Karl Kautsky

Das Erfurter Programm


V. Der Klassenkampf

1. Der Sozialismus und die besitzenden Klassen

Die letzten Absätze des allgemeinen Teils unseres jetzigen Programms lauten:

„Diese gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet. Aber sie kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessenstreitigkeiten unter sich, auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der heutigen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben.

Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte. Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.

Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen – das ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei.

Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern mit kapitalistischer Produktionsweise die gleichen. Mit der Ausdehnung des Weltverkehrs und der Produktion für den Weltmarkt wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist also ein Werk, an dem die Arbeiter aller Kulturländer gleichmäßig beteiligt sind. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kämpft also nicht für neue Klassenprivilegien und -Vorrechte, sondern für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von diesen Anschauungen ausgehend, bekämpft sie in der heutigen Gesellschaft nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.“

Der Einleitungssatz des ersten dieser Absätze bedarf kaum noch einer Erläuterung. Wir haben bereits eingehend nachgewiesen, daß die Verdrängung der kapitalistischen durch die sozialistische Produktion nicht bloß im Interesse der Besitzlosen und Ausgebeuteten liegt, sondern auch im Interesse der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung, damit aber in gewissem Sinne sogar im Interesse der Besitzenden und Ausbeuter. Auch diese leiden unter den Widersprüchen, welche die moderne Produktionsweise zeitigt. Die einen von ihnen verkommen in Trägheit, die anderen reiben sich auf in atemloser Hetzjagd nach dem Profit, und über ihnen allen schwebt stets das Damoklesschwert des Bankerotts, des Versinkens im Proletariat.

Aber der Augenschein lehrt uns, daß die große Masse der Besitzenden und Ausbeutenden dem Sozialismus nicht nur zweifelnd und mißtrauisch, sondern sogar in erbittertster Feindschaft gegenübersteht.

Sollte bloß Mangel an Wissen und Einsicht schuld daran sein? Aber die Wortführer unter den Gegnern des Sozialismus sind gerade diejenigen, deren Stellung im Staat, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft sie am meisten befähigen sollte, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen und die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen.

Und so schreiend sind die Zustände der heutigen Gesellschaft, daß es niemand mehr wagt, der in der Politik oder der Wissenschaft ernsthaft genommen werden will, die Berechtigung der sozialistischen Kritik zu leugnen. Im Gegenteil, die erleuchtetsten Köpfe in allen nichtsozialistischen Parteien erkennen an, daß sie einen „berechtigten Kern“ habe, ja manche von ihnen erklären sogar den Sieg des Sozialismus für unvermeidlich – aber nur bedingungsweise, nämlich nur dann unvermeidlich, wenn nicht die Gesellschaft plötzlich Umkehr macht und sich bessert, was ganz nach Belieben und mit Leichtigkeit geschehen kann, wenn man sich beeilt, den besonderen Wünschen der einen oder der anderen dieser Parteien gerecht zu werden.

Auf diese Weise entziehen sich selbst diejenigen Mitglieder der nichtsozialistischen Parteien, welche die sozialistische Kritik am besten begriffen haben, durch einen logischen Seitensprung gerade an der entscheidenden Stelle der Notwendigkeit, die Konsequenzen dieser Kritik zu ziehen.

Der Grund dieser sonderbaren Erscheinung ist unschwer zu erkennen. Wenn auch gewisse, nicht zu unterschätzende Interessen selbst der Besitzenden gegen das Privateigentum an den Produktionsmitteln sprechen, so fordern andere, viel näher liegende und leichter begreifliche Interessen derselben die Aufrechthaltung dieses Privateigentums.

Vor allem gilt dies natürlich von den Reichen. Unmittelbar können diese durch Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln nichts gewiinnen. Wohl müssen sich daraus wohltätige, gesellschaftliche Folgen ergeben, die auch ihnen zugute kommen, aber dieselben liegen verhältnismäßig fern. Dagegen sind die Nachteile von vornherein einleuchtend, welche die Aufhebung dieses Privateigentums ihnen bringen muß; an Macht und Ansehen müssen sie entschieden verlieren, manche von ihnen vielleicht auch an Bequemlichkeit und Wohlleben, je nach den Umständen, unter denen sich die soziale Revolution vollzieht.

Anders steht es mit den niederen Schichten der Besitzenden, mit den Ausgebeuteten unter ihnen, den kleinen Handwerkern, Kleinbauern usw. Diese haben an Macht und Ansehen nichts einzubüßen, an Wohlleben können sie durch die Einführung und Entwicklung der sozialistischen Produktionsweise nur gewinnen. Aber um das begreifen zu können, müssen sie sich über den Gesichtskreis der Klassen erheben, denen sie angehören. Vom Standpunkt des beschränkten Kleinbürgers oder Kleinbauern ist die kapitalistische Produktionsweise unbegreiflich, deren Wirkungen sie doch am eigenen Leib empfinden, und noch unbegreiflicher ist für sie der moderne Sozialismus. Was sie dagegen ohne weiteres begreifen, ist die Notwendigkeit des Privateigentums an den Produktionsmitteln für ihre Betriebsweise.

Solange der Handwerker als Handwerker, der Bauer als Bauer, der Kleinhändler als Kleinhändler fühlt, solange sie ein kräftiges Klassenbewußtsein haben, müssen sie an dem Privateigentum an den Produktionsmitteln festhalten und dem Sozialismus unzugänglich sein, wie schlecht es ihnen auch gehen mag.

Wir haben in einem früheren Kapitel gesehen, wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln die untergehenden Kleinbürger und Kleinbauern an ihre rückständigen Betriebe fesselt, selbst wenn diese längst nicht mehr imstande sind, ihnen eine einigermaßen auskömmliche Existenz zu verschaffen, und selbst wenn sie durch den Übergang zur Lohnarbeit ihre Lage verbessern würden. So ist das Privateigentum auch die Macht, welche alle besitzenden Klassen an die heutige Produktionsweise fesselt, selbst diejenigen, die gleichzeitig zu den ausgebeuteten gehören, selbst diejenigen, deren Besitztum nur noch eine hohnvolle Karikatur des Begriffes „Besitz“ ist.

Nur diejenigen unter den Kleinbürgern und Kleinbauern, die an dem Fortbestand ihrer Klasse verzweifeln, die sich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß die Betriebsformen dem Untergang geweiht sind, auf denen ihre Existenz beruht, nur sie sind imstande, die Lehren des Sozialismus zu erfassen. Aber Unbildung und Enge des Gesichtskreises, die natürlichen Folgen ihrer Lebensbedingungen, erschweren es sehr, daß sie zu der nötigen Einsicht in die Hoffnungslosigkeit ihrer Klassenlage gelangen. Ihr Elend, ihr krampfhaftes Suchen nach einem Mittel, das sie daraus erlösen könnte, bewirkte bisher meist nichts anderes, als daß es sie zu einer leichten Beute jedes Demagogen machte, der das nötige Selbstbewußtsein zur Schau trug und es an glänzenden Versprechungen nicht fehlen ließ.

In den höheren Schichten der Besitzenden ist mehr Bildung und ein weiterer Blick zu finden. Auch wirkt in manchem Gebildeten noch ein Rest des alten Idealismus nach aus der Zeit der revolutionären Kämpfe des aufstrebenden Bürgertums, der Zeit der Aufklärung. Aber wehe dem Bourgeois, der sich verleiten läßt, Interesse am Sozialismus zu nehmen und dasselbe zu betätigen! Er steht bald vor der Wahl, entweder seine Ideen aufzugeben oder alle gesellschaftlichen Bande zu zerreißen, die ihn bis dahin nicht bloß gefesselt, sondern auch aufrechterhalten haben. Nur wenige bewahren so viel Mut und Selbständigkeit, bis zu diesem Scheidewege vorzudringen, und nur die wenigsten dieser wenigen besitzen die Kraft, wenn sie dort angelangt sind, entschieden mit ihrer Klasse zu brechen. Von diesen wenigen der wenigen aber pflegten bisher die meisten gar bald zu ermatten; sie sahen ihre „Jugendeseleien“ später ein und wurden „vernünftig“.

Die bürgerlichen Idealisten sind unter den Mitgliedern der höheren Bourgeoisie die einzigen, von denen es überhaupt möglich ist, daß sie Anhänger des Sozialismus werden. Aber für die große Mehrzahl derjenigen dieser Idealisten, welche sich eine tiefere Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse und in die daraus hervorgehenden Probleme verschafft haben, bildet die gewonnene Einsicht nur die Veranlassung, sich in fruchtlosem Suchen nach einer sogenannten „friedlichen“ Lösung der „sozialen Frage“ zu erschöpfen, nach einer Lösung, welche die Forderungen ihres mehr oder weniger sozialistischen Wissens und Gewissens versöhnt mit den Klasseninteressen der Bourgeoisie, was ebenso un-möglich ist wie ein nasses Feuer oder ein brennendes Wasser.

Nur diejenigen bürgerlichen Idealisten, die nicht bloß die nötige theoretische Einsicht erlangt, sondern auch mit der Bourgeoisie wenigstens innerlich bereits gebrochen haben, und die den Mut und die Kraft besitzen, auch äußerlich mit ihr zu brechen, sind imstande, sich zu wahrhaften Sozialisten zu entwickeln.

Von den besitzenden Klassen hat also die Sache des Sozialismus nicht viel zu erwarten. Einzelne ihrer Mitglieder können für den Sozialismus gewonnen werden, aber nur solche, die ihrem Bewußtsein nach zu der Klasse nicht mehr gehören, welcher ihre ökonomische Stellung sie zuweist. Das wird stets eine kleine Minderheit sein, ausgenommen in revolutionären Zeiten, wenn die Wagschale sich auf Seiten des Sozialismus zu neigen scheint. Dann allerdings dürfte eine arge Fahnenflucht in den Reihen der besitzenden Klassen einreißen.

Aber bisher sind die einzig ergiebigen Rekrutierungsgebiete der sozialistischen Armeen nicht die Klassen derjenigen gewesen, die noch etwas, wenn auch vielleicht nicht viel, zu verlieren hatten, sondern derjenigen, die „nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, die eine Welt zu gewinnen haben“.
 

2. Gesinde und Bediententum

Es sind jedoch keineswegs alle Schichten der Besitzlosen als ergiebige Rekrutierungsgebiete für die Sozialdemokratie zu betrachten.

Wir können hier natürlich nicht eine Naturgeschichte des Proletariats geben; das Wichtigste darüber haben wir schon im II. Kapitel gesagt, wo wir die Rolle des Proletariats in der heutigen Produktionsweise betrachteten. Hier seien nur noch einige ergänzende Bemerkungen gegeben, die uns nötig erscheinen, um die Rolle zu erklären, welche die verschiedenen Schichten des Proletariats in den ökonomischen und politischen Kämpfen unserer Zeit spielen.

Wir wissen bereits, daß, wenn auch der beim Philister beliebte Ausspruch falsch ist, daß es immer Arme gegeben hat, doch anerkannt werden muß, daß die Armut so alt ist wie die Warenproduktion. Allerdings bildete sie früher in der Regel nur eine vereinzelte Erscheinung. Im Mittelalter z. B. war die Zahl derjenigen gering, die nicht die zum eigenen Wirtschaftsbetrieb nötigen Produktionsmittel besaßen. Von den wenigen Besitzlosen gelang es der Mehrzahl leicht, in einer besitzenden Familie Aufnahme zu finden als Helfer, Knechte, Gesellen, Mägde; zum größten Teil waren das jüngere Leute, denen noch die Aussicht winkte, dereinst einen eigenen Wirtschaftsbetrieb und einen eigenen Herd begründen zu können. Auf alle Fälle arbeiteten sie gemeinsam mit dem Familienvorstand oder seiner Gattin, genossen gemeinsam mit ihnen die Früchte ihrer Arbeit. Als Mitglieder einer besitzenden Familie waren sie keine Proletarier; sie fühlten sich solidarisch mit dem Besitz der Familie, an dessen Vorteilen sie teilnahmen, durch dessen Schädigungen sie mit benachteiligt wurden. Und dies gilt bis heute noch in jenen abgelegenen Gegenden, wo sich ein solches patriarchalisches Verhältnis erhalten hat. Wo das Gesinde noch zur Familie des Besitzenden gehört, da verteidigt es den Besitz, obwohl es selbst besitzlos ist, da findet der Sozialismus keinen Boden.

Ähnlich stand es mit den Handwerksgesellen. (Vgl. Kap. II, 1.)

Neben dem Knechts- und Gesellentum entstand das Bediententum. Ein Teil der Besitzlosen wandte sich den Familien der größeren Ausbeuter zu, im Mittelalter und den Anfängen der Neuzeit namentlich den Adeligen und Fürsten, den höheren Geistlichen und den Kaufleuten. Sie traten in deren Sold, nicht um ihnen bei der Arbeit zu helfen, sondern um sie zu schützen und ihrer Üppigkeit zu dienen, als Kriegsknechte und Lakaien. Die Gemeinsamkeit der Arbeit und des Genusses, das patriarchalische Verhältnis, fehlte hier und damit auch die daraus hervorgehende Solidarität zwischen Herr und Knecht. Aber eine Solidarität anderer Art entwickelte sich zwischen dem Herrn und dem Bedienten. Wo eine größere Dienerschaft gehalten wird, da gibt es auch Rangunterschiede innerhalb derselben. Der einzelne hat auf Beförderung zu hoffen, auf Vermehrung an Einkommen, Macht und Ansehen. Diese Vermehrung hängt indes ab von der Laune seines Herrn. Je geschickter er sich dieser anpaßt und unterwirft und je mehr er seine Mitdiener aussticht, desto besser seine Aussichten. So fühlt sich der Bediente solidarisch mit dem Herrn, dagegen als geheimer Feind aller seiner Mitarbeiter. Und noch eine andere Solidarität zwischen dem Herrn und dem Bedienten bildet sich. Je größer Einkommen, Macht und Ansehen des Herrn, desto mehr fällt von alledem für den Bedienten ab. Namentlich gilt dies von den eigentlichen Luxusbedienten, die nichts zu tun haben als zu „repräsentieren“, zu beweisen, wieviel überflüssiges Geld ihrem Herrn zur Verfügung steht, und ihm zu helfen, dasselbe möglichst rasch und angenehm durchzubringen, indem sie ihm bei allen seinen Torheiten und Lastern unerschrocken und „treu“ dienen. Der Bediente fühlt sich daher mit dem Ausbeuter und Unterdrücker solidarisch den Ausgebeuteten und Unterdrückten gegenüber; ja er benimmt sich ihnen gegenüber leicht noch rücksichtsloser als der Herr selbst. Denn dieser wird, wenn er einigermaßen vernünftig ist, nicht das Huhn schlachten, welches ihm goldene Eier legt; er will es nicht nur für sich, sondern auch für seine Nachkommen erhalten. Für den Bedienten besteht diese Rücksicht nicht.

Kein Wunder, daß im Volke nichts verhaßter ist als das Bediententum, daß dessen Kriecherei nach oben und Brutalität nach unten sprichwörtlich sind. Unter einer Bedientenseele versteht man den Inbegriff aller Erbärmlichkeit.

Natürlich sind diese Einwirkungen auf den Charakter des Bediententums nicht bloß bei dem Besitzlosen aus den unteren Ständen wirksam, sondern auch bei dem Besitzlosen oder wenig Besitzenden aus den höheren Ständen, etwa dem verarmten Edelmann, der sein Glück als ein höherer Bedienter, ein Höfling an einem fürstlichen Hofe sucht. [9]

Wir haben es indes hier nur mit der niederen Dienerschaft zu tun und müssen daher, so verlockend es auch wäre, davon abstehen, den Vergleich mit der adeligen Dienerschaft zu verfolgen – ein Vergleich, der übrigens nahe liegt und den weiter auszuspinnen nicht schwer ist. – Worauf es hier ankommt, ist der Nachweis, warum das Bediententum, obwohl es zu den Besitzlosen gehört, kein besonders vielversprechendes Rekrutierungsgebiet für den Sozialismus bildet. Es ist vielmehr ein Bollwerk der bestehenden Gesellschaft.

Das Anwachsen der Ausbeutung, der Masse des jährlich erzeugten Mehrwerts, und die daraus folgende Zunahme des Luxus begünstigt eine stete Vermehrung des Bediententums. Aber zum Glück für die gesellschaftliche Entwicklung ist seine kriegerische Abart, das Landsknechtwesen, seit der Umwälzung der Wehrverfassung, welche die Französische Revolution angebahnt hat, seit der Ersetzung des Söldnerheeres durch das Heer der allgemeinen Wehrpflicht, sehr zurückgegangen. Völlig verschwunden ist es freilich keineswegs, und seinen Überresten in den modernen Armeen ist es nicht zum wenigsten zu danken, wenn das ,,Volk in Waffen“ sich bisher in den meisten Fällen als eine keineswegs demokratische Einrichtung erwiesen hat.

Aber auch dem Anwachsen des eigentlichen Bediententums und des Gesindes überhaupt wirkt trotz der stetigen Zunahme des Luxus eine starke Tendenz entgegen: die Auflösung der überkommenen Familienform und die Arbeitsteilung, welche immer mehr Arbeiten des Haushalts und der persönlichen Bedienung besondern, unabhängigen Berufen zuweist: Friseuren, Kellnern, Lohnfuhrleuten, Dienstmännern usw. Diese vom Bediententum abgezweigten Berufe zeigen zwar noch lange, nachdem sie selbständig geworden, die Charaktermerkmale ihres Ursprungs auf, aber allmählich beginnen sie doch, die Eigenschaften und Anschauungen der industriellen Lohnarbeiterschaft anzunehmen.
 

3. Das Lumpenproletariat

So zahlreich zeitweise das Wirtschafts- und Luxusgesinde sowie das Gesellen- und Söldnertum auch sein mochte, so war es doch in der Regel nicht imstande, alle Besitzlosen aufzunehmen. Die besitzlosen Arbeitsunfähigen – Kinder, Greise, Kranke, Krüppel – waren von vornherein nicht in der Lage, in einem dieser Berufe ihr Fortkommen zu finden. Zu ihnen gesellte sich aber, wie wir gesehen, von den Anfängen der neueren Zeit an eine solche Menge Arbeitsuchender – namentlich von ihren Höfen verjagte oder vor Mißhandlungen geflohene Bauern –, daß zahlreiche Arbeitsfähige in die gleiche Lage gerieten wie die Arbeitsunfähigen. Ihnen blieb nichts übrig, als zu betteln, zu stehlen oder sich zu prostituieren. Man stellte sie vor die Wahl, zu verhungern oder allen herrschenden Begriffen von Scham, Ehre und Würde zuwiderzuhandeln. Sie konnten ihr Leben nur dadurch fristen, daß sie fortdauernd die Sorge um die nächsten persönlichen Bedürfnisse höher stellten als die Sorge um ihren guten Ruf. Daß ein solcher Zustand im höchsten Grade entsittlichend und korrumpierend wirken muß, ist klar.

Diese Korruption wurde und wird noch vermehrt dadurch, daß die arbeitslosen Armen für die Gesellschaft höchst überflüssig sind, daß diese ihrer nicht nur nicht bedarf, sondern im Gegenteil durch ihre Beseitigung einer unerwünschten Last ledig würde. Es muß aber eine jede Klasse verkommen, die überflüssig ist, die in der Gesellschaft keine notwendigen Funktionen zu vollziehen hat; das gilt von den niedrigsten wie von den höchsten.

Und die Bettler können sich nicht einmal an der Selbsttäuschung erheben, daß sie notwendig seien; sie besitzen keine Erinnerungen an eine Zeit, wo ihre Klasse der Gesellschaft einen Dienst erwiesen; sie können nicht, auf ihre Macht pochend, ihr Schmarotzertum der Gesellschaft aufzwingen.

Sie sind bloß geduldet: Die Demut ist daher die erste Pflicht des Bettlers, sie gilt als die höchste Tugend des Armen. Gleich den Bedienten ist auch diese Art von Proletariern kriechend gegenüber den Mächtigen; sie bilden keine Opposition gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Im Gegenteil. Sie sind angewiesen auf die Brosamen, die vom Tische des Reichen fallen: Wie könnten sie wünschen, daß der Reiche verschwinde! Sie selbst werden nicht ausgebeutet; aber je größer der Grad der Ausbeutung des Arbeiters, je größer das Einkommen des Reichen, desto freigebiger kann dieser sein, desto mehr haben die Armen von ihm zu erwarten. Sie nehmen teil an der Ausbeutung, gleich den Bedienten, welche Ursache hätten sie, dieselbe zu bekämpfen? In den Anfängen der Reformation in Deutschland, als die katholische Kirche bei allen Klassen aufs äußerste verhaßt war, weil sie sie alle ausbeutete, waren es diese Proletarier, die ihr treu anhingen, denn sie erhielten von ihr reichlichere Almosen als von den knauserigen Stadtbürgern und den ausgeplünderten Bauern.

Diese Art von Proletariat – das Lumpenproletariat – ist der Ausbeutung noch nie aus eigenem Antrieb entgegengetreten. Aber freilich, ein Bollwerk derselben, gleich der kriegerischen Abart des Bediententums, ist es auch nicht. Feig und gesinnungslos, läßt es ohne Zaudern diejenigen im Stich, deren Almosen es eingesteckt, sobald Reichtum und Macht ihnen verlorengehen. Es ist nie im Vorkampf einer revolutionären Bewegung gestanden, aber es war bei allen Unruhen sofort bei der Hand, im trüben zu fischen. Es hat mitunter beigetragen, einer im Fallen begriffenen herrschenden Klasse den letzten Stoß zu geben. In der Regel hat es sich in einer Revolution damit begnügt, sie auszubeuten und zu kompromittieren, um sie bei der ersten Gelegenheit zu verraten.

Die kapitalistische Produktionsweise hat das Lumpenproletariat stark vermehrt; sie führt ihm immer wieder neue Rekruten zu; es bildet namentlich in den Großstädten einen bedeutenden Teil der Bevölkerung.

Im Charakter und den Anschauungen steht ihm sehr nahe jener Teil des Kleinbauern- und Kleinbürgertums, der aufs äußerste herabgekommen ist, der an der eigenen Kraft verzweifelt und trachtet, sich durch Almosen, die ihm von den oberen Klassen zugeworfen werden, über Wasser zu halten.
 

4. Die Anfänge des Lohnproletariats

Diese letzteren Schichten sind es, denen die aufkeimende kapitalistische Produktion, namentlich aber die Großindustrie, ihre Arbeitskräfte mit Vorliebe entnahm. Weniger nach gelernten Arbeitern verlangt diese als nach geduldigen, widerstandslosen Arbeitern, die sich willenlos dem großen Getriebe einer modernen Fabrik einfügen, das nur dann ohne Störung funktionieren kann, wenn jedes seiner zahllosen Rädchen pünktlich und stetig die ihm zugewiesenen Bewegungen vollzieht. Und wie die dem Lumpenproletariat zunächst stehenden Schichten der arbeitenden Klassen, ja manche Teile des Lumpenproletariats selbst, die Mehrzahl der Arbeiter der erstehenden kapitalistischen Großindustrie lieferten, so wurde auch die Behandlung, welche diese Schichten sich gefallen ließen, maßgebend für die Behandlung, welche die Kapitalisten ihren Arbeitern überhaupt angedeihen lassen wollten. Die Arbeit selbst, deren veredelnden Einfluß bürgerliche Ökonomen und Moralisten so gern schildern, wurde für die Proletarier zunächst eine Quelle weiterer Erniedrigung, nicht Erhebung. Die Widerstandslosigkeit der Arbeiter ermöglichte es den Kapitalisten, die Arbeitszeit aufs äußerste auszudehnen. Welche starken Beweggründe in der kapitalistischen Großindustrie dazu antrieben, haben wir schon im II. Kapitel gesehen. Zeit zu leben, sich zu bilden, gönnt das Kapital dem Proletarier nicht, wenn es nicht muß. Wo es keine Schranken findet, da läßt es die Arbeit bis zu völliger Erschöpfung fortsetzen. Bleibt ja eine kurze Pause zwischen Arbeit und Schlaf übrig, dann reicht sie gerade nur zu den flüchtigsten Genüssen, um damit das Bewußtsein des Elends zu betäuben, zum Rausch des Alkohols oder des geschlechtlichen Verkehrs. Das Zusammenarbeiten von Männern und Weibern, von Erwachsenen und Kindern, das unter frohen, freien und pflichtbewußten Menschen eine Quelle höchster geistiger Anregung und sittlicher Veredlung für alle Beteiligten sein kann, wurde in der kapitalistischen Fabrik zunächst nur ein Mittel, die Gefahr der Verpestung durch deren entsittlichende und entnervende Einflüsse zu vermehren, die Verkommenheit noch rascher im Proletariat um sich greifen zu lassen.

Kein Wunder, daß sich die arbeitenden Proletarier in den Anfängen der kapitalistischen Großindustrie kaum von den Lumpenproletariern unterschieden. Wie tief sie versunken waren in Verbrechen, Trunksucht, Roheit und Schmutz – körperlichen und geistigen –, ersieht man am besten aus der klassischen Schilderung, die Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klassen Englands in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gegeben hat. [10]
 

5. Die Erhebung des Lohnproletariats

Der Begriff des Proletariers schien gleichbedeutend zu sein mit dem der äußersten Verkommenheit. Es gibt heute noch Leute, die dieser Ansicht sind, darunter solche, die sich sehr modern zu sein dünken. Und doch bildete sich bereits zu der Zeit, wo das arbeitende Proletariat äußerlich so viele Merkmale mit dem Lumpenproletariat gemein hatte, eine tiefe Kluft zwischen beiden aus.

Das Lumpenproletariat ist wesentlich immer dasselbe geblieben, wann und wo immer es als Massenerscheinung auftrat. Das Lumpenproletariat des heutigen Berlin oder London unterscheidet sich nicht allzusehr von dem des alten Rom. Das moderne arbeitende Proletariat dagegen ist eine ganz eigenartige Erscheinung, wie sie die Weltgeschichte bisher noch nicht gesehen.

Zwischen dem Lumpenproletariat und dem arbeitenden Proletariat der kapitalistischen Produktion besteht vor allem der ungeheure, fundamentale Unterschied, daß ersteres ein Schmarotzer ist, letzteres eine der Wurzeln der Gesellschaft, und zwar eine Wurzel, die immer mehr nicht nur zur wichtigsten, sondern schließlich auch zur einzigen wird, aus der die Gesellschaft ihre Kraft saugt. Der arbeitende Proletarier ist ein Besitzloser, aber kein Almosenempfänger. Weit entfernt, von der Gesellschaft erhalten zu werden, erhält er sie durch seine Arbeit. In den Anfängen der kapitalistischen Produktion fühlt sich freilich der arbeitende Proletarier noch als Armer; in dem Kapitalisten, der ihn ausbeutet, sieht er seinen Wohltäter, der ihm Arbeit und damit auch Brot gibt, den Brotgeber, den Arbeitgeber. Dieses „patriarchalische“ Verhältnis ist natürlich den Kapitalisten sehr angenehm. Sie fordern heute noch von ihren Arbeitern für den Lohn, den sie ihnen zahlen, nicht bloß die bedungene Arbeitsleistung, sondern auch Unterwürfigkeit und Dankbarkeit.

Aber die kapitalistische Produktion kann nirgends lange währen, ohne daß die schönen patriarchalischen Zustände ihrer Anfänge zum Teufel gehen. So verknechtet und abgestumpft die Arbeiter auch sein mögen, früher oder später merken sie doch, daß sie die Brotgeber des Kapitalisten sind und nicht umgekehrt. Während sie arm bleiben oder womöglich noch ärmer werden, wird der Kapitalist immer reicher. Und wenn sie den Fabrikanten, diesen angeblichen Patriarchen, um mehr Brot bitten, gibt er ihnen einen Stein.

Von den Lumpenproletariern und den Bedienten unterscheiden sich die arbeitenden Proletarier dadurch, daß sie nicht von der Ausbeutung der Ausbeuter leben; von dem Wirtschaftsgesinde und den Handwerksgesellen (vgl. Kapitel II) unterscheiden sie sich dadurch, daß sie mit ihrem Ausbeuter nicht zusammenarbeiten und zusammenleben, daß jedes persönliche Verhältnis zwischen dem Ausgebeuteten und dem Ausbeuter für sie verschwunden ist. Sie leben in elenden Löchern und bauen ihrem Ausbeuter einen Palast; sie hungern und bereiten ihm ein üppiges Mahl. Sie schanzen, bis sie erschöpft zusammenbrechen, um ihm und den Seinen die Mittel zu schaffen, die Zeit totzuschlagen.

Das ist ein ganz anderer Gegensatz als der zwischen dem Reichen und dem „kleinen Mann“, dem Armen der vorkapitalistischen Zeit. Dieser beneidet den Reichen, zu dem er bewundernd aufblickt, der sein Vorbild, sein Ideal ist. Er möchte an seiner Stelle sein, ein Ausbeuter gleich ihm. Es fällt ihm nicht ein, die Ausbeutung beseitigen zu wollen. Der arbeitende Proletarier beneidet den Reichen nicht, er wünscht sich nicht an seine Stelle; er haßt ihn und verachtet ihn; er haßt ihn als seinen Ausbeuter und verachtet ihn als eine Drohne. Er haßt zunächst bloß denjenigen Kapitalisten, mit dem er es gerade zu tun hat, aber er erkennt bald, daß sie alle im ganzen und großen in derselben Weise gegen ihn verfahren, und sein anfänglicher persönlicher Haß entwickelt sich zur bewußten Gegnerschaft gegen die ganze Kapitalistenklasse.

Diese Gegnerschaft gegen das Ausbeutertum ist eines der frühesten Kennzeichen des arbeitenden Proletariats. Der Klassenhaß ist keineswegs ein Ergebnis der sozialistischen Propaganda – schon lange vor ihrem Wirken in der Arbeiterklasse machte er sich bemerkbar. Bei den Bedienten, dem Wirtschaftsgesinde und den Handwerksgesellen ist ein so hochgradiger Klassenhaß unmöglich. Bei den innigen persönlichen Beziehungen der Mitglieder dieser Berufe zu ihren „Herrn“ würde ein derartiger Haß jede ersprießliche Tätigkeit für sie unmöglich machen. In diesen Berufen gibt es genug Kämpfe der Lohnarbeiter mit den Betriebs- und Haushaltungsleitern; aber man versöhnt sich immer wieder. In der kapitalistischen Produktionsweise können die Arbeiter die erbittertste Feindseligkeit gegen den Unternehmer hegen, ohne daß die Produktion dadurch gestört wird, ja sogar ohne daß dieser davon etwas merkt.

Dieser Haß äußert sich anfänglich nur schüchtern und nur vereinzelt. Bedarf es einiger Zeit, bis die Proletarier merken, daß es nichts weniger als Edelmut ist, was die Fabrikanten bewegt, sie zu beschäftigen, so dauert es noch länger, bis sie den Mut finden, in einem Konflikt offen dem „Herrn“ entgegenzutreten.

Der Lumpenproletarier ist feig und demütig, weil er sich überflüssig fühlt und jedes materiellen Rückhalts beraubt ist. Die gleichen Charaktereigenschaften weist anfänglich auch das arbeitende Proletariat auf, soweit es sich aus dem Lumpenproletariat und den ihm nahe liegenden Schichten rekrutiert. Wohl empfindet es alle Mißhandlungen, die ihm zuteil werden, aber es protestiert nur heimlich dagegen; es ballt die Faust im Sack. Daneben macht sich die Empörung besonders tatkräftiger und leidenschaftlicher Naturen Luft in heimlichen Verbrechen.

Das Bewußtsein der eigenen Kraft und der Geist des Widerstandes entwickeln sich in den hier in Rede stehenden Schichten der Lohnarbeiterschaft erst dann, wenn sie zum Bewußtsein der Interessengemeinschaft, der Solidarität gelangen, die unter ihren Mitgliedern herrscht. Mit der Erweckung des Solidaritätsgefühls beginnt die moralische Wiedergeburt des Proletariats, die Erhebung des arbeitenden Proletariats aus dem Sumpf des Lumpenproletariats.

Die Arbeitsbedingungen der kapitalistischen Produktion weisen die Proletarier von selbst auf die Notwendigkeit des festen Zusammenhaltens, der Unterordnung des einzelnen unter die Gesamtheit hin. Während im Handwerk in seiner klassischen Form jeder einzelne für sich allein ein Ganzes schafft, beruht die kapitalistische Industrie auf dem Zusammenarbeiten, der Kooperation. Der einzelne Arbeiter vermag da nichts ohne seine Genossen. Greifen sie vereint und planmäßig die Arbeit an, dann verdoppelt und verdreifacht sich die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen von ihnen. So bringt ihnen die Arbeit die Macht der Vereinigung zum Bewußtsein, so entwickelt die Arbeit in ihnen eine freiwillige, freudige Disziplin, welche die Vorbedingung ist einer genossenschaftlichen, einer sozialistischen Produktion, welche aber auch eine Vorbedingung jedes erfolgreichen Kampfes des Proletariats gegen die Ausbeutung in der kapitalistischen Produktion ist. Diese selbst erzieht derart das Proletariat zu ihrem eigenen Sturz und zur Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft.

Vielleicht noch mächtiger als die Kooperation wirkt die Gleichheit der Arbeitsbedingungen darauf hin, das Gefühl der Solidarität im Proletariat zu erwecken. In einer Fabrik gibt es unter den Arbeitern meist so gut wie keine Rangstufen, keine Hierarchie. Die höheren Posten sind den Proletariern in der Regel unzugänglich, immer aber so wenig zahlreich, daß sie für die Masse der Arbeiter nicht in Betracht kommen. Nur einige wenige können durch diese Günstlingsposten korrumpiert werden. Für die große Mehrheit herrschen die gleichen Arbeitsbedingungen, und der einzelne hat keine Möglichkeit, sie für sich allein zu verbessern; er kann seine Lage nur heben, wenn die der Gesamtheit, die aller seiner Mitarbeiter sich hebt. Wohl versuchen die Fabrikanten, Zwietracht unter den Arbeitern zu säen durch künstliche Herbeiführung von Ungleichheiten in den Arbeitsbedingungen. Aber die ausgleichende Wirkung der modernen Großindustrie ist zu stark, als daß dergleichen Behelfe - Stückarbeit, Prämien u. dgl. – auf die Dauer das Bewußtsein der Interessensolidarität unter den Arbeitern ertöten könnten. Je länger die kapitalistische Produktion dauert, desto kräftiger entwickelt sich die proletarische Solidarität, desto tiefer wurzelt sie sich im Proletariat ein, desto mehr wird sie sein hervorstechendstes Merkmal.

Wir brauchen nur darauf hinzuweisen, was wir oben von der Bedientenschaft gesagt, um zu zeigen, wie sehr sich das arbeitende Proletariat in diesem Punkte von ihr unterscheidet. Aber auch das Wirtschaftsgesinde steht darin dem Proletariat der kapitalistischen Produktion nach, ja sogar das Gesellentum des Handwerks.

Die Solidarität der Handwerksgesellen machte an einem Punkt halt, den die Solidarität der Proletarier überschritten hat. Die Solidarität der einen wie der anderen beschränkt sich nicht auf die Arbeiter des gleichen Unternehmens; wie die Proletarier, gelangten auch schon die Handwerksgesellen nach und nach zu der Erkenntnis, daß die Arbeiter überall auf die gleichen Gegner stoßen, überall die gleichen Interessen haben. Die Handwerksgesellen erriditeten nationale, das ganze Bereich der Nation umfassende Organisationen zu einer Zeit, als das Bürgertum noch tief in Kleinstädterei und Kleinstaaterei befangen war. Das Proletariat von heute ist völlig international in seinem Fühlen und Handeln; inmitten der erbittertsten Nationalitätenkämpfe, der eifrigsten Kriegsrüstungen der herrschenden Klassen haben sich die Proletarier aller Länder vereinigt.

Anfänge von internationalen Organisationen finden wir bereits bei den Handwerksgesellen; sie zeigten sich fähig, die nationale Beschränktheit zu überwinden. Aber über eine Schranke vermochten sie sich nicht zu erheben: den Beruf. Der deutsche Hutmacher oder Kupferschmied mochte auf der Wanderschaft bei seinen Kollegen in Schweden oder der Schweiz gastliche Aufnahme finden; dagegen blieben ihm die Schuster oder Schreiner seines Landes, seiner eigenen Vaterstadt fremd. Die Berufe waren im Handwerk eben streng getrennt. Jahrelang mußte der Lehrling lernen, bis er es zur Gesellenschaft brachte, und sein Leben lang blieb er dann seinem Handwerk treu. Dessen Blüte und Macht war auch die seine. Stand der Geselle in einem gewissen Gegensatz zu dem Meister seines Handwerks, so nicht minder zu den Meistern wie Gesellen anderer Handwerke. Wir finden in der Blütezeit des Handwerks die Gesellenschaften der verschiedenen Handwerke in heftige Kämpfe und Feindseligkeiten untereinander verwickelt.

Die kapitalistische Produktion würfelt dagegen die verschiedenen Berufe bunt durcheinander. In einem kapitalistischen Unternehmen arbeiten meist Arbeiter verschiedener Berufe nebeneinander und miteinander zur Erreichung eines gemeinsamen Zweckes. Auf der anderen Seite hat sie die Tendenz, den Begriff des Berufs in der Produktion überhaupt aufzuheben. Die Maschine verkürzt die ehemalige jahrelange Lehrzeit des Arbeiters zu einer Anlernzeit von wenigen Wochen, oft Tagen. Sie ermöglicht es dem einzelnen Arbeiter, ohne allzugroße Schwierigkeit von einer Hantierung zur anderen überzugehen. Sie zwingt ihn oft dazu, indem sie ihn in seiner bisherigen Tätigkeit überflüssig macht, aufs Pflaster wirft und nötigt, sich nach einer anderen umzusehen. Die Freiheit der Berufswahl, die der Philister im „Zukunftsstaat“ zu verlieren fürchtet, hat für den Arbeiter heute schon jeden Sinn verloren.

Unter diesen Umständen wird es ihm leicht, die Schranke zu überschreiten, vor der die Handwerksgesellen haltmachten. Ist das Solidaritätsbewußtsein des modernen Proletariats ein internationales, so erstreckt es sich auch auf die gesamte Arbeiterklasse.

Verschiedene Formen von Lohnarbeit hat es schon im Altertum und Mittelalter gegeben. Auch die Kämpfe zwischen Lohnarbeitern und deren Ausbeutern sind nichts Neues. Aber erst unter der Herrschaft der kapitalistischen Großindustrie sehen wir eine einheitliche Klasse von Lohnarbeitern erstehen, die sich der Gemeinsamkeit ihrer Interessen wohl bewußt sind und die nicht nur ihre persönlichen, sondern auch ihre lokalen und - soweit sie noch bestehen – ihre beruflichen Sonderinteressen immer mehr unterordnen den großen Gesamtinteressen der Klasse. Erst in unserem Jahrhundert bekommen die Kämpfe der Lohnarbeiter gegen die Ausbeutung den Charakter eines Klassenkampfes. Und erst dadurch ist es möglich, daß diese Kämpfe ein weiteres, höheres Ziel erhalten als das der Abstellung augenblicklicher Mißstände, daß die Arbeiterbewegung eine revolutionäre Bewegung wird.

Der Begriff der Arbeiterklasse wird aber ein immer weiterer. In erster Linie gilt das hier Gesagte von den arbeitenden Proletariern der Großindustrie. Aber so wie das industrielle Kapital immer maßgebender wird für das gesamte Kapital, ja für alle wirtschaftlichen Unternehmungen im Bereich der kapitalistischen Nationen, so wird das Denken und Fühlen des in der Großindustrie arbeitenden Proletariats immer mehr maßgebend für das Denken und Fühlen der Lohnarbeiter überhaupt. Das Bewußtsein der allgemeinen Interessengemeinschaft ergreift auch die Arbeiter der kapitalistischen Manufaktur und des Handwerks, und zwar die letzteren um so eher, je mehr das Handwerk seinen ursprünglichen Charakter verliert und sich der Manufaktur nähert oder zur kapitalistisch ausgebeuteten Hausindustrie herabsinkt.

Ihnen schließen sich nach und nach die Arbeiter der nichtindustriellen städtischen Gewerbe an, die des Handels, des Verkehrs, der „Beherbergung und Erquickung“, wie die deutsche Berufsstatistik sagt. Auch die ländlichen Arbeiter werden sich allmählich ihrer Interessengemeinschaft mit den übrigen Lohnarbeitern bewußt, sobald die kapitalistische Produktion den alten patriarchalischen Betrieb der Landwirtschaft auflöst und diese zu einer Industrie macht, welche mit Lohnproletariern produziert, nicht mehr mit Gesinde, das zur Familie des Landwirts gehört. Ja, schließlich beginnt das Gefühl der Solidarität die schlechter gestellten unter den selbständigen Handwerkern zu ergreifen, unter Umständen sogar Bauern anzustecken: So werden immer mehr die arbeitenden Klassen zu einer einzigen einheitlichen Arbeiterklasse zusammengeschweißt, die beseelt wird vom Geist des Proletariats der Großindustrie, das an Zahl und ökonomischer Bedeutung stetig zunimmt. Immer mehr verbreitet sich in ihr der dem großindustriellen Proletariat eigentümliche Geist des kameradschaftlichen Zusammenhalts, der genossenschaftlichen Disziplin, der Gegnerschaft gegen das Kapital; es verbreitet sich aber auch in ihren Reihen jener dem Proletariat eigentümliche unersättliche Durst nach Wissen, auf den wir am Schluß des vorigen Kapitels hingewiesen.

So ersteht allmählich aus dem verachteten, mißhandelten, verkommenen Proletariat eine neue weltgeschichtliche Macht, vor der die alten Mädite zu zittern beginnen: Es erwächst eine neue Klasse mit einer neuen Moral und neuen Philosophie, täglich an Zahl, an Geschlossenheit, an ökonomischer Unentbehrlichkeit, an Selbstbewußtsein und Einsicht zunehmend.
 

6. Der Widerstreit der das Proletariat erhebenden und der es herabdrückenden Tendenzen

Die Erhebung des Proletariats aus seiner Erniedrigung ist ein unvermeidlicher, naturnotwendiger Prozeß. Aber derselbe ist weder ein friedlicher noch ein gleichmäßiger. Die Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise gehen, wie wir im II. Kapitel gesehen haben, dahin, die arbeitende Bevölkerung immer mehr herabzudrücken. Die moralische Wiedergeburt des Proletariats ist nur möglich im Widerstreit gegen diese Tendenzen und ihre Träger, die Kapitalisten. Sie ist nur dadurch möglich, daß die Gegenwirkungen, die Gegentendenzen genügend erstarken, die im Schöße des Proletariats durch die neuen Bedingungen erzeugt werden, unter denen es arbeitet und lebt. Die herabdrückenden Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise sind aber zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Gegenden, in den verschiedenen Industriezweigen sehr verschieden; sie hängen ab vom Stand des Marktes, vom Grad der Konkurrenz der einzelnen Unternehmungen untereinander, von der Höhe der Entwicklung des Maschinenwesens in den betreffenden Industriezweigen, vom Maß der Einsicht der Kapitalisten in ihre dauernden Interessen usw. usw. Die Gegenwirkungen, die sich im Schoß der einzelnen Proletarierschichten entwickeln, hängen ebenfalls von den mannigfaltigsten Bedingungen ab, von den Gewohnheiten und Bedürfnissen der Bevölkerungsklassen, aus denen die betreffenden Proletarier sich vorzugsweise rekrutieren; von dem Grad der Geschicklichkeit oder Kraft, welche die Arbeit in jenem Industriezweige erfordert, in dem sie tätig sind; von der Ausdehnung der Frauen- und Kinderarbeit, von der Größe der industriellen Reservearmee, die keineswegs für alle Beschäftigungen die gleiche ist, von der Einsicht der Arbeiter, endlich davon, ob die Arbeit eine Zerstreuung und Absonderung oder eine Vereinigung und Zusammenfassung der Arbeiter mit sich bringt usw.

Jede dieser Bedingungen ist für die verschiedenen Industriezweige und Arbeiterschichten höchst verschieden und einem steten Wechsel unterworfen, da die technische und ökonomische Revolution ununterbrochen fortgeht. Täglich werden neue Gegenden und neue Berufszweige der Ausbeutung und Proletarisierung durch das Kapital unterworfen, täglich werden neue Produktionszweige geschaffen, ununterbrochen werden die bestehenden umgewälzt. Wie in den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise sehen wir auch heute noch immer wieder neue Schichten der Bevölkerung im Proletariat versinken, im Lumpenproletariat untergehen, immer wieder neue Schichten daraus sich erheben; im arbeitenden Proletariat selbst ist ein stetes Auf- und Abwogen bemerkbar, die einen Schichten bewegen sich in aufsteigender, die anderen in absteigender Richtung, je nachdem die niederdrückenden oder die erhebenden Tendenzen bei ihnen überwiegen.

Aber zum Glück für die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft tritt bei den meisten Proletarierschichten früher oder später der Moment ein, wo die erhebenden Tendenzen entschieden die Oberhand gewinnen, und wenn diese Tendenzen in einer Proletarierschicht einmal so weit wirksam gewesen sind, daß sie in ihr das Selbstbewußtsein geweckt haben, das Klassenbewußtsein, das Bewußtsein der Solidarität aller ihrer Mitglieder untereinander und mit der gesamten Arbeiterklasse, das Bewußtsein der Kraft, die aus dem festen Zusammenhalt entspringt; sobald sie in dieser Proletarierschicht das Bewußtsein ihrer ökonomischen Unentbehrlichkeit und die Selbstachtung großgezogen, sobald sie einmal in ihr die Überzeugung wachgerufen haben, daß die Arbeiterklasse einer besseren Zukunft entgegengeht: Sobald eine Proletarierschicht einmal so weit sich erhoben, dann hält es unendlich schwer, sie wieder in die stumpfe Masse jener verkommenen Existenzen hinabzustoßen, die wohl hassen, aber nicht zu ausdauerndem Kampfe sich zusammengesellen können, die an sich und ihrer Zukunft verzweifelnd im Rausch Vergessen suchen, die aus ihren Leiden nicht den Drang zu trotziger Empörung, sondern zu furchtsamer Unterwerfung schöpfen. Es ist fast unmöglich, das Klassenbewußtsein in einer Proletarierschicht wieder auszurotten, nachdem es sich einmal in ihr festgewurzelt. Mögen dann die niederdrückenden Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise noch so schwer sich geltend machen, sie können diese Schicht ökonomisch herunterbringen, nicht aber moralisch – es sei denn, daß der Druck nicht mehr bloß ein niederdrückender, sondern ein völlig erdrückender sei, wie in manchen verkommenden Hausindustrien. In jedem anderen Fall wird der Druck nur die Wirkung haben, Gegendruck zu erzeugen; er wirkt nun weniger verkümmernd als erbitternd; der Proletarier wird dadurch nicht mehr zum Lumpen herabgedrückt, sondern zum Märtyrer erhoben.
 

7. Die Philanthropie und die Arbeiterschutzgesetzgebung

Wäre jede Proletarierschicht auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, dann würde bei der Mehrzahl von ihnen der Prozeß der Erhebung viel später beginnen und noch langwieriger und schmerzlicher sich gestalten, als tatsächlich der Fall. Ohne fremde Hilfe wäre manche Proletarierschicht, die jetzt eine achtungswerte Stellung einnimmt, gar nie dahin gelangt, die Schwierigkeiten zu überwinden, die, wie allen Anfängen, so auch den Anfängen der Erhebung aus dem Sumpf innewohnen, in den das Proletariat durch die kapitalistische Entwicklung geschleudert wird. Die Hilfe kam diesen Proletarierschichten aus manchen über ihnen stehenden Schichten der Gesellschaft, aus den höheren Schichten des arbeitenden Proletariats sowohl als aus den besitzenden Klassen.

Letztere Hilfe ist namentlich in den Anfängen der kapitalistischen Großindustrie nicht ohne Bedeutung gewesen.

Im Mittelalter war die Armut so gering, daß die öffentliche (namentlich kirchliche) und private Wohltätigkeit genügte, mit ihr fertigzuwerden. Sie gab keine Rätsel zu lösen auf; soweit sie zum Nachdenken Veranlassung gab, regte sie höchstens zu erbaulichen Betrachtungen an. Sie galt als ein pädagogisches Hilfsmittel des lieben Gottes; sie galt, wenn die von ihr Betroffenen sündhaft waren, als Zuchtrute, wenn sie fromm waren, als Prüfung, um ihr Gottvertrauen noch glänzender triumphieren zu lassen. Für die Reichen aber war die Armut ein Exerzierfeld ihrer Tugenden, das für das Heil ihrer Seele ebenso notwendig erschien wie etwa ein Turnierplatz für die Stählung ihres Körpers.

Als aber durch die Entwicklung der Warenproduktion die altfeudale Landwirtschaft zersetzt wurde, der Zug der freigesetzten Bauern nach den Städten begann und dort die „Übervölkerung“, die Arbeitslosigkeit, die Massenarmut anfing, sich breitzumachen, da lenkte diese ebenso neue wie furchtbare und gefahrvolle Erscheinung die Aufmerksamkeit aller denkenden und fühlenden Menschen auf sich. Gegen die Massenarmut reichten die mittelalterlichen Mittel der Mildtätigkeit nicht aus: Die Reformation verstopfte noch die wichtigste Quelle der Almosen, die Armenpflege der katholischen Kirche. Für alle die Armen zu sorgen erschien immer mehr als eine die Kräfte der Gesellschaft überragende Aufgabe, ein neues gesellschaftliches Problem erstand: die Aufhebung der Armut. Die verschiedensten Lösungen desselben wurden erfunden, je nach der Einsicht und der Menschlichkeit der Erfinder, von der bequemen Methode, die Armut zu beseitigen, indem man die Armen aus dem Wege räumte (etwa durch den Galgen oder die Deportation), bis zu den tiefdurchdachten Plänen einer neuen, einer kommunistischen Gesellschaft. Diese letzteren fanden großen Beifall bei den Gebildeten, aber die bequemen Methoden waren die einzigen, zu denen sich die diversen Landesväter und Staatsweisen verstanden. Indes wuchsen der Armut um so mehr Köpfe nach, je mehr Proletarier man köpfte und brandmarkte.

Aber allmählich bekam die Frage der Armut wieder ein anderes Gesicht. Die kapitalistische Produktionsweise war erstanden und begann, sich immer weiter auszudehnen, immer mehr zur herrschenden in der Gesellschaft zu werden. Damit hörte für die Denker der Bourgeoisie das Problem der Aufhebung der Armut auf zu bestehen. Die kapitalistische Produktion beruht auf dem Proletariat; dies beseitigen heißt die kapitalistische Produktion unmöglich machen. Die Massenarmut ist die Grundlage des kapitalistischen Massenreichtums; wer der Massenarmut steuern will, vergreift sich am Reichtum. Wer heute der Eigentumslosigkeit der Arbeiter abhelfen will, der untergräbt das Eigentum, er ist ein Umstürzler, ein Feind der Gesellschaft.

Wohl wirken nach wie vor Mitleid und Furcht – denn die Armut ist gefährlich für die ganze Gesellschaft; sie erzeugt Seuchen und Verbrechen – in den bürgerlichen Kreisen zugunsten des Proletariats und machen viele der tiefer denkenden und besser empfindenden Bourgeois geneigt, etwas für die Proletarier zu tun: Aber für die große Masse dieser Bourgeois, die es nicht wagen oder vermögen, mit ihrer Klasse zu brechen, kann das Problem nicht mehr lauten: Aufhebung des Proletariats, sondern nur noch: Hebung der Proletarier. Diese sollen arbeitsfähig bleiben und zufrieden werden – aber sie dürfen nicht aufhören, willfährige Proletarier zu sein. Über diese Grenze kommt die bürgerliche Philanthropie (Menschenfreundlichkeit) nicht mehr hinaus.

Innerhalb dieser Grenzen kann sich natürlich die Philanthropie in der mannigfaltigsten Weise betätigen. Die meisten ihrer Methoden sind entweder völlig nutzlos oder höchstens imstande, einzelnen Individuen eine vorübergehende Erleichterung zu verschaffen. Als aber in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in England die kapitalistische Großindustrie (zunächst in der Textilindustrie) ihren Einzug hielt mit allen Schrecken, die sie hervorzurufen fähig ist, da gelangten die einsichtigsten unter den Philanthropen zur Überzeugung, daß nur eines imstande sei, dem völligen Verkommen der Arbeiter dieser Industrie entgegenzuwirken: ein staatlicher Arbeiterschutz wenigstens für die wehrlosesten Arbeiterschichten, die Kinder und die Frauen.

Die Kapitalisten der Großindustrie bildeten damals noch nicht einen so maßgebenden Teil der besitzenden Klassen wie heute. Für die Beschränkung ihrer Macht über die Arbeiter sprachen verschiedene ökonomische wie politische Interessen der Nichtkapitalisten unter den besitzenden Klassen – Grundbesitzer und Kleinbürger; es sprach ferner dafür die Erkenntnis, daß ohne diese Beschränkung die Grundlage der Industrieblüte Englands, seine Arbeiterklasse, untergehe, eine Erwägung, die jedes einsichtige, über Augenblicksinteressen erhabene Mitglied der herrschenden Klassen für den Arbeiterschutz gewinnen mußte; es sprachen endlich dafür sogar die Sonderinteressen einzelner großer Fabrikanten selbst, welche die Mittel besaßen, diese Beschränkungen leicht zu ertragen und die Produktion ihnen anzupassen, indessen jene ihrer kleineren Konkurrenten, die sich nur noch mühsam durch die ärgste Arbeiterschinderei über Wasser hielten, durch den Arbeiterschutz dem Ruin entgegengetrieben wurden. Trotzdem und obwohl in der Arbeiterklasse selbst eine mächtige Bewegung für den Arbeiterschutz sich entwickelte, kostete es harte Kämpfe, um auch nur die ersten schüchternen Schutzgesetze zu erlangen und dieselben dann immer weiter auszubauen.

Indessen, so geringfügig auch anfangs die erreichten Errungenschaften waren, sie bildeten bereits für die Proletarierschichten, denen sie zugute kamen, einen Anstoß, der sie aus ihrer Stumpfheit erweckte und die erhebenden Tendenzen ihrer sozialen Stellung in ihnen entfesselte. Ja, ehe noch irgendein Sieg in der Sache erfochten worden war, genügten schon die Kämpfe, die darum geführt wurden, den Proletariern zu zeigen, wie wichtig, wie notwendig sie seien, daß sie eine Macht bedeuteten. Bereits diese Kämpfe rüttelten sie auf, verliehen ihnen Selbstbewußtsein und Selbstachtung, ertöteten ihre Hoffnungslosigkeit und gaben ihnen ein über das Nächstliegende hinausreichendes Ziel ihres Strebens.

Ein anderes jener Mittel zur Hebung der Arbeiterklasse, die auch von bürgerlicher Seite unterstützt werden, ist die Volksschule. Ein näheres Eingehen auf diese fällt jedoch nicht in den Rahmen vorliegender Arbeit. Sie ist ein wichtiges Mittel, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, aber zur Hebung des Proletariats als Klasse doch weniger wirksam als eine entschiedene Arbeiterschutzgesetzgebung.

Je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt, je mehr die Großindustrie die anderen Produktionsformen verdrängt oder in ihrem Wesen verändert, desto notwendiger wird eine stete Verschärfung des Arbeiterschutzes und eine stete Ausdehnung desselben nicht bloß über sämtliche Zweige der Großindustrie, sondern auch über das Handwerk und die Hausindustrie sowie die Landwirtschaft. Aber in demselben Maße wächst auch der Einfluß der industriellen Kapitalisten in der bürgerlichen Gesellschaft, werden auch die nichtkapitalistischen besitzenden Klassen, Kleinbürger und Grundbesitzer, von kapitalistischer Gesinnung angesteckt und werden die Denker und Staatsmänner der Bourgeoisie aus ihren vorschauenden Leitern zu ihren Klopffechtern, die für jede ihrer Augenblicksinteressen einzutreten bereit sind.

Die Verheerungen, welche die kapitalistische Produktion unter ihren Arbeitern anrichtet, sind so grauenhafte, daß ein gewisses, dürftiges Maß von gesetzlichem Arbeiterschutz nur die gierigsten und schamlosesten Kapitalisten und Kapitalsfreunde zu weigern wagen. Jedoch für einen ausgiebigen Arbeiterschutz, der über dies geringe Maß hinausgeht, wie z. B. für den Achtstundentag, der heute dasselbe bedeutet, was in den vierziger Jahren für die englische Industrie der Zehnstundentag war, sind gegenwärtig in den Reihen der Besitzenden nur noch wenige Verfechter zu finden. Die bürgerliche Philanthropie wird immer zaghafter. Sie überläßt es immer mehr den Arbeitern allein, den Kampf für einen ausreichenden Arbeiterschutz zu führen. Der jetzige Kampf um den Achtstundentag in England hat ein ganz anderes Gesicht als der Kampf, der dort vor einem halben Jahrhundert um den Zehnstundentag geführt wurde. Soweit heute bürgerliche Politiker für jenen eintreten, tun sie es nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie von den Arbeitern, ihren Wählern, gedrängt werden. Der Kampf um den Arbeiterschutz wird immer mehr zu einem reinen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Auf dem Festland von Europa, wo der Kampf um Arbeiterschutzgesetze viel später begann als in England, hat er von vorneherein diesen Charakter getragen. Das Proletariat hat von den besitzenden Klassen keine Förderung mehr in seinem Ringen nach gesellschaftlicher Hebung zu erwarten. Es ist ganz auf seine eigene Kraft angewiesen, das heißt zunächst auf die Kraft derjenigen seiner vielen Schichten, die Kampffähigkeit und Kampfesfreude sich bewahrt oder neu errungen haben.
 

8. Die Gewerkschaftsbewegung

Kämpfe zwischen Lohnarbeitern und ihren Ausbeutern sind nichts Neues. Wir finden sie schon am Ausgange des Mittelalters im Handwerk, zwischen Gesellen und Meistern, sobald diese unter dem Einfluß der damals vor sich gehenden Entfaltung der Warenproduktion und des Weltverkehrs anfingen, kapitalistische Ahnungen und Neigungen zu empfinden. Mancher von ihnen versuchte im 15. Jahrhundert schon die Zahl der Gesellen, die er beschäftigte, so zu vermehren, daß er von ihrer Arbeit leben konnte, ohne selbst mitzuarbeiten, oder er versuchte mindestens, den Gesellen den Löwenanteil der Arbeit zuzuschieben. Bestrebungen nach Vermehrung der Arbeitstage, nach Einschränkung der Feiertage, ja sogar nach Sonntagsarbeit machten sich bemerkbar. Dabei suchten die Herrn Meister sich von den Gesellen abzusondern; diese sollten mit schlechterer Kost vorliebnehmen usw. Der familiäre Zusammenhang wurde gelockert. Endlich begannen die zünftigen Meister sich abzuschließen; den Gesellen, die nicht Söhne oder Schwiegersöhne von Meistern waren, wurde das Meisterwerden sehr erschwert, oft geradezu unmöglich gemacht. So wurde der Gesellenstand immer mehr ein eigener Stand, er hörte auf, bloß eine Zwischenstation zwischen Lehrlingtum und Meisterschaft zu sein.

Wenn die Meister anfingen, sich auf Kapitalisten hinauszuspielen, so war die naturnotwendige Folge davon, daß das Verhältnis zwischen ihnen und ihren Arbeitern etwas von der Schärfe des späteren Gegensatzes zwischen kapitalistischem Unternehmer und Lohnproletarier annahm. Aber die Gesellen waren nicht zu vergleichen mit den demütigen, herabgedrückten Proletariern der beginnenden Großindustrie. Trotzig und kampflustig, parierten sie nicht bloß jeden Schlag, der gegen sie geführt wurde, sondern beantworteten ihn womöglich mit einem noch derberen Schlag ihrerseits. Die Städte waren klein, die Zahl der Gesellen jeden Berufs in einer Stadt daher verhältnismäßig gering. Sie waren um so leichter zu vereinigen, als in der Regel jedes Gewerbe in einer besonderen Straße betrieben wurde. Die Arbeit sonderte freilich den einen vom anderen ab, nur wenige, selten mehr als einer bis zwei, arbeiteten bei einem Meister. Aber die Arbeit füllte nicht ihr Leben aus. Die Zahl der Feiertage im Jahr war Legion, die Geselligkeit spielte im Leben jedes einzelnen damals eine ebenso große Rolle wie die Arbeit, und die Geselligkeit vereinte die Gesellen. Ihre Trinkstuben wurden die Mittelpunkte ihrer Organisationen, die Ausgangspunkte der Schlachten, die sie den Meistern lieferten. Wer von den Gesellen nicht mittat, war geächtet. Angesichts der Abschließung der Berufe voneinander war der Ausschluß aus der Gesellenschaft seines Handwerks für den Gesellen gleichbedeutend mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft. Die Gesellenorganisation eines Gewerbes umfaßte daher sämtliche Gesellen desselben. Eine industrielle Reservearmee blieb so gut wie unbekannt, Arbeiter aus fremden Berufen heranzuziehen war aus den verschiedensten Gründen unmöglich, kein Wunder, daß die Stellung der Gesellen den Meistern gegenüber eine verhältnismäßig höchst günstige war. Die Waffen, welche sie anwendeten, waren die Arbeitseinstellung und die Verrufserklärung – Streik und Boykott –, und diese Waffen wurden nicht geschont. Unseren Innungsschwärmern, die von der Wiederherstellung des mittelalterlichen Handwerks träumen und die dadurch die Herstellung des Friedens zwischen den Arbeitern und ihren Ausbeutern erhoffen, würden die Haare zu Berge stehen, wenn heute im Verhältnis zur Ausdehnung der Industrie so oft und so hartnäckig gestreikt würde wie in den maßgebenden Handwerken während des 15. und 16. Jahrhunderts.

Erst die aufkommende moderne Staatsgewalt vermochte es, die Gesellen Mores zu lehren. Die Niederhaltung der Arbeiter war einer der ersten Liebesdienste, die sie der Bourgeoisie erwies und ist bis heute eine ihrer Hauptaufgaben geblieben. Es begann die Zeit der Lohntaxen (das heißt der Maximallöhne) und des Verbots oder mindestens der polizeilichen Niederhaltung aller Organisationen von Lohnarbeitern. Indes gelang es auch dem Staat nicht, mit den Gesellen völlig fertigzuwerden. Ebensogut wie ihre Gegner wußten auch sie, welche Macht sie durch Zusammenfassung ihrer Kräfte besäßen, wie wehrlos sie ohne Organisation seien. Sie versuchten überall aufs zäheste, an denselben festzuhalten. Wo ihnen öffentliche Organisationen unmöglich gemacht wurden, gründeten sie geheime. Die furchtbarsten Strafen und Mißhandlungen wurden deswegen über sie verhängt, vermochten aber ihren Zusammenhang nicht zu lockern. Die Leiden und Entbehrungen, die das Sozialistengesetz dem deutschen Proletariat gebracht, waren, obwohl an und für sich schlimm genug, Kinderspiel gegen das, was die Arbeiter während der letzten Jahrhunderte und bis in die Mitte des jetzigen in manchen Ländern zu erdulden gehabt. Und doch haben sie alle Verfolgungen siegreich überwunden.

Nicht die gleiche Widerstandskraft wie die Gesellen des Handwerks besaß die Mehrzahl der Arbeiter der auftauchenden kapitalistischen Manufaktur. Die zur Herstellung eines ganzen Produkts notwendigen Hantierungen sind, wie wir schon bemerkt, in der Manufaktur verschiedenen Arbeitern zugeteilt, von denen jeder nur einen oder mehrere verhältnismäßig einfache Handgriffe zu verrichten hat. Die Lehrzeit des Arbeiters wird dadurch verkürzt, die Arbeit von Frauen und Kindern beginnt bereits einzudringen. Ferner finden wir unter der Herrschaft der Manufaktur in den industriellen Städten große Arbeiterarmeen. Da ist es unmöglich, daß ein Arbeiter den anderen persönlich kennt, was in den mittelalterlichen Kleinstädten bei den Gesellen sich von selbst ergeben hatte. Unter der Entwicklung der Großstädte litten freilich zum Teil auch die Handwerksgesellen, aber nicht so stark, denn in demselben Maße, in dem sie an Zahl zunahmen, wuchs auch die Vielköpfigkeit und damit die Uneinigkeit ihrer Gegner, der Meister. In den kapitalistischen Betrieben dagegen stehen zahlreiche Arbeiter wenigen Unternehmern gegenüber, die sich leicht verständigen können.

Dazu kam noch, daß die Herrschaft des Zunftzwanges die Entwicklung der Manufakturen in den alten Städten hinderte. Diese Unternehmungen mußten außerhalb des Bereichs des Zunftzwangs angelegt werden, meist auf dem flachen Lande, wo die Arbeiter leichter zu überwachen waren, keinen Rückhalt in anderen Schichten der arbeitenden Bevölkerung fanden und einzig auf die Arbeitsgelegenheit der Manufaktur angewiesen blieben.

Endlich aber wurde den Arbeitern die Zeit zu geselligen Zusammenkünften, diesem wichtigen Mittel der Vereinigung und daraus hervorgehender Einheitlichkeit im Handeln, sehr verkürzt, namentlich durch die Aufhebung der mittelalterlichen Feiertage.

Wohl vereinigt die Manufaktur größere Arbeitermassen bei der Arbeit und zwingt sie zum Zusammenarbeiten, zur Kooperation. Aber die wohltätigen Folgen, die daraus für den Zusammenhalt der Arbeiter sich ergeben, werden zum Teil dadurch wettgemacht, daß nicht nur die Arbeiter sich aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten rekrutierten, sondern daß auch die verschiedenen Hantierungen sehr verschieden entlohnt werden; wir finden da eine Reihe von Rangstufen unter den Arbeitern wie bei den Bedienten eines großen Luxushaushalts. Wohl wird bei den Arbeitern die Zugehörigkeit zu jeder einzelnen Stufe vornehmlich durch ihre Leistungen in der Produktion, nicht durch ihre persönliche Schmiegsamkeit bestimmt; die Hierarchie zeitigt also unter ihnen nicht die Eigenschaften der Bedientenhaftigkeit, aber sie erzeugt doch so große Verschiedenheiten in den Interessen der einzelnen Arbeitergruppen eines Unternehmens, daß ihre Interessengemeinschaft ihnen nur schwer zum Bewußtsein kommt.

Immerhin besitzen die Arbeiter der Manufaktur noch einen großen Vorteil: Ist auch ihre Lehrzeit eine viel kürzere als im Handwerk, so beruht doch ihre Arbeit auf einer Handfertigkeit, einer Geschicklichkeit, die nur durch längere Übung erlangt werden kann. Sie sind daher nicht leicht zu ersetzen. Und so groß auch die Zahl der arbeitslosen, arbeitsuchenden Proletarier auf der Stufe der Entwicklung, von der wir hier handeln, schon ist, die Zahl der geübten Manufakturarbeiter unter ihnen ist noch gering. Die industrielle Reservearmee hat für die Arbeiter der Manufakturperiode im allgemeinen noch wenig Bedeutung.

Erst die Maschine ändert das, sie macht die ganze Masse der Arbeitslosen der Industrie dienstbar und wirft auch Frauen und Kinder der Proletarier scharenweise auf den Arbeitsmarkt. Mit welchen Ergebnissen für die Widerstandskraft der Arbeiter, haben wir gesehen.

Seit der Einführung des Maschinenwesens in die Produktion nimmt der Prozeß der Umwandlung der gesamten Industrie in eine kapitalistische ein ungemein rasches Tempo an. Aber es werden nicht sofort auf allen Produktionsgebieten die kapitalistischen Betriebe zu Fabriken, die mit Maschinenkraft produzieren. Die Manufaktur hat auf manchen Gebieten, z. B. in der Setzerei, bis heute noch sich behauptet. Es gibt sogar Industriezweige, in denen auch bei kapitalistischem Betrieb die handwerksmäßige Produktion eine Zeitlang sich erhalten kann, z. B. in der Schneiderei, soweit sie nicht der Massenerzeugung dient. In der Regel freilich führt die kapitalistische Ausbeutung eines Gewerbes, das noch auf der Stufe des Handwerks steht, zum zwerghaften, hausindustriellen, nicht zum Großbetrieb. Die Arbeiter der Hausindustrie sind aber die widerstandslosesten von allen.

Es erhält sich auch unter der Herrschaft der mit Maschinen betriebenen Großindustrie in der kapitalistischen Produktionsweise eine – allerdings nach und nach zusammenschmelzende – Reihe von Industriezweigen, die gelernter Arbeiter, welche eine gewisse Geschicklichkeit sich angeeignet haben, nicht entbehren können. Die Großindustrie selbst schafft eine Reihe neuer Arbeitszweige oder erweitert schon bestehende, welche eine besondere Kraft oder Geschicklichkeit oder ein besonderes Wissen voraussetzen und welche nicht die Konkurrenz ungelernter Arbeiter oder die von Frauen und Kindern zu fürchten haben. Dies galt z. B. und gilt zum größten Teil noch in manchen Zweigen der Metallgewinnung und -verarbeitung.

Das arbeitende Proletariat teilt sich demnach in zwei große Schichten: eine höherstehende, durch die Verhältnisse in verschiedenen Beziehungen begünstigte, die der gelernten oder geschickten (englisch skilled) oder qualifizierten Arbeiter. Unter dieser Schicht breitet sich die große und täglich zunehmende Masse von Arbeitern aus, die in Beschäftigungen tätig sind, zu deren Erlernung keine besonderen Vorkenntnisse oder Geschicklichkeiten oder Fähigkeiten erforderlich sind: Wie geschickt oder kenntnisreich oder fähig auch manche unter diesen Arbeitern sein mögen, sie fallen in die Rubrik der ungelernten, ungeschickten (unskilled) oder unqualifizierten Arbeiter, die leicht ersetzbar sind, denen man keine Rücksichten schuldet, deren Widerstandskraft gering ist.

Die bessergestellten, die qualifizierten Arbeiter sind es, denen der Vorkampf im Ringen nach Hebung der Arbeiterklasse zukommt. Sie bilden die streitbarsten Elemente des Proletariats, diejenigen, die am ehesten imstande sind, dem Kapital Widerstand zu leisten. Und sie haben ihre Streitbarkeit in zahlreichen Kämpfen bewiesen.

Ihre Stellung weist manche Ähnlichkeit mit der der zünftigen Handwerksgesellen auf; deren Überlieferungen haben sich auch in ihrer Mitte vielfach erhalten, deren Organisations- und Kampfesmethoden sind für sie vorbildlich geworden. Die neuen wirtschaftlichen Kampfesorganisationen der Arbeiter – und zwar zunächst nur der qualifizierten Arbeiter –, die Gewerkschaften, bilden mitunter direkte Fortsetzungen der alten Gesellenschaften, oft, wenigstens in den Anfängen der gewerkschaftlichen Bewegungen, sind sie aus den Überlieferungen hervorgewachsen, die das zünftige Gesellentum bei den Lohnarbeitern hinterlassen hat.

Die ursprüngliche Verwandtschaft der Gewerkschaftsbewegung mit der zünftigen Gesellenbewegung äußert sich nicht bloß im Widerstandsgeist und der Widerstandskraft der Gewerkschaften. Mitunter tritt auch in diesen ein zünftiger Geist zutage, eine Tendenz nach einer kastenmäßigen Abschließung, nach einseitiger Verfolgung bloß der engeren Berufsinteressen ohne Rücksicht auf die allgemeinen Arbeiterinteressen. Unter Umständen kann dies so weit führen, daß Gewerkschaften qualifizierter Arbeiter nicht nur alle Pflichten der Solidarität mit der gesamten Arbeiterklasse außer acht lassen, sondern direkt auf Kosten der anderen Arbeiterschaft Vorteile zu erlangen suchen – etwa durch Beschränkung der Zahl der Lehrlinge, die in ihrem Beruf ausgebildet werden. Dadurch vermindern sie zwar das Angebot von Arbeitskräften im eigenen Beruf, aber nur auf Kosten der Arbeiter in anderen Arbeitszweigen, die nicht die Kraft haben, solche Beschränkungen durchzusetzen, so daß sich nun diesen Berufen um so mehr Arbeitskräfte zuwenden.

Mitunter sind es bloß einzelne Gewerbe, deren organisierte Mitglieder sich als „Aristokraten“ der Arbeit vom „Pöbel“ absondern und auf dessen Schultern höherzusteigen suchen. Das galt z. B. in Deutschland noch vor einiger Zeit für die Mehrheit der Schriftsetzer. In England aber haben die qualifizierten Arbeiter sich in ihrer Gesamtheit von den unqualifizierten abgesondert. Zu ihnen gesellten sich noch die Arbeiter der dem Fabrikgesetz unterstellten Arbeitszweige, die durch dasselbe in eine günstigere Stellung versetzt worden waren. Diese bessergestellten Arbeiter bildeten bis vor kurzem – und bilden zum Teil noch heute – eine von der großen Masse des Lohnproletariats abgesonderte Arbeiteraristokratie.

Wo die Gewerkschaftsbewegung zu einer Pflege einseitigen Kastengeistes und zu aristokratischer Abschließung der bessergestellten Arbeiter führt, da trägt sie nicht nur nichts zur Hebung des gesamten Proletariats als Klasse bei, sie ist sogar imstande, dieselbe zu hemmen und zu verzögern. Sie ist ein viel wirksameres Mittel dazu als die brutalen und geistlosen Unterdrückungsmaßregeln, welche die herkömmliche Staatsweisheit anzuwenden liebt. Deren gegen die Kampfesorganisationen der Arbeiterklasse gerichteten Maßregeln sind im Gegenteil das wirksamste Mittel, die qualifizierten Arbeiter mit den unqualifizierten zu einem einheitlichen Widerstand gegen die Unterdrückung zusammenzuschweißen.

Es sind denn heute auch nur noch die geistlosesten und unwissendsten Staatsmänner, die vermeinen, das Proletariat durch solche Maßregeln niederhalten zu können. Die gefährlichsten Feinde des Proletariats sind dagegen diejenigen, welche, nicht als seine Gegner, sondern als seine Freunde auftretend, durch eine Gewerkschaftsbewegung in dem Geiste, wie er eben beschrieben worden, das Proletariat zu spalten und seine widerstandsfähigsten Bestandteile aus Vorkämpfern in Unterdrücker seiner wehrloseren Bestandteile zu verwandeln suchen. Diese falschen Freunde der Arbeiterklasse treiben auch in Deutschland ihr Unwesen; allerdings bisher zumeist nur auf den Universitäten. Aber sie machen Versuche, auch auf die Arbeiter selbst Einfluß zu gewinnen. Zum Glück sind die herrschenden Parteien zu beschränkt, die deutschen Arbeiter zu einsichtig und die ökonomischen Verhältnisse zu weit entwickelt, als daß diese Herren dauernden Schaden anrichten könnten.

Wie sehr auch eine durch die Verhältnisse begünstigte Arbeiterschicht sich überheben und von der Masse des Proletariats abschließen mag, auf die Dauer kann sie sich den Wirkungen der ökonomischen Entwicklung nicht entziehen, die sie zur Vereinigung mit der gesamten Arbeiterklasse drängen. Je nach der Einsicht dieser Arbeiterschicht, der Höhe der ökonomischen Entwicklung ihres Gewerbes und der Rolle, die es auf dem inneren Markt und dem Weltmarkt spielt, kann es kürzer oder länger dauern, bis ihre aristokratischen Tendenzen gebrochen werden, aber früher oder später kommt es bei jeder der in Rede stehenden Arbeiterschichten dahin.

Kein Gewerbe ist dagegen gefeit, einmal von der technischen Revolution erfaßt zu werden, welche den gelernten Arbeiter durch den ungelernten ersetzt, dem Mann eine Konkurrenz durch Weib und Kind bereitet. Trotz aller Beschränkungen der Zahl der Lehrlinge usw. steigt die Zahl der Arbeitslosen in jedem Beruf, wie hohe Voraussetzungen er immer an seine Arbeiter stellen mag. Es steigt die Zahl jener gelernten Arbeiter, die, weil sie nicht genug verdienen, außerhalb der Organisationen stehen müssen und gegen die organisierten Arbeiter verwendet werden können. Immer mehr müssen auch die am strammsten organisierten Arbeiter mit den bestgefüllten Kassen erkennen, daß der Widerstand gegen die niederdrückenden Wirkungen des Kapitalismus, geschweige denn deren Überwindung, eine Aufgabe ist, der die vereinzelten Berufsorganisationen nicht gewachsen sind. Sie müssen erkennen, daß sie um so schwächer sind, je schwächer das gesamte Proletariat, um so stärker, je stärker dieses. Sie müssen zur Einsicht kommen, daß es eine schlechte Politik ist, auf den Schultern von Leuten in die Höhe steigen zu wollen, die in einem Sumpf versinken und die man durch die Erhebung über sie noch tief er hineindrückt. Sie müssen darnach trachten, festen Boden unter den Füßen zu bekommen, wollen sie in die Höhe gelangen und sich dort behaupten. Das können sie aber nicht, ohne den tieferen, unter ihnen stehenden Schichten zu helfen, sich aus dem Sumpf zu erheben.

So gelangt eine der „aristokratischen“ Arbeiterschichten nach der anderen dazu, ihre Kämpfe gegen die Ausbeutung nicht als Sonderkämpfe zu betrachten, in denen es sich bloß um ihre Sonderinteressen handle, sondern als Teile des großen Klassenkampfes, den das gesamte Proletariat führt. Sie gelangen zu der Erkenntnis, daß die Kämpfe der anderen Proletarierschichten keineswegs bedeutungslos für sie sind, daß es sich in denselben auch um ihre Sache handelt, daß sie daher die Pflicht haben, wo sie nur können, helfend und fördernd an ihnen teilzunehmen. Sie gelangen zu der Erkenntnis, daß sie, wo es möglich, auch die Interessen derjenigen Proletarierschichten zu wahren haben, die noch nicht imstande sind, durch eigene Kraft sich ihrer Haut zu wehren, die noch außerhalb des Rahmens der Arbeiterbewegung stehen.

Gleichzeitig erhebt sich aber auch aus den Reihen der unqualifizierten Arbeiter eine Schicht nach der anderen. Schon der Anblick der großen Kämpfe der qualifizierten Arbeiter wirkt aufrüttelnd und ermutigend auf viele ihrer „unqualifizierten“ Brüder. Der ähnlichen Wirkung, welche die Kämpfe um den Arbeiterschutz üben, haben wir schon gedacht. Noch eine Reihe anderer Ursachen ist tätig, hin und wieder, infolge eines günstigen Zusammentreffens, eine Arbeiterschicht zu veranlassen, in die Reihen des kämpfenden Proletariats einzutreten.

Die direkten wirtschaftlichen Erfolge der Kämpfe der unqualifizierten Proletarier sind in der Regel gering. Ihre Geschichte ist „eine lange Reihe von Niederlagen [der Arbeiter], unterbrochen von wenigen einzelnen Siegen“ (Engels). Aber gleich dem Riesen Antäus der griechischen Sage schöpfen die Proletarier auch aus der Niederlage neue Kraft. Wie immer der Ausgang des Kampfes sein mag, er selbst ist es, der die Arbeiter moralisch hebt, der alle jene Eigenschaften in ihnen hervortreten und zur Geltung kommen läßt, die wir oben als die charakteristischen des Proletariats bezeichnet haben, der dessen moralische und gesellschaftliche Wiedergeburt fördert, auch wenn er zu seiner ökonomischen Hebung nichts beiträgt, vielleicht gar eine wirtschaftliche Schlechterstellung zur Folge hat.

So bildet sich allmählich aus qualifizierten und unqualifizierten Proletariern die Schicht der in Bewegung befindlichen Arbeiterklasse – die Arbeiterbewegung. Es ist das der für die Gesamtinteressen seiner Klasse kämpfende Teil des Proletariats, seine ecclesia militans (kämpfende Kirche). Diese Schicht nimmt zu ebenso auf Kosten der sich überhebenden, in beschränktem Egoismus versunkenen „Aristokraten“ der Arbeit wie auf Kosten des stumpfsinnigen „Pöbels“, der noch in Hoffnungslosigkeit und Kraftlosigkeit dahinvegetierenden unteren Schichten des Lohnproletariats. Wir haben gesehen, daß das arbeitende Proletariat in beständiger Zunahme begriffen ist; wir wissen ferner, daß es immer bestimmender wird für die anderen arbeitenden Klassen, deren Lebensverhältnisse, deren Fühlen und Denken immer mehr von dem seinigen beeinflußt werden; nun sehen wir, daß in dieser stets wachsenden Masse der streitbare Teil nicht nur an und für sich, sondern auch verhältnismäßig immer größer wird. So rasch auch das Proletariat zunimmt, sein kämpfender Teil ist in noch rascherer Zunahme begriffen.

Das kämpfende Proletariat ist aber das weitaus wichtigste und ergiebigste Rekrutierungsgebiet der Sozialdemokratie. Sie ist im wesentlichen nichts anderes als der zielbewußte Teil des kämpfenden Proletariats; dieses hat die Tendenz, immer mehr gleichbedeutend zu werden mit der Sozialdemokratie; in Deutschland und Österreich sind beide tatsächlich eins geworden.
 

9. Der politische Kampf

Wie das Proletariat seine ursprünglichsten Widerstandsorganisationen denen der Handwerksgesellen nachbildet, so sind auch seine ursprünglichsten Kampfmittel überall dort, wo es in geschlossenen Massen auftritt, dieselben, welche die Handwerksgesellen anwendeten: der Boykott, namentlich aber der Streik.

Das Proletariat kann jedoch bei diesen Kampfmitteln nicht stehenbleiben. Je mehr die einzelnen Schichten, aus denen es besteht, zu einer einheitlichen Arbeiterklasse sich zusammenschließen, desto mehr müssen seine Kämpfe einen politischen Charakter annehmen, denn, wie bereits das Kommunistische Manifest sagt, jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf.

Schon die Bedürfnisse des rein gewerkschaftlichen Kampfes zwingen die Arbeiter, politische Forderungen aufzustellen. Wir haben gesehen, wie der moderne Staat es den Lohnarbeitern gegenüber als seine Hauptaufgabe betrachtet, ihre Organisierung unmöglich zu machen. Die geheime Organisation kann aber stets nur ein ungenügendes Surrogat der öffentlichen sein, und dies gilt um so mehr, je größer die Massen sind, die zu einem Körper zusammengefaßt werden sollen. Je mehr das Proletariat sich entwickelt, desto mehr bedarf es der Freiheit der Vereinigung, der Koalitionsfreiheit.

Aber diese Freiheit allein genügt nicht, soll das Proletariat instand gesetzt werden, seine Organisationen so vollständig als möglich auszubauen und so zweckentsprechend als möglich anzuwenden. Wir haben schon darauf hingewiesen, wie leicht es den Handwerksgesellen wurde, sich zusammenzufinden. In jeder Stadt arbeiteten verhältnismäßig so wenige in einem jeden Beruf, und noch dazu meist zusammengedrängt in einer Straße, daß sie in steter persönlicher Verbindung miteinander waren. Eine einzige Trinkstube genügte meist, die Gesellen eines Handwerks aufzunehmen. Jede Stadt bildete aber für sich mehr oder weniger ein wirtschaftliches Ganzes. Die Verkehrswege waren schlecht, der Verkehr von Stadt zu Stadt gering. Die einzelnen wandernden Handwerksburschen waren unter diesen Umständen völlig genügend, den Zusammenhang zwischen den Gesellenorganisationen der einzelnen Städte aufrechtzuerhalten.

Heute arbeiten in den großen Industriezentren Tausende von Arbeitern, von denen jeder nur mit einigen wenigen Arbeitsgenossen, nicht aber mit der großen Masse seiner Kameraden in engerer persönlicher Fühlung steht. Diese Massen in Zusammenhang miteinander zu bringen, das Bewußtsein ihrer weiteren Interessengemeinschaft in ihnen wachzurufen und sie für die dem Schutz ihrer Interessen dienenden Organisationen zu gewinnen, dazu gehört die Möglichkeit, zu großen Massen frei sprechen zu können, dazu gehört die Freiheit der Versammlung und der Presse. Die Handwerksgesellen bedurften der Presse nicht. Für die kleinen Verhältnisse, in denen sie lebten, genügte der mündliche Verkehr. Die ungeheuren Massen der heutigen Lohnarbeiterschaft in Organisationen zu vereinigen und zu einheitlichem Handeln zu bringen ist ohne die Hilfe der Presse geradezu unmöglich.

Dies gilt um so mehr, je mehr sich die modernen Verkehrsmittel entwickeln. Diese bilden eine mächtige Waffe für die Kapitalisten in deren Kämpfen mit den Arbeitern. Sie ermöglichen es ihnen z. B., rasch große Arbeitermassen auf weite Entfernungen zu verschicken; geraten sie in einen Konflikt mit ihren Arbeitern, so können sie diese leicht durch auswärtige Arbeitskräfte ersetzen, wenn dieselben in keiner Verbindung mit jenen stehen. Die Entwicklung des Verkehrs macht es daher immer notwendiger, die einzelnen lokalen Bewegungen der Arbeiter der verschiedenen Berufe zu einer einheitlichen, die ganze kämpfende Arbeiterschaft des ganzen Landes, ja schließlich aller Industrieländer umfassenden Bewegung zu vereinigen. Diese nationale und internationale Zusammenfassung der Lohnarbeiterschaft bedarf aber noch mehr als die lokale Organisationsarbeit der Presse.

So sehen wir denn auch überall, wo die Arbeiterklasse sich regt, wo sie die ersten Versuche macht, eine Hebung ihrer wirtschaftlichen Lage zu erringen, daß sie neben rein ökonomischen auch politische Forderungen aufstellt, namentlich die Forderungen der Freiheit der Vereinigung, der Versammlung, der Presse. Diese Freiheiten sind für die Arbeiterklasse von der größten Bedeutung; sie gehören zu ihren Lebensbedingungen, deren sie zu ihrer Entwicklung unbedingt bedarf. Sie bedeuten Licht und Luft für das Proletariat, und wer sie ihm verkümmert oder vorenthält oder die Arbeiter von dem Kampf um Gewinnung und Erweiterung dieser Freiheiten abhalten will, der gehört zu den schlimmsten Feinden des Proletariats, mag er auch noch so große Liebe für dasselbe empfinden oder heucheln, mag er sich Anarchist oder Christlich-Sozialer oder wie immer nennen. Ebenso wie dessen offene Feinde, schädigt auch er das Proletariat, und ob er dies aus Bosheit oder bloß aus Unwissenheit tut, ist gleichgültig, er muß ebensosehr bekämpft werden wie die anerkannten Gegner des Proletariats.

Man hat mitunter den politischen Kampf dem wirtschaftlichen entgegengestellt und es für notwendig erklärt, daß das Proletariat sich einseitig nur dem einen oder dem anderen zuwende. In Wahrheit sind beide voneinander nicht zu trennen. Der wirtschaftliche Kampf erfordert die eben genannten politischen Rechte, die aber nicht vom Himmel fallen, sondern zu ihrer Erlangung und Behauptung der energischsten politischen Tätigkeit bedürfen. Der politische Kampf selbst aber ist in letzter Linie auch ein wirtschaftlicher Kampf, oft ist er geradezu direkt ein solcher, z. B. in Zoll-, Arbeiterschutz- und ähnlichen Angelegenheiten. Der politische Kampf ist nur eine besondere, die umfassendste und meist auch einschneidendste des wirtschaftlichen Kampfes.

Nicht nur die Gesetze, welche direkt die Arbeiterklasse besonders angehen, auch die große Mehrzahl der anderen berühren mehr oder weniger ihre Interessen. Wie jede andere Klasse muß daher auch die Arbeiterklasse nach politischem Einfluß und politischer Macht, muß sie darnach streben, die Staatsgewalt sich dienstbar zu machen.

Dazu gibt es im modernen Staat zwei Wege: erstens die persönliche Beeinflussung des Staatsoberhauptes. Dies war (und ist) in den absolutistisch regierten Staaten die einzige Möglichkeit, auf die Staatsverwaltung einzuwirken. Sie liegt im Interesse derjenigen Klassen, die persönlichen Zutritt zum Staatsoberhaupt haben und in der Lage sind, seine Zuneigung zu erwerben, es von sich abhängig zu machen oder sich ihm nützlich zu erweisen. Diese Klassen, der Hofadel, die höhere Geistlichkeit, die Spitzen der Armee und der Bürokratie sowie endlich die großen Kreditgeber, die Herren von der hohen Finanz, sind daher die natürlichen Verteidiger der absoluten Regierungsform.

Alle anderen Klassen der Bevölkerung können in einem modernen Großstaat nur vermittelst eines von ihnen gewählten Parlaments Einfluß auf die Staatsverwaltung gewinnen, eines Parlaments, das die Bedingungen feststellt, unter denen die Klassen, die es vertritt, bereit sind, die nötigen Beiträge der Bevölkerung für den Staatshaushalt zu bewilligen. Das Recht und die Möglichkeit der Steuerverweigerung ist die Grundlage, aus der sich die Rechte, Gesetze zu machen oder abzulehnen und Ministerien zu stürzen, entwickelt haben, Rechte, die jedem Parlament zustehen, welches diesen Namen in Wirklichkeit verdient, welches mehr ist als, wie man sich ausgedrückt hat, ein Feigenblatt des Absolutismus.

Von der direkten Gesetzgebung durchs Volk dürfen wir hier absehen. Sie kann, wenigstens in einem modernen Großstaat, und nur von solchen handeln wir hier, das Parlament nicht überflüssig machen, sie kann höchstens neben demselben in Einzelfällen zur Korrigierung desselben in Tätigkeit treten. Die gesamte staatliche Gesetzgebung durch sie besorgen zu lassen ist absolut unmöglich, und ebensowenig möglich ist es, durch sie die Staatsverwaltung zu überwachen und, wenn nötig, zu lenken. Solange der moderne Großstaat besteht, wird der Schwerpunkt der politischen Tätigkeit stets in seinem Parlament liegen.

Die letzte Konsequenz des Parlamentarismus ist die parlamentarische Republik; ob diese das Königtum noch als Dekoration beibehält, wie die Engländer tun, oder nicht, ist ziemlich gleichgültig. Tatsächlich gerät in einem wirklich parlamentarisch regierten Lande die Staatsverwaltung in völlige Abhängigkeit vom Parlament, das den Geldsack, das heißt die Seele des modernen Staates wie jeder modernen Unternehmung, in der Hand hat. Und ein König ohne Geld ist heute noch schlimmer dran als ein König ohne Land.

Das Streben aller Klassen, die ein selbständiges kräftiges politisches Leben entwickeln und die keine Aussicht haben, durch persönliche Beeinflussung des Staatsoberhauptes rascher zum Ziel zu kommen, geht im modernen Staat einerseits nach Vermehrung der Macht des Parlaments und andererseits nach Vermehrung ihrer Macht im Parlament. Die Macht des Parlaments hängt ab von der Kraft und dem Mut der Klassen, die hinter ihm stehen und der Kraft und dem Mut der Klassen, denen es seinen Willen aufzuzwingen hat. Die Macht einer Klasse im Parlament hängt in erster Linie ab von der Gestaltung des Wahlrechts. Klassen, die kein Wahlrecht besitzen, können natürlich im Parlament nicht vertreten sein. Dann aber hängt sie ab von der Macht und dem Einfluß, den diese Klasse auf die Kreise der Wähler übt, und endlich hängt sie ab von der Begabung der betreffenden Klasse für die parlamentarische Tätigkeit.

Die ersten Punkte bedürfen keiner Erläuterung, nur dem letzteren seien einige Worte gewidmet. Die parlamentarische Tätigkeit ist nicht jedermanns Sache. Sie setzt eine gewisse Gewandtheit voraus, die nur durch eine längere, namentlich rednerische Wirksamkeit im öffentlichen Leben erworben wird. Sie erfordert ferner einen weiteren Gesichtskreis, einen Blick, der imstande ist, Fragen von allgemeiner nationaler und internationaler Bedeutung zu erfassen. Die bäuerliche Bevölkerung und ebenso der größte Teil der kleinbürgerlichen entbehrt dieser Vorbedingungen für die Teilnahme am parlamentarischen Leben. Wir haben gesehen, daß die Erwerbsarbeit diese Kreise völlig in Anspruch nimmt. Die Arbeit isoliert sie aber, sondert den einen vom anderen ab, beschränkt den Verkehr eines jeden auf einen kleinen Kreis. Ihr Gesichtskreis ist notwendig ein ungemein beschränkter, auch Fragen von allgemeinster Bedeutung messen sie mit dem Maßstab persönlicher oder höchstens lokaler, augenblicklicher Bedürfnisse. Ihre Lebensverhältnisse hindern nicht nur die Entwicklung parlamentarischer Politiker unter ihnen, sie hindern auch, daß diese Klassen zu festen nationalen (im Sinn von die Klasse im Bereich der ganzen Nation umfassenden) Parteien sich zusammenschließen. Dieselben bilden zusammenhanglose, von augenblicklichen Stimmungen beherrschte Massen; sie sind nicht nur nicht imstande, Vertreter aus der eigenen Klasse ins Parlament zu schicken, sie sind auch nicht imstande, die Männer ihrer Wahl unter scharfer Kontrolle zu halten. Ein Handwerker oder gar ein echter Bauer in einem Parlament ist ein weißer Rabe. Wollen die Bauern und Kleinbürger im Parlament vertreten sein, dann wählen sie nicht einen ihresgleichen, sondern einen Advokaten oder Professor, wenn sie liberal, einen Großgrundbesitzer, Geistlichen oder höheren Beamten, wenn sie konservativ sind. Daß ein derartiger Abgeordneter, auch wenn er ehrliche Absichten hat, nicht den richtigsten Vertreter der Handwerker- und Bauerninteressen bildet, ist klar. Aber sehr oft hat er gar nicht ehrliche Absichten. Einmal im Parlament, kann er machen, was er will; seinen Wählern fehlen alle Mittel, ihn zu beeinflussen. Sie können höchstens den Verräter bei der nächsten Wahl durchfallen lassen, um – einen anderen Verräter zu wählen.

Kein Wunder, daß Bauern und Kleinbürger auf den Parlamentarismus schlecht zu sprechen sind. Ganz anders steht's mit der Bourgeoisie. Ihr stehen alle materiellen und geistigen Mittel zu Gebote, um sowohl bei den Wahlkämpfen als auch bei den Kämpfen im Parlament selbst ihre Interessen zu wahren. Sie verfügt nicht bloß über ausreichende Geldmittel, sie findet auch in ihren Reihen zahlreiche Gebildete, Männer mit Weltkenntnis, Männer, die gewohnt sind, große gesellschaftliche Organisationen zu verwalten, Männer, die aus der Gesetzeskenntnis, ja aus dem Reden einen Beruf gemacht haben: Advokaten und Professoren. Keine andere Klasse ist ihr bisher darin gleichgekommen; sie hat daher bis in die jüngste Zeit die Parlamente beherrscht, der Parlamentarismus hat sich als das ihrem Wesen entsprechendste und wirksamste Mittel gezeigt, ihr die Herrschaft im Staate zu sichern und die Kraft der unteren Klassen ihr politisch dienstbar zu machen.

Der radikale Kleinbürger, der dem Kapitalismus den Garaus machen möchte, ist deshalb geneigt, im Parlamentarismus die Hauptursache zu sehen, welche die Knechtschaft der unteren Klassen aufrechterhält und verewigt. Er will von ihm nichts wissen und ist überzeugt, nur bei völliger Abwendung vom Parlamentarismus könne der Sturz der Bourgeoisie bewirkt werden. Die einen verlangen die völlige Ersetzung des Parlaments durch die direkte Gesetzgebung, die anderen gehen noch weiter; da sie erkennen, daß im modernen Staat Politik und Parlamentarismus untrennbar verbunden sind, verurteilen sie überhaupt jegliche politische Tätigkeit. Das mag sehr revolutionär klingen, ist aber tatsächlich nichts als eine politische Bankerotterklärung der unteren Klassen.

Das Proletariat steht dem Parlamentarismus in einer günstigeren Stellung gegenüber als Bauern und Kleinbürger. Wir haben bereits gesehen, wie die moderne Produktionsweise den Proletarier über das Banausentum erhebt, wie sie Durst nach Wissen und Verständnis für die Gesamtheit der Erscheinungen, für große Fragen von allgemeiner Bedeutung in ihm erweckt. Schon dadurch wird er als Politiker dem Kleinbürger und Bauern überlegen. Er ist leichter imstande, Parteiprinzipien zu erfassen, er neigt zu einer prinzipiellen Politik, unbeeinflußt von Augenblicksstimmungen, persönlichen oder lokalen Interessen. Die Lebensbedingungen, in denen er sich befindet, zwingen ihn aber auch, sich mit seinen Genossen in großen Massen zu vereinigen, einheitlich mit ihnen vorzugehen. Seine Lebensbedingungen erzeugen in ihm eine strenge Disziplin, die er aber von seinen Vorkämpfern ebenso verlangt, wie sie von ihm gefordert wird. Und die Tätigkeit zugunsten der Proletarier-Organisationen sowie die Tätigkeit in ihnen ist eine vortreffliche parlamentarische Schule; sie gewöhnt an parlamentarische Formen, bildet Redner, Gesetzeskundige und Organisatoren.

Das Proletariat ist daher imstande – und es hat es bereits bewiesen, wie man in Deutschland am besten weiß –, eine eigene, von den anderen Klassen unabhängige Partei zu bilden, was weder Bauern noch Kleinbürgern bisher gelungen ist und was ihnen auch nicht mehr irgendwo gelingen dürfte; es weiß auch sehr gut seine Vertreter zu kontrollieren und seinen Interessen dienstbar zu erhalten [11]; es findet endlich immer mehr Leute in seinen eigenen Reihen, die fähig sind, es als Abgeordnete im Parlament erfolgreich zu vertreten.

Wo das Proletariat als selbstbewußte Klasse an den Kämpfen ums Parlament (namentlich den Wahlkämpfen) und im Parlament Anteil nimmt, beginnt denn auch der Parlamentarismus sein früheres Wesen zu ändern. Er hört auf, ein bloßes Herrschaftsmittel der Bourgeoisie zu sein. Gerade diese Kämpfe erweisen sich als das mächtigste Mittel, die noch indifferent gebliebenen Schichten des Proletariats aufzurütteln, ihnen Zuversicht und Hoffnungsfreudigkeit einzuflößen; sie erweisen sich als das mächtigste Mittel, die verschiedenen Proletarierschichten immer fester zu einer einheitlichen Arbeiterklasse zusammenzuschweißen, und endlich auch als das mächtigste dem Proletariat gegenwärtig zu Gebot stehende Mittel, die Staatsgewalt zu seinen Gunsten zu beeinflussen und ihr diejenigen Konzessionen abzuringen, die nach Maßgabe der Verhältnisse ihr vorläufig überhaupt abgerungen werden können: kurz, diese Kämpfe gehören zu den wirksamsten Hebeln, das Proletariat aus seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Erniedrigung zu erheben.

Die Arbeiterklasse hat also nicht nur keine Ursache, dem Parlamentarismus fernzubleiben, sie hat alle Ursache, überall für die Kräftigung des Parlaments gegenüber der Staatsverwaltung und für die Kräftigung ihrer Vertretung im Parlament aufs entschiedenste tätig zu sein. Neben dem Koalitionsrecht und der Preßfreiheit bildet das allgemeine Stimmrecht eine Lebensbedingung für die gedeihliche Entwicklung des Proletariats.
 

10. Die Arbeiterpartei

Nicht in allen Ländern besitzt die Arbeiterklasse bereits diese Lebensbedingungen, fast nirgends besitzt sie dieselben in ausreichendem Maße; fast überall besteht die Neigung, ihr das bereits Gewonnene wieder zu verkümmern. Es bedarf langer, opfervoller Kämpfe für die Arbeiterklasse, die nötigen politischen Rechte zu erringen und zu behaupten.

In den Anfängen seiner politischen Kämpfe wird dem Proletariat seine Aufgabe mitunter erleichtert durch Kämpfe innerhalb der besitzenden Klassen selbst. Die industriellen Kapitalisten, die Kaufleute, die Grundbesitzer, die höfischen, absolutistischen Klassen usw. geraten sehr oft in argen Zwiespalt miteinander. Jede unter ihnen sucht unter diesen Umständen Verbündete, die sie durch eine kleine Konzession zu bewegen sucht, sich ihr anzuschließen. Oft wird dann nach erfochtenem Sieg der Verbündete um seinen Anteil an der Beute betrogen; anderseits hat sich aber auch oft eine politische Partei veranlaßt gesehen, einer der niederen Klassen ein bedeutendes politisches Recht einzuräumen, um sie dadurch instand zu setzen, dieser Partei hilfreiche Dienste erweisen zu können.

Die herrschenden Parteien haben oft genug an das Proletariat appelliert, sie haben es selbst in die Arena des politischen Kampfes hineingezerrt. Solange es noch nicht zu einer selbständigen Politik gelangt war, hielten sie es für bloßes „Stimmvieh“, das sich ebenso wie Bauern und Kleinbürger dazu ausnützen lasse, seinen eigenen Ausbeutern Heeresfolge zu leisten. Und in der Tat, oft genug hat es diesen Dienst auch getan.

Indessen sind die Interessen des Proletariats und die der Bourgeoisie zu gegensätzlicher Natur, als daß sich die politischen Bestrebungen der beiden Klassen auf die Dauer miteinander vereinigen ließen. Früher oder später muß in jedem Lande der kapitalistischen Produktionsweise die Anteilnahme der Arbeiterklasse an der Politik dahin führen, daß sie sich von den bürgerlichen Parteien loslöst und eine selbständige Partei bildet, die Arbeiterpartei. Es liegt dies in der Natur der Sache und bedarf nach unseren Ausführungen über die Interessen, Bestrebungen und Anschauungen der beiden Klassen keiner weiteren Erläuterung.

Wann das Proletariat in einem Lande dazu kommt, diesen entscheidenden Schritt zu tun, gewissermaßen die Nabelschnur zu zerschneiden, die es politisch mit der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft, aus deren Schöße es hervorgegangen, das hängt vor allem ab von der Höhe der ökonomischen Entwicklung des betreffenden Landes, durch welche ja hauptsächlich die Ausdehnung, Kraft und Geschlossenheit des Proletariats bestimmt wird. Aber es gibt noch eine Reihe von anderen Bedingungen, welche für das frühere oder spätere Eintreten der politischen Selbständigkeit der Arbeiterklasse von Bedeutung sind. Besonders zwei sind da zu nennen: die Höhe der Einsicht der Arbeiterklasse in die politischen und ökonomischen Verhältnisse und das Verhalten der bürgerlichen Parteien ihr gegenüber. Beide Bedingungen sind bisher in Deutschland der politischen Loslösung der Arbeiter von der Bourgeoisie besonders günstig gewesen, viel günstiger als in irgendeinem anderen der industriellen Großstaaten; so ist es denn gekommen, daß in Deutschland die Arbeiterbewegung in bezug auf Selbständigkeit von den bürgerlichen Parteien den Arbeiterbewegungen der anderen Länder weit voraus ist.

Aber wie verschieden auch unter dem Einfluß der verschiedenen Bedingungen der Zeitpunkt sein mag, in dem die Arbeiterbewegung der einzelnen Länder der kapitalistischen Produktionsweise sich zu einer gesonderten Arbeiterpartei verdichtet, in jedem dieser Länder führt ihn die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit herbei.

Eine jede politische Partei muß sich aber die politische Herrschaft zum Ziel setzen. Sie muß danach trachten, die Staatsgewalt sich, das heißt den Interessen der Klasse, die sie vertritt, dienstbar zu machen, sie muß danach trachten, die herrschende Partei im Staat zu werden. Damit, daß die Arbeiterklasse sich als selbständige Partei organisiert, ist ihr naturnotwendig dieses Ziel gegeben, und ebenso naturnotwendig führt die ökonomische Entwicklung die Erreichung desselben herbei. Auch hier, wie bei der Loslösung der Arbeiter von den bürgerlichen Parteien, hängt der Zeitpunkt des Eintretens dieses Ereignisses nicht von der Höhe der industriellen Entwicklung des Landes allein ab, sondern daneben wirken mitbestimmend noch eine Reihe anderer Verhältnisse nationaler und internationaler Natur. Auch die Art und Weise, wie es sich vollzieht, kann sehr verschieden sein. Was aber für niemand zweifelhaft sein kann, der die ökonomische und politische Entwicklung der modernen Gesellschaft, namentlich im Verlauf dieses Jahrhunderts, verfolgt hat, ist die Naturnotwendigkeit des endlichen Sieges des Proletariats. Während es an Ausdehnung, an moralischer und politischer Kraft und an ökonomischer Unentbehrlichkeit immer mehr zunimmt, während der Klassenkampf es zu Solidarität und Disziplin erzieht und seinen Gesichtskreis erweitert, während seine Organisationen an Umfang und Geschlossenheit stetig wachsen, während es im Gebiet der kapitalistischen Produktionsweise immer mehr die wichtigste und schließlich die einzige arbeitende Klasse wird, von deren Tätigkeit die ganze Gesellschaft abhängig ist, schmelzen die dem Proletariat feindlichen Klassen an Zahl immer mehr zusammen, verlieren sie zusehends an moralischer und politischer Kraft und werden sie nicht nur überflüssig, sondern zum Teil geradezu hinderlich für den Fortgang der Produktion, die unter ihrer Leitung in immer heillosere Verwirrung gerät, immer unerträglichere Zustände heraufbeschwört.

Angesichts dessen ist es nicht zweifelhaft, auf welche Seite der Sieg sich schließlich neigen wird. Schon längst hat die besitzenden Klassen das Grauen vor ihrem nahenden Ende gepackt. Sie wollen sich die Furchtbarkeit ihrer Lage nicht gestehen, sie suchen sie hinwegzulügen und hinwegzujubeln; sie machen sich selbst blind, um den Abgrund nicht zu sehen, dem sie entgegeneilen und merken nicht, daß sie durch ihre Selbstverblendung ihren Absturz beschleunigen und noch unheilvoller machen.

Das Proletariat als die unterste der ausgebeuteten Klassen – das Lumpenproletariat wird nicht ausgebeutet; es gehört selbst zu den Schmarotzern – kann aber die Herrschaft, die es erobert, nicht dazu benutzen, wie es andere Klassen vor ihm getan, die Last der Ausbeutung auf andere Schultern abzuwälzen, sich selbst zu einer ausbeutenden Klasse zu machen. Es muß sie dazu benutzen, seiner Ausbeutung, damit aber jeder Ausbeutung in der bürgerlichen Gesellschaft, ein Ende zu machen. Die Wurzel seiner Ausbeutung ist jedoch das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Das Proletariat kann jene nur beseitigen, wenn es dieses aufhebt. Wenn seine Eigentumslosigkeit es möglich macht, das Proletariat für die Abschaffung dieses Privateigentums zu gewinnen, so zwingt seine Ausbeutung das Proletariat dazu, diese Abschaffung zu vollziehen und an die Stelle der kapitalistischen Produktion die genossenschaftliche zu setzen.

Wir haben aber gesehen, daß diese unter der Herrschaft der Warenproduktion nicht allgemeine Form der Produktion werden kann. Um die genossenschaftliche Produktion allgemein anstelle der kapitalistischen zu setzen, ist es unumgänglich, daß zugleich an die Stelle der Produktion für den Markt – der Warenproduktion – die Produktion für das Gemeinwesen und unter der Kontrolle des Gemeinwesens tritt. Die sozialistische Produktion ist also die naturnotwendige Folge des Sieges des Proletariats. Sollte es seine Herrschaft im Staat nicht bewußt dazu benutzen wollen, sich vermittelst der Staatsgewalt der Produktionsmittel zu bemächtigen und anstelle der kapitalistischen Warenproduktion die sozialistische Produktion zu setzen, so würde die Logik der Tatsachen diese schließlich ins Leben rufen, allerdings vielleicht erst nach mancherlei Mißgriffen, Irrungen und überflüssigen Opfern, nach nutzloser Verschwendung von Kraft und Zeit. Aber kommen wird und muß die sozialistische Produktion. Ihr Sieg ist unvermeidlich, sobald der des Proletariats unvermeidlich geworden ist. Dieses muß danach trachten, seinen Sieg zur Beseitigung seiner Ausbeutung auszunutzen, und es kann dies Ziel nicht anders erreichen als durch die sozialistische Produktion. Die ökonomische und politische Entwicklung bietet selbst in den großen Unternehmungen, den Kartellen, der Staatswirtschaft die Anknüpfungspunkte dazu, sie selbst wird das Proletariat in der Richtung des Sozialismus drängen, sie wird jeden etwaigen Versuch des siegreichen Proletariats eines Landes, sich in anderer Richtung zu bewegen, scheitern machen, und so wird dieses schließlich selbst dann die Bahn des Sozialismus betreten, wenn es ihr anfangs abgeneigt sein sollte.

Es ist jedoch keineswegs zu erwarten, daß das Proletariat irgendeines Landes eine solche ablehnende Haltung einnehmen sollte, wenn es einmal zur Herrschaft gekommen. Das hieße nichts anderes, als daß es in seinem Bewußtsein und seinem Wissen auf der Kindheitsstufe stehenbliebe, während es ökonomisch, politisch, moralisch zum Manne heranreifte, der die Kraft und die Fähigkeit besitzt, seine machtvollen Gegner zu überwinden und ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Ein solches Mißverhältnis in der Entwicklung ist aber gerade beim Proletariat höchst unwahrscheinlich. Wir haben schon öfter darauf hingewiesen, wie dank der Maschine im Proletariat, sobald es sich einmal aus seiner anfänglichen Erniedrigung erhoben, ein theoretischer Sinn, eine Empfänglichkeit für große, über den Bereich der Augenblicksinteressen hinausliegende Probleme und Ziele erwächst, die man vergeblich bei den anderen arbeitenden und erwerbstätigen Klassen vor ihm und über ihm suchen würde. Gleichzeitig geht aber auch die ökonomische Entwicklung der heutigen Gesellschaft so rasch vor sich und äußert sich in so auffallenden Massenerscheinungen, daß sie auch dem Ungelehrten erkennbar wird, sobald er einmal darauf hingewiesen worden. Und dieser Hinweisung ermangelt es nicht, denn gleichzeitig ist auch die Einsicht in den ökonomischen Entwicklungsgang und das ganze wirtschaftliche Getriebe eine ungemein tief- und weitreichende geworden, dank der Fortführung des von der bürgerlichen klassischen Ökonomie begonnenen Werkes durch Karl Marx.

Alles vereinigt sich, um das kämpfende Proletariat für die sozialistischen Lehren aufs äußerste empfänglich zu machen. Der Sozialismus ist ihm keine Unglücksbotschaft, sondern eine frohe Botschaft, ein neues Evangelium. Die herrschenden Klassen können den Sozialismus nicht anerkennen, ohne moralischen Selbstmord zu begehen. Das Proletariat schöpft aus ihm neues Leben, neue Kraft, Begeisterung und Hoffnungsfreudigkeit. Und einer solchen Lehre sollte es auf die Dauer gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstehen?

Wo es zur Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei kommt, da muß diese mit Naturnotwendigkeit früher oder später sozialistische Tendenzen annehmen, wenn sie nicht von vorneherein von solchen erfüllt ist, da muß sie schließlich zu einer sozialistischen Arbeiterpartei werden: zur Sozialdemokratie.

Wir sehen jetzt deren Hauptrekrutierungsgebiet genau abgegrenzt vor uns. Kurz gefaßt, zeigt sich als Ergebnis unserer letzten Ausführungen Folgendes: Es sind die kämpf enden, zu politischem Selbstbewußtsein gelangten Schichten des industriellen Proletariats, welche die Träger der sozialistischen Bewegung bilden. Je mehr aber der Einfluß des Proletariats auf die ihm benachbarten gesellschaftlichen Schichten wächst, je mehr es deren Fühlen und Denken beeinflußt, desto mehr werden auch diese in die sozialistische Bewegung hineingezogen.

Der Klassenkampf des Proletariats hat zum naturgemäßen Ziel die sozialistische Produktion; er kann nicht eher enden, als bis diese erreicht ist. So gewiß, als das Proletariat schließlich zur herrschenden Klasse im Staate werden muß, ebenso gewiß ist der Sieg des Sozialismus.
 

11. Die Arbeiterbewegung und der Sozialismus

Die Sozialisten haben die Rolle, welche das kämpfende Proletariat in der sozialistischen Bewegung zu spielen berufen ist, keineswegs von vornherein erkannt. Sie vermochten das selbstverständlich nicht, solange es ein kämpfendes Proletariat nicht gab. Der Sozialismus ist jedoch älter als der Klassenkampf des Proletariats. Er ist so alt wie das Auftreten des Proletariats als Massenerscheinung. Dies hat aber lange bestanden ohne eine Regung selbständigen Lebens. Die erste und damals einzige Wurzel des Sozialismus war das Mitleid, welches die Philanthropen der höheren Klassen mit den Armen und Elenden empfanden. Die Sozialisten waren die kühnsten und weitsichtigsten dieser Menschenfreunde, diejenigen, die am klarsten die Wurzeln des Proletariats im Privateigentum an den Produktionsmitteln erkannten und die sich nicht scheuten, die äußersten Folgerungen dieser Erkenntnis zu ziehen. Der Sozialismus war der charaktervollste, tiefstblickende und großartigste Ausdruck der bürgerlichen Philanthropie. Es gab kein Klasseninteresse, das die Sozialisten damals zum Kampf für ihre Ziele aufrufen konnten; sie konnten sich nur wenden an den Enthusiasmus und das Mitgefühl der Idealisten in den höheren Klassen; sie suchten dieselben zu gewinnen durch verlockende Schilderungen eines sozialistischen Gemeinwesens auf der einen, durch eindringliche Darstellungen des herrschenden Elends auf der anderen Seite. Nicht durch Kampf, sondern durch friedliche Überredung sollten die Reichen und Mächtigen bewogen werden, die Mittel zu liefern zu gründlicher Linderung des Elends, zur Herstellung der idealen Gesellschaft. Die Sozialisten dieser Periode haben bekanntlich vergebens auf die Millionäre und Fürsten gewartet, deren Großmut die Menschheit erlösen sollte.

In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts begann das Proletariat Zeichen eines selbständigen Lebens von sich zu geben. In den dreißiger Jahren finden wir bereits in Frankreich und namentlich in England eine kräftige Arbeiterbewegung.

Aber die Sozialisten standen ihr verständnislos gegenüber. Sie hielten es nicht für möglich, daß die armen, unwissenden, rohen Proletarier jemals zu jener moralischen Höhe und gesellschaftlichen Macht gelangen könnten, die zur Durchführung der sozialistischen Bestrebungen erforderlich sind. Aber es war nicht bloß Mißtrauen, was sie der Arbeiterbewegung gegenüber empfanden. Diese wurde ihnen auch unbequem, schon aus dem Grunde, weil sie ihnen ein wirksames Argument zu rauben drohte. Denn die bürgerlichen Sozialisten konnten nur dann hoffen, daß der empfindsame Bourgeois die Notwendigkeit des Sozialismus einsehen werde, wenn ihnen der Nachweis gelang, daß dies Mittel das einzige sei, dem Elend auch nur einigermaßen zu steuern, daß jeder Versuch einer Milderung des Elends, einer Hebung der Besitzlosen sich in der modernen Gesellschaft als vergeblich erweise und daß es den Proletariern unmöglich sei, aus eigener Kraft sich zu erheben. Die Arbeiterbewegung ging aber von Voraussetzungen aus, welche diesem Gedankengange widersprachen. Dazu kam noch ein anderes Moment. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie erbitterte natürlich die letztere gegen die aufstrebenden Proletarier. Diese verwandelten sich in den Augen des Bürgertums aus bedauerungswürdigen Unglücklichen, denen geholfen werden mußte, in verworfenes Gesindel, das niederzuzuschlagen und niederzuhalten war. Die Hauptwurzel des Sozialismus in den bürgerlichen Kreisen, das Mitleid mit den Armen und Elenden, begann zu verdorren. Die sozialistischen Lehren selbst erschienen der aufgeschreckten Bourgeoisie nicht mehr als ein harmloses Spielzeug, sondern als eine höchst gefährliche Waffe, die in die Hände der Menge geraten und dadurch unsägliches Unheil anrichten könne. Kurz, je stärker die Arbeiterbewegung anwuchs, desto schwerer wurde die sozialistische Propaganda in den herrschenden Klassen, desto feindseliger traten diese dem Sozialismus entgegen.

Solange die Sozialisten der Ansicht waren, daß nur aus den oberen Klassen die Mittel zur Erreichung der sozialistischen Ziele kommen könnten, mußten sie demnach der Arbeiterbewegung nicht nur mißtrauisch gegenüberstehen, sondern oft sogar zu entschiedener Feindseligkeit ihr gegenüber gelangen, mußten sie zur Ansicht neigen, daß nichts die Sache des Sozialismus mehr schädige als der Klassenkampf.

Die ablehnende Haltung der bürgerlichen Sozialisten gegenüber der Arbeiterbewegung blieb natürlich auch nicht ohne Einfluß auf die Stellung der letzteren gegenüber dem Sozialismus. Wenn der aufstrebende Teil des Proletariats in seinen Kämpfen bei diesen Sozialisten nicht nur keine Unterstützung, sondern eher Widerstand fand, wenn deren Lehren es zu entmutigen drohten, statt es anzufeuern, dann mußte sich nur zu leicht Mißtrauen und Abneigung gegen die Gesamtheit der sozialistischen Lehren, nicht bloß gegen deren Anwendung auf die Kämpfe der Gegenwart, im Proletariat einnisten. Dies wurde begünstigt durch die Unbildung und Gedankenlosigkeit, die in den Massen auch der kämpfenden Proletarier zu Beginn der Arbeiterbewegung herrschten. Die Enge ihres Gesichtskreises erschwerte ihnen das Begreifen der Endziele des Sozialismus, und noch mangelte ihnen ein einsichtiges und klares Bewußtsein der gesellschaftlichen Stellung und der Aufgaben ihrer Klasse; sie empfanden nur einen dumpfen Klasseninstinkt, der sie lehrte, allem mißtrauisch gegenüberzustehen, was aus der Bourgeoisie stammte, also auch dem damaligen Sozialismus wie der bürgerlichen Philanthropie überhaupt.

In manchen Arbeiterschichten, namentlich Englands, hat damals das Mißtrauen gegen den Sozialismus tief Wurzel gefaßt. Dessen Nachwirkungen ist es zum Teil – neben vielen anderen Ursachen – zuzuschreiben, warum England bis vor einem Jahrzehnt den sozialistischen Bestrebungen so gut wie unzugänglich war, obwohl der neuere Sozialismus eine ganz andere Haltung der Arbeiterbewegung gegenüber einnimmt als der der bürgerlichen Utopisten.

Indes, so groß auch die Kluft zwischen dem kämpfenden Proletariat und dem Sozialismus zeitweise werden mochte, dieser entspricht so sehr den Bedürfnissen des weiter denkenden Proletariers, daß selbst da, wo die Massen dem Sozialismus feindlich gegenübertraten, die besten Köpfe der Arbeiterklasse sich ihm gern zuwendeten, soweit sie Gelegenheit hatten, mit seinen Lehren bekannt zu werden. Durch sie erfuhren nun die Anschauungen der bürgerlichen Sozialisten eine wichtige Umgestaltung. Sie hatten nicht, wie diese, Rücksichten auf die Bourgeoisie zu nehmen, die sie haßten und erbittert bekämpften; der friedliche Sozialismus der bürgerlichen Utopisten, der die Erlösung der Menschheit vermittelst des Eingreifens der besten Elemente der oberen Klassen bringen wollte, verwandelte sich bei den Arbeitern in einen gewalttätigen, revolutionären Sozialismus, dessen Durchführung Proletarierfäuste besorgen sollten.

Aber auch dieser urwüchsige Arbeitersozialismus hatte kein Verständnis für die Arbeiterbewegung; auch er stand dem Klassenkampf – wenigstens seiner höchsten Form, der politischen -feindselig gegenüber. Freilich aus anderen Gründen als die bürgerlichen Utopisten. Wissenschaftlich war es ihm unmöglich, über diese hinauszugelangen. Der Proletarier kann im besten Fall einen Teil des Wissens, welches die bürgerliche Gelehrsamkeit zutage gefördert, sich aneignen und seinen Zwecken und Bedürfnissen entsprechend verarbeiten, aber es fehlen ihm – solange er Proletarier bleibt – die Muße und die Mittel, die Wissenschaft selbständig über das von den bürgerlichen Denkern erreichte Maß hinauszuführen. So mußte auch der urwüchsige Arbeitersozialismus alle wesentlichen Merkmale des Utopismus tragen: Er hatte keine Ahnung von der ökonomischen Entwicklung, welche die materiellen Elemente der sozialistischen Produktion schafft und durch den Klassenkampf diejenige Klasse großzieht und reifen läßt, die berufen ist, sich dieser Elemente zu bemächtigen und aus ihnen die neue Gesellschaft zu entwickeln. Wie die bürgerlichen Utopisten glaubten auch diese Proletarier, eine Gesellschaftsform sei ein Gebäude, das sich nach einem vorher festgestellten Plane willkürlich aufbauen lasse, wenn man nur die Mittel und den Platz dazu habe. Die Kraft, den Aufbau zu besorgen, trauten sich die ebenso tatkräftigen und kühnen wie naiven proletarischen Utopisten schon zu; es handelte sich nur darum, ihnen den nötigen Platz und die nötigen Mittel zu verschaffen. Sie erwarteten natürlich keinen Millionär und keinen Fürsten, der ihnen diese zur Verfügung stellen werde; die Revolution sollte das Nötige liefern, sollte das alte Gebäude niederreißen, die alten Mächte zertrümmern und dem Erfinder oder der kleinen Gruppe von Erfindern des neuen Bauplans die Diktatur verleihen, die den neuen Messias befähigte, das Gebäude der sozialistischen Gesellschaft zu errichten.

In diesem Gedankengange fand der Klassenkampf keinen Platz. Die proletarischen Utopisten empfanden das Elend zu bitter, in dem sie lebten, um nicht ungeduldig seine sofortige Beseitigung zu wünschen. Selbst wenn sie es für möglich gehalten hätten, daß der Klassenkampf allmählich das Proletariat erheben und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft befähigen könnte, wäre ihnen diese Prozedur viel zu umständlich erschienen. Aber sie glaubten nicht an diese Hebung. Sie standen in den Anfängen der Arbeiterbewegung, die Schichten der Proletarier, die an derselben teilnahmen, waren gering, und unter diesen wenigen kämpfenden Proletariern fanden sich nur vereinzelt Leute, welche mehr als die Wahrung ihrer Augenblicksinteressen im Auge gehabt hätten. Die große Masse der Bevölkerung zu sozialistischem Denken zu erziehen erschien hoffnungslos. Das einzige, was diese Masse leisten konnte, war ein Ausbruch der Verzweiflung, in dem sie das Bestehende vernichtete und dadurch die Bahn für die Sozialisten frei machte. Je schlechter es den Massen ging, desto näher mußte, so glaubten die urwüchsigen Arbeitersozialisten, der Augenblick sein, wo ihre Lage für sie so unerträglich wurde, daß sie den gesellschaftlichen Überbau sprengten, der sie erdrückte. Ein Kampf um allmähliche Hebung der Arbeiterklasse war nach der Ansicht dieser Sozialisten nicht bloß aussichtslos, er war entschieden schädlich, weil die geringfügigen Verbesserungen, die er vorübergehend erzielen konnte, den Massen das Bestehende erträglicher machten und dadurch den Augenblick ihrer Erhebung und des Zusammenbruchs des Bestehenden, damit aber auch den Augenblick der gründlichen Beseitigung des Elends, hinausschoben. Jede Form des Klassenkampfes, die nicht auf sofortigen völligen Umsturz des Bestehenden abzielte, also jede ernsthaft zu nehmende, wirksame Form desselben, galt demnach in den Augen dieser Sozialisten als nichts Geringeres denn ein Verrat an der Sache der Menschheit.

Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, seitdem dieser Gedankengang, der wohl seinen genialsten Ausdruck durch Weitling fand, in der Arbeiterklasse auftauchte. Er ist heute noch nicht ausgestorben. Die Neigung dazu zeigt sich in jeder Proletarierschicht, die sich anschickt, in die Reihen des kämpfenden Proletariats einzutreten; sie zeigt sich in jedem Lande, dessen Proletariat beginnt, zum Bewußtsein seiner unwürdigen und unerträglichen Lage zu gelangen und sich mit sozialistischen Tendenzen zu erfüllen, ohne noch klare Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu besitzen und ohne sich die Kraft zu einem nachhaltigen Klassenkampf zuzutrauen; und da immer wieder neue Proletarierschichten aus dem Schlamm emportauchen, in welchen sie die ökonomische Entwicklung hinabgedrückt hat, und da immer wieder neue Länder der kapitalistischen Produktionsweise und der Proletarisierung verfallen, kann dieser Gedankengang der urwüchsigen utopischen Arbeitersozialisten immer wieder neu erstehen. Er ist eine Kinderkrankheit, welche jede junge proletarisch-sozialistische Bewegung bedroht, die noch nicht über den Utopismus hinausgelangt ist.

Man bezeichnet heutzutage diese Art sozialistischer Anschauungen als Anarchismus, sie ist aber keineswegs notwendigerweise mit diesem verknüpft. Da sie nicht aus klarer Einsicht, sondern nur aus instinktiver Auflehnung gegen das Bestehende entspringt, ist sie mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten vereinbar. Aber allerdings gesellen sich in neuerer Zeit der rohe und gewalttätige Sozialismus des urwüchsigen Proletariers und der oft sehr empfindsame, zartbesaitete und friedfertige Anarchismus des verfeinerten Kleinbürgers gern zusammen, da ihnen bei allen tiefgehenden Unterschieden eines gemeinsam ist: die Abneigung, ja der Haß gegen den nachhaltigen Klassenkampf, namentlich gegen dessen höchste Form, den politischen Kampf.

Ebensowenig wie der bürgerliche vermochte der proletarische utopische Sozialismus den Gegensatz zwischen Sozialismus und Arbeiterbewegung zu überwinden. Wohl ist mitunter den proletarischen Utopisten die Teilnahme am Klassenkampf durch die Verhältnisse aufgezwungen worden, aber bei ihrer theoretischen Haltlosigkeit lief diese Teilnahme nicht auf eine schließliche Verbindung von Sozialismus und Arbeiterbewegung hinaus, sondern auf eine Verdrängung des ersteren durch letztere. Es ist bekannt, daß die anarchistische Bewegung (das Wort hier im Sinne dieser proletarischen Utopisterei genommen) überall dort, wo sie zu einer Massenbewegung, zu einem wirklichen Klassenkampf wurde, früher oder später stets, trotz ihres anscheinenden Radikalismus, in verzünftelter Nurgewerkschaftlerei geendet hat.
 

12. Die Sozialdemokratie – die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus

Sollten die sozialistische und die Arbeiterbewegung miteinander versöhnt und zu einer einheitlichen Bewegung verschmolzen werden, dann mußte der Sozialismus über den Gedankenkreis des Utopismus hinausgehoben werden. Dies vollbracht zu haben ist die weltgeschichtliche Tat von Marx undEngels, die 1847 in ihrem Kommunistischen Manifest die wissenschaftlichen Grundlagen des neuen, modernen Sozialismus oder, wie man heute sagt, der Sozialdemokratie legten. Sie verliehen damit dem Sozialismus ein Rückgrat, machten ihn, der bis dahin ein schöner Traum einiger wohlmeinenden Schwärmer gewesen war, zu einem ernsthaften Kampfobjekt, sie erwiesen ihn als die naturnotwendige Folge der ökonomischen Entwicklung. Dem kämpfenden Proletariat aber verliehen sie ein klares Bewußtsein seiner geschichtlichen Aufgaben, und sie setzten es instand, so rasch und mit so geringen Opfern als möglich seinem großen Ziel entgegenzueilen. Die Sozialisten haben jetzt nicht mehr die Aufgabe, die neue Gesellschaft frei zu erfinden, sondern sie haben ihre Elemente in der bestehenden Gesellschaft zu entdecken. Sie haben nicht mehr dem Proletariat die Erlösung aus seinem Elend von oben zu bringen, sondern sie haben seinen Klassenkampf zu unterstützen durch Vermehrung seiner Einsicht und Förderung seiner ökonomischen und politischen Organisationen, damit es rascher und schmerzloser dem Zeitpunkt entgegenreife, in dem es imstande ist, sich selbst zu erlösen. Den Klassenkampf des Proletariats möglichst zielbewußt und zweckmäßig zu gestalten, das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.

Eine weitere Auseinandersetzung des Gedankengangs der Lehre von Marx und Engels ist nicht notwendig, denn das ganze vorliegende Buch fußt auf ihm, ist nichts als eine Darstellung und Ausspinnung desselben.

Der Klassenkampf des Proletariats erhält durch diese Lehre einen neuen Charakter. Solange ihm nicht die sozialistische Produktion als bewußtes Ziel gesteckt ist, solange die Bestrebungen des kämpfenden Proletariats über den Rahmen der bestehenden Produktionsweise nicht hinausgehen, bewegt sich der Klassenkampf anscheinend stets im Kreise, ohne von der Stelle zu rücken, erscheint das Ringen des Proletariats nach einer befriedigenden Existenz als eine Sisyphusarbeit. Denn die herabdrückenden Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise werden durch den Klassenkampf und dessen Errungenschaften nicht beseitigt, sondern im besten Falle nur etwas zurückgedrängt. Ununterbrochen geht die Proletarisierung der Mittelschichten der Gesellschaft vor sich, unaufhörlich werden einzelne Mitglieder und ganze Schichten der arbeitenden Klassen ins Lumpenproletariat gedrängt, unaufhörlich bedroht die Profitwut der Kapitalisten alle Errungenschaften der bessergestellten Schichten der Arbeiterschaft. Jede Verkürzung der Arbeitszeit, ob durch ökonomischen oder politischen Kampf errungen, wird Veranlassung zur Einführung arbeitsparender Maschinen, zur stärkeren Anspannung der Arbeiter; jede Verbesserung der Proletarierorganisationen wird beantwortet durch eine Verbesserung der Kapitalistenorganisationen usw. Und dabei wächst die Arbeitslosigkeit, nehmen die Krisen an Umfang und Tiefe zu, wird die Unsicherheit der Existenz immer größer und peinigender. Die Hebung der Arbeiterklasse, die der Klassenkampf bewirkt, ist weniger eine ökonomische als eine moralische. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Proletarier im ganzen und großen verbessern sich infolge des Klassenkampfes und seiner Errungenschaften nur wenig und langsam - wenn sie sich überhaupt verbessern. Aber die Selbstachtung der Proletarier steigt und die Achtung, welche die anderen Klassen der Gesellschaft ihnen zollen; sie fangen an, sich den Höhergestellten ebenbürtig zu fühlen und deren Schicksal mit dem ihren zu vergleichen; sie fangen an, größere Ansprüche an sich, an ihre Wohnung und Kleidung, ihr Wissen, die Erziehung ihrer Kinder usw. zu stellen, sie verlangen teilzunehmen an allen Errungenschaften der Kultur. Und sie werden immer empfindlicher gegen jede Zurücksetzung und Unterdrückung.

Diese moralische Hebung des Proletariats ist gleichbedeutend mit dem Erwachen und steten Wachstum seiner „Begehrlichkeit“. Viel rascher wächst dieselbe, als die mit der heutigen Ausbeutungsweise verträglichen Verbesserungen seiner wirtschaftlichen Lage zunehmen können. Alle diese Verbesserungen, von denen manche hoffen, andere wieder fürchten, sie würden die Arbeiter zufrieden machen, müssen zurückbleiben hinter den Ansprüchen der Arbeiter, welche die naturnotwendige Folge ihrer moralischen Erhebung sind. Die Folge des Klassenkampfes kann daher stets nur eine Zunahme der Unzufriedenheit des Proletariats mit seinem Lose sein. Eine Unzufriedenheit, die natürlich am stärksten sich dort fühlbar macht, wo die ökonomische Hebung des Proletariats am weitesten hinter seiner moralischen Erhebung zurückbleibt, deren Zunahme aber auf die Dauer nirgends zu verhindern ist. Und somit erscheint schließlich der Klassenkampf als zwecklos und fruchtlos, wenn er über die bestehende Produktionsweise nicht hinausstrebt. Je höher er den Proletarier hebt, desto ferner sieht dieser sich von dem Ziel seines Strebens, einem zufriedenen, seinen Anschauungen von Menschenwürde entsprechenden Dasein.

Erst die sozialistische Produktion kann dem Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen der Arbeiter und den Mitteln, sie zu befriedigen, ein Ende machen, indem sie die Ausbeutung und die Klassenunterschiede aufhebt; sie beseitigt damit jenen mächtigen Anreiz zur Unzufriedenheit des Arbeiters mit seinem Lose, den heute das Beispiel des Luxus der Ausbeuter erzeugt. Ist dieser Anreiz aus dem Wege geräumt, dann ergibt sich von selbst die Beschränkung der Ansprüche der Arbeiter auf das mit den vorhandenen Mitteln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse vereinbarte Maß. Wie sehr die sozialistische Produktion diese Mittel selbst vermehrt, haben wir schon gesehen.

Die nagende Unzufriedenheit, die „Begehrlichkeit“, ist unbekannt in kommunistischen Gesellschaften. Dagegen erwächst sie mit Naturnotwendigkeit aus dem Klassengegensatz und der Ausbeutung dort, wo die Ausgebeuteten sich den Ausbeutern moralisch ebenbürtig oder gar überlegen fühlen. Wenn eine ausgebeutete Klasse einmal so weit gekommen ist, dann wird ihre „Begehrlichkeit“ nicht eher gestillt, als bis sie ihrer Ausbeutung ein Ende gemacht hat.

Solange demnach der Klassenkampf des Proletariats im Gegensatz stand zum Sozialismus, solange er nichts weiter bezweckte, als durch Konzessionen im Rahmen der gegenwärtigen Gesellschaft dem Proletariat eine befriedigende Stellung zu erobern, war es unmöglich, daß er sein Ziel erreichte. Er glich einer Schraube ohne Ende. Ganz anders, seitdem die sozialistische Bewegung mit der Arbeiterbewegung verschmolzen worden: Jetzt hat diese ein Ziel, dem sie sich zusehends nähert, jetzt werden alle Seiten dieses Kampfes bedeutsam, auch diejenigen, die nicht unmittelbar praktische Folgen nach sich ziehen, wenn sie nur das Selbstbewußtsein und Ansehen des Proletariats, seinen genossenschaftlichen Zusammenhalt und seine Disziplin fördern. Jetzt wird auch manche anscheinend verlorene Schlacht zu einem Sieg, jetzt bedeutet auch jeder verlorene Streik, jeder abgelehnte Gesetzentwurf, der den Interessen des Proletariats hätte dienen sollen, einen Schritt vorwärts zum Ziel der Erringung eines menschenwürdigen Daseins. Von nun an zeigt sich, daß alle ökonomischen und politischen Maßregeln, die mit Rücksicht auf das Proletariat ergriffen werden, zu dessen Gunsten ausschlagen, mögen sie ihm feindliche oder freundliche Tendenzen verfolgen, mögen sie gelingen oder fehlschlagen, sofern sie nur beitragen zu seiner Aufrüttlung und moralischen Hebung. Von nun an gleicht das kämpfende Proletariat nicht mehr einer Armee, die nicht vom Fleck kommt und nur mühsam unter den größten Verlusten ihre einmal gewonnenen Positionen behauptet; jetzt wird nach und nach auch dem blödesten Auge klar, daß es ein unwiderstehlicher Eroberer ist, dessen Siegeszug nichts zu hindern vermag.
 

13. Die Internationalität der Sozialdemokratie

Der neue von Marx und Engels begründete Sozialismus hat seinen Ursprung in Deutschland genommen. Seine beiden Begründer waren Deutsche, Deutsche waren ihre ersten Schüler, die ersten Schriften, welche ihn darlegten, erschienen in deutscher Sprache. Schon das allein erklärt es, obwohl es keineswegs die einzige Ursache war, daß sich in Deutschland zuerst die Verschmelzung der Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus vollzog, daß in Deutschland zuerst die Sozialdemokratie Wurzel faßte – wobei unter Deutschland hier nicht das Deutsche Reich, sondern jedes von einer größeren Zahl deutsch redender Arbeiter bewohnte Gebiet zu verstehen ist.

Aber die Verbreitung der Sozialdemokratie ist nicht auf Deutschland beschränkt geblieben. Die Begründer des modernen Sozialismus haben von vornherein den internationalen Charakter erkannt, den die heutige Arbeiterbewegung überall anzunehmen bestrebt ist, und haben daher von Anfang an ihrer Propaganda eine internationale Grundlage zu geben versucht.

Der internationale Verkehr ist mit der kapitalistischen Produktionsweise naturnotwendig verknüpft. Ihre Entwicklung aus der einfachen Warenproduktion hängt auf das innigste mit der Entwicklung des Welthandels zusammen. Dieser ist aber nicht möglich ohne den friedlichen Verkehr der einzelnen Nationen untereinander; er verlangt zu seiner Entfaltung, daß der fremde Kaufmann in dem Lande, nach dem er handelt, ebenso geschützt sei wie im eigenen. Der Kaufmann wird jedoch durch die Entwicklung des Welthandels auch auf der gesellschaftlichen Stufenleiter sehr gehoben. Seine Denkweise fängt an, die Denkweise der Gesellschaft überhaupt sehr zu beeinflussen. Der Kaufmann ist aber immer ein bewegliches Element gewesen; sein Grundsatz war von jeher: Ubi bene, ibi patria, wo es mir wohl geht, wo es Profite gibt, da ist mein Vaterland.

So entwickeln sich in dem Maße, in dem der Welthandel und die kapitalistische Produktion sich ausbreiten, in der bürgerlichen Gesellschaft weltbürgerliche Tendenzen, das Verlangen nach einem ewigen Frieden der Nationen untereinander, nach einer Verbrüderung der Völker.

Aber die kapitalistische Produktionsweise erzeugt die sonderbarsten Gegensätze; wie ihr gleichzeitig die Tendenzen nach Vermehrung der Gleichheit und der Ungleichheit, nach Herabdrückung des Proletariats zu tiefster Verkommenheit und nach dessen Erhebung zur herrschenden Klasse, nach vollständiger Freiheit des Individuums und dessen völliger Verknechtung nebeneinander eigen sind, so geht Hand in Hand mit ihrer Tendenz nach der Verbrüderung der Völker die Tendenz nach Steigerung der nationalen Gegensätze. Der Verkehr bedarf des Friedens, aber die Konkurrenz erzeugt den Krieg. Besteht in jedem Lande ein ewiger Kriegszustand der einzelnen Kapitalisten und der einzelnen Klassen untereinander, so auch zwischen den Kapitalisten und Kapitalistenklassen der einzelnen Nationen. Jede Nation sucht den Markt für ihre Erzeugnisse zu erweitern und die anderen von diesem Markt zu verdrängen. Je entwickelter der Weltverkehr, je notwendiger der Weltfrieden, desto wilder der Konkurrenzkampf, desto größer die Gefahr von feindlichen Zusammenstößen zwischen den einzelnen Nationen. Je inniger der internationale Verkehr, desto lauter das Verlangen nach nationaler Abschließung. Je stärker das Friedensbedürfnis, desto drohender die Kriegsgefahr: Diese anscheinend verrückten Widersprüche entsprechen vollkommen dem Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Sie liegen schon verborgen in der einfachen Warenproduktion, aber erst die kapitalistische Produktion entfaltet sie ins Riesenhafte und Unerträgliche. Daß sie in demselben Maße die kriegerischen Tendenzen steigert, in dem sie den Frieden unentbehrlich macht, ist nur einer der vielen Widersprüche, an denen sie zugrunde gehen muß.

Das Proletariat nimmt nicht Anteil an der widerspruchsvollen Haltung, die sich daraus für die übrigen Klassen der heutigen Gesellschaft ergibt. Je mehr es sich entwickelt und zu einer selbständigen Klasse wird, desto deutlicher tritt auf den verschiedensten Gebieten die Erscheinung zutage, daß von je zwei gegensätzlichen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise nur eine es berührt, die andere immer unwirksamer für dasselbe wird. So erzeugt z. B. die heutige Produktionsweise gleichzeitig die Tendenz nach Zusammenfassung der Produzenten in großen Verbänden zu gemeinsamer Tätigkeit und die zu erbittertem Kampf aller (Produzenten) gegen alle. Im Proletariat hört die zweite Tendenz auf zu wirken. Statt des Gegensatzes zwischen Monopol und Konkurrenz, der die Bourgeoisie aufreibt und zerklüftet, finden wir da immer mehr nur die erstere Tendenz tätig in der Richtung auf Verstärkung und Erweiterung der proletarischen Solidarität. Eine natürliche Folge dieser „Einseitigkeit“ ist es, daß zusehends immer mehr auch bloß die Tendenz nach innigem internationalen Zusammenschluß die Proletarier der verschiedenen Kulturländer beeinflußt und daß die Tendenz nach nationaler Abschließung und nationalem Kampf in ihren Reihen jede Wirkung verliert.

Die kapitalistische Produktionsweise hat den Arbeiter dadurch, daß sie ihn besitzlos macht, losgelöst von der Scholle. Er hat kein festes Heim mehr und daher auch keine feste Heimat. Gleich dem Kaufmann nimmt auch er den Grundsatz an: Ubi bene, ibi patria, wo die besten Arbeitsbedingungen, dort ist meine Heimat. Bereits die Handwerksgesellen hatten angefangen, ihre Wanderungen in fremde Länder auszudehnen, und die Anfänge eines internationalen Zusammenhanges, auf den wir schon hingewiesen, waren die Folge davon. Aber was sind diese Wanderungen im Vergleich zu den modernen, wie sie die Entwicklung des heutigen Verkehrs ermöglicht! Und der Handwerksgeselle wanderte mit der Absicht, wieder in seine Heimat zurückzukehren, der moderne Proletarier wandert mit Weib und Kind, um dort zu bleiben, wo ihm die besten Arbeitsbedingungen erreichbar sind. Er ist kein Tourist, sondern ein Nomade.

Gleich dem Proletarier sucht sich auch der Kaufmann, wenigstens der des Welthandels, von der Scholle unabhängig zu machen und sich dort niederzulassen, wo er seine Geschäftsinteressen am besten zu wahren glaubt. Aber er verliert dadurch nicht den Zusammenhang mit seinem Vaterland. Denn sein Ansehen im Ausland, seine Stellung, die Möglichkeit, ungehindert Geschäfte zu machen und die fremden Kollegen übers Ohr zu hauen, hängt zum großen Teil ab von der Bedeutung und Kraft des Staates, dem er angehört, der ihn schützt. Der Kaufmann im Ausland bleibt also national gesinnt; in der Regel sind diese Herren die chauvinistischsten Gesellen; sie empfinden am unmittelbarsten, was die Größe ihres Vaterlandes für ihren Geldbeutel bedeutet. Anders der Proletarier. Er ist in seiner Heimat nicht verwöhnt worden durch staatlichen Schutz seiner Interessen; er bedarf des Schutzes seines Vaterlandes auch im Auslande, wenigstens in den Kulturländern, in der Regel nicht. Im Gegenteil, wenn er ein fremdes Land aufsucht, so ist es meist ein solches, dessen Gesetze und Staatsverwaltung den Arbeitern günstiger sind als die seiner Heimat. Und seine neuen Mitarbeiter haben gar kein Interesse daran, ihn etwa seines gesetzlichen Schutzes in dem Falle, in dem er seiner am dringendsten bedarf, nämlich seinem Ausbeuter gegenüber, zu berauben. Ihr eigenes Interesse gebietet ihnen vielmehr, dafür zu sorgen, daß seine Widerstandsfähigkeit seinem Ausbeuter gegenüber wächst.

Ganz anders als der wandernde Handwerksgeselle der Zunftzeit und der Kaufmann wird demnach der moderne Proletarier von seiner Scholle losgelöst. Er wird ein wahrer Weltbürger, die ganze Welt ist seine Heimat.

Freilich führt dieses Weltbürgertum für die Arbeiter der Länder, in denen eine höhere Lebenshaltung und bessere Arbeitsbedingungen bestehen, in denen demnach die Einwanderung die Auswanderung überwiegt, mannigfaltige Nachteile, mitunter geradezu Gefahren mit sich. Denn es ist unleugbar, daß diese höherstehenden Arbeiter durch die Konkurrenz der bedürfnis- und widerstandsloseren Einwanderer in ihrem Klassenkampf gehemmt werden.

Unter Umständen kann diese Konkurrenz, ebenso wie die Konkurrenz der Kapitalisten verschiedener Nationen, zu einer Verschärfung nationaler Gegensätze, zu nationalem Haß der einheimischen Arbeiter gegen die Fremden führen. Aber der Nationalitätenkampf, der in den Kreisen der Bourgeoisie eine ständige Erscheinung ist, kann in den Kreisen der Proletarier stets nur vorübergehender Natur sein.

Denn früher oder später müssen diese zur Erkenntnis gelangen – wenn nicht auf anderem Wege, so auf dem bitterer Erfahrungen –, daß die Einwanderung billiger Arbeitskräfte aus rückständigen in ökonomisch vorgeschrittene Gegenden ebenso notwendig mit der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft ist wie die Einführung der Maschinen und das Eindringen der Frau in die Industrie und daß sie sich ebensowenig unterdrücken läßt wie die beiden letzten Erscheinungen.

In anderer Weise wird die Arbeiterbewegung eines vorgeschrittenen Landes durch die Rückständigkeit der Arbeiter in fremden Ländern dadurch geschädigt, daß der Grad der Ausbeutung, den diese sich gefallenlassen, für die Kapitalisten des ersteren Landes ein guter Vorwand, mitunter ein wirklicher Grund ist, sich den Bestrebungen ihrer Arbeiter nach Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen durch die Gesetzgebung oder „freie“ Vereinbarung zu widersetzen.

Auf die eine wie auf die andere Weise wird auch den Arbeitern, die im Lande bleiben, klargemacht, wie abhängig die Fortschritte ihres Klassenkampfes von den Fortschritten der Arbeiterklasse in anderen Ländern sind. Mag sie das auch vorübergehend mit Unmut gegen die ausländischen Arbeiter erfüllen, schließlich bricht sich bei ihnen doch die Einsicht Bahn, daß es nur ein wirksames Mittel gibt, die hemmenden Einflüsse der Rückständigkeit des Auslandes zu beseitigen: die Beseitigung dieser Rückständigkeit selbst. Die deutschen Arbeiter haben alle Ursache zu wünschen und, soweit es ihnen möglich, dahin zu wirken, daß die slawischen und italienischen Arbeiter in der Fremde wie in der Heimat höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten erringen; das gleiche Interesse haben die englischen Arbeiter den deutschen und anderen, die amerikanischen den europäischen Arbeitern überhaupt gegenüber.

Die enge Abhängigkeit, in der der Klassenkampf des Proletariats eines Landes von den Klassenkämpfen der anderen Länder steht, führt mit Naturnotwendigkeit zum engen Zusammenschluß der kämpfenden Proletarierschichten der verschiedenen Länder.

Immer mehr verschwinden die Reste nationaler Abschließung und nationalen Hasses, die das Proletariat von der Bourgeoisie übernommen, immer mehr befreit es sich von den nationalen Vorurteilen, immer mehr lernt der Arbeiter im fremden Arbeitsgenossen, welche Sprache immer er sprechen möge, den Kampfgenossen, den Kameraden erkennen und schätzen.

Am innigsten muß natürlich die internationale Solidarität zwischen denjenigen Proletarierschichten der verschiedenen Nationen werden, die sich die gleichen Ziele gesetzt haben und sie mit den gleichen Mitteln verfolgen.

Wie unentbehrlich die internationale Zusammenfassung der Klassenkämpfe des Proletariats ist, wenn sie nach Ziel, Kraft und Umfang über einen bestimmten Rahmen hinauswollen, haben die Verfasser des Kommunistischen Manifests von vornherein erkannt. Dieses wendet sich an die Proletarier aller Länder und schließt mit der Aufforderung an sie: „Vereinigt Euch!“ Und die Organisation, welche sie für die Grundsätze des Manifests gewonnen hatten und in deren Namen dasselbe erlassen wurde, war eine internationale, der „Bund der Kommunisten“.

Die Folgen der Niederschlagung der revolutionären Bewegungen von 1848 und 1849 machten diesem Bunde ein Ende, aber mit dem Wiedererwachen der Arbeiterbewegung in den Anfängen der sechziger Jahre erstand auch er wieder in der „Internationalen Arbeiterassoziation“ (gegründet 1864), deren Seele wiederum Marx war. Sie hatte die Aufgabe, nicht nur das Gefühl der internationalen Solidarität in den Proletariern der verschiedenen Länder wachzurufen, sondern auch, ihnen ein gemeinsames Ziel zu geben und sie einen gemeinsamen Weg dahin einschlagen zu lassen. Die erstere Aufgabe hat sie in reichlichem Maße erfüllt, an der anderen ist sie zum Teil gescheitert. Die „Internationale“ sollte die Vereinigung des kämpfenden Proletariats mit dem modernen Sozialismus in allen Ländern herbeiführen. Sie erklärte, daß die Emanzipation der arbeitenden Klassen nur durch diese selbst erobert werden kann; daß die politische Bewegung ein bloßes Hilfsmittel zu diesem Ziel sei und daß die Emanzipation des Proletariats unmöglich sei, solange seine Abhängigkeit von den Monopolisten der Produktionsmittel, der Quellen des Lebens, fortdaure. Gegen diese Grundsätze erhob sich in der „Internationale“ eine um so stärkere Opposition, je klarer es wurde, daß ihre Konsequenz die Sozialdemokratie sei. Alle die vor 20 und 30 Jahren noch verhältnismäßig so zahlreichen Anhänger des bürgerlichen, kleinbürgerlichen und primitiv-proletarischen Utopismus ebenso wie die Vertreter der verzünftelten Nurgewerkschaftlerei einer Arbeiteraristokratie bröckelten von der „Internationale“ ab, als sie merkten, wo diese hinauswolle. Der Fall der Kommune von Paris 1871 und die Verfolgungen durch die Staatsgewalt in den verschiedenen Ländern des europäischen Festlandes förderten ihren Untergang.

Aber das Bewußtsein der internationalen Solidarität, das sie ausgestreut, ließ sich nicht ersticken.

Seitdem haben die Ideen des Kommunistischen Manifests das kämpfende Proletariat ganz Europas (und verschiedene Proletarierschichten außerhalb Europas) erfaßt; überall ist die Verschmelzung des Klassenkampfes mit dem modernen Sozialismus entweder bereits vollzogen oder in rascher Vollziehung begriffen. Die Grundlagen, Ziele und Mittel des proletarischen Klassenkampfes werden allerorten immer mehr dieselben. Daraus ging von selbst eine immer engere Fühlung zwischen den sozialistischen Arbeiterbewegungen der verschiedenen Länder hervor, das internationale Bewußtsein wurde in ihnen immer mächtiger, und es bedurfte nur eines äußeren Anstoßes, dieser Tatsache sichtbaren Ausdruck zu verleihen.

Es ist dies bekanntlich geschehen anläßlich des hundertsten Jahrestages des Bastillesturms auf dem internationalen Kongreß von Paris (1889). Der Kongreß zu Brüssel (1891) hat Gelegenheit gegeben, den internationalen Zusammenhang des kämpfenden Proletariats neuerdings zu bekräftigen, der außerdem jedes Jahr seinen sichtbaren Ausdruck erhält in der Maifeier. Nicht vereinzelte, von der Menge ihrer Klassengenossen als Sonderlinge betrachtete Denker und Schwärmer sind es, die auf diesen Kongressen zusammenkommen, wie auf den Friedenskongressen der Bourgeoisie, sondern die Vertreter und Wortführer von Hunderttausenden, ja Millionen arbeitender Männer und Frauen. Jede Maifeier zeigt in eindringlichster Weise, daß es die Massen der werktätigen Bevölkerung sind, die in allen Zentren des wirtschaftlichen und politischen Lebens in allen Ländern der modernen Kultur sich bewußt sind der internationalen Solidarität des Proletariats, die gegen den Krieg protestieren und erklären, die sogenannten nationalen Gegensätze seien tatsächlich nicht mehr Gegensätze der Völker, sondern nur noch Gegensätze ihrer Ausbeuter.

Eine derartige Überbrückung der Kluft zwischen den einzelnen Nationen, eine derartige internationale Zusammenfassung der breitesten Volksschichten hat die Weltgeschichte noch nicht gesehen. Dieser Vorgang erscheint um so großartiger, da er sich im Schatten einer Kriegswolke vollzieht, die ihrerseits auch ein Schauspiel zu bieten verspricht, wie es in der Weltgeschichte noch nicht erhört gewesen, einer Kriegswolke, die Europa mit unsäglich greuelvoller Verwüstung bedroht.

Angesichts dieser Situation hat die Sozialdemokratie die doppelte Verpflichtung, ihren internationalen Standpunkt entschieden zu betonen. Das ist auch in dem Erfurter Programm in eindringlichster Weise geschehen.
 

14. Die Sozialdemokratie und das Volk

Die Sozialdemokratie ist von vornherein ihrem ganzen Wesen nach eine internationale Partei. Sie hat aber gleichzeitig auch die Tendenz, immer mehr eine nationale Partei, das heißt eine Volkspartei, zu werden in dem Sinne, daß sie die Vertreterin nicht bloß der industriellen Lohnarbeiter, sondern sämtlicher arbeitenden und ausgebeuteten Schichten, also der großen Mehrheit der Gesamtbevölkerung, wird, dessen, was man gewöhnlich „Volk“ nennt. Wir haben bereits gesehen, daß das industrielle Proletariat die Tendenz hat, schließlich zur einzigen arbeitenden Klasse zu werden. Wir haben auch schon darauf hingewiesen, daß die anderen arbeitenden Klassen in ihrer Lebenshaltung und ihren Arbeitsbedingungen immer ähnlicher dem Proletariat werden; endlich wissen wir bereits, daß das arbeitende Proletariat die einzige unter den arbeitenden Klassen ist, die an Kraft, Intelligenz und Zielbewußtsein immer mehr zunimmt, daß es immer mehr der Mittelpunkt wird, um den sich die stetig schwindenden Reste der anderen arbeitenden Klassen gruppieren. Sein Fühlen und Denken wird immer maßgebender für die Gesamtmasse der „kleinen Leute“.

In dem Maße, in dem die Lohnarbeiter die Führung des Volks übernehmen, wird die Arbeiterpartei zur Volkspartei. In der Tat, sobald der selbständige Arbeiter des Kleinbetriebs wie ein Proletarier fühlt, sobald er erkennt, daß er oder zum mindesten seine Kinder unrettbar dem Proletariat verfallen sind, daß es keine Rettung mehr für ihn gibt als die Befreiung des Proletariats – von dem Augenblick an muß er in der Sozialdemokratie die natürliche Vertreterin seiner Interessen sehen.

Wir haben bereits im vorigen Kapitel ausgeführt, daß er deren Sieg nicht zu fürchten hat, daß dieser vielmehr auch in seinem Interesse liegt, denn er bedeutet die Herbeiführung eines Gesellschaftszustandes, der allen Arbeitern, nicht bloß den Lohnarbeitern, sondern auch den selbständigen Arbeitern der Kleinbetriebe, Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung, den Gewinn von Sicherheit und Wohlstand gewährt.

Aber die Sozialdemokratie vertritt die Interessen sämtlicher „kleinen Leute“ nicht bloß in der Zukunft, sondern auch schon in der heutigen Gesellschaft. Das Proletariat, als die unterste der ausgebeuteten Schichten, kann sich von der Ausbeutung und Unterdrückung nicht befreien, ohne jegliche Ausbeutung und Unterdrückung zu vernichten. Es ist daher der geschworene Feind derselben, in welcher Form immer sie auftreten mögen, es ist der Vorkämpfer aller Ausgebeuteten und Unterdrückten.

Wir haben oben von der „Internationale“ gesprochen. Es ist nun bezeichnend, daß die Veranlassung zu ihrer Begründung eine proletarische Kundgebung zugunsten der gegen das Joch des Zaren sich erhebenden Polen war; daß die erste Adresse, welche die „Internationale“ nach ihrer Konstituierung erließ, eine Glückwunschadresse an Lincoln, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, war, in der die Arbeitergesellschaft ihren Sympathien für die Sache der Sklavenbefreiung Ausdruck gab, und daß endlich die „Internationale“ die erste in England bestehende und Engländer zu ihren Mitgliedern zählende Organisation war, die für die von den herrschenden Klassen Englands mißhandelten Irländer Partei ergriff, und zwar in der tatkräftigsten Weise. Weder die irische noch die polnische Bewegung, noch die Sklaven-emanpization hatten mit den Klasseninteressen der Lohnarbeiterschaft direkt etwas zu tun.

Ähnliche Beispiele ließen sich aus der Geschichte jeder sozialistischen Arbeiterbewegung dutzendweise entnehmen.

Man sagt allerdings, daß die Sozialdemokratie auf den Fortgang der ökonomischen Entwicklung baue; die sozialistische Produktion habe zu ihrer Voraussetzung die möglichst allseitige Verdrängung des Kleinbetriebs durch den Großbetrieb. Die Sozialdemokratie habe also ein Interesse an dem Untergang der Kleinbetriebe, an dem Untergang der Kleinhandwerker, Kleinhändler, Kleinbauern; sie müsse deren Ruin fördern, könne also unmöglich in deren Interesse tätig sein.

Darauf ist Folgendes zu erwidern: Die Sozialdemokratie macht nicht die ökonomische Entwicklung; die Verdrängung des Kleinbetriebs durch den Großbetrieb wird ohne ihr Zutun durch die Kapitalistenklasse aufs gründlichste besorgt. Allerdings hat sie keine Ursache, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Aber die ökonomische Entwicklung aufhalten wollen heißt keineswegs, die wirklichen Interessen der Kleinbauern und Kleinbürger vertreten. Denn alle dahingehenden Versuche müssen scheitern, sie können, soweit sie überhaupt zu einer Wirkung kommen, nur schaden, nicht nützen. Den Handwerkern und Bauern Maßregeln in Aussicht stellen, durch welche ihre Kleinbetriebe lebensfähig gemacht werden heißt keineswegs, ihre Interessen vertreten, es heißt vielmehr, Illusionen in ihnen wecken, die sich nie verwirklichen können und die sie vom rechten Wege zur besten Vertretung ihrer Interessen ablenken.

Aber wenn auch der Untergang des Kleinbetriebs unvermeidlich ist, so ist es doch keineswegs unvermeidlich, daß derselbe gerade unter allen den scheußlichen Begleiterscheinungen vor sich geht, die ihm heute in der Regel anhaften. Wir haben gesehen, daß das Verschwinden eines Kleinbetriebs nur der letzte Akt eines langen Dramas ist, in dessen früheren Akten sich nichts anderes abspielt als das langsame und qualvolle Verkommen des selbständigen Kleinproduzenten. Die Sozialdemokratie hat aber nicht nur nicht das geringste Interesse daran, daß die Kleinbürger und Kleinbauern verkommen, sie hat vielmehr das größte Interesse daran, daß dies nicht der Fall sei. Denn je verkommener die Kreise sind, aus denen sich das Proletariat rekrutiert, desto schwerer ist es, diese Rekruten so weit zu heben, daß sie fähig und gewillt werden, in die Reihen des kämpfenden Proletariats einzutreten. Von dessen Ausdehnung aber, nicht von der Ausdehnung des gesamten Proletariats, hängen Ausdehnung und Kraft der Sozialdemokratie ab. Je bedürfnisloser der Bauer und Handwerker, je mehr gewöhnt an endlose Arbeit, desto widerstandsloser erweist er sich, sobald er ins Proletariat gesunken ist, desto mehr läßt er sich ausbeuten, desto mehr schädigt er durch seine Konkurrenz die höherstehenden Arbeiter. Zum Teil dieselben Gründe, welche die internationale Solidarität der Arbeiter herbeiführen, führen auch zu einer Solidarität des Proletariats mit den Klassen, aus denen es sich rekrutiert, eine Solidarität freilich, die bisher in der Regel nur von der einen Seite – den Proletariern – empfunden und geübt wurde.

Natürlich, wenn die versinkenden Kleinbauern und Kleinbürger sich über Wasser zu halten suchen auf Kosten der Proletarier, etwa durch übermäßige Lehrlingsausbeutung oder Verhinderung der Organisierung ihrer Lohnarbeiter, dann werden sie stets dem energischen Widerstand des Proletariats und der Sozialdemokratie begegnen. Dagegen tritt diese auf das entschiedenste ein für eine Reihe von Maßregeln, durch welche, ohne Beeinträchtigung des Proletariats, vielmehr bei gleichzeitiger Förderung desselben, erhebliche Verbesserungen und Erleichterungen für den Kleinbauern und Kleinbürger hervorgebracht werden.

Es erhellt dies klar und deutlich aus den Forderungen, welche die Sozialdemokratie als unmittelbar zu verwirklichende an den jetzigen Staat stellt. Die Aufzählung dieser Forderungen bildet den zweiten Teil des Programms von Erfurt. Derselbe lautet:

Ausgehend von diesen Grundsätzen fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:

1. Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportionalwahlsystem und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzgebungsperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung.

2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch das Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuerbewilligung.

3. Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.

4. Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und das Recht der Vereinigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken.

5. Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen.

6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.

7. Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden.

8. Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurteilter. Abschaffung der Todesstrafe.

9. Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Totenbestattung.

10. Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der Verwandtschaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.

Zum Schutze der Arbeiterklasse fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zunächst:

1. Eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage:

a) Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normalarbeitstages.

b) Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder unter vierzehn Jahren.

c) Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach aus technischen Gründen oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit erheischen.

d) Eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter.

e) Verbot des Trucksystems.

2. Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichs-Arbeitsamt, Bezirks-Arbeitsämter und Arbeitskammern. Durchgreifende gewerbliche Hygiene.

3. Rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesindeordnungen.

4. Sicherstellung des Koalitionsrechts.

5. Übernahme der gesamten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an der Verwaltung.

Ein näheres Eingehen auf diese Punkte liegt nicht im Plane dieser Arbeit, die sich bloß mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie befaßt, nicht mit den praktischen Folgerungen, die sich daraus ergeben. Nur insoweit gehen uns diese hier an, als sie zur Erläuterung jener dienen können. Von diesem Standpunkt aus wollen wir einige kurze Bemerkungen an sie knüpfen, die unsere Arbeit abschließen sollen; denn wir sind am Ende des Gedankengangs angelangt, den der grundsätzliche Teil des Erfurter Programms verfolgt.

Vor allem zeigt sich uns, daß nur ein Teil der Forderungen der Sozialdemokratie reine Arbeiterforderungen, das heißt solche Forderungen sind, die ausschließlich im Interesse des Lohnproletariats gestellt werden. Der weitaus größte Teil der Forderungen dagegen betrifft das Gebiet der Interessen, die das Proletariat mit den anderen Schichten der werktätigen Bevölkerung gemein hat.

Manche dieser Forderungen stellt auch die bürgerliche Demokratie; die anderen aber kann nur die Sozialdemokratie als die einzige antikapitalistische Partei erheben, und selbst die bürgerlich-demokratischen Forderungen werden von keiner Partei mit dem Nachdruck verfochten wie von ihr. Sie sucht die Lebenshaltung der kleinen Leute zu heben und diese zu entlasten durch Abschaffung der indirekten Steuern, durch Abwälzung der größten Steuerlast auf die Reichen vermittelst einer progressiven Einkommensteuer, durch Abschaffung der stehenden Heere, durch Beseitigung des damit aufs innigste verknüpften Staatsschuldenwesens usw. Sie sucht die kleinen Leute geistig zu heben, unter gleichzeitiger wirtschaftlicher Entlastung, indem sie nicht bloß einen unentgeltlichen Volksschulunterricht, der allen Ansprüchen der modernen Kultur genügt, sondern auch Unentgeltlichkeit der Lehrmittel und Verpflegung der Schulkinder durch das Gemeinwesen fordert. Sie ist es allein, die dem „kleinen Mann“ eine unentgeltliche ausreichende ärztliche Hilfe und Krankenpflege und unentgeltliche Rechtspflege, unentgeltlichen Rechtsbeistand bieten will.

Nur Maßregeln, die in der Richtung dieser Forderungen liegen, sind imstande, die Lage der selbständigen Arbeiter der Kleinbetriebe in der heutigen Gesellschaft so weit zu verbessern, als es überhaupt möglich ist. Den Handwerkern und Bauern als Produzenten unter Beibehaltung ihrer rückständigen Betriebsweisen zu helfen widerspricht dem Gang der ökonomischen Entwicklung und ist undurchführbar. Ebenso unmöglich ist es, sie alle oder auch nur einen erheblichen Teil von ihnen zu Kapitalisten zu erheben. Der Masse dieser „kleinen Leute“ kann nur noch als Konsumenten einige Hilfe werden. Aber gerade die anscheinend den Handwerkern und Bauern am freundlichsten gesinnten Parteien sind es, die sie als Konsumenten am meisten belasten. Diese Belastung ist eine wirkliche und empfindlich fühlbare. Die Hebung der Kleinbetriebe, die damit Hand in Hand gehen soll, wird dagegen immer mehr nichts als bloße Spiegelfechterei.

Die Hebung der Kleinbürger und Kleinbauern als Konsumenten widerspridit nicht nur nicht der ökonomischen Entwicklung, sie ist ein Mittel, dieselbe zu fördern. Sie ist also nicht nur möglich, sondern schon aus diesem Grunde anzustreben, ganz abgesehen von zahlreichen anderen Gründen, die teils verstandesgemäßen Erwägungen, teils den Regungen des Mitgefühls mit den armen verkommenden Bauern und Kleinbürgern entspringen. Je besser deren Lage als Konsumenten, je höher ihre Lebenshaltung, je größer ihre leiblichen und geistigen Ansprüche, je größer ihre Einsicht, desto eher werden sie aufhören, den Kampf gegen den Großbetrieb vermittelst der Hungerkonkurrenz führen zu wollen, desto eher werden sie das hoffnungslose Ringen aufgeben und die Reihen des Proletariats verstärken; aber nicht die Reihen der demütigen, widerstandsunfähigen, bedürfnislosen untersten Schichten desselben. Sie werden direkt in die Reihen der kämpfenden, „begehrlichen“, zielbewußten Proletarier eintreten und damit deren Sieg beschleunigen.

Nicht aus der Verkommenheit wird dieser Sieg hervorgehen, wie mancher geglaubt hat; ebensowenig aus der Verkommenheit des Kleinbürgertums und der Bauernschaft wie aus der des Proletariats. Die Sozialdemokratie hat alle Ursache, der Verkommenheit auf der einen Seite ebenso entschieden entgegenzuwirken wie auf der anderen, und sie tut es auch, soweit ihre Kräfte reichen. Diese zu verstärken liegt also nicht bloß im Interesse der Lohnarbeiter allein, sondern ebenso im Interesse aller anderen Mitglieder der Bevölkerung, die von ihrer Arbeit, nicht von der Ausbeutung leben.

Das Kleinbürgertum und die Bauernschaft sind nie recht imstande gewesen, solange der moderne Staat besteht, für sich allein ihre Interessen gegenüber den anderen Klassen zu behaupten. Sie vermögen das heute weniger als je. Sie müssen sich zur Wahrung ihrer Interessen mit einer oder mehreren anderen Klassen verbinden. Ihre durch das Privateigentum großgezogenen Instinkte treiben sie den bürgerlichen Parteien in die Arme, das heißt zur Verbindung mit einer der verschiedenen Gruppen der oberen besitzenden Klassen. Die bürgerlichen Parteien selbst suchen diese Verbindung, zum Teil aus rein parteipolitischen Bedürfnissen, weil sie in den kleinen Leuten das „Stimmvieh“ sehen, das sie brauchen, zum Teil aber auch aus tieferliegenden Erwägungen. Denn sie wissen gar wohl, daß das Privateigentum der Kleinbauern und Kleinbürger heute noch die stärkste Stütze bildet des Privateigentums überhaupt, damit aber auch der Ausbeutung, die sie üben. Der Wohlstand des kleinen Mannes ist ihnen gleichgültig. Als Konsumenten ihn zu belasten, sind sie gleich bei der Hand. Mag er verkommen, wenn nur sein Kleinbetrieb nicht völlig verschwindet, der ihn in dem Kreis des Privateigentums gebannt erhält. Indes sind alle diese Parteien an der Ausdehnung der kapitalistischen Ausbeutung, also an dem Fortgang der ökonomischen Entwicklung interessiert. Sie wünschen wohl, den Bauern und Handwerker zu erhalten, sie versprechen es ihm auch, aber tatsächlich tun sie alles, was in ihren Kräften steht, die Herrschaft des Großbetriebs auszudehnen und die bäuerliche und handwerksmäßige Produktion zu erdrücken.

Ganz anders ist das Verhältnis zwischen den selbständigen Arbeitern der Kleinbetriebe und der Sozialdemokratie. Diese kann allerdings nicht für die Erhaltung des Kleinbetriebs eintreten, aber tatsächlich hat er nichts von ihr zu fürchten. Es sind die Kapitalisten und Großgrundbesitzer, nicht die Proletarier, welche die Handwerker und Bauern expropriieren. Der Sieg des Proletariats ist vielmehr, wie wir im vorigen Kapitel gesehen, das einzige Mittel, diesen Expropriationen ein Ende zu machen. Als Konsumenten haben aber die selbständigen Arbeiter der Kleinbetriebe die gleichen Interessen mit den Proletariern. Sie haben daher alle Ursache, durch Verbindung mit diesen, das heißt durch den Anschluß an die Sozialdemokratie, die Wahrung ihrer Interessen zu bewirken.

Es ist freilich nicht zu erwarten, daß diese Erkenntnis sich allzu rasch unter ihnen verbreiten wird. Aber doch hat die Fahnenflucht von Kleinbürgern und Bauern aus den Reihen der bürgerlichen Parteien bereits begonnen, eine Fahnenflucht ganz eigener Art, denn es sind gerade die Tüchtigsten, die Streitbarsten, die zuerst die Flinte ins Korn werfen, nicht um dem Kampfgewühl zu entrinnen, sondern um aus dem kleinlichen Kampfe zur Fristung einer erbärmlichen Existenz zu entfliehen in das riesenhafte, weltbewegende Ringen um Herbeiführung einer neuen Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder an den großen Errungenschaften der modernen Kultur teilnehmen läßt, in das Ringen nach Befreiung der ganzen Kulturmenschheit, ja der ganzen Menschheit überhaupt aus dem Banne einer Gesellschaft, die sie zu erdrücken droht.

Je unerträglicher die bestehende Produktionsweise wird, je offenbarer sie ihrem Bankerott entgegeneilt und je unfähiger sich die herrschenden Parteien erweisen, die erschreckend anwachsenden gesellschaftlichen Mißstände zu beseitigen, je haltloser und grundsatzloser diese Parteien werden, die immer mehr zu Cliquen persönlich interessierter Politiker zusammenschrumpfen, desto zahlreicher werden die Mitglieder der nichtproletarischen Klassen der Sozialdemokratie zuströmen und Hand in Hand mit dem unwiderstehlich vordringenden Proletariat ihrer Fahne folgen zu Sieg und Triumph.


Anmerkungen des Verfassers

9. Wie nahe der Bediente und der Höfling einander sind, zeigt uns in amüsanter Weise Le Sage’s Roman Gil Blas, diese klassische Naturgeschichte des Bediententums. Auf der andern Seite reicht der Bediente dem Lumpenproletarier die Hand. Gil Blas steigt, ohne sich in seinem Wesen zu verändern, vom niedrigsten Bedienten und Gaunergenossen zum Sekretär und Günstling des ersten Ministers am spanischen Hofe auf.

10. Dieses hochwichtige Buch [Die Lage der arbeitenden Klasse in Englanddie Red.] wurde 1845 zum ersten Male veröffentlicht. Eben erscheint die dritte Auflage desselben im Verlag von J.H.W. Dietz in Stuttgart.

11. Man wird vielleicht dieser Behauptung die englischen „Arbeiterabgeordneten“ entgegenhalten, welche die englische Arbeiterklasse so oft im Parlamente verraten haben; aber diese Herren verdanken ihre Wahl nicht dem Einfluß der gesamten Arbeiterklasse, sondern dem einer verzünftelten, hochmütigen Arbeiteraristokratie, die sich über das Proletariat erheben will. Die Herren Broadhurst und Konsorten haben stets nur im Sinne dieser ihrer Auftraggeber gehandelt.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018