertragen, und eine Zeitlang war sie communis opinio, die kommune Meinung so mancher Ökonomieprofessoren. Nun mußte allerdings das Studium der drei Bände, die doch erch zusammen die Marxsche Ökonomie erkennen ließen, während auf Grund des ersten Bandes allein notwendig unvollständige, ja falsche Auffassungen entstehen mußten, bei jedem unbefangenen der Erkenntnis zum Durchbruch verhelfen, daß das ganze Werk in allen seinen einzelnen Untersuchungen, in der genauen Analyse des Mehrwertes und seiner Rate, in der Unterscheidung des konstanten und variablen, des fixen und zirkulierenden Kapitals, in der Betrachtung der Zirkulationsbedingungen gerade auf die Lösung des Problems angelegt war, das schon Ricardo sich gestellt hatte, und um das die ganze nachricardianische Oekonomie sich zu einem großen Teil bewegt. Aber die vermeintliche Ansicht, daß der Marx des ersten Bandes durch den des dritten sich selbst widerlegt hätte, war zu bequem, die Arbeitswerttheorie durch ihre soziologischen Konsequenzen der bürgerlichen Oekonomie zu sehr verhaßt, als daß der logische Beweis allein der Legende endgültig hätte den Garaus machen können. Und auch die im Vorwort zum dritten Bande von Engels nebenbei gemachte Bemerkung, daß Marx bereits zwischen 1868 und 1867 nicht nur das erste Buch druckfertig, sondern auch die beiden letzten Bücher des Kapital im Entwurf fertiggestellt habe, fand keine Beachtung. Nunmehr ist aber Kautsky in der Lage, aus dem Manuskript der Theorien über den Mehrwert den Beweis im einzelnen unwiderleglich zu erbringen, daß die leitenden Gedanken des zweiten und dritten Bandes bereits vor Veröffentlichung des ersten Bandes von Marx im Manuskript entwickelt waren. Kautsky veröffentlicht nämlich in der Vorrede aus einem dem Jahre 1862 entstammenden Manuskriptheft den Plan, den Marx für jene Ausführungen skizziert, die heute den dritten Band des Kapital ausmachen. Und damit ist wohl das Gerede endgültig abgetan, Marx’ genialste Leistung, eben die Erklärung der gleichen Profitrate auf Grund der Arbeitswerttheorie, die die Theorie von einem Widerspruch befreite, der sie selbst immer wieder in Frage gestellt hatte, sei nur eine Art Ausflucht und Notlüge gewesen. Steht es doch jetzt quellenmäßig und auch für den penibelsten Quellenkritiker unwiderleglich fest, was Kautsky so zusammenfaßt:

Auf jeden Fall genügen bereits die Dispositionen für den ersten und dritten Band, zu zeigen, dass zur Zeit ihrer Abfassung der Plan des Kapital bei Marx schon in allen Grundsätzen feststand ... Damals (1862), fünf Jahre vor dem Erscheinen des ersten Bandes, war das gesamte Kapital nicht bloß im allgemeinen Gedankengang, sondern auch schon in demselben planmäßigen Aufbau zu Ende gedacht, in dein es dann an die Öffentlichkeit trat. (Theorien über den Mehrwert, Vorwort, S. IX)

So nützlich dieser Nachweis ist, da seine zwingende Kraft der ja nicht häufigen Einsicht in den Entwicklungsgang der ökonomischen Theorie im allgemeinen und der Marxschen im besonderen nicht bedarf, so wäre dem Verständigen allerdings gerade der hier näher zu, besprechende Band [11] mehr als hinreichend, um zu erkennen, wie sehr das Problem der Profitrate das ökonomische Denken seit Ricardo bewegt.

Der dritte Band der Theorien über den Mehrwert umschließt die Periode von Ricardo bis Marx. Die geschichtliche Darstellung ist viel geschlossener als in den früheren Bänden, da die ausführlichen theoretischen Deduktionen fehlen. Und die Schriftsteller, die behandelt werden, interessieren um so mehr, da sie den Übergang zum ökonomischen Marxismus einerseits, zur Vulgärökonomie andererseits vermitteln. Diese Vermittlung fesselt aber die Aufmerksamkeit schon um deswillen, da gerade diese Periode der Ökonomie fast gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen ist, so daß ihre Darstellung zum Teil ganz neues Licht auf die Entwicklung seit Ricardo verbreitet.

Marx’ Problemstellung knüpft unmittelbar an Ricardo an, und hier steht im Mittelpunkt die Frage: Wie läßt sich auf Grund der Werttheorie die Gleichheit der Profitrate erklären, die doch dem Satze, daß es die Arbeit ist, die den Wert bestimmt, durchaus widerspricht. Gerade der vorliegende Band liefert in jeder Zeile den Beweis, daß es eben diese Problemstellung war, deren Lösung Marx sich als Aufgabe seiner Kritik der bisherigen Ökonomie aufdrängte. Das Problem selbst war bei Ricardo schon vorhanden, von ihm aber wieder ungelöst zur Seite geschoben werden. Worin bestand das Problem?

Man weiß, daß in verschiedenen Produktionszweigen die Zusammensetzung des Kapitals, die Marx die organische nennt, sehr verschieden ist. In einem Produktionszweig mag ein Unternehmen von 1 Million Mark 800.000 Mark für Gebäude, Maschinerie, Rohstoffe usw. ausgeben müssen und 200.000 Mark für Arbeitslohn zur Zahlung von 2.000 Arbeitern; in einem anderen Produktionszweig werden umgekehrt nur 200.000 Mark für das Sachkapital erfordert, dagegen 8,000 Arbeiter beschäftigt, die 800.000 Mark Lohn erzielen. Es ich nun unmittelbare Schlußfolgerung aus der Werttheorie, daß bei gleichem Ausbeutungsgrad der Arbeit, also wenn zum Beispiel in beiden Produktionszweigen jeder Arbeiter gleich lange Zeit arbeitet, um den Wert seines Arbeitslohns zu reproduzieren und Mehrwert für den Kapitalisten zu erzeugen, der Mehrwert, den die 800 Arbeiter erzeugen, auch viermal so gross sein wird als der von den 2.000 Arbeitern gelieferte. Dann würde aber auch der Profit, also der Mehrwert, berechnet auf das Gesamtkapital von 1 Million, im gleichen Verhältnis verschieden sein, was dem Satze widerspricht, daß Kapitale von gleicher Größe gleich viel Profit abwerfen müssen. Marx hat diese Schwierigkeit gelöst, indem er im dritten Bande des Kapital gezeigt hat, wie die Konkurrenz des Kapitals um seine Anlagesphären eine solche Verteilung des Kapitals auf die verschiedenen Industriezweige bewirkt, daß die Waren nicht zu ihrem Werte, sondern zu ihrem Produktionspreis verkauft werden. In unserem Beispiel würde Kapitalist I am Schlusse der Produktionsperiode einen Wert von 1.200.000 Mark besitzen, Kapitalist II einen solchen von 1.800.000 Mark; der erste würde einen Profit von 20, der andere von 80 Prozent realisieren; das würde aber nur bewirken, daß eine Anzahl von Kapitalisten I ihr Kapital auf die Produktionsphäre übertragen würden; in der ersten Produktionssphäre entstände so vermindertes, in der zweiten vermehrtes Angebot; dies würde so lange fortgehen, bis beide Kapitalisten für ihr Kapital dieselben Verwertungsbedingungen besäßen. Dies wäre der Fall, wenn der von ihnen erzeugte Gesamtmehrwert von 1 Million sich gleichmäßig auf das Gesamtkapital von 2 Millionen verteilte; dies geschieht, wenn beide ihre Ware zu 1.500,000 Mark verkaufen; sie erzielen dann beide auf ihr gleiches Kapital von 1 Million den gleichen Profit von 50 Prozent.

Ricardo blieb bei der Tatsache des gleichen Profits stehen. Er erklärte die Abweichungen der Preise als bloße Ausnahmen von der Regel des Wertgesetzes. So blieb bei ihm völlig ungeklärt, wie es zu solcher Ausnahme, die logisch das gerade Gegenteil der Regel war, kommen könne. Eben deshalb mußte die Ausnahme als Widerspruch, als Aufhebung der Regel erscheinen, und dies um so mehr, da mit der sich entfaltenden industriellen Revolution die organische Zusammensetzung des Kapitals eine immer höhere, der Unterschied zwischen der organischen Zusammensetzung in den verschiedenen Produktionszweigen ein immer größerer, also die Abweichung von dem Wertgesetz und nicht seine Geltung die Norm wurde. Das Wergesetz regulierte eben nicht die Preise, war also überhaupt falsch. Und der Profit konnte daher nicht oder nicht allein aus der Arbeit stammen, hatte gar kein unmittelbares Verhältnis zu ihr, sondern stammte irgendwie gleichmäßig von dem Kapital, ganz gleich, ob aus seinen sachlichen Bestandteilen oder aus der Arbeit.

Wenn einem Denker seine Aufgabe sich nur unvollständig stellt, das zu lösende Problem nur unvollständig ins Bewußtsein getreten ist, so bleiben auch die Voraussetzungen unvollständig und mangelhaft. Denn der Prozeß des wirklichen Denkens ist anders, als er in der wissenschaftlichen Darstellung erscheint. Hier ergeben sich aus der Reihe der Prämissen in deduktiver Darstellung die Schlußfolgerungen. Das wirkliche Denken geht aus von den in der Wirklichkeit gegebenen Konsequenzen, um von hier aus die Bedingungen ihres Eintretens zu finden. Im Denkprozeß sind Prämissen und Konsequenzen, die in der Darstellung getrennt werden, vereint, und nur wenn die Totalität der Konsequenzen – und diese bilden eben das zu erklärende Phänomen, sind also das Problem – im Bewußtsein enthalten sind, gelangt das Denken auch zur Totalität der Prämissen. Die Problemstellung und ihre Lösung bedingen sich so im Denken wechselseitig, und ist das Problem nur unvollständig erkannt, so bleiben die Prämissen auch unvollständig und mangelhaft. Und dies wieder in doppeltem Sinne: indem einmal die Aufstellung der Prämissen und ihre Trennung in die einzelnen logischen Glieder nicht vollständig ist und sodann aus den Prämissen nicht alle Schlüsse gezogen werden, die implicite in ihnen enthalten sind. Dies ist nun bei Ricardo der Fall; indem er das Problem der Verwandlung der Werte in Produktionspreise ungelöst läßt, bleibt auch seine Wert- und Mehrwerttheorie unvollständig und deshalb noch widerspruchsvoll. Erst indem Marx die Erklärung der wirklichen Preise nicht als Ausnahmen der Werttheorie, sondern auf Grund derselben zum Problem macht, gelingt die Reinigung der Werttheorie von ihren Widersprüchen, ihre vollständige Entfaltung und die Auffindung all der Mittelglieder, die die Verwandlung der Werte in Produktionszweige erklären. Das Problem selbst aber wird durch die Entfaltung der Technik und die dadurch bewirkte kolossale Ausweitung des konstanten und namentlich des fixen Kapitalteils im Verhältnis zum variablen gestellt. Es ist diese neue Tatsache, an die die Oekonomie angepaßt werden muß.

Nun hatte aber gerade Ricardo, indem er in seiner unbeirrbaren Wahrheitsliebe selbst die wirkliche Preisbildung als Ausnahme seiner Werttheorie und damit dieser widersprechend dargestellt hatte, das Problem seinen Nachfolgern gestellt. Gegner und Schüler knüpfen daran an. Mit Malthus beginnt die Reaktion. Wissenschaftliche Reaktion besteht aber darin, den logischen Widerspruch eines wissenschaftlichen Systems, sei es den Widerspruch der Gedanken untereinander oder der Gedanken mit den Tatsachen, die als erkannte Tatsachen eben auch Gedanken sind, nicht wirklich zu beseitigen, sondern zu verhüllen. Die Schwierigkeiten werden nur scheinbar entfernt, indem sie in einen anderen Gedankenzusammenhang gerückt werden den sie verschwinden, freilich nur um anderen größeren, aber als solche noch nicht erkannten oder unwissenschaftlichen Denkern gewohnheitsmäßigen und natürlichen Denkwidersprüchen Platz zu machen. Malthus ist der Typus eines solchen wissenschaftlichen Reaktionärs. Er geht richtig von den Inkonsequenzen Ricardos aus, aber nicht um diese, sondern um die richtigen Voraussetzungen Ricardos zu beseitigen.

Ricardos Mehrwerttheorie wies den Widerspruch auf, daß er das Kapital, also akkumulierte Arbeit, sich unmittelbar mit der lebendigen Arbeit austauschen ließ. Der Kapitalist zahlt dem Arbeiter den „Wert der Arbeit“. Der Wert einer 10stündigen Arbeit ist aber offenbar der Wert von 10 Stunden; zahlt also der Kapitalist dem Arbeiter den Wert seiner Arbeit, so ist für den Mehrwert kein Raum. Marx hat nachgewiesen, daß der Arbeiter nicht seine Arbeit, sondern seine Arbeitskraft verkauft, deren Wert gleich ist der in den Lebensmitteln des Arbeiters enthaltenen Arbeit. Braucht der Arbeiter zu seiner Erhaltung Lebensmittel im Werte von 5 Stunden, arbeitet er aber im Dienste des Kapitalisten 10 Stunden, so hat er einen Wert von 10 Stunden geliefert, von dem 5 dem Kapitalisten als unbezahlter Mehrwert zufallen,

Nun hat schon Ricardo den „Wert der Arbeit“ als den Wert der Lebensmittel des Arbeiters aufgefaßt, den Widerspruch seiner Formulierung aber nicht beseitigt. Hier setzt Malthus ein.

Es ist die Entstehung des Mehrwerts einerseits; die Art, wie Ricardo die Ausgleichung der Produktionspreise in verschiedenen Sphären der Anwendung des Kapitals als Modifikation des Gesetzes des Wertes selbst auffaßt; seine durchgängige Verwechslung von Profit und Mehrwert (direkte Identifizierung desselben), woran Malthus seinen Gegensatz anknüpft. Malthus entwirrt nicht diese Widersprüche und quidproquos, sondern akzeptiert sie von Ricardo, um auf diese Konfusion gestützt das Ricardosche Grundgesetz vom Werte usw. umzustoßen und seinen Protektoren (scil. den Grundbesitzern und ihrem Anhang) angenehme Konsequenzen zu ziehen (Theorien über den Mehrwert, III, S. 2).

So kommt Malthus zur Leugnung der Werttheorie und fällt in die merkantilistische Vorstellung zurück, daß der Profit nur aus dem Preisaufschlag entsteht, den die Kapitalisten auf die Produktionskosten aufschlagen. Die Arbeiter können also mit ihrem Lohn nur einen Teil der Waren den Kapitalisten abkaufen. Denn der Kapitalist schlägt ja auf den Lohn seinen Profit auf. Beträgt der Lohn 100, so verkauft der Kapitalist die Ware um 110. 10 bleibt also in seiner Hand unverkäuflich zurück. Es hülfe ihm nichts, wenn er an andere Kapitalisten verkaufte. Denn wenn Kapitalist A dem Kapitalist B eine Ware von 100 zu 110 verkauft, so verkauft B ebenso seine Ware mit demselben, Aufschlag an A. Malthus löst die Schwierigkeit, indem er eine Klasse von Käufern einführt, die die Waren zu ihrem nominellen Werte zahlt, ohne ihrerseits wieder Waren zu verkaufen. Der Profit wird in der Weise gemacht, daß von dem Gesamtprodukt möglichst wenig an die Arbeiter zurückverkauft und möglichst viel an diese Klasse verkauft wird, die mit barem Gelde zahlt, ohne selber zu verkaufen, kauft, um zu konsumieren. Es sind also unproduktive Konsumenten: die Grundeigentümer, die Rente an sich ziehen und damit den Kapitalisten Waren abkaufen. Aber diese Grundrentner genügen nicht. Es muß zu künstlichen Mitteln gegriffen werden. Diese bestehen in starken Steuern, einer Masse Staats- und Kirchensinekuristen, bedeutender Nationalschuld und von Zeit zu Zeit kostspieligen Kriegen. Dieses sind die „Heilmittel“ des Malthus.

Die wirtschaftspolitischen Motive, die die Theorie des Malthus bestimmten, zeichnet Marx also:

Malthus’ Konsequenzen sind ganz richtig aus seiner Grundtheorie vom Werte gezogen; aber diese Theorie ihrerseits paßte merkwürdig für seinen Zweck, die Apologetik der bestehenden englischen Zustände, Landlordismus, „Staat und Kirche“, Pensionäre, Steuereinnehmer, Zehnten, Nationalschuld, Börsenjobber, Büttel, Pfaffen und Lakaien („national expenditure“), die von den Ricardianern als ebenso viele nutzlose und überlebte Nachteile und Schäden der bürgerlichen Produktion bekämpft wurden. Ricardo vertritt die bürgerliche Produktion ohne Rücksicht, soweit sie möglichst ungezügelte Entfaltung der sozialen Produktivkräfte [bedeutet], unbekümmert um das Schicksal der Träger der Produktion, seien sie Kapitalisten oder Arbeiter. Er hielt an geschichtlichen Rechten und der Notwendigkeit dieser Stufe der Entwicklung fest. So sehr ihm der geschichtliche Sinn für die Vergangenheit fehlt, so sehr lebt er in dem geschichtlichen Springpunkt seiner Zeit. Malthus will auch die möglichst freie Entwicklung der kapitalistischen Produktion, soweit nur das Elend ihrer Hauptträger, der arbeitenden Klassen, Bedingung dieser Entwicklung ist, aber sie soll sich gleichzeitig anpassen den „Konsumtionsbedürfnissen“ der Aristokratie und ihrer Sukkursalen in Staat und Kirche, soll zugleich als materielle Basis dienen für die veralteten Ansprüche der Repräsentanten der von dem Feudalismus und der absoluten Monarchie vererbten Interessen. Malthus will die bürgerliche Produktion, soweit sie nicht revolutionär ist, kein geschichtliches Moment, bloß eine breitere und bequemere materielle Basis für die „alte“ Gesellschaft schafft (Theorien über den Mehrwert, S. 50).

Malthus’ eigene Lehren werden von den Ricardianern leicht abgetan. Seine Profittheorie wird von einem von ihnen [12] erledigt, wenn er sagt:

Malthus’ Erwägungen bringen uns in ständige Verlegenheit, ob wir uns für die Vermehrung der Produktion entscheiden sollen oder für ihre Hemmung. Wenn ein Mann einen Käufer braucht, empfiehlt ihm Herr Malthus, irgend jemand Geld zu geben, damit er ihm seine Waren abkauft. (Theorien über den Mehrwert, S. 62)

Schwieriger aber war es, die Widersprüche aufzulösen, die Malthus aus der Theorie Ricardos selbst gegen diese geltend gemacht hatte. Und an diesem Versuch scheiterte schließlich die Ricardosche Schule, nicht ohne bei dieser Arbeit selbst eine Reihe von Erkenntnissen geliefert zu haben, die die schließliche Lösung der Probleme ermöglichten. Das Verfahren dieser Ricardianer schildert Marx an dem Beispiel James Mills.

Mill war der erste, der Ricardos Theorie in systematischer Form darstellte, wenn auch nur in ziemlich abstrakten Umrissen. Was er anstrebt, ist formell logische Konsequenz. Mit ihm beginnt daher auch die Auflösung der Ricardoschen Schule. Bei dem Meister entwickelt sich das Neue und Bedeutende mitten im „Dünger“ der Widersprüche, er arbeitet das Gesetz gewaltsam aus den widersprechenden Erscheinungen heraus. Die Widersprüche selbst, die zugrunde liegen, zeugen von dem Reichtum der lebendigen Unterlage, aus der die Theorie sich herauswindet. Anders mit dem Schüler. Sein Rohstoff ist nicht mehr die Wirklichkeit, sondern die neue theoretische Form, wozu der Meister sie sublimiert hat. Teils der theoretische Widerspruch der Gegner der neuen Theorie, teils das oft paradoxe Verhältnis dieser Theorie zu der Realität spornen ihn zum Versuch, die ersten zu widerlegen, das letztere wegzuerklären. Bei diesem Versuch verwickelt er sich selbst in Widersprüche und stellt mit seinem Versuch, sie zu lösen, zugleich die beginnende Auflösung der Theorie dar, die er dogmatisch vertritt. (Theorien über den Mehrwert, S. 94)

Diese Bemerkungen sind zugleich eine treffende Charakteristik des doktrinären Dogmatismus, dem die Vulgarisatoren jeder bahnbrechenden Theorie so leicht verfallen.

Die Hauptschwierigkeiten, mit denen die Schule Ricardos zu kämpfen hatte, waren diese: Zunächst war zu erklären, wie der Austausch von Kapital und Arbeit vor sich geht in Übereinstimmung mit dem Wertgesetz, eine Schwierigkeit, über die weder die bürgerlichen Ricardianer noch die sozialistischen hinwegkommen; sie wird überhaupt erst von Marx durch den Nachweis, daß nicht Kapital und Arbeit, sondern Kapital und Arbeitskraft sich austauschen, beseitigt. Die zweite Schwierigkeit war, daß gleich große Kapitalien, wie immer ihre organische Zusammensetzung, gleiche Profite abwerfen. Dieses Problem der allgemeinen Profitrate ist zugleich das Problem, wie sich die Werte in Produktionspreise verwandeln.

Die Schwierigkeit kam daher, daß gleich große Kapitalien von ungleicher Zusammensetzung – ob diese nun aus ungleichem Verhältnis von konstantem und variablem Kapital, fixem und zirkulierendem Kapital oder ungleichen Umschlagszeiten herrührt – nicht gleiche Massen unmittelbarer Arbeit in Bewegung setzen, also auch nicht gleiche Massen unbezahlter Arbeit, also auch nicht gleichen Mehrwert oder gleiches Mehrprodukt sich im Produktionsprozeß aneignen können. Also nicht gleiche Profite, wenn der Profit nichts ist als der Mehrwert, berechnet im Verhältnis zum Werte des gesamten vorgeschoffenen Kapitals. War der Mehrwert aber etwas anderes als (unbezahlte) Arbeit, so war die Arbeit überhaupt nicht die „Grundlage“ und das „Maß“ des Warenwertes.

Die Schwierigkeiten, die sich hier bieten, hatte Ricardo selbst, wenn auch nicht in ihrer allgemeinen Form, aufgefunden und als Ausnahmen von der Wertregel konstatiert. Malthus warf mit diesen Ausnahmen die Regel über den Haufen, da die Ausnahmen die Regel bildeten. Torrens, ebenfalls polemisch gegen Ricardo, sprach das Problem wenigstens so weit aus, als er sagt, daß gleich große Kapitalien ungleiche Massen Arbeit in Bewegung setzen, dennoch Waren von gleichen „Werten“ produzieren, so daß der Wert nicht durch die Arbeit bestimmt ist. Ditto Bailey. James Mill seinerseits nahm die von Ricardo konstatierten Ausnahmen an, ohne daß sie ihm Skrupel machten, außer in einer einzigen Form. Es war ein einziger Ausgleichungsgrund der Profite der Kapitalisten, den er im Widerspruch mit der Regel fand. Und der Fall war dieser: Gewisse Waren verharren im Produktionsprozeß (zum Beispiel Wein im Keller), ohne daß Arbeit auf sie angewandt wird; eine Periode, während deren sie dem Spiele gewisser Naturprozesse ausgesetzt werden. Dennoch wird diese Zeit als profitbringend bezeichnet. Die Zeit, in der die Ware nicht der Arbeit ausgesetzt ist, wird als Arbeitszeit betrachtet. (Dasselbe gilt überhaupt, wo die längere Zirkulationszeit in Rechnung kommt.) Mill „log“ sich sozusagen aus der Verlegenheit heraus, indem er sagte, man könne die Zeit, während deren der Wein zum Beispiel im Keller liegt, als eine Zeit betrachten, worin er Arbeit einsaugt, obgleich dieses, nach der Voraussetzung, in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Sonst müsse man sagen, die „Zeit“ schaffe Profit, und Zeit als solche sei „Schall und Rauch“. An diesen Gallimathias [der aber bei Böhm-Bawerk psychologisch „vertieft“ wieder als Grundlage seiner „Kapitalzinstheorie“ erscheint. – R.H.] knüpft Mac Culloch an oder reproduziert ihn vielmehr in seiner gewöhnlichen gesperrten Plagiatormanier in einer allgemeinen Form, worin der latente Unsinn frei und der letzte Rest des Ricardoschen Systems wie überhaupt alles ökonomischen Denkens glücklich beseitigt wird (Theorien über den Mehrwert, S. 212 ff.).

Mac Culloch hilft sich nämlich damit, daß er die „Aktionen“ der Produktionsmittel Arbeit nennt und sie ebenso Wert schaffen läßt wie die menschliche Arbeit. Er setzt also die natürlichen Eigenschaften der Gebrauchswerte, zum Beispiel die mechanische Arbeit, die ein Maschine verrichtet, gleich den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, wie sie in ihrer Tätigkeit im Produktionsprozeß erscheint.

Ricardo, wie alle Ökonomen von Bedeutung [sagt Marx, wobei er vielleicht seine eigene entwickeltere und klarere Einsicht allzusehr in das Bewußtsein seiner Vorgänger reflektiert] hebt Arbeit als menschliche, noch mehr als sozial bestimmte menschliche Tätigkeit, als die einzige Quelle des Wertes hervor. Ricardo unterscheidet sich gerade durch die Konsequenz, womit er den Wert der Waren als bloßer „Repräsentanten“ der gesellschaftlich bestimmten Arbeit faßt, von den anderen Ökonomen. Alle diese Ökonomen sind soweit mehr oder minder klar, Ricardo mehr als die anderen, den Tauschwert der Dinge als bloßen Ausdruck, als eine spezifisch gesellschaftliche Form der produktiven Tätigkeit der Menschen zu fassen, als etwas von den Dingen und ihrem Gebrauch als Dinge, sei es in der industriellen, sei es in der nichtindustriellen Konsumption, toto genere Verschiedenen. Wert ist ihnen in der Tat bloß ein dinglich ausgedrücktes Verhältnis der produktiven Tätigkeiten der Menschen, der Arbeiter zueinander. (Theorien über den Mehrwert, S. 218)

Indem Mac Culloch die „Arbeit überhaupt“, ganz gleich, ob es sich um maschinelle, tierische oder menschliche handelt, also alle Aktionen der Produktionsmittel als wertschaffend bezeichnet, verwechselt er die natürlichen Eigenschaften der Dinge mit der gesellschaftlichen Bestimmtheit der Waren, verwechselt also Gebrauchswert und Wert, und verfällt damit in jenen Fetischismus, der der Scheinwissenschaft der Vulgärökonomie zugrunde liegt.

Als letzten Ricardianer nennt Marx John Stuart Mill. Auch er scheitert an der Verwechflung von Mehrwert und Profit. Sein Versuch, Ricardos Lehre zu erhärten, daß die Höhe des Profits unmittelbar in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe des Arbeitslohns stehe, führt Marx zu Untersuchungen, die zur Theorie der Kombination gehören, und auf die wir in anderem Zusammenhang noch zu sprechen kommen werden. [13]

Zugleich mit der Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie erwächst auch ihre Negation in den sozialistischen und kommunistischen Systemen. In den Plan des Marxschen Werkes fällt aber nur jene Gruppe von Sozialisten, die auf dem Boden der Ricardoschen Lehren verharrend aus deren Resultaten sozialistische oder wenigstens proletarische Konsequenzen zu entwickeln suchen. Marx nennt deren drei: den Verfasser eines anonymen Pamphlets, das unter dem Titel The source and remedy of the national difficulties in London 1821 erschien [Charles Wentworth Dilke], Rovenstone und Hodgskin. Marx entwirft von dieser Gruppe folgende Charakteristik:

Bei dem Gegensatz, den die Ricardosche Theorie hervorrief – auf (Grundlage) ihrer eigenen Voraussetzungen –, ist das Charakteristische:

Im selben Maße, wie sich die politische Ökonomie entwickelte – und diese Entwicklung, soweit es die Grundprinzipien betrifft, erhält den schärfsten Ausdruck in Ricardo –, stellt sie Arbeit dar als das einzige Element des Wertes und den einzigen Schöpfer des Gebrauchswertes und die Entwicklung der Produktivkräfte als das einzige Mittel zur wirklichen Vermehrung des Reichtums; möglichste Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit als die ökonomische Basis der Gesellschaft. Dieses ist in der Tat die Basis der kapitalistischen Produktion. Ricardos Schrift namentlich, indem sie das Gesetz des Wertes als weder durch Grundeigentum noch durch kapitalistische Akkumulation usw. gebrochen darstellt, ist eigentlich nur damit beschäftigt, alle Widersprüche oder Phänomene, die dieser Auffassung zu widersprechen scheinen, zu beseitigen. Aber in demselben Maße, wie Arbeit als einzige Quelle des Tauschwertes und als die aktive Quelle des Gebrauchswertes begriffen wird, in demselben Maße wird „Kapital“ von denselben Ökonomen und namentlich auch von Ricardo (noch mehr von Torrens, Malthus, Bailey usw. nach ihm) als der Regulator der Produktion, Quelle des Reichtums und Zweck der Produktion aufgefaßt, Arbeit dagegen als Lohnarbeit, deren Träger und wirkliches Instrument notwendiger Pauper ist, welche Auffassung noch verstärkt wurde durch Malthus Bevölkerungstheorie. Der Arbeiter gehört zu den bloßen Produktionskosten und Produktionswerkzeugen, bleibt auf das Minimum des Arbeitslohns angewiesen, unter das dieser fallen muß, sobald der Arbeiter in einer für das Kapital „überflüssigen“ Masse existiert. In diesem Widerspruch sprach die politische Ökonomie bloß das Wesen der kapitalistischen Produktion oder, wenn man will, der Lohnarbeit aus; der sich selbst entfremdeten Arbeit, der der von ihr geschaffene Reichtum als fremder Reichtum, ihre eigene Produktivkraft als Produktivkraft ihres Produktes, ihre Bereicherung als Selbstverarmung, ihre gesellschaftliche Macht als Macht der Gesellschaft über sie gegenübertritt. Aber diese bestimmte spezifische, historische Form der gesellschaftlichen Arbeit, wie sie in der kapitalistischen Produktion erscheint, sprechen diese Ökonomen als allgemeine, einzige Form, als Naturwahrheit aus, und diese Produktionsverhältnisse als die absolut (nicht historisch) notwendigen, naturgemäßen und vernünftigen Verhältnisse der gesellschaftlichen Arbeit. Durchaus befangen in dem Horizont der kapitalistischen Produktion, erklärten sie die gegensätzliche Form, worin die gesellschaftliche Arbeit hier erscheint, für ebenso notwendig als diese Form selbst, befreit von diesem Gegensatz. Indem sie so auf der einen Seite die Arbeit absolut, weil ihnen Lohnarbeit mit Arbeit identisch war, und auf der anderen Seite ebenso absolut das Kapital, die Armut der Arbeiter und den Reichtum der Nichtarbeiter in demselben Atem als einzige Quelle des Reichtums ansprechen, bewegen sie sich beständig in absoluten Widersprüchen, ohne die geringste Ahnung darüber. Sismondi macht durch seine Ahnung dieses Widerspruchs Epoche in der politischen Oekonomie. „Arbeit oder Kapital“ – in diesem Ausdruck Ricardos tritt der Widerspruch und die Naivität, mit der er als Identisches ausgesprochen ist, schlagend hervor.

Es war aber klar, daß dieselbe reale Entwicklung, die der bürgerlichen Ökonomie diesen theoretisch rücksichtslosen Ausdruck gab, die in derselben enthaltenen realen Widersprüche entwickelt, namentlich den Gegensatz zwischen dem wachsenden Reichtum der „Nation“ in England und dem wachsenden Elend der Arbeiter. Da ferner diese Widersprüche in der Ricardoschen Theorie usw. einen theoretisch schlagenden, wenn auch unbewußten Ausdruck erhalten, war es natürlich, daß die Geister, die sich auf die Seite des Proletariats stellten, den theoretisch für sie schon zurechtgemachten Widerspruch aufgriffen. Die Arbeit ist die einzige Quelle des Tauschwertes und der einzige aktive Schöpfer des Gebrauchswertes. So sagt ihr. Andererseitz sagt ihr, das Kapital ist als der Arbeiter nichts oder bloß ein Teil der Produktionskosten des Kapitals. Ihr habt euch selbst widerlegt. Das Kapital ist nichts als Prellerei des Arbeiters. Die Arbeit ist alles.

Dies ist in der Tat das letzte Wort aller der Schriften, die das proletarische Interesse vom Ricardoschen Standpunkt, auf dem Boden seiner eigenen Voraussetzungen vertreten. Sowenig er die Identität von Kapital und Arbeit in seinem System begreift, so wenig begreifen sie den Widerspruch, den sie darstellen, weshalb die bedeutendsten unter ihnen, wie Hodgskin zum Beispiel, alle ökonomischen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion selbst als ewige Formen akzeptieren und nur das Kapital streichen wollen, die Basis und zugleich die notwendige Konsequenz. (Theorien über den Mehrwert, S. 307 ff.)

Zugleich bedeuten diese Schriften auch für die ökonomische Theorie einen Fortschritt. Der Pamphletist [Charles Wentworth Dilke] löst den Mehrwert konsequent in Mehrarbeit auf, im Gegensatz gegen die Gegner und Nachfolger Ricardos, die sich an seine Verwechslung von Mehrwert und Profit anklammern. Er zieht den Schluß, daß das Kapital überflüssig, die Mehrarbeit zu beseitigen sei. Denn eine Nation ist reich, „wenn statt zwölf Stunden sechs gearbeitet wird; Reichtum ist Zeit, über die man verfügt, sonst nichts“.

Ravenstone bestimmt näher den relativen Mehrwert, der von dem Grade der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit abhängt. Er zieht daraus den Schluß: Die Vermehrung der Produktivkraft der Arbeit vermehrt nur den fremden, sie beherrschenden Reichtum, das Kapital.

Hodgskin schließlich verficht den Satz: Das Kapital ist unproduktiv. Die Produktivität der Arbeit ist nicht von der vorhandenen Masse des Kapitals abhängig. Er sucht den Nachweis zu führen, daß die Wirkung, die man dem zirkulierenden Kapital, einem Vorrat von Waren zuschreibt, die Wirkung „koexistierender Arbeit“ ist. Wenn auch in unklarer Form, so ist doch bei ihm bereits im Keime die Erkenntnis des Fetischismus vorhanden, der Dingen Wirkungen zuschreibt, die gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechen.

Den Sozialisten schließt Marx eine Gruppe von drei Autoren – George Ramsay, Cherbuliez und Richard Jones – an, deren Gemeinsames darin besteht, daß sie nicht mehr wie die Klassiker die kapitalistische Form der Produktion und daher das Kapital für eine absolute Form der Produktion nehmen, sondern sie bloß für eine „zufällige“ historische Bedingung erklären. Ramsay hat das Verdienst, klar zwischen konstantem und variablem Kapital zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die für die Erkenntnis der Mehrwertentstehung von fundamentaler Bedeutung ist. Aber er läßt diesen Kapitalbestandteilen noch den Namen von fixem und zirkulierendem Kapital, ein Unterschied, der in der Zirkulation entspringt. Er bleibt über die Mehrwertentstehung im unklaren und kommt nicht dazu, die Verwandlung von Mehrwert in Profit, also auch nicht die von Wert in Produktionspreis zu entwickeln. Ramsay erklärt Produktionsmittelmaterial und Arbeitsmittel, die er fixes Kapital nennt, einerseits, die lebendige Arbeit andererseits als notwendige Bedingungen der Produktion. Dagegen sei es ein bloßes „Auskunftsmittel“, der „erbärmlichen Armut der Masse des Volkes“ geschuldet, daß die Lebensmittel des Arbeiters überhaupt die Form von „zirkulierendem Kapital“ annehmen. Arbeit ist eine Bedingung der Produktion, aber nicht Lohnarbeit. „Ramsay macht Ernst damit, das Kapital, wie es die anderen Ökonomen der Phrase nach tun, aufzulösen in einen Teil des Nationalreichtums, der zur Förderung der Produktion’ angewandt wird oder bestimmt ist, dazu angewandt zu werden. Er erklärt Lohnarbeit und daher Kapital – die soziale Form, die die Mittel der Reproduktion auf Basis der Lohnarbeit erhalten – für unwesentlich und bloß der Armut der Masse des Volkes geschuldet.“ (Theorien über den Mehrwert, S. 888) Ähnlich in seinem kritischen Verhalten ist der von Sismondi beeinflußte Cherbuliez, der im einzelnen über die Konzentrationstendenz und über die Ausgleichung der Profitraten eine Reihe treffender Bemerkungen beibringt. Der bedeutendste dieser Gruppe und einer der interessantesten nachricardianischen Ökonomen überhaupt ist Richard Jones. Zugleich ist er in seiner Geschichtsauffassung der unmittelbare Vorläufer von Marx. Über ihn und sein Verhältnis zu Marx muß deshalb noch etwas eingehender gesprochen werden.
 

3. Richard Jones

Richard Jones ist 1790 geboren. 1816 verließ er die Universität Cambridge. Sein Hauptwerk Die Verteilung des Reichtums und die Quellen der Besteuerung, erster Teil: Rente erschien 1831 in London. Bald darauf wurde er Professor der politischen Ökonomie am neugegründeten „Kings’ College“, wo er am 27. Februar 1838 die Introductory Lectures, seine Antrittsvorlesung, hielt. 1835 wurde er der Nachfolger von Malthus im Indian College of Haileybury. Hier starb er am 20. Januar 1855. Seine Schriften, mit Ausnahme der ersten, sind gesammelt herausgegeben worden unter dem Titel: Literary remains, consisting of lectures and tracts on political economy of the late Rev. Richard Jones, ed. William Whewell. London: John Murray, 1859. Die Herausgabe selbst ist ttvon John Cazenove besorgt.

Wenn Marx von der Erstlingsschrift Jones rühmt, sie zeichne sich durch das aus, was allen englischen Ökonomisten seit Sir James Steuart fehle, nämlich durch den Sinn für den historischen Unterschied der Produktionsweisen, so feiert ihn sein Freund Whewell, der berühmte Verfasser der Geschichte der induktiven Wissenschaften, als Begründer des induktiven Systems der politischen Ökonomie im Gegensatz zu Ricardo, dem Vollender der deduktiven Nationalökonomie. Nimmt man hinzu, daß Jones für die spezifisch theoretischen Probleme geringes Interesse bekundet, so kann man ihn mit Recht als den Vater der historischen Schule bezeichnen. [14]

Jones war Mitglied ber englischen Staatskirche und stand in enen Beziehungen zu dem Erzbischof von Canterbury und dem Bischof von London. Als ihr Vertrauensmann, als Vertreter der kirchlichen Interessen (und der Konservativen) wurde er Mitglied der Kommission, die die Ablösung der kirchlichen Zehnten vorbereiten sollte. Er war dann als Vertreter des Erzbischofs einer der drei Kommissäre, die die Umwandlung überwachten.

Zeigt dies seine politische Haltung, so ist für seine wissenschaftliche Stellungnahme bedeutsam, daß ihn mit Malthus persönliche Freundschaft verband; in allen seinen Schriften tritt große Achtung vor der wissenschaftlichen Bedeutung und der Persönlichkeit des Malthus zutage. Es ist kein Zweifel, daß Jones Malthus über Ricardo gestellt hat, wie übrigens nicht wenige seiner Zeitgenossen. Noch wichtiger aber war vielleicht das enge Verhältnis, das ihn mit so bedeutenden Naturforschern wie John Herschel und Whewell verband. Jones sucht mit vollem Bewußtsein die induktive Methode der Naturwissenschaften auf die Ökonomie als einzig berectigte zu übertragen. Er nimmt im Grunde genommen den ganzen späteren Methodenstreit, den die deutsche historische Schule mit ebensoviel Behagen als geringfügigem Ergebnis geführt hat, vorweg. Schon in seinem Rentenbuch druckt er im Anhang als Erläuterung seiner Methode einen Passus aus Herschels Study of Natural Philosophy ab. Die größte und letzte Quelle unserer Erkenntnis sei die Erfahrung. Zur Erfahrung komme man durch die Beobachtung und das Experiment. Und in der Einleitung zum Text Book of Lectures of Political Economy, etc. stellt er aufs schärfste seine Methode, die von der Geschichte und der Beobachtung ausgehe, der herrschenden (das heißt der Ricardos) gegenüber, die aus rein abstrakten Prinzipien die ökonomischen Gesetze ableiten wolle. Und so an vielen anderen Stellen.

Übernahm Jones seine Methode von den damals sich mächtig entwickelnden Naturwissenschaften, so wurde seine historisch-kritische Stellungnahme gegenüber der Verabsolutierung der kapitalistischen Produktionsweise im System Ricardos offenbar hervorgerufen durch seine Studien über die sozialen Zustände Indiens, namentlich über dessen Grundbesitzverhältnisse, die ihm als Lehrer an einem East Indian College besonders nahe lagen. In Indien entdeckt er die Mängel der „abstrakten Prinzipien“ und Verallgemeinerungen Ricardos und die historische Bedingtheit kapitalistischer Verteilungsgesetze, wie sie in der Renten- und Profitlehre Ricardos erscheinen. Es ist aber noch ein anderer unmittelbar praktisch-politischer Grund, der ihn gegen Ricardo auftreten läßt. Wie Malthus ist Jones konservativ. Allerdings ist bei ihm nichts von jener grob materiellen Interessiertheit zu spüren, die bei Malthus durch die pfäffisch-freundliche Phraseologie immer wieder durchscheint. Seine Freundschaft für Malthus hindert ihn durchaus nicht, seine Kritik gegen die unheilvollen „Konsequenzen und Übertreibungen“ zu richten, die aus malthusianischen Bevölkerungstheorie gezogen worden seien, wobei aber in Wirklichkeit Malthus’ Theorie selbst das Objekt der Kritik ist. Und gerade die kleine Abhandlung Jones’ über Bevölkerungslehre zeigt sehr schön die Überlegenheit seiner historischen Methode gegenüber der angeblichen „Naturgesetzlichkeit“ der Malthusschen Theoreme. Gelangt er auch nicht wie Marx zu der Einsicht, daß jede bestimmte Gesellschaftsordnung ihr eigenes Bevölkerungsgesetz sich setze, daß alfo für den wirklichen Gang der Bevölkerungsentwicklung bei gleichbleibender natürlich-biologischer Grundlage soziale Ursachen entscheidend sind, so hebt er doch gegenüber dem angeblichen Naturgesetz des Malthus die sozialen Momente scharf hervor. Und er bricht gerade den arbeiterfeindlichen Konsequenzen der Lehre, denen in der Armengesetzgebung dann die gesetzliche Praxis folgte, die Spitze ab, wenn er der Malthusschen Behauptung, daß das Elend der Arbeiter der wichtigste Faktor sei, um sie an schädlicher, allzu rascher Vermehrung zu hindern, mit allem Nachdruck entgegenhält, daß gerade eine verbesserte Lebenshaltung der arbeitenden Massen jene „moralischen Vorbeugungen“ bewirke, also die sozialen Falktoren erzeuge, die einer allzu raschen Vermehrung entgegenwirken. Es folgt unmittelbar aus seiner Auffassung, daß Jones die Verbesserung der Lebenshaltung der Arbeiter im Gegensatz zur Theorie des Malthus, im Gegensatz auch zu der Lehre vom „ehernen“ Lohngesetz als möglich und erstrebenswert ansieht. [15]

Ist aber Jones jede arbeiterfeindliche Tendenz fremd, so fühlt er sich doch in seinem konservativen Gemüt durch die unbefangene Rücksichtslosigkeit der Ricardoschen Lehren verletzt. Zeigten doch diese aufs klarste den Antagonismus der großen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft. Profit und Arbeitslohn stehen ja nach Ricardo im umgekehrten Verhältnis zueinander; der eine kann nur auf Kosten des anderen steigen. Die Grundrente aber ich nur ein Überprofit und als solcher ein Tribut, den die Grundbesitzer vermöge ihres Monopols an Grund und Boden den produktiven Klassen, Industriellen und Kapitalisten auferlegen. Im Fortschritt der Gesellschaft muß immer unfruchtbarerer Boden zur Befriedigung der Nachfrage nach Lebensmitteln herangezogen werden. Damit steigt die Grundrente. Mit dem Steigen der Lebensmittelpreise müssen aber auch die Arbeitslöhne steigen, und infolgedessen fällt der Profit. Der Fall der Profitrate hindert oder velangsamt aber die weitere Akkumulation, die Vorbedingung jedes gesellschaftlichen Fortschrits. So sind die Interessen des Grundbesitzes dem Fortschritt der Gesellschaft durchaus entgegengesetzt. Und schon hatten sich diese theoretischen Lehren zu praktischen Forderungen verdichtet. Die radikaleren Ricardianer forderten die Aufhebung des Grundeigentums als einer überflüssigen Schranke kapitalistischer Entwicklung, während die Sozialisten, von dem gegensätzlichen Verhältnis zwischen Profit und Arbeitslohn ausgehend, die Beseitigung des Kapitalverhältnisses verlangten. Gegenüber diesen Proklamierungen der Klassengegensätze verficht Jones die Harmonie der Interessen aller Klassen. Lehnt er die arbeiterfeindlichen Konsequenzen des Malthus ab, so nicht minder die sozialistischen Forderungen Godwins, dieses „ingenious, but incautious speculator“, oder die grundbesitzfeindlichen der Ricardianer. Gegenüber dem Pessimismus der die Ricardianer angesichts des Falles der Profitrate befällt, verkündet er die optimistische Lehre, daß mit dem Steigen der Produktivität der Arbeit der Anteil aller Klassen an dem gesellschaftlichen Produkt steigen müsse, eine Auffassung, die allerdings die Durcheinanderwerfung von Gebrauchswert und Wert in sich schließt. Von dieser politischen Rücksicht des Konservativen gegen Ricardo und seine radikalen Fortsetzer ist Jones überall bestimmt. Diese polemisch-könservative Rücksichtnahme setzt auch seiner historischen Einsicht ihre Grenze und verleitet Jones, bisweilen den umgekehrten Fehler zu begehen, den die Klassiker machen. Übertragen diese kapitalistischen Vorstellungen auf vorkapitalistische Zustände, so sucht umgekehrt Jones bisweilen aus vorkapitalistischen Verhältnissen Material zur Polemik gegen die Gesetze Ricardos zu gewinnen.

Wenn Jones auch hier in vielen Punkten gegen Ricardo recht behält, so deshalb, weil die Zusammenhänge der Klassen in ber kapitalistischen Gesellschaft in der Tat komplizierter sind, als sie in der gleichsam mathematisch vereinfachten Form erscheinen, die ihnen Ricardo gegeben hat. Soweit Jones, abgesehen von der historischen Einschränkung, die er an den Gesetzen Ricardos vornimmt, Ricardo gegenüber recht behält, verdankt er dies der Hervorhebung des gesellschaftlichen Zusammenhanges der kapitalistischer Klassen gegenüber den sie trennenden und einander entgegensetzenden Faktoren.

Von allen Ökonomen vor Marx hat Jones den historischen Charakter des Kapitalismus am klarsten erkannt und ausgesprochen. In dem Buche über die Rente zeigt er, daß die kapitalistische Rente, für die allein Ricardos Gesetze in gewissem Umfang zutreffen, das kapitalistische Grundeigentum, dieses aber die kapitalistische Industrie, die Verwandlung der Arbeit in Lohnarbeit, bas Auftreten einer selbständigen Kapitalistenklasse, die Ausgleichung der Profitraten voraussetze. Er stellt der kapitalistischen die früheren Gesellschaftsformen gegenüber, verfolgt die Rente durch alle Wandlungen von ihrer rohesten Gestalt als Fronarbeit bis zu der modernen Geldrente (farmers rent) und findet überall, daß einer bestimmten Form der Arbeit und ihren Bedingungen eine bestimmte Form der Rente, das ist des Grundeigentums, entspricht. In allen früheren Formen war der Grundeigentümer der unmittelbare Aneigner der Mehrarbeit. Erst in der kapitalistischen Gesellschaft tritt der Kapitalist an seine Stelle.

Wir übergehen hier die Korrekturen, die Jones an Ricardos Rententheorie vornimmt, und die Marx ausführlich erörtert, so wichtig und interessant diese Ausführungen (so zum Beispiel Jones’ Polemik gegen das Dogma vom abnehmenden Bodenertrag) für die Theorie der Grundrente sind, um den historischen Standpunkt Jones’ weiter zu verfolgen. Jones macht Ernst mit der Auffassung des Kapitals als einer historischen Kategorie. Das Kapital ist nicht mehr eine Summe von Produktions- und Lebensmitteln, sondern eine bestimmte Form des Arbeitsfonds, eine bestimmte Art und Weise, wie den Arbeitern ihre Arbeits- und Lebensmittel zur Verfügung gestellt werden, also ein historisch erst spät auftretendes gesellschaftliches Verhältnis. Die ganze oekonomische Struktur der Gesellschaft dreht sich um die Form der Arbeit, also um die Form, worin der Arbeiter sich seine Lebensmittel aneignet oder den Teil seines Produktes, von dem er lebt. In Introductory Lectures heißt es:

Unter der ökonomischen Struktur der Völker verstehe ich jene Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen, die in erster Linie durch die Einrichtung des Eigentums am Boden und die Verteilung seines Mehrproduktes begründet und später in größerem oder geringerem Grade modifiziert und geändert werden durch die Einführung der Kapitalisten als Faktoren der Produktion und des Austauschs von Reichtum und der Ernährung und Beschäftigung der arbeitenden Bevölkerung. (Zitiert bei Marx, S. 470)

Mit großer Schärfe hebt Jones die verschiedenen Formen der Arbeit als die unterscheidenden Kennzeichen der Gesellschaftsformen hervor. Die Lohnarbeit, sagt er zum Beispiel in den Lectures on Labour and Capital, ist das „große unterscheidende Merkmal unserer gegenwärtigen ökonomischen Lage“. (Literary Remains, S. 16) Auch die Entstehung des Kapitals, die Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln deutet Jones wenigstens an, indem er die Aneignung des Gemeindelandes durch die Grundbesitzer erzählt. Er sieht darin nicht nur eine soziale Ursache für die Verschärfung der Religionskämpfe, sondern in den freigesetzten Arbeitern auch die Proletarier, die als Bettler und Landstreicher die Straßen füllen, bis sie allmählich von den aufkommenden Manufakturen aufgenommen werden. Unsere Darstellung, schließt Jones diesen Abschnitt, hat damit den Punkt erreicht, von dem wir in England das Auftreten einer Klasse von Kapitalisten datieren, wie sie unsere modernen Pächtern darstellen. [16]

Was aber den historischen Ausführungen von Jones erst ihre eigentliche große Bedeutung verleiht, ist, daß sie aus einer Einsicht in den Zusammenhang von Oekonomie und Geschichte fließen, die Jones zu einem der bedeutendsten Vorläufer der materialistischen Geschichtsauffassung machen. Marx zitiert aus dem Text Book folgende Stellen:

In dem Masse, in dem ein Gemeinwesen seine Produktivkräfte ändert, ändert es notwendigerweise auch seine Sitten und Gewohnheiten. Im Laufe ihrer Entwicklung finden alle die verschiedenen Klassen eines Gemeinwesens, daß sie mit anderen Klassen durch neue Beziehungen verknüpft sind, neue Positionen einnehmen, von neuen moralischen und sozialen Gefahren und neuen Bedingungen sozialen und politischen Gedeihens umgeben sind.

Große politische, soziale, moralische und intellektuelle Veränderungen begleiten die Änderungen in der ökonomischen Organisation der Gemeinwesen und in den Kräften und Mitteln, seien sie reichlich oder dürftig, mit denen die Aufgaben der Produktion ausgeführt werden. Diese Veränderungen üben notwendigerweise einen beherrschenden Einfluß auf die verschiedenen politischen und sozialen Elemente der Bevölkerung aus, in deren Schoß jene Änderungen vor sich gehen. Dieser Einfluß erstreckt sich auf den individuellen Charakter, auf Gewohnheiten, Gebräuche, Sitten und das Glück der Nationen.“ (Marx, S. 498 ff.)

Diese Stellen ließen sich leicht vermehren. So meint Jones, daß für die Verschiedenheit der Akkumulation bei, verschiedenen Völkern auch der Unterschied der Rasse und des Temperamentes eine Rolle spiele, doch nur eine geringe, denn „große Gruppen von Menschen sind gar sehr die Geschöpfe der Umstände und der Erziehung, die ihnen solche Umstände angedeihen lassen“. [17] In diesem Zusammenhang zeigt er auch, daß mit fortschreitender Akkumulation die gesetzlichen Hindernisse, die dem Kapitalismus entgegenstehen, fallen und bürgerliche Freiheit und Gleichheit an ihre Stelle treten müssen. [18] „Die Verteilung des Reichtums,“ heißt es an einer anderen Stelle, „bestimmt stets die sozialen und zu allermeist die politischen Beziehungen der menschlichen Gesellschaft; bevor wir diese Verteilung nicht analysiert haben, läßt sich ihr innerer Mechanismus (internal mechanism) nicht verstehen“. [19] Die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital, heißt es in den Lectures on Population [20], bewirkt „soziale und politische Konsequenzen, die nicht geringer sind als die ökonomischen und die miteinander in Wechselwirkung stehn (and they react upon each other)“. Und Jones verspottet an einer Stelle nicht über die ideologische Auffassung Montesquieus, der den Widerstand der Grundaristokratie gegen den monarchischen Absolutismus ihrem Ehrgefühl zuschreibe, während dafür viel näherliegende (natürlich wirtschachliche) Gründe vorhanden wären, indes dieses Ehrgefühl die Aristokratie durchaus nicht vermocht habe, ihre Bauern gegen die erdrückende Besteuerung zu schützen.

Am ausführlichsten äußert sich Jones an folgender Stelle des Lectures:

Wir sehen vor uns die weite Szene, auf der die Völker der Erde unter dem Fluche des Himmels (curse of heaven) ihr tägliches Brot durch ihre Arbeit ernten. Und Mann ist mit Mann verbunden durch die Bande, die entstehen und sich bilden durch die Kameradschaft bei ihrer Mühe. Solche Bande und Beziehungen schlingen sich von dem Monarchen auf seinem Thron durch all die verschiedenen Teilungen des Volkes zu dem Arbeiter und seinem Werke.

Aus diesen natürlichen Bedingungen und moralischen Banden entspringen die höchsten öffentlichen und privaten Tugenden, welche die Gesellschaft schmücken oder schützen können. Wir dürfen diese Bande nicht verachten, noch die physischen Bedürfnisse der Menschen und ihre ursprünglichen sozialen Konsequenzen außer acht lassen, die den erhabeneren Seiten unserer Natur so fremd scheinen. Ebensogut müßten wir den kostbaren Brillanten verachten, weil er in der Mine aus dem niedrigsten Gestein herausgearbeitet worden ist.

Wir werden dann, ohne von unserem eigentlichen Gegenstand deshalb abzuschweifen, zu sprechen haben von den Gesetzen und den Gesetzgebern – von der Stimme und dem Arm der Gerechtigkeit, die in geheiligten Institutionen sich verkörpert, von dem Einfluß selbstaufgelegter Beschränkungen der niedrigeren Antriebe unserer Natur, und wir werden sehen, wie unsere Lebensart, unsere Sitten und die wertwollsten Energien der Nationen ihren Glanz und ihre Stärke vom Kampfe empfangen. Wir werden die Geschichte der Meinungen betrachten und sehen, wie die Verirrungen des menschlichen Intellektes von ihrer Seite her das Schicksal der Geschlechter und Nationen beeinflußt haben. Unser Gegenstand wird uns notwendig in das Gebiet solcher Untersuchungen führen. Aber wenn wir diese philosophisch behandeln wollen, so müssen wir geduldig ihre innere Natur zu ergründen lernen, wie wir eine Sprache lernen, indem wir bei ihren einfachsten Elementen verweilen und diese zergliedern. Solch primärke Elemente sind in der oekonomischen und politischen Philosophie die Nöte und Bedürfnisse der Menschen und die Bande und Pflichten, die aus den Anstrengungen, sie zu befriedigen, entspringen. Laßt uns sorgfältig und beharrlich bei den verschiedenen Völkern, die sich unserer Betrachtung darbieten, diese Dinge studieren, und ich darf versprechen, daß Sie nicht unzufrieden fein werden mit der Erhabenheit und Würche der Betrachtungen über Menschen und Gemeinwesen, über die moralische Herrschaft Gottes und über das Schicksal der Nationen, zu denen wir schließlich gelangt sein werden. [21]

Allerdings stehen solchen Stellen, die zu variieren Jones in seinen verschiedenen Schriften, die leider fast alle Skizzen oder Fragmente sind, nicht müde wird, eine andere gegenüber, wo er die Prosperität Englands auf seine freiheitlichen Institutionen zurückführen will, aber diese Stelle bleibt vereinzelt. [22] Daß er nicht zur völligen methodischen Klarheit über das Verhältnis von Ökonomie zur Politik gekommen ist, zeigt auch die häufige Berufung auf die Kategorie der Wechselwirkung. So heißt es zum Beispiel in charakteristischer Weise:

„Es besteht eine beständige Wechselwirkung (interaction) zwischen der politischen und ökonomischen Lage eines Volkes ... Die politische Wirkung (das heißt der kapitalistischen Produktionsweise) war offenbar die Verbreitung der Ordnung und die Modifikation der aristokratischen Macht durch die Einführung des demokratischen Elementes in die Regierung.“ [23]

Und Jones bleibt trotz seiner Abneigung gegen den Sozialismus umbefangen genug, um die historische Entwicklung nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft gelten zu lassen, sehr im Gegensatz zu jenen Vertretern der historischen Schule, denen die Geschichte nur ihr a posteriori zeigt.

„Es mag in der Zukunft einmal ein gesellschaftlicher Zustand bestehen und einzelne Teile der Welt mögen ihm entgegengehen, unter dem die Arbeiter und die Besitzer des akkumulierten Vorrechtes identisch sind. Aber in der Geschichte der Nationen, die wir jetzt beobachten, war das bisher noch nie der Fall ... Das (das heißt die Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln) dürfte kein so wünschenswerter Zustand sein wie jener, in dem Arbeiter und Kapitalisten identisch sind; aber wir müssen ihn hinnehmen als ein Stadium im Entwicklungsgang der Gesellschaft, das bisher die Geschichte fortschreitender Nationen kennzeichnet. Zu diesem Stadium sind die Völker Asiens noch nicht gelangt.“ (Textbook, S. 73)

Und Marx fügt dieser Stelle hinzu:

Hier sagt Jones ganz unumwunden heraus, daß er das Kapital und die kapitalistische Produktionsweise nur als eine Übergangsphase in der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion „hinnimmt“, eine Phase, die einen ungeheuren Fortschritt gegen alle vorübergehenden Formen bildet, wenn man die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit betrachtet – die aber keineswegs ein Endresultat bildet, vielmehr in ihrer antagonistischen Form zwischen den „Besitzern des akkumulierten Reichtums“ und den „wirklichen Arbeitern“ die Notwendigkeit ihres Unterganges einschließt. (S. 491)

Bevor wir nun zu der abschließenden Beantwortung der Frage über Jones’ Bedeutung in der Ökonomie und über sein Verhältnis zu Marx gelangen, wollen wir noch das Urteil von Marx wiedergeben:

Der Satz: „Das Kapital oder akkumulierter Vorrat, nachdem es schon mannigfache andere Funktionen bei der Produktion von Reichtum erfüllt hat, übernimmt erst spät jene, dem Arbeiter seinen Arbeitslohn vorzuschießen“ ist der vollständige Ausdruck des Widerspruchs, einerseits der richtigen historischen Auffassung des Kapitals, andererseits überschattet von der ökonomischen Borniertheit, daß der Vorrat als solcher „Kapital“ ist. Däher wird der „akkumulierte Vorrat“ eine Person, die die Funktion übernimmt, den Arbeitslohn an Leute vorzuschießen. Es ich noch in der ökonomischen Befangenheit, daß Jones sie auffaßt, eine Auflösung nötig, sobald die kapitalistische Produktionsweise als bestimmte geschichtliche aufgefaßt wird und nicht mehr ein ewiges Naturverhältnis der Produktion ist.

Man sieht, welch großer Sprung von Ramsay zu Jones gemacht wird. Ramsay erklärt gerade die Funktion des Kapitals, die es zum Kapital macht, das Vorschießen des Arbeitslohns, für zufällig nur der Armut der großen Masse geschuldet und dem Produktionsprozeß als solchem gleichgültig. In dieser bornierten Form verleugnet er die Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Anders Jones ... Jones zeigt, daß gerade diese Funktion (des Vorschießens des Arbeitslohns) das Kapital zum Kapital macht und das Charakteristische der kapitalistischen Produktionsweise bedingt. Er zeigt auch, wie diese Form erst auf einem größeren Grade der Entwicklung der Produktionsstufe eintritt und dann eine ganz neue materielle Basis schafft. Aber er versteht deswegen auch die „Aufhebbarkeit“, die bloß historisch vorübergehende Notwendigkeit dieser Form in ganz anders tiefer Weise als Ramsay ...

Wir sehen hier, wie die wirkliche Wissenschaft der politischen Oekonomie damit endet, die bürgerlichen Produktionsverhältnisse als bloß historische aufzufassen, die zu höheren leiten, wenn der Antagonismus, worauf sie beruht, aufgelöst ist. Durch ihre Analyse bricht die politische Ökonomie die scheinbar gegeneinander selbständigen Formen, worin der Reichtum erscheint. Ihre Analyse geht selbst schon bei Ricardo so weit, daß

  1. die selbständige stoffliche Gestalt des Reichtums verschwindet und er bloß mehr als Betätigung des Menschen erscheint. Alles, was nicht Resultat menschlicher Tätigkeit, Arbeit darstellt, ist Natur und als solches nicht sozialer Reichtum. Das Phantom der Güterwelt zerrinnt, und sie erscheint nur noch als beständig verschwindende und beständig wiedererzeugte Objektivierung der menschlichen Arbeit. Als stofflich feste Reichtum ist nur vorübergehende Vergegenständlichung der gesellschaftlichen Arbeit, Kristallisation des Produktionsprozesses, dessen Maß die Zeit das Maß der Bewegung selbst ist;
  2. die mannigfaltigen Formen, worin die verschiedenen Formen des Reichtums verschiedenen Teilen der Gesellschaft zufließen, verlieren ihre scheinbare Selbständigkeit. Der Zins ist bloß ein Teil des Profits, die Rente bloß Überprofit. Beide sinken daher in Profit zusammen, der sich selbst in Mehrwert auflöst, das heißt unbezahlte Arbeit. Der Wert der Ware selbst aber wird bloß in Arbeitszeit aufgelöst. Die Ricardosche Schule kommt sogar so weit, daß sie eine der Formen der Aneignung dieses Mehrwertes – das Grundeigentum (die Rente) – als nutzlos negiert, soweit sie von Privaten einkassiert wird. Sie leugnet den Grundeigentümer als Funktionär in der kapitalistischen Produktion. Der Gegensatz wird so auf Kapitalist und Lohnarbeiter reduziert. Dieses Verhältnis aber betrachtet die Ricardosche Ökonomie als gegeben, als Naturgesetz, worauf der Produktionsprozeß selbst beruht. Die späteren bleiben hierbei nicht stehen, sondern erkennen, wie Jones, nur mehr die geschichtliche Berechtigung dieses Verhältnisses an. Von dem Moment aber, wo die bürgerliche Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Distributionsverhältnisse als geschichtliche erkannt sind, hört der Wahn auf, sie als Naturgesetze der Produktion zu betrachten, und eröffnet sich die Aussicht auf eine neue Gesellfchaft, eine neue ökonomische Gesellschaftsformation, wozu sie nur den Übergang bildet. (S. 489 ff.)

Wie verhält sich Jones zu Marx? Kein Zweifel, daß er von den Vorläufern Marxens derjernige ist, der der materialistischen Geschichtsauffassung am nächsten gekommen ist. Gewiß ist sie bei Jones noch nicht systematisch entwickelt, noch weniger als allgemeines Bewegungsgesetz geschichtlichen Geschehens ihm klar bewußt, und die Erkenntnis des Klassenkampfes als Bewegungsform der auf dem Privateigentum beruhenden Gesellschaftsformationen fehlt vollständig. Nirgends kommt Jones über die allgemeine Formulierung hinaus, auch in den historischen Partien fehlt die systematische Anwendung auf die Entwicklung der verschiedenen Entwicklungsstufen. Aber Jones unterscheidet sich schon dadurch von den meisten anderen, die materialistischen Geschichtsformulierungen nahe gekommen sind, daß er eben von der Ökonomie her zu seiner Geschichtsauffassung kommt, nicht wie die anderen entweder von einer unbestimmten Milieutheorie oder von der Verallgemeinerung offen zutage liegender politischer oder sozialer Gegensätze, indem sie etwa den Gegensatz von arm und reich, von Arbeitenden oder Müßigen, von Stadt- oder Landbewohnern, Grundbesitzern oder Gewerbetreibenden zu einem Beweggrund geschichtlichen Geschehens machen. Jones geht unmittelbar von der Form der Arbeit aus, die die Eigentumsverhältnisse bedingt, auf der sich dann die verschiedenen Beziehungen der Gesellschaftsklassen aufbauen, nach denen sie dann ihr Recht, ihr Fühlen und Denken bestimmen. Aber diese Erkenntnis, so wichtig sie an sich ist, so wichtige Ergebnisse gegenüber der unhistorischen Auffassung der Klassiker sie wirtschaftsgeschichtlich zeitigt, sie bleibt unmittelbar für die ökonomische Theorie vollständig unfruchtbar. Und wenn Kautsky in der Vorrede mit Recht sagt, daß Marx anfängt, wo Jones aufhört, so bedarf das der Ergänzung des Satzes, daß Marx auch dort anfängt, wo Ricardo aufhört.

Und das ist eben das prinzipiell Neue bei Marx, daß er die historische Auffassung, die bei Jones der „abstrakten Methode“ Ricardos entgegengesetzt wird, mit dieser zu verbinden und sie eben dadurch zu vervollständigen und umzuwälzen unternimmt. Jones ist die einfache Negation Ricardos, der rein äußerliche Gegensatz. Er kümmert sich um die Theorie nicht weiter, außer wo er einzelne Ergebnisse Ricardo, namentlich in der Rententheorie berichtigt oder ergänzt. Jones operiert rühig mit der Werttheorie Ricardos oder auch des Malthus fort, ohne sich viel um die Unterschiede, die ihm nebensächlich scheinen, zu bekümmern. Für die komplizierkten Erscheinungen, wie zum Beispiel die Krisen, hat er überhaupt keine Erklärung. Nirgends der Versuch, von der historischen Beschreibung zur theoretischen Erfassung fortzugehen. Das ist gerade die Leistung von Marx, daß er die Erkenntnis von dem historisch-gesellschaftlichen Charakter der ökonomischen Kategorie in den Dienst der Umgestaltung der Theorie stellt. Wo Jones entweder die Resultate der bisherigen Theorie übernimmt oder verwirft, eröffnet sich Marx das Problem. Die Erkenntnis der ökonomischen Verhältnisse als gesellschaftlicher führt zur Aufdeckung des Fetischismus der Begriffe Ware, Geld, Kapital. Die Arbeit erscheint in ihrer Bestimmtheit als Lohnarbeit und in ihrer gesellschaftlich notwendigen Form; der ökonomische Produktionsprozeß in seiner doppelten Gestalt als Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, die Ware als Gebrauchswert und Wert. Das Kapital ist nicht mehr ein sachlicher Vorrat, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, in dem die Lohnarbeit zu dem Monopol an den Produktionsmitteln steht. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft, das Produkt gehört dem Kapitalisten, dem die Mehrarbeit zufällt. Das Ausmaß der Mehrarbeit, also des Mehrwerts, ist bestimmt durch die Teilung des geschaffenen Neuwertes zwischen Arbeiter und Kapilisten, also durch die Höhe des Arbeitslohns oder des variablen Kapitals. Der Unterschied des variablen vom konstanten Kapital ist also damit gegeben, und in der Entwicklung dieses Verhältnisses der organischen Zusammensetzung des Kapitals wird das wichtigste Bewegungsgesetz des Kapitalismus gefunden. Die Formunterschiede des fixen und zirkulierenden Kapitals, die die Zirkulation erzeugt, werden als sekundäre erkannt gegenüber denen des konstanten und variablen Kapitals, die aus dem Verwertungsprozeß entspringen. Die Konkurrenz der Kapitalisten um die Anlagesphären bewirkt die Ausgleichung der verschiedenen Profitraten zur Durchschnittsprofitrate, die die Verwandlung der Werte in Produktionspreise bedingt. Die historisch-gesellschachliche Auffassung der ökonomischen Kategorien hat ihren Fetischcharakter zerstört und zur lösung der Probleme geführt, an denen Ricardo und seine Nachfolger gescheitert waren. Aus der spezifisch marxistischen Vereinigung der „induktiven Methode“ Jones’ und der abstrakten Ricardos ist die ökonomische Theorie des wissenschaftlichen Marxismus erwachsen.

Und die einmal entdeckten ökonomischen Kategorien blieben historische; ihr Leben hörte nicht plötzlich auf, nachdem sie entdeckt waren; ihr Leben sollte auch nicht plötzlich gewaltsam beendet werden, wie es der utopische Sozialismus wollte, der in seinem Denken ausgebrütete Kategorien an Stelle der wirklichen setzen zu können vermeinte. Denn gerade das ist ja das Merkmal des wissenschaftlichen Sozialismus, daß der Sozialismus nur das Ergebnis der vollen Entfaltung der kapitalistischen Ökonomie ist. Es ist die Darlegung der Gesetze der kapitalistischen Welt, nicht die Auffindung, von Regeln für die Einrichtung sozialistischer Gesellfchaften, die den Sozialismus zur Wissenschaft macht, indem sie seine Notwendigkeit als notwendige Stufe sozialer Entwicklung nachweist. Indem Marx die „abstrakten Prinzipien“ Ricardos mit geschichtlichem Leben beseelte, indem die Ökonomie zur Geschichte und die Geschichte zur Ökonomie wurde, überwand er den unhistorischen Rationalismus der Klassiker und den irrationellen Konservativismus der Historiker zugleich mit dem Utopismus des älteren Sozialismus. [24] Die Ökonomie war jetzt nicht mehr eine Lehre von toten Dingen, von der Möglichkeit möglichst großer Produktion oder möglichst bester Verteilung. Es war die Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Beziehungen der Klassen und der Notwendigkeit ihrer Kämpfe und deren Ausganges. Aus der Gesetzmäßigkeit der Selbstentwicklung der Idee war die Gesetzmäßigkeit des durch ihre sozialen Beziehungen determinierten Wollens der Klassen geworden, wie sie die ökonomistische Wissenschaft erkennen lehrt. Der Entwicklungsgedanke, seiner idealistischen Gestalt entkleidet, hatte sich der Sozialwissenschach bemächtigt.

* * *

Wir sind am Ende. Mit Jones steht die Ökonomie an dem Punkte, wo ihre bisherige bewußte oder unbewußte Voraussetzung – die Notwendigkeit oder Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Form der Produktion – fallen muß, um weiteren Fortschritt der Wissenschaft zu ermöglichen. Es ist der Punkt, von dem aus es rückwärts geht zur Vulgärökonomie, von deren Rückfall in den schlimmsten Fetischglauben Marx in dem Schlußkapitel eine glänzende Charakteristik gibt, oder vorwärts zum wissenschaftlichen Sozialismus.

Es ist eine prächtige Ironie. Da sind seit Erscheinen des ersten Bandes des Kapital die Versuche unermüdlich wiederholt worden, die Vorläufer Marxscher Gedankenarbeit zu entdecken. Eine ganze Literatur ist entstanden, und nun müssen all die gelehrten Herren erleben, daß sie auf falscher Spur waren, müssen erleben, daß erst in seinem posthumen Werke Marx ihnen den Weg weist, den er gegangen. Sie waren auf falscher Spur, denn die Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Sozialismus ist viel mehr die Entwicklung der Wissenschaft als die des Sozialismus. Deutsche Philosophie, französische Geschichtschreibung, englische Ökonomie – in ihren gesamten Ergebnissen angeeinigt und vereinigt unter dem unwiderstehlichen Drange – den großen Problemen, die die revolutionäre Epoche stellte, ihre wissenschachliche Lösung zu erringen – tantae molis erat, um das Fundament des wissenschaftlichen Sozialismus zu begründen. Ist’s da ein Wunder, daß es so unerschütterlich geblieben ist, daß nicht Neulegung, sondern nur Weiterbau die Aufgabe der Wissenschaft bleibt?

Mit einer Sorgfalt und Akkuratesse wie kein Denker vor ihm hat Marx die Geschichte seiner Vorgänger geschrieben. Ist das Werk auch Torso geblieben, so sind doch alle wesentlichen Momente der Entwicklung der Wissenschaft hervorgehoben. Auch von diesem historischen Werke gilt, was ein anderer großer Forscher und Historiker seiner Wissenschaft, was Ernst Mach in der Einleitung zur Mechanik als Grund seines Unternehmens anführt.

Wir wollen nun auf unsern Gegenstand näher eingehen und hierbei, ohne die Geschichte der Mechanik zur Hauptsache zu machen, die historische Entwickelung so weit beachten, als dies zum Verständniss der gegenwärtigen Gestaltung der Mechanik nöthig ist, und als den Zusammenhang in der Hauptsache nicht stört. Abgesehen davon, dass wir den grossen Anregungen nicht aus dem Wege gehen dürfen, die wir von den bedeutendsten Menschen aller Zeiten erhalten können, und die zusammengenommen auch ausgiebiger sind, als sie die besten Menschen der Gegenwart zu bieten vermögen, gibt es kein grossartigeres, ästhetisch erhebenderes Schauspiel, als die Aeusserungen der gewaltigen Geisteskraft der grundlegenden Forscher. Noch ohne alle Methode, welche ja durch ihre Arbeit erst geschaffen wird, und die ohne Eenntniss ihrer Leistung immer unverstanden bleibt, fassen sie und bezwingen sie ihren Stoff, und prägen ihm die begrifflichen Formen auf. Jeder, der den ganzen Verlauf der wissenschaftlichen Entwickelung kennt, wird natürlich viel freier und richtiger über die Bedeutung einer gegenärtigen wissenschaftlichen Bewegung denken als derjenige, welcher, in seinem Urtheil auf das von ihm selbst durchlebte Zeitelement beschränkt, nur die augenblickliche Bewegungsrichtung wahrnimmt. [25]

Aber die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft ist nicht stets zugleich die Geschichte der Bewußtseinsbildung des einzelnen Denkers. Das genauere Studium der Theorien läßt zweifellos erkennen, daß Marx viele Elemente seines Denkens bei seinen Vorgängern erst entdeckt hat, nachdem sein. System im ganzen vollendet war. Aber diese Einzelheiten sind höchstens von psychologischem oder philologischem Interesse. Denn welch gewaltige Leistung, der sich in der Geschichte aller Wissenschaft nur ganz wenige zur Seite stellen lassen, hat Marx vollbracht, auch wenn er die ganze akkumulierte Arbeit der vorausgegangenen Denkern den Dienst seiner Arbeitskraft gestellt hätte! Von Adam Smith sagt Jones die schönen Worte:

Nur diejenigen, die mit dem gewöhnlickchen Gang der Erkenntnis gänzlich unvertraut sind, können denken, es sei für den großen Denker herabsetzend, daß er nicht all das Licht selber schuf, das er verwandte; daß er die zitternden und unvollkommenen Strahlen, die im allgemeinen Fortschritt des Gedankens andere Intelligenzen entsendet hatten, sammelte und mit starker Kraft zu vollkommenem nicht vereinte; zu einem Licht, welches die Wege der Völker erhellt und nur verschwinden kann, wenn die aufgespeicherte Erkenntnis des Menschengeschlechts verschwindet. Denn dies ist die größe Aufgabe, die den großen Führern im Reiche der Wissenschaft von der Gesellschaft wie von der Natur zugewiesen ist, und ihre Vollendung ist es, die das Menschengeschlecht zu ihren immerwährenden Schuldnern macht.

Von Marx aber dürfen wir, jetzt, wo wir von ihm selbst erfahren haben, wie sein ökonomisches System das glänzende Ende einer glanzvollen Entwicklung geworden ist, sagen, daß er doch Größeres geleistet. Er hat nicht nur gesammelt und vereinigt, er hat die Intensität und das Feuer des Lichtes unendlich vermehrt. Er hat das Werk geleistet, das Hegel von dem „großen Manne“ verlangt. „Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit. Er tut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht sie.“ [Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz Nr. 186 zu 318].

So hat Marx das Versprechen erfüllt, das er in der Rheinischen Zeitung gegeben hat: die kommunistischen Ideen, denen er in ihrer damaligen Gestalt nicht einmal theoretische Wirklichkeit zugestehen konnte, einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Er hat das Versprechen erfüllt, getrieben von dem Willen zur Geistesmacht, durchdrungen von der „feste Überzeugung, daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, und seien es Versuche in Masse, kann man durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft.“ [26]

* * *

Fußnoten

1. Max Adler, Marx als Denker, Berlin: Buchhandlung Vorwärts, 1908, S. 12.

2. In seinem ausgezeichneten Aufsatz Marx und die Dialektik, abgedruckt als Anhang zu seiner Broschüre Marx als Denker (Berlin, „Vorwärts“ 1908), hat Max Adler die Ursache der Unklarheit über den Begriff Dialektik aufgedeckt, die darin besteht, daß bei Hegel zwei ganz verschiedene Dinge unter dem gleichen Namen der Dialektik einhergehen, einmal eine Art des Denkens, also eine Methode, und sodann eine Art des Seins, also eine Wesenbeschaffenheit. „Bezeichnen wir diese beiden Bedeutungen, die freilich infolge des Identitätsstandpunktes der Hegelschen Philosophie zusammenfließen mußten, mit besonderen Namen, nennen wir die Methode, also die Aufzeigung der Gegensätzlichkeit des Denkens im Ablauf seiner Inhalte, Dialektik, wie dies schon Hegel selber tat, dagegen die Gegensätzlichkeit des Seins im Ablauf seiner realen Vorgänge Antagonismus, so wird mit einem Male deutlich, welche völlig verschiedenen Dinge die Hegelsche Dialektik vereinen konnte, weil sie eben und vor allem nicht bloß Methode war.

Kritik und Überwindung Hegels für Marx bestand nun in der Zerreißung jenes mystischen Scheines, in welchem die Dialektik sich zugleich als Antagonismus darstellte, und dies geschah durch jene lichtvolle Einsicht, die den metaphysischen Charakter der Hegelschen Dialektik ebenso auflöste wie ihren methodischen bewahrte: daß nämlich die Selbstbewegung der logischen Kategorie nur die Bewegung des individuellen Denkens war, mit welchem dieses von einer Denkbestimmung zu einer anderen gelangte. Damit war die Mystifikation des Denkprozesses als schöpferischer Potenz beseitigt, das Denken als eine die Welt in sich erzeugende Bewegung, aber es blieb die tiefe Erkenntnis Hegels bestehen von dem Denken als einer eigenartigen Bewegung selbst. Das Denken nicht mehr als die äußerliche Verbindung von starren Begriffen, sondern als das Übergehen und Auseinanderhervorgehen aller seiner Bestimmungen, als eine Eigengesetzlichkeit gefaßt – das war der Kern der Dialektik, den Marx und Engels nicht wieder verloren gehen ließen“ (Max Adler, Marx als Denker, Berlin: Vorwärts, 1908, S. 86).

3. Man weiß, daß man im Denken von dem zusammengesetzten Konkreten zum einfachen Allgemeinen auf dem Wege der Abstraktion gelangt.

„Die maßgebende Rolle der Abstraktion bei der Forschung liegt auf der Hand. Es ist weder möglich, alle Einzelheiten einer Erscheinung zu beachten, noch hätte das einen gesunden Sinn. Wir beachten eben die Umstände, die für uns ein Interesse haben, und diejenigen, von welchen erstere abhängig zu sein scheinen. Die erste Aufgabe, die sich dem Forscher darbietet, ist es also, durch Vergleichung verschiedener Fälle die voneinander abhängigen Umstände in seinen Gedanken hervorzuheben und alles, wovon das Untersuchte unabhängig scheint, als für den vorliegenden Zweck nebensächlich oder gleichgültig auszusondern. In der Tat ergaben sich die wichtigsten Entdeckungen durch diesen Prozeß der Abstraktion. Dies hebt Apelt (Die Theorie der Induktion, Leipzig 1854) trefflich hervor, indem er sagt: ‚Das zusammengesetzte Besondere steht immer früher vor unserem Bewußtsein, als das einfachere Allgemeine. In den abgesonderten Besitz des letzteren kommt der Verstand immer erst durch Abstraktion. Die Abstraktion ist daher die Methode der Aufsuchung der Prinzipien.“ Ernst Mach, Erkenntnis und Irrtum: Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1905, S. 135.

Schon daraus geht hervor, wie falsch es ist, Deduktion und Induktion als gleichwertige Erkenntnisquellen einander gleichzusetzen. Vielmehr ist die Deduktion nur eine wissenschaftliche Darstellungsart, der aber im Geiste die Induktion bereits vorausgegangen sein muß, soll sie schließlich von dem Allgemeinen zur Darstellung des Besonderen wirklich gelangen können.

4. Vergl. dazu zum Beispiel folgende Stelle:

„Die Bestimmungen in der Entwicklung des Begriffs sind einerseits selbst Begriffe, andererseits, weil der Begriff wesentlich als Idee ist, sind sie in der Form des Daseins, und die Reihe der sich ergebenden Begriffe ist damit zugleich eine Reihe von Gestaltungen, so sind sie in der Wissenschaft zu betrachten.

„In spekulativerem Sinn ist die Weise des Daseins eines Begriffes und seine Bestimmtheit eins und dasselbe. Es ist aber zu bemerken, daß die Momente, deren Resultat eine weiter bestimmte Form ist, ihm als Begriffsbestimmungen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Idee vorangehen, aber nicht in der zeitlichen Entwicklung als Gestaltungen ihm vorausgehen. So hat die Idee, wie sie als Familie bestimmt ist, die Begriffsbestimmungen zur Voraussetzung, als deren Resultat sie im folgenden dargestellt werden wird. Aber daß diese inneren Voraussetzungen auch für sich schon als Gestaltungen, als Eigentumsrecht, Vertrag, Moralität usf. vorhanden seien, dies ist die andere Seite der Entwicklung, die nur in höher vollendeter Bildung es zu diesem eigentümlich gestalteten Dasein ihrer Momente gebracht hat.“ (Hegel, Rechtsphilosophie, § 82.)

Vergl. dazu auch den Zusatz zu diesem Paragraphen Laffensche Ausgabe (Philosophische Bibliothek, 124. Band), S. 294: [Zusatz. §32]:

„Die Idee muß sich immer weiter in sich bestimmen, da sie im Anfang nur erst abstrakter Begriff ist. Dieser anfängliche abstrakte Begriff wird aber nie aufgegeben, sondern er wird nur immer in sich reicher, und die letzte Bestimmung ist somit die reichste ... Wir wollen nur zusehen, wie sich der Begriff selbst bestimmt, und tun uns die Gewalt an, nichts von unserem Meinen und Denken hinzuzugeben. Was wir auf diese Weise erhalten, ist aber eine Reihe von Gedanken und eine andere Reihe daseiender Gestalten, bei denen es sich fügen kann, daß die Ordnung der Zeit in der wirklichen Erscheinung zum Teil anders ist als die Ordnung des Begriffes. So kann man z. B. nicht sagen, daß das Eigentum vor der Familie dagewesen sei, und trotzdem wird es vor derselben abgehandelt. Man könnte hier also die Frage aufwerfen, warum wir nicht mit dem Höchsten, das heißt mit dem konkret ((86)) Wahren beginnen. Die Antwort wird sein, weil wir eben das Wahre in Form eines Resultates sehen wollen und dazu wesentlich gehört, zuerst den abstrakten Begriff selbst zu begreifen. Das, was wirklich ist, die Gestalt des Begriffes, ist uns somit erst das Folgende und Weitere, wenn es auch in der Wirklichkeit selbst das erste wäre. Unser Fortgang ist der, daß die abstrakten Formen sich nicht als für sich bestehend, sondern als unwahre aufweisen.“ [Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) Einleitung].

Damit parallelisiere man auch die berühmte Darlegung seiner Methode, die Marx in der zweiten Vorrede zum Kapital gibt.

5. Liest es sich doch wie eine direkte Abweisung jedes Utopismus, wenn Hegel sagt: „Es ist eben diese Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit, welche die Mißverständnisse betreffen, und ich kehre hiermit zu dem zurück, was ich vorhin bemerkt habe, daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiß wo sein sollte – oder von dem man in der Tat wohl zu sagen weiß, wo es ist, nämlich in dem Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonierens“ (Rechtsphilosophie, Vorrede). Denn „wie der Empirismus, erkennt auch die Philosophie nur das, was ist; sie weiß nicht solches, was nur sein soll und somit nicht da ist“ (Enzyklopädie, § 38). Es ist überhaupt ein Vermächtnis des Hegelschen Geistes, dem nichts verhaßter war als die fertigen Puffrezepte des Seinsollens, was Marx von Anfang an gegen alle Versuchungen des utopischen Sozialismus geschützt hat.

6. Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihre geschichtlichen Entwicklung, 5. Auflage, 1892, I, 1, S. 11.

7. Um das Gemeinsame verschiedener Erscheinungen zusammenzufassen, also „ökonomisch“ zu denken, bedient sich das Denken der Abstraktion. „Die Produktion im allgemeinen ist eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion, sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert und uns daher die Wiederholung erspart.“ Marx, Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie])

8. Kritik der politischen Ökonomie, 2, Auflage, S. 42, und Theorien über den Mehrwert, S. 126 ff.

9. Daher auch die völlige Verschiedenheit der Geschichte der Kapitalzinstheorien Böhm-Bawerks von der marxschen Darstellung. Böhm-Bawerk erscheint gerade das bedeutsam, was Marx als unwissenschaftlich verwirft.

10. Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihre geschichtlichen Entwicklung, 5. Auflage, 1892, I, 1, S. 17–19.

11. Vergl. die Besprechung der beiden vorhergehenden Bände durch Heinrich Cunow, Theorien über den Mehrwert, Die neue Zeit, 23. 1. Bd. (1905),17, 19, S. 497–506, 547–555, 617–624, und durch Gustav Eckstein, Marx’ Kritik Ricardos, Die neue Zeit, 24. 2. Bd.(1906), H. 34, S. 245–252, H. 36, S. 321–332.

12. Es ist der anonyme Verfasser von An Inquiry into those principles respecting the nature of demand and the necessity of consumption lately advocated by Mr. Malthus, London, 1821. Attributed to Samuel Bailey.

13. [See Rudolf Hilferding, Zur Theorie der Kombination, Die Neue Zeit, 30. 1911–1912, 1. Bd. (1912), H. 16, S. 550–557.]

14. Dies tut auch John Kells Ingram in seiner Geschichte der Volkswirtschachslehre. Tübingen 1905, 2. Auflage, S. 180 ff. Es ist bezeichnend, daß Böhm-Bawerk von Jones in seiner Geschichte der Kapitalzinstheorien nur zu sagen weiß, dak er „nichts Belangreiches über unseren Gegenstand“ bringt. (2. Auflage, S. 121)

15. Vergleiche darüber in den Literary Remains etc. die Lectures on Population und A Short Tract of Political Economy etc., namentlich S. 248 ff.

16. A Short Tract of Political Economy etc., Literary remains, S. 223 ff. Marx’ Bemerkung (S. 482), daß Jones die Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln nicht dargestellt hat, trifft also nicht ganz zu; allerdings ist Jones’ Darstellung ungenügend. Marx scheint die hier zitierte, 1859 veröffentlichte Abhandlung nicht gekannt zu haben, wenigstens noch nicht zu der Zeit, als er über Jones schrieb (1862).

17. Lectures on Labour and Capital, Literary Remains, S. 54.

18. Ebenda, S. 60

19. S. 85.

20. S. 138.

21. Loc. cit., S. 407.

22. A Short Tract of Political Economy etc., Literary remains, S. 222.

23. Ebenda, S. 233.

24. „Es ist also gar nicht zu verkennen, wie die Abhebung seiner eigenen Grundanschauung vom utopistischen Sozialismus für Marx ganz und gar nur durch jenes Denkelement möglich wurde, in welchem die Theorie nicht anders denn als unmittelbar gewußte geschichtliche Notwendigkeit zur Erfassung kam, als zum Selbstbewußtsein gewordene Gesetzmäßigkeit, als erlebte und verstandene Kausalität. Man hat das noch keineswegs sich ganz klar gemacht und läuft daher Gefahr, den von Marx so lebendig gefühlten und begrittfflich scharf herausarbeiteten Unterschied seines Sozialismus zu jedem Utopismus wieder zu verwischen. Denn nicht das trennt den modernen Sozialismus vom Utopismus, was man gewöhnlich als das unterscheidende Merkmal hervorhebt, daß nämlich seine politische Aktion, also seine soziale Praxis von wissenschaftlicher Erkenntnis geleitet wird; denn auch die Utopisten wollten die Welt durch die Wissenschaft umändern, und das gerade war die Utopie. Sondern daß diese theoretische Leitung der sozialen Praxis nur die Systematisierung der im sozialen Entwicklungsprozeß selbst vorhandenen Tendenzen ist, daß diese Wissenschaft, welche den modernen Sozialismus durchleuchtet, nichts anderes ist als die reale Massenbewegung selbst, nur auf einen begrifflichen Ausdruck gebracht, das macht den wesentlichen Unterschied aus. Die Wissenschaft des Utopismus war das System der vernünftigen Willensbestrebungen einzelner großer Geister, die Wissenschaft des modernen Sozialismus dagegen ist nichts anderes als das bloß im Denken entfaltete System der sozialen Wollungen selbst.“ (Max Adler, Marx als Denker, Berlin 1908, Vorwärts)

25. Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch Dargestellt, dritte verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1897, pp. 6–7.

26. Karl Marx, Der Kommunismus und die Augsburger Allgemeine Zeitung, Rheinische Zeitung, Nr. 289 (16. Oktober 1842), in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956, Band 1, p. 105.


Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2023