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Der fünfte Absatz des Erfurter Programms lautet:
„Das Privateigentum an Produktionsmitteln, welches ehedem das Mittel war, dem Produzenten das Eigentum an seinem Produkt zu sichern, ist heute zum Mittel geworden, Bauern, Handwerker und Kleinhändler zu expropriieren und die Nichtarbeiter – Kapitalisten, Großgrundbesitzer – in den Besitz des Produkts der Arbeiter zu setzen. Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln – Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.“
Wie dieser Absatz zu verstehen ist, das wird nach dem bisher Ausgeführten unschwer zu erkennen sein.
Die Produktivkräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigentumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigentumsordnung aufrechterhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurteilen, aber zur Verwesung bei lebendigem Leib, zu einer Verwesung, die von den qualvollsten krampfhaften Zuckungen begleitet ist.
Jede weitere Vervollkommnung der Produktivkräfte steigert den Widerspruch zwischen ihnen und der bestehenden Eigentumsordnung. Alle Versuche, diesen Widerspruch aufzuheben oder auch nur zu mildern, ohne das Eigentum anzutasten, haben sich als vergeblich erwiesen und müssen sich als vergeblich erweisen.
Seit einem Jahrhundert bemühen sich die Denker und Politiker der besitzenden Klassen, dem drohenden Umsturz – der Revolution – des Privateigentums an den Produktionsmitteln vorzubeugen durch soziale Reformen, wie sie alle jene Eingriffe in das wirtschaftliche Getriebe nennen, welche bestimmt sind, die eine oder die andere Wirkung dieses Privateigentums aufzuheben oder wenigstens zu mildern, ohne es selbst anzutasten. Seit einem Jahrhundert sind die verschiedensten Mittel zu diesem Zwecke angepriesen und erprobt worden; es ist kaum noch möglich, etwas Neues auf diesem Gebiete zu ersinnen. Alle die „allerneuesten“ Vorschläge unserer Sozialquacksalber, die schmerzlos und kostenlos binnen wenigen Tagen die veraltetsten Übel heilen sollen, entpuppen sich, bei Lichte besehen, als Wiederaufwärmungen recht alter Erfindungen, die anderswo und zu anderen Zeiten bereits versucht worden sind und ihre Unwirksamkeit ausreichend dargetan haben.
Man mißverstehe uns nicht. Wir erklären die sozialen Reformen für unwirksam, insofern sie die Aufgabe haben, den im Laufe der ökonomischen Entwicklung stets wachsenden Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der bestehenden Eigentumsordnung zu beseitigen und gleichzeitig die letztere zu erhalten und zu stärken. Aber wir wollen damit weder sagen, daß die soziale Revolution, die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sich von selbst machen, daß die unwiderstehliche, naturnotwendige Entwicklung dies ohne menschliches Zutun besorgen werde, noch auch, daß alle sozialen Reformen unnützes Zeug seien, daß denjenigen, die unter dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Eigentumsordnung und seinen Folgeerscheinungen leiden, nichts übrigbleibe, als tatlos die Hände in den Schoß zu legen und ergeben zu warten, bis er überwunden worden.
Wenn man von der Unwiderstehlichkeit und Naturnotwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung spricht, so setzt man selbstverständlich dabei voraus, daß die Menschen Menschen sind und nicht tote Puppen; Menschen mit bestimmten Bedürfnissen und Leidenschaften, mit bestimmten körperlichen und geistigen Kräften, die sie zu ihrem Besten zu verwenden suchen. Tatlose Ergebung in das anscheinend Unvermeidliche heißt nicht, der gesellschaftlichen Entwicklung ihren Lauf lassen, sondern sie zum Stillstand bringen.
Wenn wir die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln für unvermeidlich halten, so meinen wir damit nicht, daß den Ausgebeuteten eines schönen Tages ohne ihr Zutun die gebratenen Tauben der sozialen Revolution in den Mund fliegen werden. Wir halten den Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft für unvermeidlich, weil wir wissen, daß die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit Zustände erzeugt, welche die Ausgebeuteten zwingen, gegen dies Privateigentum anzukämpfen; daß sie die Zahl und Kraft der Ausgebeuteten vermehrt und die Zahl und Kraft der Ausbeuter vermindert, die an dem Bestehenden festhalten; daß sie endlich zu unerträglichen Zuständen für die Masse der Bevölkerung führt, welche dieser nur die Wahl lassen zwischen tatlosem Verkommen oder tatkräftigem Umsturz der bestehenden Eigentumsordnung.
Ein solcher Umsturz kann die mannigfaltigsten Formen annehmen, je nach den Verhältnissen, unter denen er sich vollzieht. Er muß keineswegs notwendig mit Gewalttätigkeiten und Blutvergießen verknüpft sein. Es hat bereits Fälle in der Weltgeschichte gegeben, wo die herrschenden Klassen besonders einsichtig oder – besonders schwach und feig waren, so daß sie angesichts einer Zwangslage freiwillig abdankten. Eine soziale Revolution braucht auch nicht mit einem Schlage entschieden zu werden. Es dürfte dies sogar kaum je der Fall gewesen sein. Revolutionen bereiten sich in jahre- und jahrzehntelangen politischen und wirtschaftlichen Kämpfen vor und vollziehen sich unter stetem Wechseln und Schwanken der Machtverhältnisse der einzelnen Klassen und Parteien, oft von lange dauernden Rückschlägen (Reaktionszeiten) unterbrochen.
Aber wie mannigfaltig auch die Formen sind, die eine Revolution annehmen kann, unmerklich und ohne tatkräftiges Eintreten der von den herrschenden Zuständen am meisten Bedrückten ist noch nie eine soziale Revolution vor sich gegangen.
Wenn wir ferner die sozialen Reformen, die vor dem Privateigentum haltmachen, für unfähig erklären, die Widersprüche aufzuheben, welche die jetzige ökonomische Entwicklung hervorbringt, so wollen wir damit keineswegs sagen, daß für die Ausgebeuteten im Rahmen der bestehenden Eigentumsordnung jedes Ankämpfen gegen die Leiden, die sie zu erdulden haben, unmöglich sei, daß sie sich geduldig in alle Mißhandlungen, alle Formen der Ausbeutung fügen sollen, welche die kapitalistische Produktionsweise über sie verhängt, daß, solange sie überhaupt ausgebeutet werden, es gleichgültig sei, in welcher Weise dies geschehe. Wir wollen damit nur sagen, sie sollen die sozialen Reformen nicht überschätzen und nicht glauben, dadurch könnten die bestehenden Verhältnisse für sie befriedigend gestaltet werden. Und sie sollen die sozialen Reformen genau ansehen, die ihnen geboten werden und für die sie eintreten. Neun Zehntel der Reformvorschläge sind nicht nur unnütz, sondern direkt schädlich für die Ausgebeuteten; am schlimmsten sind diejenigen Vorschläge, die, um die bedrohte Eigentumsordnung zu retten, die Produktivkräfte ihr anpassen, die ökonomische Entwicklung der letzten Jahrhunderte ungeschehen machen wollen. Die Ausgebeuteten, die dafür eintreten, vergeuden ihre Kräfte in dem unsinnigen Bestreben, das Tote lebendig zu machen.
Die ökonomische Entwicklung ist in mannigfacher Weise zu beeinflussen; man kann sie beschleunigen und verlangsamen, man kann ihre Wirkungen abschwächen und verstärken, sie schmerzloser und schmerzensreicher gestalten, je nach der Einsicht und der gesellschaftlichen Macht, die man besitzt. Aber eines kann man nicht: sie zum Stillstand oder gar zur Umkehr bringen. Die Erfahrung lehrt vielmehr, daß alle Mittel, die sie hemmen sollen, sich unwirksam erweisen oder gar die Leiden vermehren, zu deren Beseitigung sie dienen sollen, indes jene Mittel, welche wirklich geeignet sind, einem oder dem anderen der bestehenden Mißstände mehr oder weniger abzuhelfen, auch dahin wirken, den Lauf der ökonomischen Entwicklung zu beschleunigen.
Wenn z. B. die Handwerker das Zunftwesen wiederherstellen wollen, um mit dessen Hilfe das Handwerk zu heben, so ist dies Streben völlig erfolglos und muß es sein, denn es steht im Widerspruch mit den Bedürfnissen der modernen Produktivkräfte, der Großindustrie. Diese müßte zuerst beseitigt, der ganze technische Fortschritt der neueren Zeit ungeschehen gemacht werden, sollte das Zunftwesen gedeihen können. Das ist platterdings unmöglich. Die Zünftlerei hat daher heute nur den Zweck, Kraft, Geld und politischen Einfluß der Handwerker reaktionären Parteien zur Verfügung zu stellen, die sie zum Schaden, nicht zum Vorteil der „kleinen Leute“, z. B. zur Verteuerung des Brotes, Erhöhung der Steuern und Militärlasten und dergleichen ausnützen.
Diejenigen Mittel aber, welche die Handwerker unter Umständen mit Vorteil benützen können, um ihre Lage zu verbessern, sind nur solche, die ihnen ermöglichen, ihre Betriebe zu erweitern, zur Massenproduktion überzugehen, kleine Kapitalisten zu werden. Derartige Mittel, wie Genossenschaften der verschiedensten Art, Einführung billiger Motoren usw., können wohl den Begüterteren unter den Handwerkern helfen, aber nur dadurch, daß sie ihnen ermöglichen, den Kleinbetrieb zu verlassen. Die weniger Begüterten, die sich nicht Motoren anschaffen können, keinen Kredit haben usw., gehen dann um so schneller zugrunde. Diese Mittel nützen also wohl verschiedenen Handwerkern, retten aber nicht das Handwerk, beschleunigen vielmehr dessen Untergang.
Auch die Lohnarbeiter wollten anfangs die Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie aufhalten. Sie zertrümmerten neue Maschinen, wehrten sich gegen die Einführung der Frauenarbeit und dergleichen. Aber früher als die Handwerker haben sie einsehen gelernt, wie töricht ein solches Vorgehen ist. Sie haben andere, erfolgreichere Mittel gefunden, die schädlichen Wirkungen der kapitalistischen Ausbeutung so weit als möglich abzuwehren, durch ihre ökonomischen Organisationen (Gewerkschaften) und durch ihre politische Tätigkeit, die beide einander ergänzen und wodurch sie in den verschiedenen Staaten mehr oder weniger größere Erfolge erzielt haben. Aber jeder dieser Erfolge, bestehe er in einer Lohnerhöhung, einer Verkürzung der Arbeitszeit, einem Verbot der Arbeit zu junger Kinder, der Forderung gesundheitlicher Vorkehrungen usw., bildet einen neuen Anstoß für die ökonomische Entwicklung, indem er z. B. die Kapitalisten veranlaßt, die verteuerten Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen, oder indem er Mehrausgaben nötig macht, welche die kleinen Kapitalisten mehr belasten als die großen und dadurch den ersteren den Konkurrenzkampf erschweren usw.
So gerechtfertigt, ja notwendig es also ist, wenn z. B. die einzelnen Handwerker etwa durch Einführung von kleinen Motoren ihre Lage zu verbessern suchen oder wenn die Arbeiter Organisationen gründen oder gesetzliche Einrichtungen anstreben, die ihnen eine Verkürzung der Arbeitszeit, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und sonstige Erleichterungen bringen, so wäre es doch verkehrt, zu glauben, daß solche Reformen die soziale Revolution aufhalten könnten; und ebenso verkehrt ist die Annahme, daß man die Nützlichkeit gewisser sozialer Reformen nicht anerkennen könne, ohne damit auch zuzugestehen, daß es möglich sei, die Gesellschaft auf ihren bisherigen Grundlagen zu erhalten. Man kann im Gegenteil für diese Reformen auch vom revolutionären Standpunkt eintreten, weil sie den Lauf der Dinge beschleunigen, wie wir gesehen, und weil sie, weit entfernt, die selbstmörderischen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise aufzuheben, die wir in den vorhergehenden Kapiteln geschildert, diese vielmehr verstärken.
Die Proletarisierung der Volksmassen, die Vereinigung des gesamten Kapitals in den Händen einiger weniger, die das ganze wirtschaftliche Leben der kapitalistischen Nationen beherrschen, die chronische Überproduktion, die Krisen, die Unsicherheit der Existenz, alle diese quälenden und empörenden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise sind in ihrer steten Zunahme durch keine Reformen auf dem Boden der heutigen Eigentumsordnung zu hemmen, und seien diese noch so weitgehend.
Es gibt keine Partei, und sei es die verbohrteste und aufs ängstlichste am Hergebrachten hängende, die nicht eine Ahnung davon hätte. Sie preisen alle noch ihre besonderen Reformen als Mittel an, dem großen Zusammenbruch vorzubeugen, aber keine von ihnen hat mehr den rechten Glauben an ihre Wunderrezepte.
Es nützt kein Drehen und kein Wenden. Die rechtliche Grundlage der heutigen Produktionsweise, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wird immer unvereinbarer mit der Natur der Produktionsmittel, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen. Der Untergang dieses Privateigentums ist nur noch eine Frage der Zeit. Er kommt sicher, wenn auch niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wann und in welcher Weise er eintreten wird.
Die Frage ist in Wahrheit nicht mehr die, ob und wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu erhalten sei, sondern die, was an seine Stelle treten solle oder vielmehr müsse, denn es handelt sich hier nicht um etwas willkürlich zu Erfindendes, sondern um etwas naturnotwendig Gebotenes. Es liegt ebensowenig in unserem freien Ermessen, welche Eigentumsordnung wir anstelle der bestehenden setzen, als es uns freisteht, ob wir diese beibehalten oder über Bord werfen wollen.
Dieselbe ökonomische Entwicklung, welche zur Frage drängt: was soll anstelle des Privateigentums an den Produktionsmitteln gesetzt werden?, bringt auch die Vorbedingungen zur Beantwortung dieser Frage hervor. Im Schoße des alten schlummert bereits das neue Eigentum. Um dieses kennenzulernen, haben wir uns nicht an unsere so verschiedenen persönlichen Neigungen und Wünsche, sondern an die vor uns liegenden Tatsachen zu halten, die für alle dieselben sind.
Wer die heutigen Produktionsbedingungen kennt, der weiß auch, welche Eigentumsform sie erfordern, sobald die bestehende unmöglich geworden ist. Wir bitten demnach unsere Leser, sich auch im Folgenden, das von der Zukunft handelt, das vor Augen zu halten, was wir von der bestehenden Produktionsweise in Gegenwart und Vergangenheit gesagt.
Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurzelt, wie wir wissen, im Kleinbetrieb. Die Einzelproduktion macht auch das Einzeleigentum notwendig. Der Großbetrieb dagegen bedeutet genossenschaftliche, gesellschaftliche Produktion. Im Großbetrieb arbeitet nicht jeder Arbeiter für sich, sondern eine größere Menge von Arbeitern, eine ganze Gesellschaft, wirkt zusammen, um etwas Ganzes zu schaffen. Und die Produktionsmittel der modernen Großindustrie sind ausgedehnt und gewaltig. Es ist da gar nicht möglich, daß jeder einzelne Arbeiter seine Produktionsmittel für sich besitze. Der Großbetrieb auf der Stufe der heutigen Technik läßt also nur zwei Eigentumsformen zu: entweder das Privateigentum eines einzelnen an den Produktionsmitteln der Genossenschaft von Arbeitern; das bedeutet die heute herrschende kapitalistische Produktionsweise, mit ihrem Gefolge von Elend und Ausbeutung auf selten der Arbeiter und erstickendem Überfluß auf Seiten der Kapitalisten. Außerdem ist nur noch möglich das Gemeineigentum aller Arbeiter an den gemeinsamen Produktionsmitteln; das bedeutet die genossenschaftliche Produktionsweise, bedeutet das Aufhören der Ausbeutung der Arbeiter, die Herrn über ihre eigenen Produkte werden und denen nun der Überschuß (Mehrwert) zufällt, den bisher der Kapitalist sich angeeignet.
Anstelle des Privateigentums an den Produktionsmitteln das genossenschaftliche Eigentum zu setzen, das ist es, was die ökonomische Entwicklung immer dringender notwendig macht.
Diese Überzeugung von der Notwendigkeit des genossenschaftlichen Eigentums hegt nicht bloß die Sozialdemokratie. Sie wird geteilt auch von den Anarchisten und - den Liberalen. Freilich wollen die letzteren nur solche Wege zu diesem Ziel gelten lassen, die nie zu seiner Erreichung führen können. Die Arbeiter auf ihre Spargroschen zur Errichtung von Großbetrieben verweisen, heißt, sie narren, nicht ihnen raten oder gar helfen.
Doch hier haben wir es vorläufig nicht mit dem Weg dahin zu tun; mit dem werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen; hier handelt es sich um die näheren Bestimmungen des genossenschaftlichen Eigentums.
Am einfachsten ist es, wenn man erklärt, jeder einzelne kapitalistische Betrieb solle in eine Genossenschaft umgewandelt werden. Die Arbeiter desselben seien zugleich dessen Besitzer. Sonst ändere sich nichts, die Warenproduktion dauere fort; jeder einzelne Betrieb sei völlig unabhängig von den anderen und produziere für den Markt zum Verkauf.
Um sich eine solche Produktionsweise vorzustellen, dazu gehört allerdings nicht allzuviel Phantasie. Sie ist der heutigen so ähnlich als nur möglich. Sie ist das Ideal, das Vorbild der Anarchisten und Liberalen. Die beiden unterscheiden sich bloß durch den Weg dahin. Erstere wollen, daß in einer allgemeinen Revolution die Arbeiter sich der verschiedenen Betriebe bemächtigen, letztere raten den schon oben mitgeteilten Weg des Sparens an.
Sehen wir nun zu, was bei dieser Lösung herauskommt.
Sie läuft darauf hinaus, den Arbeiter zum Unternehmer zu machen – nicht zum Kapitalisten, denn es gibt keine Kapitalisten mehr, wenn die Arbeiter sämtlich im Besitz ihrer Produktionsmittel sind. Die Arbeiter entgehen durch diese Lösung den Mißständen, welche die kapitalistische Ausbeutung für sie mit sich bringt, aber die Gefahren, die heute jeden selbständigen Unternehmer bedrohen, bleiben bestehen: Konkurrenz, Überproduktion, Krisen, Bankerotte sind keineswegs aus der Welt geschafft. Die besser gestellten Unternehmungen werden nach wie vor die schlechter gestellten vom Markte drängen und schließlich ruinieren. Auch wenn die einzelnen Unternehmungen eines Industriezweigs sich kartellieren, so ändert das nichts an der Entwicklung. Wir brauchen bloß auf unsere Ausführungen im vorigen Kapitel zu verweisen, um das klarzumachen.
So wie heute kapitalistische Unternehmungen zugrunde gehen, werden dann genossenschaftliche Unternehmungen bankerott werden. Deren Arbeiter verlieren dadurch ihre Produktionsmittel und werden wieder – Proletarier, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um weiterleben zu können. Die Arbeiter in den glücklicheren Genossenschaften werden es dann vorteilhafter finden, Lohnarbeiter einzustellen, anstatt selbst zu arbeiten, sie werden zu Ausbeutern werden, zu – Kapitalisten, und das Ende vom Lied wird sein, daß wir nach einiger Zeit wieder den alten Zustand haben, die alte kapitalistische Produktionsweise.
Die Warenproduktion und das Privateigentum an den Produktionsmitteln hängen auf das innigste miteinander zusammen. Die Warenproduktion setzt dies Privateigentum voraus, sie vereitelt jeden Versuch, es zu beseitigen.
Unier der Herrschaft der Warenproduktion nimmt der Großbetrieb notwendigerweise die kapitalistische Form an; die genossenschaftliche Form kann da nur unvollkommen und vereinzelt vorkommen, aber nie zur herrschenden Form werden.
Wem es also ernst ist damit, das genossenschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln anstelle des kapitalistischen zu setzen, der muß einen Schritt weiter gehen, als Liberale und Anarchisten gehen wollen, zur Aufhebung der Warenproduktion.
Die Aufhebung der Warenproduktion heißt Ersetzung der Produktion für den Verkauf durch Produktion für den Selbstbedarf.
Die Produktion für den Selbstbedarf kann wieder zweierlei Formen annehmen: die Produktion des einzelnen zur Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse und die Produktion einer Gesellschaft oder Genossenschaft zur Deckung ihres eigenen Bedarfs, beziehungsweise des Bedarfs ihrer Mitglieder.
Die erstere Art der Produktion ist niemals eine allgemeine Form der Produktion gewesen. Der Mensch war immer, soweit wir seine Spuren verfolgen können, ein gesellschaftliches Wesen; der einzelne sah sich stets zur Deckung einer Reihe seiner wichtigsten Bedürfnisse darauf angewiesen, daß er mit anderen zusammenarbeitete, daß andere für ihn arbeiteten, was aber in der Regel auch bedingte, daß er für andere arbeitete. Die Produktion des einzelnen für sich selbst hat stets nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Heute ist sie kaum nennenswert.
Die genossenschaftliche Produktion für den Selbstgebrauch war die herrschende Form der Produktion, solange die Warenproduktion sich nicht entwickelt hatte. Sie ist so alt wie das Produzieren überhaupt. Wenn man annehmen wollte, daß irgendeine Produktionsweise der menschlichen Natur besonders entspräche, dann müßte man diese Art der Produktion für die natürliche erklären. Sie zählt vielleicht ebensoviele Zehntausende von Jahren als die Warenproduktion Jahrtausende. Mit der Art der Produktionsmittel und der Produktionsweise wechselten Wesen, Umfang und Befugnisse der produzierenden Genossenschaft; aber ob diese eine Horde war oder eine Gens, eine Markgenossenschaft oder eine Hausgenossenschaft (eine große Bauernfamilie), eine Reihe wesentlicher Grundzüge hatten sie alle gemein. Eine jede deckte alle ihre Bedürfnisse (oder wenigstens alle notwendigen und wesentlichen) durch die Ergebnisse der eigenen Produktion. Die Produktionsmittel waren Eigentum der Genossenschaft. Die Genossen arbeiteten zusammen als Gleiche und Freie nach dem Herkommen oder einem Plane, den sie selbst entworfen hatten, unter einer von ihnen selbstgewählten und ihnen verantwortlichen Verwaltung. Das Produkt der genossenschaftlichen Arbeit gehörte der Genossenschaft, die es teils zur Deckung gemeinsamer Bedürfnisse (der Konsumtion oder Produktion) verwandte, teils nach dem Herkommen oder einem von der Gesamtheit bestimmten Maßstabe an die einzelnen Personen oder Gruppen verteilte, aus denen die Genossenschaft bestand.
Der Wohlstand einer derartigen sich selbst genügenden Genossenschaft hing ab von natürlichen und persönlichen Verhältnissen. Je fruchtbarer das Gebiet, das sie bewohnte, je emsiger, erfindungsreicher und kraftvoller ihre Mitglieder, um so größer und gesicherter war der allgemeine Wohlstand. Seuchen, Überschwemmungen, die Einfälle überlegener Feinde konnten sie bedrängen, mitunter vernichten, aber eines berührte sie nicht: die Schwankungen des Marktes. Sie kannte einen solchen entweder gar nicht oder doch nur für Gegenstände des Überflusses.
Eine derartige genossenschaftliche Produktion für den Selbstbedarf ist nichts anderes als eine kommunistische oder, wie man heute sagt, sozialistische Produktion. Nur durch eine Produktionsweise dieser Art ist die Warenproduktion zu überwinden; sie ist die einzig mögliche Form der Produktion, wenn die Warenproduktion unmöglich geworden.
Aber damit ist nicht etwa gesagt, daß es jetzt gilt, Totes lebendig zu machen und die alten Formen des Gemeinbesitzes und genossenschaftlicher Produktion wieder zu erwecken. Diese Formen entsprachen bestimmten Produktionsmitteln; sie waren und sind unvereinbar mit höher entwickelten Produktionsmitteln, darum verschwinden sie überall im Laufe der ökonomischen Entwicklung vor der aufkommenden Warenproduktion, und wo sie deren Andringen noch Widerstand leisten, bilden sie ein Hindernis der Entfaltung der Produktivkräfte. Ebenso reaktionär und aussichtslos als etwa die Innungsbestrebungen wären Versuche, die Warenproduktion zu überwinden durch Erhaltung und Neubelebung der Reste des alten Kommunismus, die sich namentlich in rückständigen bäuerlichen Gemeinwesen noch erhalten haben.
Die sozialistische Produktion, die heute notwendig geworden ist durch den heranrückenden Bankerott der Warenproduktion, wird und muß mit den älteren Formen kommunistischer Produktion eine Reihe von Grundzügen gemein haben, insofern jene wie diese Arten derselben genossenschaftlichen Produktion für den Selbstbedarf sind. Aber ebenso weist die kapitalistische Produktion gleichartige Grundzüge mit der handwerksmäßigen Produktion auf, insofern sie beide Warenproduktion sind. Wie trotzdem die kapitalistische Produktion als höhere Stufe der Warenproduktion ganz verschieden ist von der handwerksmäßigen, so wird die jetzt notwendig gewordene Form genossenschaftlicher Produktion ganz verschieden sein von den früheren Formen derselben.
Nicht an den urwüchsigen Kommunismus wird die kommende sozialistische Produktionsweise anknüpfen, sondern an die kapitalistische Produktion, die selbst die Elemente entwickelt, aus denen ihre Nachfolgerin sich bilden wird. Sie selbst erzeugt, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die neuen Menschen, deren die neue Produktionsweise bedarf. Sie erzeugt aber auch die gesellschaftlichen Organisationen, welche, sobald die neuen Menschen sich ihrer bemächtigt haben, die Grundlagen der neuen Produktionsweise bilden werden.
Was die sozialistische Produktionsweise erfordert, ist einesteils die Verwandlung der einzelnen kapitalistischen Unternehmungen in genossenschaftliche. Dies wird vorbereitet dadurch, daß, wie wir gesehen, die Personen der Kapitalisten im wirtschaftlichen Getriebe immer überflüssiger werden. Auf der andern Seite aber verlangt die sozialistische Produktionsweise die Zusammenfassung aller der Betriebe, die nach dem gegebenen Stande der Produktion zur Befriedigung der wesentlichen Bedürfnisse einer Gesellschaft benötigt sind, zu einer einzigen großen Genossenschaft. Wie die ökonomische Entwicklung dies heute schon vorbereitet durch die zunehmende Vereinigung der kapitalistischen Unternehmungen in den Händen einiger weniger Firmen, haben wir im vorigen Kapitel gesehen.
Wie groß muß aber eine solche sich selbst genügende Genossenschaft sein? Wie die sozialistische Genossenschaft überhaupt nicht ein willkürliches Hirngespinst ist, sondern ein notwendiges Produkt der ökonomischen Entwicklung, das jeder um so klarer erkennt, je besser er diese versteht, so ist auch die Größe dieser Genossenschaft nicht eine beliebige, sondern eine durch den jeweiligen Stand der Entwicklung bestimmte. Je weiter diese fortschreitet, je größer die Arbeitsteilung, je entwickelter der Verkehr, um so umfangreicher wird sie werden müssen.
Es werden bald zweihundert Jahre her sein, daß ein wohlmeinender Engländer Namens John Bellers dem englischen Parlament einen Vorschlag unterbreitete (1696), das Elend zu beseitigen, welches damals schon die kapitalistische Produktionsweise, so jung sie noch war, verbreitete. Er beantragte, Genossenschaften zu gründen, die alles erzeugten, was sie selbst brauchten, industrielle wie landwirtschaftliche Produkte. Jede Genossenschaft erforderte nach seiner Berechnung nicht mehr als 200 bis 300 Arbeiter.
Das Handwerk war damals noch in der Industrie die vorherrschende Produktionsform. Daneben herrschte die kapitalistische Manufaktur. Von der kapitalistischen Fabrik mit Maschinenbetrieb war noch keine Rede.
Ein Jahrhundert später wurde derselbe Gedanke, erheblich vertieft und vervollkommt, von den sozialistischen Denkern wieder aufgenommen. Aber bereits waren die Anfänge des Fabriksystems merkbar geworden, das Handwerk ging hie und da dem Untergang entgegen, das ganze gesellschaftliche Leben war auf eine höhere Stufe gelangt. Die sich selbstgenügenden Genossenschaften, welche die Sozialisten zu Anfang unseres Jahrhunderts zur Beseitigung der Mißstände der kapitalistischen Produktionsweise forderten, waren bereits zehnmal größer als die von Bellers vorgeschlagenen (so z. B. die Phalanstères Fouriers).
Aber so großartig auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit Fouriers im Vergleich zu denen der Zeit Bellers’ waren, ein Menschenalter später erschienen sie bereits kleinlich. In unaufhaltsamem Siegeszug wälzte die Maschine das ganze wirtschaftliche Leben um. Sie hat die kapitalistischen Unternehmungen immer umfangreicher gemacht, so daß einzelne derselben bald ganze Staaten in ihrem Wirken umfaßten; sie hat auch die verschiedenen Unternehmungen eines Landes in immer größere Abhängigkeit voneinander gebracht, so daß sie wirtschaftlich nur noch einen Betrieb bilden; sie strebt immer mehr darnach, das ganze wirtschaftliche Leben der kapitalistischen Nationen in einem einzigen wirtschaftlichen Getriebe zu vereinigen.
Die Arbeitsteilung geht immer weiter vor sich; immer mehr verlegen sich die einzelnen Betriebe darauf, nur besondere Spezialitäten zu erzeugen, diese aber für die ganze Welt; und immer größer werden die einzelnen Betriebe; manche von ihnen zählen ihre Arbeiter nach Tausenden. Da muß eine Genossenschaft, welche ihre Bedürfnisse selbst decken und alle Betriebe umfassen soll, die zu deren Befriedigung erforderlich sind, einen ganz anderen Umfang haben als die Phalansteres und sozialistischen Kolonien aus dem Anfang unseres Jahrhunderts. Von den heute bestehenden gesellschaftlichen Organisationen gibt es nur ei?ie, die den nötigen Umfang besitzt, daß man sie als Rahmen benützen könnte, um innerhalb desselben die sozialistische Genossenschaft zu entwickeln, das ist der moderne Staat.
Ja, so gewaltig ist die Ausdehnung, welche bereits die Produktion einzelner Betriebe gewonnen, und so innig die wirtschaftliche Verbindung zwischen den verschiedenen kapitalistischen Nationen, daß man fast zweifeln könnte, ob der Rahmen des Staates auch noch ausreichend genug sei, um die sozialistische Genossenschaft umspannen zu können.
Indessen ist Folgendes zu bedenken. Die heutige Ausdehnung des internationalen Verkehrs ist weniger durch die bestehenden Produktions- als durch die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse bedingt. Je verbreiteter die kapitalistische Produktion in einem Lande und je größer die dadurch bewirkte Ausbeutung der arbeitenden Klassen, desto größer ist in der Regel der Überschuß an Produkten, der nicht im Lande selbst verzehrt werden kann und daher zur Ausfuhr gelangen muß. Wenn die Bevölkerung eines Landes nicht das Geld hat, eines der Massenprodukte, die sie erzeugt, selbst zu kaufen, so trachten die Kapitalisten dieses Landes danach, dies Produkt auszuführen, einerlei, ob es für die Bevölkerung unentbehrlich ist oder nicht. Sie suchen nach Käufern, nicht nach Konsumenten. Daher haben wir so oft die scheußliche Erscheinung gesehen, daß Irland zur Zeit einer Hungersnot besonders viel Weizen exportiert; die russischen Kapitalisten können jetzt, während der entsetzlichen Hungersnot in ihrem Lande, an der Ausfuhr von Getreide nur verhindert werden durch ein Ausfuhrverbot.
Hört die Ausbeutung auf und tritt anstelle der Produktion für den Verkauf die Produktion für den Selbstverbrauch, so wird die Ausfuhr und ebenso die Einfuhr von Produkten aus einem Staat in den anderen sehr vermindert werden.
Völlig wird dieser Verkehr zwischen den einzelnen Staaten allerdings nicht verschwinden können. Auf der einen Seite ist die Arbeitsteilung so weit vorgeschritten und das Absatzgebiet, das einzelne Riesenbetriebe für ihre Produkte brauchen, ein so ausgedehntes; auf der anderen Seite sind durch die Entwicklung des internationalen Verkehrs in den modernen Staaten so viele Bedürfnisse erweckt worden, die bereits zu den notwendigen gehören und die nur durch die Einfuhr aus anderen Ländern gedeckt werden können – z. B. das Bedürfnis nach Kaffee in Europa –, daß es unmöglich erscheint, die einzelnen sozialistischen Genossenschaften, selbst wenn sie den Rahmen eines ganzen Staates ausfüllen, dahin zu bringen, alle ihre Bedürfnisse durch ihre eigene Produktion selbst zu befriedigen. Eine gewisse Art von Warenaustausch zwischen den einzelnen Genossenschaften wird daher im Anfang wenigstens fortbestehen müssen. Das gefährdet jedoch nicht deren ökonomische Selbständigkeit und Sicherheit, wenn sie alles Notwendige selbst erzeugen und bloß Überflüssiges miteinander austauschen, etwa wie es eine urwüchsige Bauernfamilie in den Anfängen der Warenproduktion tat.
Daß aber jede sozialistische Genossenschaft alles zu ihrer Erhaltung Notwendige selbst erzeugt, dazu genügt es vorläufig, wenn sie den Umfang eines modernen Staates annimmt.
Dieser Umfang selbst ist indes keineswegs etwas Unabänderliches. Der moderne Staat ist, wie wir schon bemerkten, im Grunde nichts anderes als ein Produkt und Werkzeug der kapitalistischen Produktionsweise. Er wächst mit ihr und ihren Bedürfnissen entsprechend nicht bloß an Kraft, sondern auch an Ausdehnung. Der innere Markt, der Markt innerhalb des eigenen Staates ist für die Kapitalistenklasse eines jeden Landes der sicherste, der am leichtesten zu behauptende und am gründlichsten auszubeutende. In demselben Maße, in dem sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt, wächst daher auch der Drang der Kapitalistenklasse eines jeden Staates nach Erweiterung seiner Grenzen. In diesem Sinn hatte jener Staatsmann nicht ganz unrecht, der behauptete, die modernen Kriege seien nicht mehr dynastischen, sondern nationalen Bestrebungen entsprungen: Nur muß man unter den nationalen Bestrebungen die Bestrebungen der Kapitalistenklasse verstehen. Durch nichts verletzt man das Lebensinteresse der Kapitalisten einer Nation stärker als durch Schmälerung ihres Gebiets. Die fünf Milliarden hätte das französische Bürgertum Deutschland längst verziehen. Die Annexion von Elsaß-Lothringen kann es nicht verwinden.
Alle modernen Staaten haben das Bedürfnis, sich auszudehnen; am bequemsten fällt das den Vereinigten Staaten, denen tatsächlich bald ganz Amerika zur Verfügung stehen wird, und England, das vermöge seiner Herrschaft zur See in überseeischen Kolonien sein Herrschaftsgebiet ununterbrochen erweitert. Auch Rußland fand es bisher an gewissen Punkten nicht allzu schwierig, seine Grenzen vorzuschieben, jetzt freilich stößt es fast überall auf ebenbürtige Nachbarn: im Orient auf China und England, das mittelbar oder unmittelbar in den verschiedenen Staaten des Ostens sein weiteres Vordringen zu hemmen sucht.
Am schlimmsten sind die Staaten des europäischen Festlandes daran, die ebensosehr wie die anderen das Bedürfnis nach steter Erweiterung haben; aber sie sind fest aneinandergekeilt, und keiner kann sich ausdehnen, ohne einen seiner ebenbürtigen Nachbarn zu zertrümmern. Die Kolonialpolitik dieser Staaten hilft dem Ausdehnungsbedürfnis ihrer kapitalistischen Produktion nur ungenügend ab. Dies ist eine der mächtigsten Ursachen des Militarismus, jener Verwandlung Europas in ein Feldlager, welche die Staaten unseres Weltteils zu erdrücken droht. Zwei Wege sind möglich, aus diesem unerträglichen Zustand herauszukommen und den Ausdehnungsbedürfnissen unseres wirtschaftlichen Lebens zu genügen: ein Weltkrieg, der einige der bestehenden europäischen Staaten vernichtet, alle aber auf das tiefste erschöpft; oder die Vereinigung derselben in einen Staatenbund, welche angebahnt werden könnte durch einen Zollverein. Letzterer wäre vielleicht schon Tatsache geworden, hätte Deutschland sich nicht Frankreich durch die Abreißung zweier Provinzen zum unversöhnlichen Feind gemacht. Dank diesem diplomatischen Meisterstück ist der Weltkrieg unausbleiblich geworden, wenn nicht Revolution oder Staatsbankerott in einem oder mehreren der Staaten des europäischen Festlandes ihn rechtzeitig abwenden.
Genug; es ist sicher, daß jeder moderne Staat das Bestreben hat, sich dem Gang der ökonomischen Entwicklung entsprechend auszudehnen. Dieselbe sorgt auf diese Weise selbst dafür, daß der Rahmen der kommenden sozialistischen Genossenschaften überall den nötigen Umfang erhalte. [8]
Der moderne Staat ist aber nicht bloß die einzige der heute bestehenden gesellschaftlichen Organisationen, die genügende Ausdehnung besitzt, um den Rahmen für eine sozialistische Genossenschaft zu bieten, er ist auch die einzige natürliche Grundlage derselben. Um das besser verständlich zu machen, gestatte man uns eine kleine Abschweifung.
Die einzelnen Gemeinwesen haben stets wirtschaftliche Aufgaben zu erfüllen gehabt. Bei den urwüchsigen kommunistischen Gesellschaften, die wir an der Schwelle der Geschichte der Völker finden, versteht sich das von selbst. Als sich die Einzelwirtschaft der Kleinbetriebe, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Warenproduktion entwickelten, blieb eine Reihe gesellschaftlicher Funktionen bestehen, deren Besorgung entweder die Kräfte der Einzelbetriebe überstieg oder die zu wichtig waren, als daß man sie dem Belieben der einzelnen hätte überlassen dürfen. Neben der Sorge für die heranwachsende Jugend, für die Armen, Alten und Kranken – Schulwesen, Armen- und Krankenpflege – war es namentlich die Regelung und Förderung des Verkehrs – Straßenbau, Münzwesen, Marktpolizei – und die Regelung und Sicherung wichtiger allgemeiner Grundlagen der Produktion – Forstpolizei, Regulierung der Wasserläufe usw. –, was den einzelnen Gemeinwesen zufiel. In der mittelalterlichen Gesellschaft waren es namentlich die Markgenossenschaften und die verschiedenen aus denselben sich entwickelnden Stadt- und Dorfgemeinden sowie die kirchlichen Organisationen, denen diese Aufgaben oblagen. Der mittelalterliche Staat kümmerte sich blutwenig um diese Angelegenheiten.
Das änderte sich, als dieser Staat zum modernen Staat wurde, zum Beamten- und Militärstaat, zum Werkzeug der Kapitalistenklasse, welche neben dem grundbesitzenden Adel in die Reihe der herrschenden Klassen eintrat, mit ihm um die Herrschaft kämpfend, sie mit ihm teilend oder gar ihn völlig aus seiner herrschenden Stellung verdrängend. Wie jeder Staat ist auch der moderne Staat ein Werkzeug der Klassenherrschaft. Aber er konnte seine Aufgabe nicht erfüllen und den Bedürfnissen der Kapitalistenklasse nicht genügen, ohne daß er die wirtschaftlichen Organisationen, die er vorfand und welche die Stützpunkte der vorkapitalistischen Wirtschaft waren, auflöste oder ihrer Selbständigkeit beraubte. Damit war jedoch auch die Notwendigkeit gegeben, daß er eine Reihe ihrer Funktionen übernahm.
Aber auch wo der Staat die mittelalterlichen Organisationen fortbestehen ließ, gerieten sie in Verfall und zeigten sich immer unfähiger, alle ihre Funktionen zu erfüllen. Diese selbst wurden immer umfangreicher, je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelte; sie wuchsen und wachsen noch den einzelnen Organisationen innerhalb des Staates über den Kopf, so daß derselbe schließlich gezwungen wird, auch diejenigen dieser Funktionen zu übernehmen, die ihm gerade nicht am Herzen liegen. So ist die Übernahme des gesamten Armen- und Schulwesens durch den Staat eine unabweisliche Notwendigkeit geworden, der er sich zum Teil schon gefügt hat. Das Münzwesen ist ihm von vorneherein zugefallen, Waldschutz, Flußregulierung, Straßenbau kommen immer mehr in sein Bereich.
Es gab eine Zeit, wo die Kapitalistenklasse in ihrem Selbstbewußtsein glaubte, der wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates entraten zu können. Er sollte nichts tun, als ihre Sicherheit im Lande und außerhalb des Landes gewährleisten, die Proletarier und auswärtigen Konkurrenten im Zaum halten, aber das gesamte wirtschaftliche Leben sich selbst überlassen. Die Kapitalistenklasse hatte ihre guten Gründe, das zu wünschen. So groß ihre Macht war, die Staatsgewalt hatte sich ihr nicht immer so dienstwillig gezeigt, als sie verlangte; dieselbe war zeitweise von anderen Teilen der herrschenden Klassen, vor allem dem grundbesitzenden Adel, völlig mit Beschlag belegt worden. Und auch da, wo die Staatsgewalt sich der Kapitalistenklasse wohlwollend gezeigt hatte, waren die Staatsbeamten, die vom geschäftlichen Leben absolut nichts verstanden, oft höchst unangenehme Freunde gewesen, so tappig und ungeschickt wie jener Bär, der seinem Freunde, dem Klausner, eine Fliege von der Stirn verjagen wollte und ihm dabei die Hirnschale entzweischlug.
Gerade als die sozialistische Arbeiterbewegung sich zu entwickeln begann, kam diese der Einmischung des Staates in das wirtschaftliche Leben feindliche Richtung in der Kapitalistenklasse zur Geltung, zuerst in England, wo sie den Namen der Manchesterschule erhielt, der ihr dann auch in Deutschland beigelegt wurde. Die Lehren des Manchestertums waren die ersten geistigen Waffen, welche die Kapitalistenklasse gegen die sozialistische Arbeiterbewegung ins Feld führte – in England wie in Deutschland. Kein Wunder, daß sich unter den sozialistischen Arbeitern vielfach die Ansicht einbürgerte, die Begriffe Manchestermann und Kapitalist oder Kapitalistenfreund auf der einen Seite und Eingreifen des Staates in die wirtschaftlichen Verhältnisse und Sozialismus auf der anderen Seite seien gleichbedeutend; kein Wunder auch, daß sie glaubten, die Überwindung des Manchestertums bedeute die Überwindung des Kapitalismus. Nichts weniger als das. Das Manchestertum ist nie mehr gewesen als eine bloße Lehre, eine Theorie, welche die Kapitalistenklasse gegen die Arbeiter und auch mitunter gegen die Regierungen ausspielt, wenn es ihr paßt, vor deren folgerichtiger Durchführung sie sich aber überall wohl gehütet hat. Und gegenwärtig hat die Manchesterlehre bereits fast jeden Einfluß auf die Kapitalistenklasse verloren.
Diese ist nicht bloß ihres Selbstbewußtseins verlustig gegangen, welches die notwendige Vorbedingung der Manchesterlehre war, sie hat auch einsehen gelernt, daß die ökonomische und politische Entwicklung die Übernahme gewisser wirtschaftlicher Aufgaben durch den Staat unumgänglich notwendig macht.
Und diese Aufgaben wachsen von Tag zu Tag. Nicht nur nehmen jene Funktionen eine immer größere Ausdehnung an, die der Staat von den oben erwähnten Organisationen übernommen hat – man erinnere sich nur z. B. der modernen Kanalbauten und Flußregulierungen –, es erwachsen ihm auch aus der kapitalistischen Produktionsweise Funktionen, von denen die gesellschaftlichen Organisationen des Mittelalters keine Ahnung hatten und durch die er aufs tiefste in das Wirtschaftsleben einschneidet. Mußten die Staatsmänner früherer Jahrhunderte vorwiegend Diplomaten und Juristen sein, so müssen – oder sollen wenigstens – die heutigen vorwiegend Nationalökonomen sein. In den politischen Erörterungen unserer Zeit dienen nicht mehr Verträge und Privilegien, nicht mehr Urkunden und Präzedenzfälle, sondern ökonomische Sätze als die entscheidenden Argumente. – Man erinnere sich nur, was heute alles in das Bereich der Politik fällt: Bankpolitik, Kolonialpolitik, Zollpolitik, Eisenbahnpolitik, Sozialpolitik wie Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung, Armenwesen usw. usw.
Aber noch mehr. Die ökonomische Entwicklung treibt den Staat auch dazu, teils im Interesse seiner Selbsterhaltung, teils zur besseren Besorgung seiner Funktionen oder endlich zur Erhöhung seiner Einkünfte, immer mehr Betriebe in seiner Hand zu vereinigen.
Den größten Teil seiner Macht zog der Inhaber der Staatsgewalt im Mittelalter aus seinem beziehungsweise dem staatlichen Grundbesitz. Derselbe wurde im 16., 17. und 18. Jahrhundert oft noch vermehrt durch Kirchen- und Bauerngut. Anderseits hat die Geldnot der Fürsten zum Verkauf von Krongut an Kapitalisten geführt. Aber in den meisten Ländern haben sich noch ansehnliche Reste desselben erhalten in den staatlichen Domänen und Bergwerken. Die Entwicklung des Militarismus fügte dazu Arsenale und Schiffswerften, die Entwicklung des Verkehrswesens Posten, Eisenbahnen, Telegraphen, endlich die Zunahme der Geldnot des Staates Monopole aller Art.
In den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise, als das Geldbedürfnis der Fürsten groß und ihre Einkommen klein waren, griffen sie bereits dazu, sich die Produktion verschiedener Waren vorzubehalten und so durch staatliche Monopole Profit einzuheimsen. Aber das Staatsbeamtentum erwies sich nur schlecht geeignet zur profitablen Führung eines Unternehmens der Warenproduktion; die Entwicklung des Steuerwesens lehrte ergiebigere Geldquellen kennen. Dazu kam die Herrsdbaft der manchesterlichen Lehren, die auch die bürgerlichen Staatsmänner erfaßten. Es galt für eine Sünde, den Kapitalisten eine Gelegenheit der Profitmacherei vorzuenthalten. So hat die Monopolwirtschaft im Laufe unseres Jahrhunderts bis vor kurzem keine Fortschritte gemacht, sie hat im Gegenteil an Boden verloren.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist der Monopolgedanke wieder lebendiger geworden. Die Geldbedürfnisse der Staaten wachsen rasch, indes die Volksmassen immer mehr verarmen, so daß die Anspannung der Steuerschraube immer unwirksamer wird. Anderseits hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst dazu geführt, die Person des Kapitalisten immer überflüssiger zu machen; sie hat selbst ein Heer von Privatbeamten erzeugt, das die Aufgaben der Kapitalisten übernommen hat und erfüllt, sie hat selbst zu einer derartigen Organisation der meisten kapitalistischen Großbetriebe geführt, daß sie ohne weiteres in unpersönliches Eigentum übergehen können.
Die Vorbedingungen eines profitablen Monopolbetriebs liegen also heute viel günstiger als im vorigen Jahrhundert und noch in diesem bis vor wenigen Jahrzehnten. Angesichts dieses Umstandes und der wachsenden Geldnot des Staates ist es kein Wunder, daß fast überall die Monopolideen sich wieder regen und daß sie schon manchen Sieg errungen haben. Schon hat man Tabak-, Salz-, Schnaps-, Zündhölzchenmonopole, und an Vorschlägen zu weiteren Verstaatlichungen fehlt es nicht.
Während so die wirtschaftlichen Funktionen und die wirtschaftliche Macht des Staates sich immer mehr ausdehnen, wird, wie wir gesehen haben, das ganze wirtschaftliche Getriebe immer verwickelter, immer empfindlicher, werden die einzelnen kapitalistischen Unternehmungen immer abhängiger voneinander. Damit wächst auch ihre Empfindlichkeit und Abhängigkeit gegenüber den Einflüssen des größten Unternehmens der Kapitalistenklasse, des Staates. Damit wachsen aber auch die Störungen und Unordnungen im wirtschaftlichen Getriebe, denen abzuhelfen wieder die größte der heute bestehenden wirtschaftlichen Mächte, der Staat, von der Kapitalistenklasse angerufen wird. So fällt dem Staat immer mehr schon in der heutigen Gesellschaft die Aufgabe zu, in das wirtschaftliche Getriebe regelnd und ordnend einzugreifen, und immer mächtiger werden die Hilfsmittel, die ihm zu diesem Zwecke zu Gebote stehen. Die wirtschaftliche Allmacht des Staates, die den Manchestermännern als eine sozialistische Utopie erscheint, entwickelt sich vor ihren Augen als die notwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise!
Die wirtschaftliche Tätigkeit des modernen Staates ist der natürliche Ausgangspunkt jener Entwicklung, die zur sozialistischen Genossenschaft führt.
Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß jede Verstaatlichung einer wirtschaftlichen Funktion oder eines wirtschaftlichen Betriebs ein Schritt zur sozialistischen Genossenschaft sei und daß diese aus einer allgemeinen Verstaatlichung des gesamten wirtschaftlichen Getriebes hervorgehen könne, ohne daß sich im Wesen des Staates etwas zu verändern brauche.
Diese Anschauung – die der sogenannten Staatssozialisten – beruht auf einer Verkennung des Staates. Wie jedes Staatswesen ist auch der moderne Staat in erster Linie ein Werkzeug zur Wahrung der Gesamtinteressen der herrschenden Klassen. Es ändert nichts an diesem seinem Wesen, wenn er gemeinnützige Funktionen übernimmt, die nicht bloß im Interesse der herrschenden Klassen allein, sondern dem der ganzen Gesellschaft gelegen sind. Er nimmt diese Funktionen oft nur deswegen auf sich, weil ihre Vernachlässigung mit dem Bestand der Gesellschaft auch den der herrschenden Klassen gefährden würde, auf keinen Fall besorgt er aber diese Funktionen in einer Weise, die den Gesamtinteressen der oberen Klassen widerspricht oder gar deren Herrschaft bedrohen könnte.
Wenn der heutige Staat gewisse Betriebe und Funktionen verstaatlicht, so tut er dies nicht, um die kapitalistische Ausbeutung einzuschränken, sondern um die kapitalistische Produktionsweise zu schützen und zu befestigen oder – um selbst an dieser Ausbeutung teilzunehmen, seine Einnahmen dadurch zu vermehren und die Beiträge, welche die Kapitalistenklasse zu seiner Erhaltung zu steuern hat, zu vermindern. Und als Ausbeuter ist der Staat dem privaten Kapitalisten noch überlegen, weil ihm den Ausgebeuteten gegenüber neben den ökonomischen Machtmitteln des Kapitalisten noch die politischen der Staatsgewalt zu Gebote stehen.
Und wie der Staat bisher die Verstaatlichung nicht weiter getrieben hat, als es den Interessen der herrschenden Klassen entsprach, so wird er es auch künftighin halten. Solange also die besitzenden Klassen auch die herrschenden sind, wird das Verstaatlichen von Betrieben und Funktionen nie so weit gehen, daß der private Kapital- und Grundbesitz im allgemeinen dadurch geschädigt, in seiner Macht und seinen Ausbeutungsgelegenheiten eingeschränkt würde.
Erst wenn die arbeitenden Klassen im Staate die herrschenden geworden sind, wird der Staat aufhören, ein kapitalistisches Unternehmen zu sein; erst dann wird es möglich werden, ihn zu einer sozialistischen Genossenschaft umzugestalten.
Dieser Erkenntnis ist die Aufgabe entsprungen, welche die Sozialdemokratie sich gesetzt hat: Sie will, daß die arbeitenden Klassen die politische Macht erobern, damit sie mit deren Hilfe den Staat in eine große, im wesentlichen sich völlig selbst genügende Wirtschaftsgenossenschaft verwandeln.
Man wirft uns vor, wir hätten keine bestimmten Ziele, verständen bloß zu kritisieren, wüßten aber nicht, was anstelle des Bestehenden zu setzen sei. Nun, wir dächten, daß keine andere Partei ein so bestimmtes und klares Ziel hat wie die Sozialdemokratie. Ja, haben die anderen Parteien überhaupt ein Ziel? Sie alle halten an dem Bestehenden fest, obwohl sie alle einsehen, daß es unhaltbar und unerträglich ist; ihre Programme enthalten nichts als einige kleine Flickmittel, durch die sie versprechen und hoffen, das Unhaltbare haltbar, das Unerträgliche erträglich zu machen.
Die Sozialdemokratie dagegen baut nicht auf Hoffnungen und Versprechungen, sondern auf die unbeugsame Notwendigkeit der ökonomischen Entwicklung. Wer diese anerkennt, muß auch unser Ziel anerkennen. Wer unser Ziel für irrig erweisen will, der muß nachweisen, daß unsere Lehre von der ökonomischen Entwicklung eine falsche ist, der muß nachweisen, daß es keinen Fortschritt gibt vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb, daß heute noch ebenso produziert wird wie vor hundert und zweihundert Jahren, daß es immer so gewesen ist wie jetzt. Wer das nachweisen könnte, der hätte allerdings das Recht, zu glauben, es müsse auch hinfort so bleiben, wie es jetzt ist. Wer aber nicht so hirnverbrannt ist, zu glauben, die gesellschaftlichen Zustände seien immer dieselben gewesen, der kann auch vernünftigerweise nicht annehmen, die jetzigen Zustände würden ewig dauern. Kann ihm aber eine andere Partei zeigen, was an deren Stelle treten wird und treten muß?
Alle anderen Parteien leben nur in der Gegenwart, von der Hand in den Mund; die Sozialdemokratie ist die einzige, die ein greifbares Ziel in der Zukunft hat, die ihr gegenwärtiges Handeln nach diesem großen Ziel einrichtet. Aber die anderen Parteien können und wollen dies Ziel nicht sehen, denn die Sozialdemokratie kann es nur über sie hinwegschreitend erreichen. Und weil sie es nicht sehen können und wollen, weil sie eigensinnig nur in das Blaue über sich stieren, behaupten sie keck, wir hätten kein bestimmtes Ziel und wollten, ins Blaue hineinstürmend, alles Bestehende zerstören.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, allen Einwänden, Mißverständnissen und Verdrehungen zu begegnen, welche unsere Gegner zu unserer Bekämpfung vorbringen. Bosheit und Dummheit belehren zu wollen ist vergebens. Wir könnten uns die Finger wund schreiben und würden doch nicht fertig werden.
Nur eines Einwandes sei hier gedacht, weil die Veranlassung zu demselben aus den Reihen des Sozialismus selbst gekommen ist. Er ist so wichtig, daß wir ihn eingehend erörtern müssen. Die Beseitigung dieses Einwandes wird dazu dienen, den Standpunkt und das Ziel der Sozialdemokratie noch klarer hervortreten zu lassen.
Unsere Gegner erklären, die sozialistische Genossenschaft sei erst dann als durchführbar anzusehen und könne erst dann das Ziel des Strebens vernünftiger Leute bilden, wenn ihr Plan ausgearbeitet vor der Welt liege, wenn er geprüft und für nützlich und durchführbar anerkannt worden sei. Kein vernünftiger Mensch werde mit dem Bau eines Hauses anfangen, ehe dessen Plan fertig vorliege und von Sachverständigen für gut befunden sei. Am allerwenigsten aber würde er sich ohne einen solchen vorher ausgearbeiteten Plan dazu verstehen, sein einziges Obdach niederzureißen, um Platz für dieses Haus zu gewinnen. Wir sollten also herausrücken mit dem „Zukunftsstaat“, wie man die sozialistische Genossenschaft oder Gesellschaf t zu nennen beliebt. Wenn wir damit hinter dem Berg hielten, so sei das ein Beweis, daß wir selbst nicht recht wüßten, was wir wollten, und kein festes Zutrauen zu unserer Sache hätten.
Das klingt in der Tat sehr einleuchtend, so einleuchtend, daß nicht nur unsere Gegner, sondern viele unter den Sozialisten selbst die Notwendigkeit eines solches Planes behauptet haben. Und in der Tat, man mußte ihn für die unentbehrliche Vorbedingung der neuen Gesellschaft halten, solange man die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung nicht kannte und glaubte, Gesellschaftsformen würden ebenso nach Belieben aufgebaut wie Häuser. Man spricht heute noch gern von einem gesellschaftlichen Gebäude.
Es ist noch nicht lange her, daß man über die Entwicklung der Gesellschaft überhaupt nachdenkt. Früher ging die ökonomische Entwicklung so langsam vor sich, daß sie kaum merklich war. Jahrhunderte-, ja jahrtausendelang blieben die Menschen auf einer einmal erlangten Kulturstufe stehen. Die Werkzeuge des Bauern sind in zurückgebliebenen Gegenden, etwa in Rußland, heute noch kaum verschieden von denen, die uns an der Schwelle der überlieferten Geschichte begegnen.
Vom Standpunkt des einzelnen war daher in früheren Zeiten die einmal gegebene Produktionsweise etwas Unveränderliches: Sein Vater und Großvater hatten so gewirtschaftet wie er, und seine Söhne und Enkel würden ebenso wirtschaften. Die einmal gegebene gesellschaftliche Ordnung galt als unveränderlich, von Gott gesetzt, wer an sie rührte, war ein Frevler. Wie groß auch die Änderungen sein mochten, die durch Kriege und Klassenkämpfe in der Gesellschaft hervorgerufen wurden, sie berührten anscheinend nur ihre Oberfläche. Wohl entsprangen diesen Kämpfen auch Wirkungen auf die Grundlagen der Gesellschaft; aber dieselben waren für den einzelnen Beschauer, der inmitten dieser Vorgänge lebte, unmerklich.
Die Geschichtschreibung ist heute noch im wesentlichen nichts als eine mehr oder weniger getreue Zusammenstellung auf uns gelangter Mitteilungen solcher Beschauer. Auch sie bleibt daher an der Oberfläche haften, und obgleich derjenige, der die Jahrtausende der Vergangenheit übersieht, einen gesellschaftlichen Entwicklungsgang deutlich verfolgen kann, merken doch unsere Geschichtschreiber nichts davon.
Erst die kapitalistische Produktionsweise hat die gesellschaftliche Entwicklung in so raschen Fluß gebracht, daß die Menschen sich ihrer bewußt wurden und darüber nachzudenken begannen. Natürlich suchten sie die Ursachen dieser Entwicklung zunächst an der Oberfläche, ehe sie in die Tiefe gingen. Wer aber an der Oberfläche haftenbleibt, der sieht nur diejenigen Triebkräfte, die unmittelbar die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen, und das sind nicht die wechselnden Produktionsbedingungen, sondern die wechselnden Ideen der Menschen.
Als die kapitalistische Produktionsweise aufkam, erzeugte sie in den von ihr abhängenden Personen, Kapitalisten, Proletariern etc. neue Bedürfnisse, die völlig verschieden waren von denen der Personen, die wirtschaftlich mit den Überresten der früheren feudalen Produktionsweise verbunden waren, den Bedürfnissen der Großgrundbesitzer, der zünftigen Handwerksmeister usw. Diesen verschiedenen Bedürfnissen entsprachen auch verschiedene Ideen von dem, was recht und unrecht, notwendig und überflüssig, nützlich und schädlich sei. Je mehr die kapitalistische Produktionsweise wuchs und je stärker die Klassen wurden, die an ihr Anteil hatten, desto klarer und selbständiger wurden die dieser Produktionsweise entsprechenden Ideen, desto verbreiteter und einflußreicher im Staate, desto bestimmender für das politische und gesellschaftliche Leben, bis zuletzt die neuaufkommenden Klassen die Macht im Staat und der Gesellschaft an sich reißen und beide ihren Ideen und Bedürfnissen entsprechend gestalten konnten.
Was also den Denkern, welche die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung erforschen wollten, zunächst als die Triebkraft dieser Entwicklung erschien, das waren die Ideen der Menschen. Sie erkannten bereits bis zu einem gewissen Grade, daß diese Ideen den materiellen Bedürfnissen entsprangen; aber noch blieb ihnen verborgen, daß diese Bedürfnisse sich änderten und daß deren Änderungen aus den Änderungen der ökonomischen, der Produktionsverhältnisse entsprangen. Sie nahmen an, die Bedürfnisse der Menschen – die „Menschennatur“ – seien unabänderlich dieselben. Es gibt daher in ihren Augen auch nur eine einzige „wahre“, „natürliche“, „gerechte“ Gesellschaftsordnung, weil nur eine einzige der wahren Natur des Menschen völlig entsprechen kann. Alle anderen Gesellschaftsformen sind Verirrungen, die nur dadurch möglich geworden sind, daß die Menschen früher nicht erkannten, was ihnen not tat, weil ihre Vernunft getrübt war – entweder, wie die einen meinten, infolge der natürlichen Dummheit der Menschen oder, wie die anderen behaupteten, infolge absichtlicher Verdummung durch Pfaffen und Regenten.
Die Entwicklung der Gesellschaft ist von diesem Standpunkt aus eine Folge der Entwicklung der Vernunft, der Entwicklung der Ideen. Je gescheiter die Menschen sind, je geschickter im Erfinden der der Menschennatur entsprechenden Gesellschaftsformen, desto gerechter und besser wird die Gesellschaft.
Das war die Auffassung der bürgerlichen, der liberalen Denker. Sie herrscht heute noch, soweit deren Einfluß reicht. Unter dem Banne dieser Auffassung standen naturgemäß auch die ersten der neueren Sozialisten im Anfang unseres Jahrhunderts. Wie die Liberalen, glaubten auch sie, die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates seien hervorgegangen aus den bloßen Ideen der Denker des vorigen Jahrhunderts, der Ökonomisten und Aufklärer. Aber sie sahen, daß die neue bürgerliche Gesellschaft keineswegs so vollkommen sei, wie die Philosophen des 18. Jahrhunderts erwartet hatten. Sie war also noch nicht die wahre Gesellschaft; irgendwo mußten diese Denker einen Fehler gemacht haben; es galt, denselben zu entdecken und eine neue Gesellschaftsform zu erfinden, die der Menschennatur besser entsprach als die bestehende. Es galt aber auch, den Plan des neuen Gesellschaftsgebäudes sorgfältiger auszuführen, als die Quesnay und Adam Smith, die Montesquieu und Rosseau getan hatten, damit nicht wieder unerwartete Einflüsse einen Strich durch die Rechnung machen könnten. Es erschien dies um so notwendiger, da die Sozialisten zu Anfang unseres Jahrhunderts nicht, wie die Aufklärer im Laufe des vorigen, eine Gesellschaftsform vorfanden, deren Untergang vor der Türe stand, noch auch eine mächtige Klasse, die ein Interesse an der Beseitigung dieser Gesellschaftsform gehabt hätte. Sie konnten die neue Gesellschaft, die sie anstrebten, nicht als etwas Unvermeidliches, sondern nur als etwas Wünschenswertes hinstellen. Sie mußten daher ihr Gesellschaftsideal den Menschen recht deutlich, förmlich greifbar vor Augen bringen, damit diesen ja recht der Mund danach wässere und niemand an der Möglichkeit und Annehmlichkeit eines solchen Zustandes zweifle.
Unsere Gegner sind in der Auffassung der Gesellschaft über den Standpunkt nicht hinausgekommen, auf dem die Wissenschaft zu Anfang dieses Jahrhunderts stand; die einzige Art von Sozialismus, die sie begreifen können, ist daher die eben gezeichnete der utopischen Sozialisten, die von der gleichen Grundlage ausgingen wie sie. Unsere Gegner betrachten die sozialistische Gesellschaft wie ein kapitalistisches Unternehmen, eine Aktiengesellschaft, die „gegründet“ werden soll, und sie weigern sich zu subskribieren, bevor nicht die Gründer, Bebel, Liebknecht u. Co., in einem Prospekt die Durchführbarkeit und Rentabilität des neuen Unternehmens genügend nachgewiesen haben.
Diese Auffassung mochte zu Beginn unseres Jahrhunderts noch ihre Berechtigung haben. Heute bedarf die sozialistische Gesellschaft nicht mehr des Kredits dieser Herren, um zur Verwirklichung zu gelangen.
Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankerott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.
Und immer zahlreicher und mächtiger werden die Scharen der besitzlosen Arbeiter, für welche die bestehende Produktionsweise unerträglich geworden ist, welche bei deren Umsturz nichts zu verlieren, alles zu gewinnen haben, welche eine neue, ihren Interessen entsprechende Gesellschaftsform herbeiführen müssen, wenn sie nicht völlig verkommen sollen – mit ihnen aber die ganze Gesellschaft, deren wichtigsten Bestandteil sie bilden.
Alles das sind keine Phantasien; alles das haben die Denker der Sozialdemokratie bewiesen aus den offenbaren Tatsachen der heutigen Produktionsweise. Diese Tatsachen sprechen eine beweiskräftigere und eindringlichere Sprache als die genialsten und sorgfältigst ausgearbeiteten Bilder eines Zukunftsstaates. Derartige Bilder können im besten Fall dartun, daß die sozialistische Gesellschaft nicht unmöglich sei; aber sie können das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit nie erschöpfen und müssen immer Lücken bieten, durch die der Gegner eindringen kann. Was dagegen als unvermeidlich erwiesen ist, ist nicht nur als möglich, es ist auch als das einzig Mögliche erwiesen. Wäre die sozialistische Gesellschaft unmöglich, so wäre überhaupt jede weitere ökonomische Entwicklung abgeschnitten. Die heutige Gesellschaft müßte dann ebenso verfaulen wie vor bald zweitausend Jahren die des römischen Weltreiches, um schließlich in die Barbarei zurückzufallen.
Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei.
Angesichts dieser Sachlage ist es höchst unnötig, unsere Gegner durch einen verlockenden Prospekt bewegen zu wollen, uns ihren Kredit zu schenken. Wem die greifbaren Tatsachen der heutigen Produktionsweise nicht laut genug die Notwendigkeit der sozialistischen Gesellschaft verkünden, der bleibt erst recht taub für Lobpreisungen eines Zustandes, der noch nicht besteht, den er weder greifen, noch auch begreifen kann.
Aber die Aufstellung eines Planes, wie der „Zukunftsstaat“ eingerichtet werden solle, ist heute nicht nur zwecklos geworden, sie ist auch mit dem jetzigen Standpunkte der Wissenschaft gar nicht mehr vereinbar. Im Laufe dieses Jahrhunderts ist nicht bloß eine große ökonomische Umwälzung vor sich gegangen, sondern auch eine große Umwälzung in den Köpfen. Die Einsicht in die Ursachen des gesellschaftlichen Fortschritts ist ungemein gewachsen. Schon in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts haben Marx und Engels uns gezeigt, und von da an hat jeder weitere Fortschritt in der Gesellschaftswissenschaft es bestätigt, daß in letzter Linie die Geschichte der Menschheit nicht durch die Ideen der Menschen, sondern durch die ökonomische Entwicklung bestimmt wird, welche unwiderstehlich fortschreitet, nach bestimmten Gesetzen, nicht nach den Wünschen und Launen der Menschen. Wir haben in den vorhergehenden Kapiteln gesehen, wie sie vor sich geht, wie sie neue Produktionsformen schafft, welche die Notwendigkeit neuer Gesellschaftsformen mit sich bringen; wie sie neue Bedürfnisse erzeugt, welche die Menschen zwingen, über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse nachzudenken und Mittel zu ersinnen, die Gesellschaft den neuen Produktionsbedingungen anzupassen. Denn von selbst geht diese Anpassung nicht vor sich; sie bedarf der Vermittlung des denkenden Menschenkopfs, der Ideen. Ohne Denken, ohne Ideen gibt es keinen Fortschritt. Aber die Ideen sind bloß die Vermittler des gesellschaftlichen Fortschritts; nicht von ihnen geht der erste Anstoß dazu aus, wie man früher meinte und viele jetzt noch meinen, sondern von der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse.
Es sind demnach auch nicht die Denker, die Philosophen, welche die Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts bestimmen; diese wird gegeben durch die ökonomische Entwicklung. Die Denker können diese Richtung erkennen, und zwar um so schärfer, je tiefer ihre Einsicht in die bisherige Entwicklung; sie können sie aber nicht nach Belieben vorzeichnen.
Aber auch das Erkennen der Richtung des geschichtlichen Fortschritts hat seine Grenzen. Denn das Getriebe der menschlichen Gesellschaft ist ein ungemein verwickeltes, und für den schärfsten Denker ist es unmöglich, alle ihre Seiten so eingehend zu erforschen, alle Kräfte, die in ihr wirken, so genau zu bemessen, daß er mit Sicherheit voraussehen könnte, welche gesellschaftlichen Formen aus dem Zusammen- und Aufeinanderwirken dieser Kräfte sich ergeben werden.
Eine neue Gesellschaftsform kommt nicht in der Weise zustande, daß einzelne besonders schlaue Köpfe einen Plan entwerfen, wie sie am besten einzurichten wäre, daß sie dann nach und nach die andern von der Nützlichkeit dieses Planes überzeugen und, wenn sie die nötigen Machtmittel gewonnen haben, nun daran gehen, schön gemächlich das soziale Gebäude nach diesem Plan aufzubauen und einzurichten.
Eine neue Gesellschaftsform ist bisher stets das Ergebnis langer, wechselvoller Kämpfe gewesen. Es kämpften die ausgebeuteten Klassen gegen die ausbeutenden; es kämpften die untergehenden, reaktionären gegen die aufstrebenden, revolutionären Klassen. In diesen Kämpfen verbinden sich die verschiedenen Klassen in der verschiedensten Weise miteinander, um andere, ihnen entgegenstehende Klassen zu bekämpfen: Das Lager der Ausgebeuteten vereinte mitunter Revolutionäre und Reaktionäre; das Lager der Revolutionäre mitunter Ausbeuter und Ausgebeutete. Innerhalb der einzelnen Klassen selbst finden sich oft verschiedene Richtungen je nach der Verschiedenheit der Einsicht, des Temperaments, der Lebensstellung der einzelnen und ganzer Schichten. Die Macht jeder einzelnen Klasse endlich war stets etwas höchst Wechselndes; sie stieg oder sank, je nachdem ihre Einsicht in die wirklichen Verhältnisse, die Geschlossenheit und der Umfang ihrer Organisationen und ihre Wichtigkeit im ökonomischen Getriebe zu- oder abnahmen.
In den wechselvollen Kämpf en dieser Klassen zerfielen nach und nach die alten, unhaltbar gewordenen gesellschaftlichen Formen und wurden durch neue verdrängt. Nicht immer war das Neue, welches man an die Stelle des Alten setzte, gleich das Richtige: Das setzte ja voraus, daß die revolutionären Klassen im Besitz der Alleinherrschaft und der höchsten gesellschaftlichen Einsicht gewesen wären. Wo und solange dies nicht der Fall, mußten stets Fehler gemacht werden; oft erwies sich das Neue ganz oder zum Teil als fast ebenso haltlos wie das überwundene Alte. Aber je stärker die ökonomische Entwicklung drängte, desto klarer wurde das, was sie erheischte, und desto größer die Kraft der revolutionären Klassen, das Notwendige durchzuführen. Diejenigen Einrichtungen der revolutionären Klassen, die im Widerspruch zu den Geboten der ökonomischen Entwicklung standen, verfielen und gerieten bald in Vergessenheit; diejenigen ihrer Einrichtungen dagegen, die notwendig gewesen waren, wurzelten sich rasch fest und konnten von den Anhängern des Alten nicht wieder ausgerottet werden.
Auf diese Weise ist bisher jede neue Gesellschaftsordnung entstanden; sogenannte revolutionäre Zeiten unterschieden sich von anderen Zeiten gesellschaftlicher Entwicklung nur dadurch, daß diese Vorgänge dann viel rascher tind heftiger sich abspielten als sonst.
Man sieht, Gesellschaftsformen kommen in anderer Weise zustande als Gebäude. Vorher angefertige Pläne gelangen bei dem Aufbau der ersteren nicht zur Geltung. Heute, angesichts dieser Erkenntnis, noch „positive Vorschläge“ zum Aufbau des Zukunftsstaates zu entwerfen ist ungefähr ebenso nützlich und tiefsinnig, als etwa im vorhinein eine Geschichte des nächsten Krieges zu schreiben.
Der Gang der Entwicklung ist keineswegs unabhängig von den einzelnen Persönlichkeiten. Ein jeder, der in der Gesellschaft wirkt, beeinflußt ihn mehr oder weniger. Einzelne Personen, die durch ihre Begabung oder ihre soziale Stellung besonders hervorragen, können den Gang der Dinge für ganze Staaten auf Jahrzehnte beeinflussen; die einen durch Förderung des Fortschritts, indem sie neue Einsichten in die gesellschaftlichen Zusammenhänge eröffnen oder dieselben den Massen zugänglich machen oder indem sie die revolutionären Klassen organisieren, ihre Kraft zusammenfassen und deren zweckentsprechende Anwendung veranlassen; die anderen durch Lähmung des Fortschritts, indem sie in entgegengesetzter Richtung sich geltend machen. Die ersteren wirken dahin, die Entwicklung zu beschleunigen, die Leiden und Opfer, die sie verursacht, zu vermindern; die anderen wirken dahin, sie zu hemmen, die Leiden und Opfer zu vermehren, die sie mit sich bringt. Was aber keiner kann, weder der mächtigste Monarch noch der tiefste Denker, ist, die Richtung der Entwicklung nach seinem Willen zu bestimmen und die Formen, welche sie annehmen wird, genau vorherzusagen.
Es ist demnach nichts lächerlicher, als von uns zu verlangen, wir sollten ein Bild des „Zukunftsstaates“ geben, den wir anstreben. So lächerlich ist diese Forderung, die noch an keine andere Partei je gestellt worden, daß es unnütz wäre, so viele Worte darüber zu verlieren, wenn nicht diese lächerliche Forderung den ernsthaftesten Einwand bildete, den unsere Gegner heute gegen uns erheben. Die anderen Einwände sind noch um ein gut Teil lächerlicher.
Es ist noch nie in der Weltgeschichte dagewesen, daß eine revolutionäre Partei auch nur voraussehen, geschweige willkürlich bestimmen konnte, welche Formen die neue, von ihr angestrebte Gesellschaft annehmen werde. Für die Sache des Fortschritts war schon viel gewonnen, wenn es ihr gelang, die Tendenzen zu erkennen, welche zu dieser Gesellschaft hinführten, so daß ihre politische Tätigkeit eine bewußte, keine bloß instinktive war. Mehr kann man auch von der Sozialdemokratie nicht verlangen.
Es hat aber noch nie eine Partei gegeben, welche die gesellschaftlichen Tendenzen ihrer Zeit so tief erforscht und so genau begriffen hätte wie die Sozialdemokratie.
Das ist nicht ihr Verdienst, sondern ihr Glück. Sie hat es dem zu verdanken, daß sie auf den Schultern der bürgerlichen Ökonomie steht, welche die erste wissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Zusammenhänge und Zustände unternahm und welcher es zuzuschreiben ist, daß die revolutionären Klassen, welche die feudale Produktionsweise umstürzten, ein viel klareres Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Aufgaben besaßen, viel weniger an Selbsttäuschungen litten als irgendeine revolutionäre Klasse vor ihnen. Aber die Denker der Sozialdemokratie haben die Erforschung der gesellschaftlichen Zusammenhänge noch weiter geführt, sie sind viel tiefer eingedrungen als irgendeiner der bürgerlichen Ökonomen vor ihnen. Das Kapital von Marx ist anerkanntermaßen der Angelpunkt der heutigen ökonomischen Wissenschaft geworden, und so hoch dasselbe über den Werken der Quesnay, Adam Smith und Ricardo steht, ebenso hoch steht die Einsicht und Zielbewußtheit der Sozialdemokratie über der Einsicht und Zielbewußtheit der revolutionären Klassen zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts. Wenn die Sozialdemokratie sich weigert, dem geehrten Publikum einen Prospekt des Zukunftsstaates zur gefälligen Ansicht vorzulegen, so haben die bürgerlichen Schriftsteller gar keine Veranlassung, darüber zu spötteln und daraus zu schließen, wir wüßten nicht, was wir wollen. Die Sozialdemokratie sieht klarer in die Zukunft, als die Bahnbrecher der heutigen Gesellschaftsordnung, die Ökonomisten und Aufklärer, zu ihrer Zeit sehen konnten.
Wir haben gesagt, daß ein Denker wohl die Tendenzen der ökonomischen Entwicklung seiner Zeit erkennen könne, daß er aber unmöglich die Formen vorhersehen könne, in welchen dieselben zum Ausdruck gelangen werden. Die Richtigkeit dieses Satzes beweist ein Blick auf die bestehenden Verhältnisse. Die Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise sind in allen Ländern, in denen sie herrscht, dieselben; und doch, wie verschieden sind die staatlichen und gesellschaftlichen Formen der verschiedenen kapitalistischen Länder, wie ganz anders in England als in Frankreich, anders in Frankreich als in Deutschland und wieder gänzlich verschieden von diesen in Amerika! Die geschichtlichen Tendenzen der durch die bestehende Produktionsweise erzeugten Arbeiterbewegung sind auch überall dieselben, die Formen aber, welche diese Bewegung annimmt, sind in jedem Lande besonderer Art.
Die Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise sind heute genau bekannt. Und doch vermag niemand zu sagen, welche Formen sie in 10, 20 oder 30 Jahren angenommen haben wird – vorausgesetzt, daß sie so lange noch ihr Dasein fristet. Von uns aber verlangt man eine Darstellung gesellschaftlicher Formen noch über das Bestehen der heutigen Produktionsweise hinaus!
Wenn wir das Verlangen nach Aufstellung eines Plans des „Zukunftsstaates“ und der Übergangsmaßregeln dazu zurückweisen, so soll damit nicht gesagt sein, daß wir überhaupt jedes Nachdenken über die sozialistische Gesellschaft für unnütz oder gar schädlich halten. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Unnütz und schädlich ist es bloß, bestimmte positive Vorschläge für die Anbahnung und Organisation der sozialistischen Gesellschaft zu machen. Vorschläge zur bestimmten Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse kann man nur machen für Gebiete, die man zeitlich und räumlich völlig übersieht und beherrscht. Positive Vorschläge kann also die Sozialdemokratie bloß für die heutige Gesellschaft, nicht für die kommende machen. Vorschläge, die darüber hinausgehen, können, statt mit Tatsachen, bloß mit erdachten Voraussetzungen rechnen, sind also Phantastereien, Träume, die im besten Falle wirkungslos bleiben. Ist ihr Urheber begabt und tatkräftig genug, ihnen zu einiger Wirkung auf die Geister zu verhelfen, dann kann dieselbe bloß in Irreführung und Kraftvergeudung bestehen.
Mit diesen entschieden zu bekämpfenden Träumereien nicht zu verwechseln sind dagegen die Versuche, zu erforschen, welche Richtung die Tendenzen der ökonomischen Entwicklung annehmen dürften, sobald diese von der kapitalistischen auf die sozialistische Grundlage gestellt worden sein wird. Hier handelt es sich nicht um das Erfinden von „Rezepten für die Garküche der Zukunft“, sondern um die wissenschaftliche Verarbeitung von Ergebnissen, welche die Untersuchung bestimmter Tatsachen zutage gefördert hat. Forschungen dieser Art sind keineswegs unnütz, denn je klarer wir in die Zukunft sehen, desto zweckentsprechender werden wir unsere Kräfte in der Gegenwart anwenden. Die bedeutendsten Denker der Sozialdemokratie haben solche Forschungen angestellt. In den Werken von Marx und Engels finden sich zahlreiche Ergebnisse derartiger Untersuchungen zerstreut. Bebel hat uns eine zusammenfassende Darstellung seiner diesbezüglichen Forschungen gegeben in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus.
Eine ähnliche Arbeit hat wohl jeder denkende Sozialist im stillen für sich vollbracht, denn jeder, der sich ein großes Ziel gesetzt hat, empfindet das Bedürfnis, über die Umstände Klarheit zu erhalten, unter denen es erreicht werden dürfte. Je nach der Verschiedenheit der ökonomischen Einsicht, der Lebenslage, des Temperaments, der Phantasie, der Bekanntschaft mit anderen, nichtkapitalistischen, namentlich kommunistischen Gesellschaftsformen haben sich da die mannigfachsten Anschauungen gebildet und geäußert. Diese Verschiedenheiten und Widersprüche stören nicht im geringsten die Geschlossenheit und Einigkeit der Sozialdemokratie. Wie verschieden auch der Anblick sein mag, den unser Ziel für die verschiedenen Augen gewährt, wenn nur die Richtimg dieselbe ist, in der sie es sehen – dieselbe und die richtige, darauf kommt es an.
Wir könnten hier dieses Kapitel schließen, denn die verschiedenen Anschauungen innerhalb der Sozialdemokratie über den „Zukunftsstaat“ haben nichts mit der Frage zu tun, was die Sozialdemokraten wollen. Was wir wollen, ist die Umwandlung des Staates in eine sich selbst genügende Wirtschaftsgenossenschaft. Darüber herrscht innerhalb der Sozialdemokratie keine Meinungsverschiedenheit. Wie diese Genossenschaft sich entwickeln und welche Tendenzen sie erzeugen wird, darüber nachzudenken ist keineswegs überflüssig; aber was bei diesem Nachdenken herauskommt, ist Privatsache jedes einzelnen, ist nicht Parteisache und braucht es nicht zu sein, weil die Parteitätigkeit dadurch unmittelbar nicht beeinflußt wird.
Indessen sind, teils aus der Zeit des utopistischen Sozialismus her überliefert, teils von unwissenden oder übelwollenden Literaten erfunden, so zahlreiche irrige Anschauungen über die Art, wie die Sozialdemokraten ihren „Zukunftsstaat“ einrichten wollen, verbreitet, daß es einem Ausweichen gleichsähe, wenn wir nicht wenigstens einige derselben hier streiften, obwohl für jeden Denkenden aus den bisherigen Ausführungen ausreichend klargeworden sein dürfte, was vom „ Zukunftsstaat“ zu halten. Wir wollen demnach an einigen Beispielen zeigen, wie sich die Tendenzen der ökonomischen Entwicklung in einem sozialistischen Gemeinwesen gestalten dürften.
Eines der verbreitetsten Vorurteile gegen die Sozialdemokratie besteht in der Ansicht, sie wolle die Familie abschaffen. Wir sind darauf schon im zweiten Kapitel (S. 46 ff.) zu sprechen gekommen und können uns daher kurz fassen.
An die „Abschaffung“ der Familie, an die gesetzliche Aufhebung und gewaltsame Auflösung derselben denkt niemand in der Partei. Nur die gröbste Fälschung kann ihr diese Absicht unterschieben, und nur ein Narr kann sich einbilden, daß eine Familienform durch Dekrete geschaffen oder beseitigt werden könne.
Dem Wesen der genossenschaftlichen Produktion widerspricht keineswegs die heutige Familie. Die Durchführung der sozialistischen Gesellschaft bedarf also an sich keineswegs der Auflösung der bestehenden Familienform.
Was zu dieser Auflösung führt, ist nicht das Wesen der genossenschaftlichen Produktion, sondern die ökonomische Entwicklung. Wir haben bereits in dem oben erwähnten Kapitel gesehen, in welcher Weise heutzutage die Familie aufgelöst wird. Mann, Weib und Kind auseinandergerissen, Ehelosigkeit und Prostitution zu Massenerscheinungen gemacht werden.
Die sozialistische Gesellschaft hemmt die ökonomische Entwicklung nicht; sie wird derselben vielmehr einen neuen Anstoß geben. Diese Entwicklung wird daher fortfahren, nach wie vor eine der Arbeiten des Haushalts nach der anderen in Arbeiten besonderer industrieller Betriebe zu verwandeln, die Frau aus einer Arbeiterin im Einzelhaushalt zu einer Arbeiterin im Großbetrieb zu machen. Aber dieser Übergang wird für die Frau nicht mehr den Übergang von der Haussklaverei in die Lohnsklaverei bedeuten; er wird sie nicht mehr aus den schützenden Schranken der Familie in die schutz- und wehrlosesten Schichten des Proletariats hinauswerfen. Durch ihre Arbeit im genossenschaftlichen Großbetrieb wird die Frau dem Manne wirtschaftlich gleichgestellt werden und den gleichen Anteil an der Genossenschaft erlangen wie er; sie wird seine freie Genossin sein, befreit (emanzipiert) nicht bloß von der Knechtschaft des Hauses, sondern auch von der des Kapitals. Frei über sich verfügend, gleich dem Manne, wird sie jeder Art von Prostitution, der gesetzlichen wie der un-gesetzlichen, ein Ende machen und zum erstenmal in der Weltgeschichte die für Mann und Weib gleich geltende Einehe zu einer wirklich, nicht bloß dem Buchstaben nach, bestehenden Einrichtung erheben.
Das sind nicht utopistische Vorschläge, sondern wissenschaftliche Überzeugungen, begründet durch bestimmte Tatsachen. Wer sie widerlegen will, muß diese Voraussetzungen als nicht bestehend erweisen. Da das bisher nicht gelungen ist, bleibt freilich den Herrn und Damen, die von dieser Entwicklung nichts wissen wollen, keine andere „Widerlegung“ übrig, als die, sich sittlich zu entrüsten und ihre Sittlichkeit durch Lügen und Fälschungen in möglichst günstiges Licht zu stellen. Damit werden sie allerdings die unvermeidliche Entwicklung nicht um eine Minute aufhalten.
Fest steht, daß nicht durch die Sozialdemokratie oder das Wesen der sozialistischen Produktion die Auf lösung der überlieferten Familienform herbeigeführt wird, sondern durch die schon seit Jahrzehnten vor unseren Augen vor sich gehende ökonomische Entwicklung. Die sozialistische Gesellschaft wird und kann dieselbe nicht aufhalten, aber sie wird den Folgen der Entwicklung alle die quälenden und entwürdigenden Seiten nehmen, die sie in der kapitalistischen Gesellschaft naturnotwendig begleiten. Und während diese zur Auflösung jeglichen Familienverbandes, jeglicher geordneten Ehe führt, vollzieht sich in der sozialistischen Gesellschaft die Auflösung der heutigen Familienform nur in dem Maße, in dem sie von einer höheren verdrängt wird.
Das ist die Wahrheit darüber, daß die Sozialdemokratie die Aufhebung der Ehe und Familie anstrebt.
Unsere Gegner, die besser wissen, was wir wollen, als wir selbst und die den „Zukunftsstaat“ mit größerer Bestimmtheit zu schildern vermögen als wir, haben ferner herausgefunden, daß die Sozialdemokratie ihre Herrschaft nicht anders werde antreten können als durch Expropriation (Enteignung) der Handwerker und Bauern, denen alles konfisziert (ohne Entschädigung genommen) werden soll, nicht bloß Haus und Hof, sondern auch die entbehrlichen Mobilien und – die Sparkasseneinlagen. Neben der angeblichen gewaltsamen Zerreißung aller Familienbande ist dies einer der Haupttrümpfe, der gegen uns ausgespielt wird.
Darauf ist zu bemerken, daß das Wesen einer sozialistischen Gesellschaft in keiner Weise eine solche Konfiskation bedingt.
Über die Konfiskation besagt das sozialdemokratische Programm nichts. Nicht aus Ängstlichkeit, um nicht abstoßend zu wirken, sondern einfach deshalb, weil sich darüber mit Bestimmtheit nichts sagen läßt. Mit Bestimmtheit kann man nur erklären, daß die Tendenz der ökonomischen Entwicklung es notwendig macht, daß die Großbetriebe in gesellschaftliches Eigentum übergehen und von Gesellschafts wegen bewirtschaftet werden. Auf welche Weise dieser Übergang sich vollzieht, ob die unvermeidliche Expropriation eine Konfiskation oder eine Ablösung wird, ob sie friedlich oder gewaltsam vor sich geht, das sind Fragen, auf die kein Mensch eine Antwort erteilen kann. Auch die Berufung auf die Vergangenheit hilft da wenig. Der Übergang kann sich in der verschiedenartigsten Weise vollziehen, wie sich auch die Aufhebung der Feudallasten in den verschiedenen Ländern Inder verschiedensten Weise vollzogen hat. Die Art des Übergangs hängt ab von der allgemeinen Lage, in der er vor sich geht, von der Kraft und Einsicht jeder der in Betracht kommenden Klassen usw., lauter Verhältnisse, die von vornherein nicht zu berechnen sind. In der geschichtlichen Entwicklung spielt das Unerwartete die größte Rolle.
Es ist ganz selbstverständlich, daß die Sozialdemokraten wünschen, die unvermeidlich gewordene Expropriation der Großbetriebe möge so schmerzlos als möglich vor sich gehen, friedlich und unter allseitiger Zustimmung. Aber die historische Entwicklung wird durch unsere Wünsche ebensowenig bestimmt wie durch die unserer Gegner.
Auf keinen Fall kann man sagen, die Durchführung des sozialdemokratischen Programms erheische unter allen Umständen, daß jenes Eigentum, dessen Expropriation notwendig geworden, konfisziert werde.
Wohl aber kann man mit Bestimmtheit sagen, daß die ökonomische Entwicklung nur die Expropriation eines Teils des bestehenden Eigentums notwendig macht. Was sie erheischt, das ist das genossenschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln; das Privateigentum an den Mitteln des persönlichen Verbrauchs wird dadurch in keiner Weise berührt. Das gilt nicht bloß von Lebensmitteln, Möbeln usw. Erinnern wir uns des im vorigen Kapitel über die Sparbanken Gesagten. Sie sind Mittel, die Besitztümer der nichtkapitalistischen Klassen den Kapitalisten zur Verfügung zu stellen. Jede der kleinen Spareinlagen ist für sich allein zu unbedeutend zum Betrieb eines kapitalistischen Unternehmens. Erst durch ihre Vereinigung sind sie imstande, die Funktionen eines Kapitals zu erfüllen. In dem Maße, in dem die kapitalistischen Unternehmungen in das Eigentum der Gesellschaft übergehen, wird die Möglichkeit sich verringern, die Sparkasseneinlagen zinstragend anzulegen. Sie werden aufhören, Kapital zu sein und bloßer unverzinster Schatz, Konsumtionsfonds, werden. Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Konfiskation der Spareinlagen.
Eine solche Konfiskation ist aber nicht bloß aus ökonomischen Gründen nicht notwendig, sie ist auch aus politischen Gründen ganz unwahrscheinlich. Denn die kleinen Spareinlagen rühren ja zum großen Teil von den ausgebeuteten Klassen her, denjenigen, deren Kraft allein den Sozialismus in die Gesellschaft einführen kann. Nur wer diese Klassen für absolut unzurechnungsfähig hält, wird glauben, sie würden, um die Produktionsmittel in ihre Hände zu bekommen, damit beginnen, daß sie sich selbst ihrer Notgroschen beraubten!
Aber der Übergang zur sozialistischen Produktion bedingt nicht nur nicht die Expropriation der Konsumtionsmittel, er erfordert auch nicht die Expropriation sämtlicher Besitzer von Produktionsmitteln.
Es ist der Großbetrieb, der die sozialistische Gesellschaft notwendig macht. Die genossenschaftliche Produktion erfordert auch das genossenschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Aber so wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Widerspruch steht zu der genossenschaftlichen Arbeit im Großbetrieb, so ist das genossenschaftliche oder gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln im Widerspruch zum Kleinbetrieb.
Dieser erfordert, wie wir gesehen, das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Die Aufhebung desselben für die Kleinbetriebe wäre um so zweckloser, da ja die Tendenz des Sozialismus dahin geht, die Arbeiter in den Besitz der nötigen Produktionsmittel zu setzen. Für die Kleinbetriebe liefe also die Expropriation der Produktionsmittel darauf hinaus, daß man sie ihren bisherigen Besitzern nähme, um sie ihnen wiederzugeben, ein sinnloses Vorgehen.
Der Übergang zur sozialistischen Gesellschaft bedingt demnach keineswegs die Expropriation der Kleinhandwerker und Kleinbauern. Dieser Übergang wird ihnen nicht nur nichts nehmen, er dürfte ihnen vielmehr gewisse Vorteile bringen. Denn da die sozialistische Gesellschaft die Tendenz nach Ersetzung der Warenproduktion durch Produktion für den direkten Verbrauch mit sich bringt, wie wir gesehen, muß sie auch das Bestreben haben, alle Leistungen an die Gesellschaft, die Steuern oder die etwaigen Zinsen der in gesellschaftliches Eigentum übergegangenen Hypotheken, soweit diese nicht ganz aufgehoben werden, aus Geldleistungen in Leistungen an Naturalien – Getreide, Wein, Vieh usw. – zu verwandeln. Das bedeutet aber für die Bauern eine ungeheure Erleichterung. Sie streben dieselbe heute schon vielfach an. Aber sie ist unmöglich unter der Herrschaft der Warenproduktion. Nur die sozialistische Gesellschaft kann sie bringen und damit eine Hauptursache des Ruins der bäuerlichen Wirtschaft beseitigen.
Die Kapitalisten sind es, welche tatsächlich Bauern und Handwerker expropriieren, wie wir gesehen. Die sozialistische Gesellschaft macht dieser Expropriation ein Ende.
Freilich, die ökonomische Entwicklung wird durch den Sozialismus nicht aufgehalten. Im Gegenteil, dieser ist das einzige Mittel, deren Fortgang über ein gewisses Maß hinaus zu ermöglichen. Wie in der heutigen Gesellschaft wird auch in der sozialistischen der Großbetrieb sich immer mehr entwickeln und die Kleinbetriebe immer mehr aufsaugen. Aber auch hier gilt, was von der Familie und Ehe. Die Richtung der Entwicklung bleibt dieselbe, aber der Sozialismus hebt alle die scheußlichen und schmerzlichen Erscheinungen auf, von denen in der heutigen Gesellschaft der Gang der Entwicklung begleitet ist, indes er deren Vorteile allen zugute kommen läßt.
Heute bedeutet die Verwandlung des Bauern oder Handwerkers aus dem Arbeiter eines Kleinbetriebs in den Arbeiter eines Großbetriebs seine Verwandlung aus einem Besitzenden in einen Proletarier. In einer sozialistischen Gesellschaft wird dagegen der Bauer oder Handwerker, der zur Arbeit in einem genossenschaftlichen Großbetrieb übergeht, zum Teilhaber an allen Vorteilen des Großbetriebs; seine Stellung verbessert sich bedeutend; sein Übergang vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb ist nicht mehr zu vergleichen der Verwandlung eines Besitzenden in einen Proletarier, sondern eher der eines wenig Besitzenden in einen viel Besitzenden.
Der Kleinbetrieb ist dem Untergang unrettbar verfallen. Aber nur die Sozialdemokratie ermöglicht es den Bauern und Handwerkern in ihrer Gesamtheit, zu Arbeitern des Großbetriebs zu werden, ohne daß sie ins Proletariat versinken. Nur in einer sozialistischen Gesellschaft bedeutet die unvermeidlich gewordene Auflösung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Handwerks eine Hebung der Lage der Bauern und Handwerker.
Die Triebkraft der ökonomischen Entwicklung wird nicht mehr die Konkurrenz bilden, welche die rückständigen Betriebe ausmerzt und ihre Besitzer expropriiert, sondern die Anziehungskraft, welche die höher entwickelten Betriebe und Betriebsformen auf die Arbeiter der rückständigen Betriebe und Betriebsformen ausüben.
Diese Art der Entwicklung ist nicht allein schmerzlos, sie geht auch viel rascher vor sich als die durch die Konkurrenz bewirkte. Heute, wo die Einführung neuer, höherer Betriebsformen nicht vor sich gehen kann ohne die Expropriierung von Besitzern rückständiger Betriebe, ohne die Entbehrungen und Leiden großer Arbeitermassen, die überflüssig werden, begegnet jeder ökonomische Fortschritt einem hartnäckigen Widerstand. Wir haben gesehen, wie zäh die Produzenten noch vielfach an den überlebtesten Produktionsformen festhalten, wie verzweifelt sie sich an dieselben anklammern, solange nur ein Hauch von Kraft in ihnen ist. Noch nie ist eine Produktionsweise so revolutionär gewesen wie die heutige, noch nie hat eine Produktionsweise binnen einem Jahrhundert auf allen Gebieten der menschlichen Tätigkeit so riesenhafte Umwälzungen verursacht, und doch wie viele Ruinen veralteter, überlebter Produktionsformen haben sich noch erhalten!
Sobald die Angst verschwindet, durch das Aufgeben eines selbständigen Betriebs in das Proletariat geschleudert zu werden, sobald die Vorteile des gesellschaftlichen Großbetriebs für alle daran Beteiligten auf den verschiedensten Gebieten sich geltend machen, sobald jedem die Möglichkeit geboten ist, diese Vorteile mit zu genießen, werden nur noch Narren bestrebt sein, veraltete Betriebsformen zu erhalten.
Was der kapitalistischen Großindustrie binnen einem Jahrhundert nicht gelungen, wird der sozialistische Großbetrieb binnen kurzem erreichen: die Aufsaugung der rückständigen Kleinbetriebe. Er wird es erreichen ohne Expropriation, durch die Anziehungskraft des vorteilhafteren Betriebs.
Wo die bäuerliche Produktion noch nicht Warenproduktion, sondern vorwiegend Produktion zum Selbstgebrauch ist, wird vielleicht die bäuerliche Landwirtschaft noch einige Zeit lang fortbestehen in der sozialistischen Gesellschaft. Schließlich wird man auch in diesen Kreisen die Vorteile des gesellschaftlichen Großbetriebs verstehen lernen.
Der Übergang vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb in der Landwirtschaft wird beschleunigt und erleichtert werden durch die fortschreitende Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, durch die Tendenz zur Verlegung der Industrie auf das flache Land, welche der sozialistischen Gesellschaft notwendigerweise eigen sein muß. Wir müssen uns leider hier mit dieser Andeutung begnügen, da eine eingehendere Darlegung zu weit ab führen würde.
Wir wollen nur noch einen Punkt bezüglich des „Zukunftsstaates“ in Betracht ziehen, denjenigen, der der wichtigste von allen erscheint. Die erste Frage, die von Dritten an einen Sozialisten gerichtet wird, ist in der Regel die: „Wie werdet ihr die Teilung eures Reichtums vornehmen? Soll jeder gleichviel bekommen und jeder dasselbe?“
Das Teilen! Das steckt dem Philister in den Gliedern. Im Teilen erschöpfen sich seine ganzen Vorstellungen vom Sozialismus.
Es ist nicht lange her, daß in Deutschland noch die gebildetsten Leute annahmen, die Kommunisten wollten alle Reichtümer, die in der Nation vorhanden seien, unter das Volk verteilen.
Daß diese Anschauung sich trotz aller Proteste seitens der Sozialdemokratie so hartnäckig erhalten konnte, daran ist wohl die Böswilligkeit unserer Gegner nicht allein schuld, sondern, und zwar vielleicht zum größeren Teil, ihre Unfähigkeit, die durch die Entwicklung der Großindustrie geschaffenen Verhältnisse zu verstehen. Ihr geistiger Gesichtskreis geht immer noch vielfach über die Anschauungen nicht hinaus, die dem Kleinbetrieb entsprechen. Vom Standpunkt des Kleinbetriebs aus ist aber das Teilen die einzig mögliche Form einer Art von Sozialismus. Das Teilen liegt in der Tat dem Kleinbürger und Bauern sehr nahe. Seit dem Erstehen der Warenproduktion im Altertum ist es unzählige Male vorgekommen, sooft einige Familien – Kaufleute oder Grundbesitzer - große Reichtümer aufgehäuft und Handwerker oder Bauern in Abhängigkeit und Not gebracht hatten, daß diese sich zu helfen suchten durch Vertreibung der Reichen und Verteilung ihres Eigentums. Erst vor hundert Jahren, in der Französischen Revolution, die das Recht des Privateigentums so scharf betonte, haben Handwerker und Bauern geteilt – z. B. die Kirchengüter. Das Teilen, das ist der Sozialismus des Kleinbetriebs, der Sozialismus der „konservativen“, „staatserhaltenden“ Volksschichten, nicht der Sozialismus des großindustriellen Proletariats.
Es hat lange gebraucht, aber schließlich ist es doch gelungen, selbst den Denkerschädeln der deutschen Nation die Erkenntnis einzubläuen, daß die Sozialdemokraten nicht teilen wollen, sondern vielmehr das Gegenteil davon anstreben, die Vereinigung der bisher unter mehrere Besitzer verteilten Produktionsmittel in den Händen der Gesellschaft.
Aber damit ist die Frage des Teilens nicht aus der Welt geschafft. Wenn die Produktionsmittel der Gesellschaft gehören, so fällt ihr natürlich auch die Verfügung über die Produkte zu, die mit Hilfe dieser Produktionsmittel erzeugt werden. In welcher Weise wird sie dieselben unter ihre Mitglieder verteilen? Nach dem Maßstabe der Gleichheit oder nach Maßgabe der von jedem geleisteten Arbeit? Und wird in letzterem Falle jede Arbeit die gleiche Entlohnung erhalten, einerlei ob sie angenehm oder unangenehm, schwierig oder leicht ist, ob sie Vorkenntnisse erheischt oder nicht?
Die Beantwortung dieser Frage scheint der Kernpunkt des Sozialismus zu sein. Nicht bloß unsere Gegner reiten darauf am eifrigsten herum, die früheren Sozialisten selbst haben der Frage der Verteilung der Produkte die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Von Fourier bis Weitling und von diesem bis Bellamy läuft eine Reihe der mannigfaltigsten Lösungsversuche, die oft von bewunderungswürdigem Scharfsinn zeugen. An „positiven Vorschlägen“ ist kein Mangel, viele davon sind ebenso einfach wie praktisch.
Die Frage hat jedoch bei weitem nicht die Wichtigkeit, die ihr so vielfach beigemessen wird.
Man pflegte früher die Verteilung der Produkte als etwas von der Produktion ganz Unabhängiges zu betrachten. Und da die Widersprüche und Mißstände der kapitalistischen Produktionsweise zunächst in der ihr eigentümlichen Art der Verteilung der Produkte zutage traten, so war es ganz natürlich, daß die Ausgebeuteten und ihre Freunde in der „ungerechten“ Verteilung der Produkte die Wurzel alles Übels sahen.
Selbstverständlich nahmen sie an, entsprechend den Anschauungen, die zu Anfang unseres Jahrhunderts herrschten, daß diese Verteilung eine Folge der herrschenden Ideen sei, der Rechtsanschauungen. Um die ungerechte Verteilung zu beseitigen, galt es also, eine bessere und gerechtere zu ersinnen und die Welt von deren Vorteilen zu überzeugen. Die gerechte Verteilung konnte keine andere sein als das Gegenteil der bestehenden. Heute herrscht die krasseste Ungleichheit; das Prinzip der Verteilung sollte daher den einen zufolge die Gleichheit sein. Heute sitzt der Müßiggänger im Reichtum, der Arbeiter darbt, daher riefen andere: Jedem nach seinen Leistungen (oder in neuerer Form: Jedem der Ertrag seiner Arbeit). Aber gegen die eine wie gegen die andere Formel erhoben sich Bedenken, und so erstand eine dritte: Jedem nach seinen Bedürfnissen.
Seitdem sind die Sozialisten zur Erkenntnis gekommen, daß die Verteilung der Produkte in einer Gesellschaft bedingt wird nicht durch die in ihr herrschenden Rechtsanschauungen und Rechtsformen, sondern durch die in ihr herrschende Produktionsweise. Der Anteil der Grundbesitzer, Kapitalisten und Lohnarbeiter an dem Gesamtprodukt in der heutigen Gesellschaft wird bestimmt durch die Rolle, welche Grund und Boden, die Gegenstände des Kapitalbesitzes und die Arbeitskraft in der heutigen Produktionsweise spielen. In einer sozialistischen Gesellschaft wird freilich die Verteilung der Produkte nicht nach blindwirkenden Gesetzen vollzogen werden, die sich durchsetzen, ohne den Beteiligten recht zum Bewußtsein zu kommen. So wie heute in einem großen industriellen Unternehmen Produktion und Lohnauszahlung wohlüberdacht und planmäßig geordnet sind, so wird dies auch in einer sozialistischen Gesellschaft der Fall sein müssen, die nichts ist als ein einziger riesiger industrieller Betrieb. Die Regeln, nach denen sich die Verteilung der Produkte vollzieht, werden von den Beteiligten selbst aufgestellt sein. Aber es wird nicht in ihrem Belieben stehen, welche Regeln sie aufstellen wollen, diese werden nicht willkürlich diesem oder jenem „Prinzip“ zuliebe ausgedacht werden können, sondern werden bestimmt werden durch die tatsächlichen Verhältnisse, welche in der Gesellschaft herrschen, vor allem durch die Verhältnisse der Produktion.
So wird z. B. die jeweilige Höhe der Produktivität der Arbeit von größtem Einfluß sein auf die Art der Verteilung des Produkts der Arbeit. Man kann sich vorstellen, daß die Anwendung der Wissenschaft in der Industrie einmal eine so hohe Produktivität der Arbeit zeitigt, daß die Menschen alles, was sie brauchen, in Überfluß besitzen; dann würde die Formel: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“, ohne Schwierigkeit, fast von selbst, zur Durchführung gelangen. Dagegen würde die tiefste Überzeugung von der Gerechtigkeit dieser Formel ihre Durchführung nicht bewirken können, wenn die Produktivität der Arbeit eine so geringe bliebe, daß man ohne übermäßigen Arbeitsaufwand nicht mehr erzeugt, als man gerade braucht.
Die Formel: „Jedem sein Arbeitsertrag“, wird auf jeden Fall scheitern an den Bedürfnissen der Produktion. Denn wenn diese Formel einen Sinn haben soll, dann setzt sie voraus, daß das gesamte jeweilige Produkt der gesellschaftlichen Arbeit an die Mitglieder des sozialistischen Gemeinwesens verteilt wird. Diese Anschauung bewegt sich ebenso wie die von der großen Teilung, mit der angeblich das Regiment des Sozialismus eingeleitet werden soll, im Gedankenkreise des heutigen Privateigentums. Jahraus, jahrein alle Produkte verteilen hieße, nach und nach das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherstellen.
Das Wesen der sozialistischen Produktion bringt es notwendigerweise mit sich, daß nur ein Bruchteil der jeweilig hergestellten Produkte zur Verteilung kommt. Alle jene Produkte, die zur Fortführung und Erweiterung der Produktion (sowie zur Deckung etwaiger Ausfälle) bestimmt sind, kommen selbstverständlich nicht zur Verteilung. Ebenso nicht jene Produkte, die dem gemeinschaftlichen Konsum, das heißt zur Einrichtung, Erhaltung oder Erweiterung öffentlicher Erziehungs-, Lehr-, Heil-, Erholungs-, Vergnügungs- und ähnlicher Anstalten dienen.
Die Zahl und Ausdehnung solcher Institute ist bereits in der heutigen Gesellschaft in stetem Wachstum begriffen; auch auf diesen Gebieten drängt der Großbetrieb den Kleinbetrieb – hier namentlich die Familie – immer mehr zurück. In einer sozialistischen Gesellschaft wird diese Entwicklung naturgemäß nicht gehemmt, sondern gefördert werden.
Die Zahl der Produkte, die in privaten Konsum, in Privateigentum übergehen können, wird demnach in einer sozialistischen Gesellschaft im Verhältnis zur Menge des Gesamtprodukts eine viel geringere sein als in der heutigen Gesellschaft, wo fast alle Produkte Waren, Privateigentum sind. Es kommt nicht, wie heutzutage, fast das gesamte Produkt zur Verteilung, sondern nur ein Rest.
Aber auch über diesen Rest wird die sozialistische Gesellschaft nicht ganz nach Belieben verfügen können; auch bei dessen Verteilung werden die Bedürfnisse der Fortführung der Produktion maßgebend sein. Und da die Produktion in steter Umwandlung und Entwicklung begriffen sein wird, werden schon aus diesem Grunde die Formen und Arten der Verteilung der Produkte in einer sozialistischen Gesellschaft mannigfaltigen Änderungen unterworfen sein.
Es ist ganz utopisch gedacht, wenn man meint, es gelte ein besonderes System der Verteilung auszutüfteln, das dann für ewige Zeiten maßgebend sein solle. Auch auf diesem Gebiete wie auf allen anderen wird die sozialistische Gesellschaft keinen Sprung machen, sondern an das anknüpfen, was sie vorfindet. Die Verteilung der Güter in einer sozialistischen Gesellschaft dürfte in absehbarer Zeit nur in Formen vor sich gehen, welche eine Fortentwicklung der heute bestehenden Lohnformen darstellen. Von diesen wird sie ausgehen müssen. Und so wie die Formen des Arbeitslohns nicht bloß der Zeit nach wechseln, sondern auch gleichzeitig für verschiedene Arbeitszweige und in verschiedenen Gegenden verschiedene sind, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft, je nach den verschiedenen historischen Überlieferungen und den Gewohnheiten, die in der Bevölkerung fortbestehen, und nach den wechselnden Bedürfnissen der Produktion die mannigfaltigsten Formen der Verteilung der Produkte nebeneinander vorkommen werden. Man muß sich eine sozialistische Gesellschaft weder als etwas Starres noch als etwas Einförmiges vorstellen, sondern als etwas in vollem Flusse der Entwicklung Begriffenes und mit jenem Reichtum an wechselnden Formen Begabtes, der naturnotwendig folgt aus der Zunahme der Arbeitsteilung, des Weltverkehrs und der Herrschaft von Wissenschaft und Kunst in der Gesellschaft.
Neben dem „Teilen“ ist es die „Gleichheit“, was unseren Gegnern die meisten Kopfschmerzen verursacht. „Die Sozialdemokraten“, sagen sie, „wollen, daß jeder einen gleichen Anteil am Gesamtprodukt bekommt. Es soll also der Fleißige ebensoviel bekommen wie der Faule; die schwere und unangenehme Arbeit soll ebenso belohnt werden wie die leichte und angenehme; die einfache Handreichung ebenso wie das kunstvollste Schaffen, das jahrelange Vorbereitung erfordert usw. Natürlich wird unter diesen Umständen jeder sowenig arbeiten als möglich, niemand wird die schwierigen und unangenehmen Arbeiten verrichten, niemand noch etwas lernen wollen, und das Ende wird sein die völlige Zerrüttung der Gesellschaft, die Barbarei. Daraus ersieht man deutlich die Undurchführbarkeit der sozialdemokratischen Bestrebungen.“
Wie unsinnig diese Behauptung ist, braucht nach dem Gesagten kaum eingehend erörtert zu werden. Wir sind nicht so weitsichtig wie unsere Gegner und können daher keineswegs mit derselben Bestimmtheit wie sie uns darüber aussprechen, ob der „Zukunftsstaat“ die volle Gleichheit aller Einkommen dekretieren werde oder nicht. Sollte es aber einer sozialistischen Gesellschaft einmal einfallen, eine solche Bestimmung zu erlassen, und sollte diese Bestimmung wirklich anfangen, die von unseren Gegnern so klar gesehenen entsetzlichen Folgen nach sich zu ziehen, dann würde die natürliche Folge die sein, daß nicht die sozialistische Produktion, sondern – das Prinzip der Gleichheit über Bord geworfen würde.
Unsere Gegner hätten nur dann ein Recht, aus der Gleichheit der Einkommen auf die Undurchführbarkeit der sozialistischen Gesellschaft zu schließen, wenn es ihnen gelänge, nachzuweisen, 1. daß diese Gleichheit mit dem Fortgang der Produktion unter allen Umständen unvereinbar sei. Diesen Nachweis haben sie bisher nicht geliefert und werden sie nie liefern können, da die Betätigung des einzelnen in der Produktion nicht bloß von seiner Entlohnung abhängt, sondern von den verschiedensten Umständen, wie Pflichtgefühl, Ehrgeiz, Wetteifer, Gewohnheit, Anziehungskraft der Arbeit usw., über deren Gestaltung in der zukünftigen Gesellschaft wir nur Vermutungen, aber keine Gewißheit haben können – Vermutungen, nebenbei gesagt, die gegen und nicht für die Ansicht unserer Gegner sprechen; die Gegner müßten aber außerdem auch noch 2. nachweisen, daß die Gleichheit der Einkommen notwendig durch das Wesen einer sozialistischen Gesellschaft bedingt werde, so daß eine derartige Gesellschaft ohne diese Gleichheit undenkbar sei. Auch diesen Nachweis können sie unmöglich erbringen, denn schon ein Blick auf die verschiedenen Formen kommunistischer Produktion, die bisher bestanden haben, vom urwüchsigsten Kommunismus der frühesten Wilden an bis zu den Markgenossenschaften und Hausgenossenschaften unserer Bauern, zeigt, wie mannigfaltige Formen der Verteilung der Produkte mit dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln vereinbar sind. Alle Formen der heutigen Lohnzahlung – festes Gehalt, Zeitlohn, Stücklohn, Prämien für Leistungen, die über ein gewisses Durchschnittsmaß hinausgehen, verschiedene Bezahlung verschiedener Tätigkeiten –, alle diese Lohnformen sind – natürlich entsprechend umgestaltet – mit dem Wesen einer sozialistischen Gesellschaft vereinbar, und jede derselben dürfte je nach den verschiedenen Bedürfnissen und Gewohnheiten der Gesellschaftsmitglieder und den Bedürfnissen der Produktion in den verschiedenen sozialistischen Gesellschaften zeitweise eine mehr oder weniger große Rolle spielen.
Damit soll jedoch nicht behauptet werden, daß nicht auch das Prinzip der Gleichheit (welche nicht notwendig Gleichförmigkeit sein muß) der Einkommen oder der materiellen Lebensbedingungen in den sozialistischen Gesellschaften eine Rolle spielen wird, jedoch nicht als Ziel einer gewaltsamen Gleichmacherei, die ohne weiteres unvermittelt erzwungen wird, sondern als Ziel einer natürlichen Entwicklung, als Tendenz.
In der kapitalistischen Produktionsweise herrscht sowohl die Tendenz nach Vergrößerung wie auch die nach Verminderung der Unterschiede in den Einkommen, nach Vergrößerung und nach Verkleinerung der Ungleichheit.
Indem sie die Mittelschichten auflöst und die großen Kapitalien immer mehr anschwellen läßt, erweitert sie zusehends die Kluft, die zwischen der Masse der Bevölkerung und ihren Spitzen besteht. Diese ragen immer höher über jene empor, immer unnahbarer und schroffer. Gleichzeitig geht aber die Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise dahin, innerhalb der Masse der Bevölkerung selbst die bestehenden Einkommensunterschiede immer mehr und mehr auszugleichen. Sie wirft nicht nur Bauern und Kleinbürger ins Proletariat oder drückt ihre Einkünfte auf ein proletarierhaftes Maß herab, sie hebt auch die im Schöße des Proletariats bestehenden Unterschiede immer mehr auf. Die Maschine strebt immer mehr dahin, die Unterschiede aufzuheben, welche längere oder kürzere Lehrzeit, größeres oder geringeres Angebot von Arbeitskräften, strammere oder losere Organisation unter der Herrschaft des Handwerks und auch noch der Manufaktur in den Löhnen der verschiedenen Arbeiterschichten hervorriefen und die angesichts der Ständigkeit in den Produktionsformen, welche vor der Einführung des Maschinenwesens bestand, zu stehenden, festwurzelnden Unterschieden wurden. Heute sind die Unterschiede in den Lohnhöhen der verschiedenen Arbeiterschichten unaufhörlich wechselnde und immer mehr sich ausgleichende. Gleichzeitig beginnt auch, wie wir gesehen, das Einkommen der Kopfarbeiter immer mehr dem der Proletarier gleich zu werden: Diese Gleichsetzung, die unsere Gegner mit größter sittlicher Entrüstung als Absicht der Sozialdemokratie brandmarken, geht vor ihren Augen in der heutigen Gesellschaft vor sich!
In der sozialistischen Gesellschaft finden natürlich alle jene Tendenzen zur Vermehrung der Ungleichheit, die aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln entspringen, ein Ende. Dagegen wird in ihr die Tendenz zur Ausgleichung der Unterschiede in den Einkommen um so stärker zum Ausdruck gelangen. Aber auch hier gilt wieder, was wir oben bemerken konnten, als wir von der Auflösung der überlieferten Familienform und dann vom Untergang des Kleinbetriebs sprachen: die Tendenz der ökonomischen Entwicklung bleibt in gewisser Beziehung dieselbe in der sozialistischen wie in der kapitalistischen Gesellschaft, aber sie äußert sich in anderer Weise. Heute geht die Ausgleichung der Einkommen der großen Masse der Bevölkerung dadurch vor sich, daß die höheren Einkommen auf die Stufe der niedrigen herabgedrückt werden. In einer sozialistischen Gesellschaft wird sie naturgemäß in der Weise zustande kommen, daß die niederen Einkommen erhöht und den höheren gleichgemacht werden.
Unsere Gegner suchen den Arbeitern und Kleinbürgern dadurch bange zu machen, daß sie sagen, eine Ausgleichung der Einkommen würde ihre Lage nur verschlimmern, denn das Gesamteinkommen der wohlhabenden Klassen reiche nicht hin, das der schlechtestgestellten Klassen, wenn unter diese verteilt, auf die Höhe des Durchschnittseinkommens der Arbeiterklasse zu bringen. Im Interesse der „Gleichheit“ müßten also auch die bessergestellten Arbeiter und Kleinbürger etwas von ihrem Einkommen abgeben. Sie würden durch den Sozialismus verlieren, statt gewinnen.
Daran ist so viel wahr, daß die Elendesten, vor allem die Lumpenproletarier, heute allerdings so zahlreich sind und ihre Not so groß ist, daß es kaum genügen würde, die ungeheuren Einkommen der Reichen unter sie zu verteilen, um ihnen die Existenz eines bessergestellten Arbeiters zu ermöglichen. Ob das gerade ein Grund ist, der die Erhaltung unserer herrlichen Gesellschaft besonders dringend notwendig macht, erscheint uns allerdings fraglich. Wir dächten, daß bereits eine Besserung der Notlage, die durch eine solche Verteilung bewirkt würde, einen Fortschritt bedeuten müßte.
Aber es handelt sich ja, wie wir wissen, gar nicht um das „Teilen“, sondern um die Änderung der Produktionsweise. Der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktion muß aber unbedingt ein rasches Emporschnellen der jährlich erzeugten Produktenmasse bewirken. Vergessen wir nicht, daß die kapitalistische Warenproduktion ein Hindernis der ökonomischen Entwicklung, ein Hindernis der vollen Entfaltung der Produktivkräfte der modernen Gesellschaft geworden ist. Sie ist nicht nur nicht imstande, die Kleinbetriebe in dem Maße aufzusaugen, in dem die technische Entwicklung es ermöglicht, ja erfordert, sie hat auch gar nicht mehr die Möglichkeit, alle vorhandenen Arbeitskräfte zu beschäftigen. Sie vergeudet sie, indem sie einen stets wachsenden Bruchteil derselben in die Reihen der Arbeitslosen, der Lumpenproletarier, der Schmarotzer, der unproduktiven Zwischenhändler drängt und einen anderen Bruchteil in den stehenden Heeren ohne Nutzen für die Produktion füttert.
Eine sozialistische Gesellschaft würde für alle diese Arbeitskräfte produktive Arbeit finden; sie würde die Zahl der in der Produktion tätigen Arbeiter erheblich vermehren, vielleicht verdoppeln, in demselben Maße aber auch die Gesamtmenge der jährlichen Produkte anschwellen lassen. Diese Erweiterung der Produktion würde allein schon genügen, die Einkommen sämtlicher Arbeiter, nicht bloß die der elendesten unter ihnen, zu erhöhen.
Durch den Übergang zu einer sozialistischen Produktion würde aber auch, wie wir schon ausgeführt, die Aufsaugung der Kleinbetriebe und deren Ersetzung durch Großbetriebe sehr gefördert, damit aber die Produktivität der Arbeit im allgemeinen erheblich gesteigert. Es wäre möglich, nicht bloß die Einkommen der Arbeiter zu erhöhen, sondern auch die Arbeitszeit zu verringern.
Es ist demnach ganz unsinnig, zu behaupten, der Sozialismus bedeute die Gleichheit des Bettelsacks für alle. Diese Gleichheit ist nicht die Tendenz des Sozialismus, sondern die der heutigen Produktionsweise. Der Übergang zur sozialistischen Produktion muß naturnotwendig eine Erhöhung des Wohlstandes aller arbeitenden Klassen, auch der Bauern und der Kleinbürger, mit sich bringen. Je nach den Umständen und den ökonomischen Verhältnissen, unter denen dieser Übergang vor sich geht, wird diese Erhöhung eine größere oder kleinere, auf jeden Fall aber eine merkliche sein. Und jeder weitere ökonomische Fortschritt wird von da an eine Vermehrung, nicht, wie heutzutage, eine Verminderung des allgemeinen Wohlstandes bewirken.
Diese Umkehr in der Richtung der Einkommensentwicklung erscheint uns noch wichtiger für das Wohlbefinden der Gesellschaft als die absolute Vermehrung der Einkommen. Denn der denkende Mensch lebt mehr in der Zukunft als in der Gegenwart; was jene ihm droht oder verspricht, beschäftigt ihn mehr als der Genuß des Augenblicks. Nicht das Sein, sondern das Werden, nicht Zustände, sondern Tendenzen entscheiden über Glück und Unglück des einzelnen und ganzer Gesellschaften.
Wir lernen hier eine neue Seite der Überlegenheit einer sozialistischen Gesellschaft über die kapitalistische kennen. Sie bietet nicht bloß erhöhten Wohlstand, sondern auch Sicherheit der Existenz, eine Sicherheit, wie sie der größte Reichtum heute nicht gewähren kann. Wenn die Vermehrung des Wohlstandes bloß die bisher Ausgebeuteten trifft, so ist die Sicherung des Lebensunterhaltes eine dankenswerte Gabe auch für die heutigen Ausbeuter, für die, deren Wohlleben einer Steigerung nicht mehr bedarf, oft nicht mehr fähig ist. Die Unsicherheit schwebt über den Reichen wie über den Armen, und sie ist vielleicht noch quälender als die Not; sie läßt im Geiste auch jene die Not empfinden, die von ihr noch nicht ergriffen sind; sie ist ein Gespenst, das auch Paläste nicht verschont.
Allen Forschern, die kommunistische Gemeinwesen kennengelernt haben, etwa indische oder russische Dorfgemeinden (vor ihrer Auflösung durch Warenproduktion, staatliche Eingriffe, Geldwirtschaft und daraus folgenden Wucher) oder bäuerliche Hausgenossenschaften, wie sie bei den Südslawen sich heute noch finden, ist vor allem aufgefallen das Gefühl der Ruhe, der Sicherheit, des Gleichmutes, das allen ihren Mitgliedern eigen war. Völlig unabhängig von allen Schwankungen des Warenmarktes, in vollem Besitz ihrer Produktionsmittel, genügen sie sich selbst, regeln sie ihre Arbeit nach ihren Bedürfnissen und wissen von vornherein, was sie zu erwarten haben.
Und doch war die Sicherheit keine vollständige, welche diese urwüchsigen kommunistischen Gesellschaften boten. Ihre Herrschaft über die Natur war gering, die Gemeinwesen selbst waren klein. Verluste durch Viehseuchen, Mißernten, Überschwemmungen u. dgl. traten nicht selten ein und trafen dann die ganze Genossenschaft. Wieviel sicherer steht dagegen ein sozialistisches Gemeinwesen von der Ausdehnung eines modernen Staates da, das über die ganzen Errungenschaften der heutigen Wissenschaft verfügt!
Daß eine sozialistische Gesellschaft ihren Mitgliedern Wohlstand und Sicherheit bietet, haben selbst viele unserer Gegner erkannt und anerkannt. Aber, wenden sie ein, diese Vorteile sind zu teuer erkauft, denn sie werden bezahlt mit dem völligen Verlust der Freiheit. Der Vogel im Käfig darf täglich auf genügendes Futter rechnen; er ist gesichert vor Hunger, Unwetter und Feinden. Aber die Freiheit fehlt ihm, und darum ist er doch ein bedauernswertes Geschöpf, das sich hinaussehnt in die Welt der Gefahren und der Not, hinaus in den Kampf ums Dasein.
Der Sozialismus, sagen sie, vernichtet die wirtschaftliche Freiheit, die Freiheit der Arbeit. Er führt einen Despotismus ein, demgegenüber der schrankenloseste politische Absolutismus ein freier Zustand ist, da dieser nur eine Seite des Menschen gefangennimmt, dieser den ganzen Menschen.
So groß ist die Furcht vor der Knechtschaft des Kommunismus, daß es selbst Sozialisten gibt, die davon ergriffen sind, die Anarchisten. Dieselben verabscheuen den Kommunismus ebensosehr wie die Warenproduktion und suchen den Gefahren beider dadurch zu entgehen, daß sie – beide gleichzeitig wollen. Sie wollen einen Kommunismus mit Warenproduktion. Das ist in der Theorie absurd, in der Praxis läuft es auf die schon gekennzeichneten Arbeitergenossenschaften der liberalen „Selbsthilfe“ hinaus.
Es ist richtig, wenn gesagt wird, die sozialistische Produktion sei unvereinbar mit der vollen Freiheit der Arbeit, das heißt, der Freiheit des Arbeiters zu arbeiten, wann, wo und wie er wolle. Aber diese Freiheit des Arbeiters ist unvereinbar mit jedem planmäßigen Zusammenarbeiten mehrerer, in welcher Form immer dasselbe stattfinde, ob auf kapitalistischer oder genossenschaftlicher Grundlage. Die Freiheit der Arbeit ist bloß möglich für den Kleinbetrieb, und auch für diesen nur bis zu einem gewissen Grad. Selbst wo der Kleinbetrieb von allen beengenden Vorschriften – Flurzwang, Zunftzwang u. dgl. – befreit ist, bleibt der einzelne Arbeiter doch abhängig von natürlichen und gesellschaftlichen Einflüssen – der Bauer z. B. von der Witterung, der Handwerker vom Stand des Marktes usw. Immerhin bietet der Kleinbetrieb die Möglichkeit einer gewissen Freiheit der Arbeit, dieselbe ist sein Ideal, das revolutionärste Ideal, dessen der Kleinbürger fähig ist, der nicht über den Gesichtskreis des Kleinbetriebs hinausschauen kann.
Dieses Ideal war vor hundert Jahren, zur Zeit der Französischen Revolution, noch wohlbegründet in den wirtschaftlichen Verhältnissen. Heute hat es allen Halt verloren und kann nur noch in den Köpfen von Leuten spuken, die nicht sehen, welche wirtschaftliche Umwälzung seitdem vor sich gegangen. Mit dem Untergang des Kleinbetriebs ist auch der Untergang der Freiheit der Arbeit notwendig verknüpft. Es sind nicht die Sozialdemokraten, die sie vernichten, sondern die unaufhaltsamen Fortschritte der Großindustrie. Gerade diejenigen, die das Wort von der Notwendigkeit der Freiheit der Arbeit am meisten im Munde führen, die Kapitalisten, sind diejenigen, die am meisten dazu beitragen, sie zu beseitigen.
Nicht bloß für die Fabrikarbeit hört die Freiheit der Arbeit auf, sondern für jede Arbeit, in der der einzelne nur als Glied eines großen Ganzen wirkt. Sie besteht nicht für die Teilarbeiter der Manufaktur und der Hausindustrie, aber auch nicht für alle jene Kopfarbeiter, die als Angestellte in Anstalten, nicht als einzelne auf eigene Faust tätig sind. Der Spitalarzt wie der Schullehrer, der Eisenbahnbeamte wie der Zeitungsschreiber usw., sie alle haben nicht die Freiheit der Arbeit, sondern sind an bestimmte Regeln gebunden, müssen an bestimmten, ihnen vorgeschriebenen Orten zu bestimmten Zeiten arbeiten usw. Und da, wie schon bemerkt, auf den Gebieten der geistigen Tätigkeit der Großbetrieb den Kleinbetrieb ebenso verdrängt wie auf anderen Gebieten menschlichen Wirkens, so nimmt auch für die Kopfarbeiter schon in der heutigen Gesellschaft die Freiheit der Arbeit immer mehr ab.
Allerdings besitzt der Arbeiter unter der Herrschaft der kapitalistischen Großindustrie immer noch eine gewisse Freiheit. Wenn ihm heute die Arbeit in einem Unternehmen nicht paßt, so steht es ihm frei, sich Arbeit in einem anderen zu suchen; er kann aus einem Dienst in den anderen treten. In einem sozialistischen Gemeinwesen sind alle Produktionsmittel in einer Hand vereinigt, es gibt da nur einen einzigen „Arbeitgeber“, den zu wechseln unmöglich ist.
In dieser Beziehung hat der heutige Lohnarbeiter also vor dem Arbeiter der sozialistischen Gesellschaft eine Freiheit voraus, aber man kann dieselbe doch nicht die Freiheit der Arbeit nennen. Mag er noch so oft aus einer Fabrik in die andere übergehen, die Freiheit der Arbeit wird er in keiner finden, in jeder werden die Verrichtungen jedes einzelnen Arbeiters genau bestimmt und geregelt sein. Es ist das eine technische Notwendigkeit.
Die Freiheit, deren Verlust dem Arbeiter in der sozialistischen Produktion droht, ist also nicht die Freiheit der Arbeit, sondern nur die Freiheit, seinen Herrn selbst auszusuchen. Diese Freiheit ist heute keineswegs bedeutungslos; sie bildet eine Schutzwehr des Arbeiters, wie jeder weiß, der in einem Monopolbetrieb beschäftigt war oder ist. Aber auch diese Freiheit wird durch die ökonomische Entwicklung immer mehr in Frage gestellt; die wachsende Arbeitslosigkeit bewirkt, daß die Zahl der frei werdenden Stellen viel geringer ist als die Zahl der Bewerber darum. Der Arbeitslose muß in der Regel froh sein, überhaupt einen Posten zu finden. Und die zunehmende Vereinigung der Produktionsmittel in wenigen Händen wirkt darauf hin, daß schließlich der Arbeiter in jedem Betrieb denselben „Arbeitgeber“ oder zum mindesten dieselben Arbeitsverhältnisse wiederfindet.
Was unsere Gegner als böse Absicht der kultur- und freiheitsfeindlichen Sozialdemokratie ausschreien, ist eine naturnotwendige Tendenz der ökonomischen Entwicklung in der heutigen Gesellschaft. Das gilt, wie auf so vielen anderen Gebieten, so auch hier.
Es ist nicht die Sozialdemokratie, sondern die ökonomische Entwicklung, wodurch die Freiheit der Wahl der Arbeitsgelegenheit ebenso beseitigt wird wie die Freiheit während der Arbeit. Die Sozialdemokratie will allerdings nicht und kann auch gar nicht diese Entwicklung hemmen; aber, wie wir es schon auf anderen Gebieten gesehen, so wird sie auch hier der Entwicklung eine andere, für die Arbeiter günstigere Gestalt geben. Sie kann die Abhängigkeit des Arbeiters von dem wirtschaftlichen Getriebe, in dem er ein Rädchen bildet, nicht beseitigen, aber anstelle der Abhängigkeit des Arbeiters von einem Kapitalisten, dessen Interessen den seinen feindlich gegenüberstehen, setzt sie seine Abhängigkeit von einer Gesellschaft, deren Mitglied er selbst ist, einer Gesellschaft gleichberechtigter Genossen, die gleiche Interessen haben.
Eine solche Abhängigkeit mag einem liberalen Advokaten oder Literaten unerträglich erscheinen, sie ist es nicht für einen modernen Proletarier, wie ein Blick auf die gewerkschaftliche Bewegung zeigt. Die Gewerkschaften geben uns bereits ein Bild jener „Tyrannei des sozialistischen Zwangsstaates“, von der unsere Gegner faseln. Da werden bereits die Arbeitsbedingungen des einzelnen auf das genaueste und strengste geregelt, es ist aber bisher noch keinem Mitglied einer dieser Gesellschaften eingefallen, darin eine unerträgliche Beeinträchtigung seiner persönlichen Freiheit zu erblicken. Wer es notwendig fand, gegenüber diesem „Terrorismus“ die „Freiheit der Arbeit“ zu verteidigen – oft mit Waffengewalt, unter Blutvergießen –, das waren nicht die Arbeiter, sondern ihre Ausbeuter. Arme Freiheit, die heute keine Verteidiger mehr findet als die Sklavenhalter!
Aber die Unfreiheit der Arbeit verliert in einem sozialistischen Gemeinwesen nicht nur ihren drückenden Charakter, sie wird auch die Grundlage werden der höchsten Freiheit, die im Menschengeschlecht bisher möglich gewesen.
Das klingt widerspruchsvoll. Aber der Widerspruch ist nur ein scheinbarer.
Bis zum Auftreten der Großindustrie hat die Arbeit zur Erzeugung und Erwerbung der zur Lebenserhaltung notwendigen Produkte, sagen wir kurz, die Erwerbsarbeit, die damit Beschäftigten völlig in Anspruch genommen; sie erforderte die Anspannung aller Kräfte nicht bloß des Körpers, sondern auch des Geistes. Das gilt nicht bloß vom Jäger und Fischer, es gilt auch noch vom Bauern, vom Handwerker und vom Kaufmann: Das Leben des erwerbenden Menschen ging fast völlig in seiner Erwerbstätigkeit auf. Die Arbeit war es, die seine Sehnen und Nerven stählte, die sein Gehirn erfindungsreich und wißbegierig machte. Aber je mehr die Arbeitsteilung sich entwickelte, desto einseitiger mußte sie den erwerbenden Menschen machen. Geist und Körper hören auf, sich auf den verschiedensten Gebieten zu betätigen und alle ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Gänzlich von der augenblicklichen Teilarbeit in Anspruch genommen, verloren die Erwerbstätigen den Sinn für die Gesamtheit der Erscheinungen ihrer Umgebung. Eine harmonische, allseitige Entwicklung der geistigen und körperlichen Kräfte, eine eindringende Beschäftigung mit den Fragen nach den Zusammenhängen in der Gesellschaft und der Natur, ein philosophisches Denken, das heißt ein Suchen nach den höchsten Wahrheiten um ihrer selbst willen, konnte unter diesen Umständen nur noch bei jenen gefunden werden, die frei blieben von der Erwerbsarbeit. Das war bis zum Erstehen des Maschinenwesens nur möglich durch die Abwälzung dieser Arbeit auf andere, durch die Ausbeutung.
Das idealste, philosophischste Geschlecht, das die Geschichte bisher kennt, eine einzig dastehende Gesellschaft von Denkern und Künstlern, die der Wissenschaft und Kunst um ihrer selbst willen diente, war die athenische Aristokratie, waren die sklavenhaltenden Grundbesitzer Athens.
Die Arbeit – nicht bloß die Sklavenarbeit, sondern auch die freie Arbeit – galt bei ihnen als etwas Erniedrigendes, und das mit Recht. Es war keine Überhebung, wenn Sokrates sagte: „Den Krämern und Handwerkern (Banausen) fehlt es an Bildung, schon wegen Mangels an Muße, ohne welche eine gute Erziehung unmöglich ist. Sie lernen nur, was ihr Beruf erfordert, das Wissen an sich hat keinen Reiz für sie. So beschäftigen sie sich mit der Rechenkunst nur des Handels wegen, nicht um mit der Natur der Zahlen vertraut zu werden. Sie haben nicht die Kraft, etwas Höheres zu erstreben. Der Gewerbetreibende spricht: die Freude an der Ehre und am Lernen ist im Vergleich mit dem Geldgewinn ohne Wert. Mögen die Schmiede, Zimmerleute und Schuster in ihrem Fache geschickt sein, die meisten sind Sklavenseelen, sie wissen nicht, was schön, gut und gerecht ist.“
Seitdem ist die ökonomische Entwicklung fortgeschritten, die Arbeitsteilung hat eine unglaubliche Höhe erreicht, und das Überwuchern der Warenproduktion hat die Ausbeuter und die Gebildeten in den Kreis der Erwerbenden getrieben. Gleich den Handwerkern und Bauern gehen heute auch die Reichen ganz in ihrer Erwerbstätigkeit auf. Nicht in Gymnasien und Akademien versammeln sie sich, sondern auf Börsen und Märkten; die Spekulationen, in die sie versunken sind, betreffen nicht die Begriffe der Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern Wolle und Schnaps, russische Anleihen und portugiesische Coupons. Ihre geistigen Kräfte erschöpfen sich in diesen Spekulationen. Nach getaner „Arbeit“ bleibt ihnen nur noch Kraft und Interesse zu möglichst geistlosen Vergnügungen.
Für die Gebildeten aber ist die Bildung eine Ware geworden, wie wir gesehen. Auch sie haben keine Zeit und keinen Antrieb mehr zum selbstlosen Suchen nach der Wahrheit, zum Streben nach dem Ideal. Jeder begräbt sich in seine Spezialität und hält jede Minute für verloren, die er aufwendet, etwas zu lernen, das er nicht verwerten kann. Daher jetzt die Sucht, das Griechische und Lateinische aus den Mittelschulen zu entfernen. Da sprechen weniger pädagogische Gründe dagegen als das Streben, die Jungen ja nur lernen zu lassen, was sie einmal „brauchen“, das heißt, in Geld umsetzen können.
Auch bei den Männern der Wissenschaft wie der Kunst geht der Sinn für das Ganze, das Streben nach allseitiger, harmonischer Entwicklung verloren. Überall nur einseitiges Fachstudium. Wissenschaft und Kunst sinken zum Handwerk herab. Auch für sie gilt, was Sokrates von den banausischen Beschäftigungen sagte. Der philosophische Sinn ist im Aussterben begriffen – das heißt innerhalb der hier erwähnten Klassen.
Inzwischen ist aber eine neue Art von Arbeit erstanden, die Arbeit an der Maschine, und eine neue Klasse, das Proletariat.
Die Maschine raubt der Arbeit jeden geistigen Inhalt. Der Arbeiter an der Maschine hat nicht mehr zu denken, nicht zu überlegen, er hat willenlos der Maschine zu gehorchen. Sie schreibt ihm vor, was er zu tun hat, er wird ihr Anhängsel.
Was für die Arbeit an der Maschine, gilt, wenn auch in der Regel in geringerem Grade, ebenfalls für die Teilarbeiten der Manufaktur und Hausindustrie. Die Zerlegung der Arbeit des Handwerkers, der etwas Ganzes schafft, in eine Reihe von Teilarbeiten, von denen jede mittelst eines oder mehrerer ganz einfacher Hangriffe nur den Teil eines ganzen Produkts hervorbringt, bildet bekanntlich die Vorstufe und Einleitung zum Maschinenwesen.
Die erste Folge, welche die Eintönigkeit und Geistlosigkeit der Arbeit für den Proletarier nach sich zieht, ist die anscheinende Ertötung seines Geistes.
Aber die nächste Folge ist die, daß er sich zur Empörung getrieben fühlt gegen die überlange Ausdehnung der Arbeit. Für ihn ist Arbeiten nicht gleichbedeutend mit Leben. Das Leben beginnt für ihn erst, wenn die Arbeit zu Ende. Für jenen Arbeiter, dem Arbeit und Leben eins sind, kann die Freiheit der Arbeit ein freies Leben bedeuten. Derjenige Arbeiter, der nur lebt, wenn er nicht arbeitet, kann ein freies Leben nur erlangen durch Befreiung von der Arbeit. Natürlich kann das Streben der letzteren Klasse von Arbeitern nicht dahin gehen, sich jeder Arbeit zu entledigen. Die Arbeit ist ja die Vorbedingung des Lebens. Aber ihr Streben muß naturnotwendig dahin gehen, die Arbeit, die sie zu leisten haben, so weit einzuschränken, daß sie ihnen Raum läßt zum Leben.
Dies ist eine der stärksten Wurzeln des Kampfes um die Verkürzung der Arbeitszeit der modernen Proletarier, eines Kampfes, dem die Bauern und Handwerker vom alten Schlag verständnislos gegenüberstehen. Es ist nicht ein Kampf um kleine ökonomische Vorteile, um etwas Lohnerhöhung, um Verminderung der Zahl der Arbeitslosen; diese Zwecke spielen mit, aber im Grunde ist es ein Kampf ums Leben.
Indes noch eine weitere Folge entspringt daraus, daß die Arbeit durch die Maschine ihres geistigen Inhalts entkleidet worden: Die Geisteskräfte des Proletariers werden nicht, wie die der anderen Erwerbstätigen, durch die Erwerbstätigkeit erschöpft; sie liegen während derselben brach. Um so mächtiger ist der Drang der Proletarier nach Betätigung ihres Geistes außerhalb der Arbeit, wenn diese nur einigermaßen Raum dazu gewährt. Eine der auffallendsten Erscheinungen der heutigen Gesellschaft ist der Wissensdurst des Proletariats. Während alle anderen Klassen ihre Mußezeit so geistlos als möglich totzuschlagen suchen, strebt das Proletariat mit einer wahren Gier nach Bildung. Nur wer Gelegenheit gehabt hat, unter Proletariern zu wirken, kann die Kraft dieses Dranges nach Wissen und Aufklärung völlig ermessen. Aber ahnen kann sie auch der Fernerstehende, wenn er die Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren der Arbeiter mit der Literatur vergleicht, die in anderen Gesellschaftskreisen beliebt ist.
Und dieser Drang nach Wissen ist ein völlig interesseloser. Dem Arbeiter an der Maschine kann das Wissen nicht helfen, sein Einkommen zu erhöhen. Wenn er die Wahrheit sucht, so sucht er sie um ihrer selbst willen, nicht um irgendeines materiellen Gewinnes halber. Darum beschränkt er sich auch nicht auf ein einzelnes, kleineres Gebiet; sein Blick richtet sich aufs Ganze; die ganze Gesellschaft, die ganze Welt will er begreifen. Die schwierigsten Rätsel locken ihn am meisten, mit Vorliebe wendet er sich Fragen der Philosophie, der Metaphysik zu, es hält oft schwer, ihn aus den Wolken wieder auf die Erde herabzubringen.
Nicht der Besitz des Wissens, sondern das Streben nach Wissen macht den Philosophen aus. Es sind die verachteten, unwissenden Proletarier, in denen der philosophische Geist der glänzenden Denker der athenischen Aristokratie wieder auflebt. Aber eine freie Entfaltung dieses Geistes ist in der heutigen Gesellschaft nicht möglich. Sind doch die Proletarier ohne Mittel, sich zu unterrichten, ohne Anleitung zu systematischem Studium, allen Zufällen und Hindernissen einer planlosen Selbstausbildung überlassen, und vor allem ohne genügende Muße! Wissenschaft und Kunst bleiben für sie ein gelobtes Land, das sie von ferne schauen, um dessen Besitz sie kämpfen, das sie aber nicht betreten können.
Erst der Sieg des Sozialismus erschließt dem Proletariat alle Quellen der Bildung; erst der Sieg des Sozialismus ermöglicht es, die Zeit der Arbeit zur Gewinnung des Lebensunterhalts so weit zu verkürzen, daß dem Arbeiter die nötige Muße gegeben wird, sich ein ausreichendes Wissen anzueignen. Die kapitalistische Produktionsweise weckt den Wissensdurst des Proletariats, die sozialistische Produktionsweise allein kann ihn stillen.
Nicht die Freiheit der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit, wie sie das Maschinenwesen in einer sozialistischen Gesellschaft in weitgehendem Maße ermöglicht, wird der Menschheit die Freiheit des Lebens bringen, die Freiheit künstlerischer und wissenschaftlicher Betätigung, die Freiheit des edelsten Genusses.
Jene glückliche harmonische Bildung, die nur einmal in der Weltgeschichte bisher aufgetreten ist als das Vorrecht einer kleinen Schar auserlesener Aristokraten, wird das Gemeingut aller Völker der Zivilisation werden; was für jene die Sklaven, werden für diese die Maschinen leisten; sie werden alle erhebenden Einflüsse der Befreiung von der Erwerbsarbeit empfinden, ohne eine jener herabwürdigenden Einwirkungen mit in Kauf nehmen zu müssen, durch welche die Sklavenwirtschaft die Aristokraten Athens schließlich entnervte. Und so wie die heutigen Hilfsmittel der Wissenschaft und Kunst weit überlegen sind denen, die vor zwei Jahrtausenden bekannt waren; und so wie die heutige Kulturwelt das kleine Griechenland weit überragt, so wird die sozialistische Gesellschaft das glänzendste Gemeinwesen, das die Geschichte bisher kennt, an sittlicher Größe und materieller Wohlfahrt weit übertreffen.
Glücklich jeder, dem es beschieden, seine Kraft einzusetzen im Kampfe für die Verwirklichung dieses herrlichen Ideals!
8. Nur nebenbei sei hier bemerkt, daß, da die ökonomische Entwicklung unter sozialistischen Gesellschaftszuständen keineswegs stillstehen kann, ihr Fortgang bewirken wird, daß der Umfang stetig wächst, dessen eine sozialistische Genossenschaft bedarf, um gedeihen zu können. Daß die einzelnen sozialistischen Nationen schließlich zu einem einzigen Gemeinwesen verschmelzen werden, daß das ganze Menschengeschlecht eine einzige Gesellschaft bilden wird, ist unsere feste Überzeugung. Indessen haben wir es hier nur mit den Ausgangspunkten, nicht mit dem späteren Verlauf der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsformen zu tun, brauchen also die Weltrepublik nicht in das Bereich unserer Erörterungen einzubeziehen.
Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018