Karl Kautsky

Die Vorläufer des neueren Sozialismus

Erster Band, erster Theil


Dritter Abschnitt
Der Kommunismus im Mittelalter und im Zeitalter der Reformation

Siebentes Kapitel
Die böhmischen Brüder


Tabor war gefallen, aber es verschwand nicht spurlos. Dieser kommunistische Kriegerstaat hatte zu glänzend gewirkt und sein Wirken hatte zu tiefe Wurzem in den sozialen Verhältnissen seiner Zeit gehabt, Verhältnissen, die nach seinem Sturze nicht nur nicht aufhörten, sondern vielmehr noch schärfer zu Tage traten, als daß die Ideen, auf denen es aufgebaut war, nicht hätten fortleben müssen, wenn auch in anderer, der veränderten Lage angepaßter Form.

Zwei Seiten Tabors haben über dessen Sturz hinaus ihre Fortsetzung gefunden in Organisationen, die, derselben Wurzel entstammend und sogar den gleichen Namen führend – beide hießen sie böhmische Brüder – doch den schärfsten Gegensatz aufweisen, der möglich ist. Die eine dieser Sekten war die kriegerische, die andere die kommunistische.

Wir haben gesehen, wie fremdes Kriegsvolk den Taboriten zuzog, nur um an ihrem Kriegsglück und ihrer Beute Antheil zu bekommen. Auf der anderen Seite verwilderten in dem ständigen Krieg die Taboriten selbst, und Vielen von ihnen wurde schließlich Kriegführung um Beute oder Sold Selbstzweck.

Nach der Niederschlagung Tabors fanden diese Elemente in Böhmen kein Feld für ihre Bethätigung mehr, sie zogen ins Ausland, um sich zu verdingen, zum Theil als einzelne Söldner, zum Theil aber als fest organisirte Kriegsbanden, die sich bald Dem, bald Jenem vermietheten. Derartige Banden waren damals nichts Ungewöhnliches, aber in der Regel war es ein bekannter General, der die Söldner um sich schaarte und von vornherein ihr Haupt bildete. Im Gegensatz zu diesen despotisch organisirten Kompagnien waren die böhmischen Brüderrotten nach taboritischem Muster demokratisch organisirt.

Namentlich in Ungarn, aber auch in Polen haben diese Banden eine Zeit lang eine große Rolle gespielt. Die Kosaken, die zu Anfang des 16. Jahrhunderts in der Ukraine auftauchten, sollen nach ihrem Muster sich organisirt haben.

Viel wichtiger ist jedoch die andere Art böhmischer Brüder geworden, die in Böhmen selbst geblieben sind.

Wir haben schon bemerkt, daß die Kommunisten des Mittelalters im Allgemeinen friedliebend waren (S. 137) und die Gewalt verabscheuten. Es entsprach dies ebenso der Ohnmacht der Besitzlosen jener Zeit wie der Ueberlieferung des Urchristenthums. Als in Böhmen die Hussitische Revolution begann, die alten Autoritäten stürzten und die niederen Volksklassen in siegreichem Aufstande sich erhoben, da wurde die Masse der Kommunisten mit fortgerissen, und einmal in der gewaltsamen Revolution drinnen, trieb sie die Logik der Thatsachen naturnothwendig an die Spitze der demokratischen Erhebung, deren weitestgehendes Element sie bildeten.

Aber die friedliebende Richtung, die den Krieg, jede Gewalt, jeden Zwang verurtheilte, hörte auch während der glänzendsten Triumphe des Taboritenthums nicht völlig auf. Ihr vornehmster Vertreter war Peter von Chelčic, Peter Chelčický. Ungefähr um das Jahr 1390 geboren, wahrscheinlich ein verarmter Ritter, lebte er still und zurückgezogen in dem Dorfe Chelčic bei Wodnian, einer der taboritischen Städte (S. 213) und verfaßte dort eine Reihe von Schriften, die allgemeine Aufmerksamkeit erregten. Schon 1420 hatte er behauptet, in religösen Fragen dürfe man keine Gewalt anwenden; diese Ueberzeugung befestigte sich in ihm während der Revolutionskriege. Er brandmarkte den Krieg als das gräßlichste aller Uebel; die Krieger seien um kein Haar besser als Todtschläger und Mörder. [1]

Chelčický ist Gleichheitskommunist – im urchristlichen Sinne. Aber nicht durch den Krieg, nicht durch staatlichen Zwang soll die allgemeine Gleichheit der Gesellschaft aufgezwungen, sondern sie soll hinter dem Rücken von Staat und Gesellschaft verwirklicht werden. Der wahre Gläeibige darf an dem Staate keinen Antheil haben, denn dieser ist sündhaft und heidnisch. Die sozialen Ungleichheiten, Vermögen, Stand und Rang werden durch den Staat geschaffen, können nur mit ihm verschwinden. Aber die einzige christliche Methode, den Staat abzuschaffen, besteht darin, daß man ihn ignorirt. Dem wahren Gläubigen ist es nicht nur verboten, ein Staatsamt anzunehmen, es ist ihm auch verboten die Staatsgewalt anzurufen. Polizei und Gerichte existiren nicht für ihn. Der wahre Christ strebt von selbst nach dem Guten und darf Andere zum Guten nicht zwingen, da Gott das Gute aus freien Stücken verlangt. Jeder Zwang ist von Uebel.

Im bestehenden Staate und in der bestehenden Gesellschaft giebt es für den wahren Christen keinen Platz, außer in den untersten Schichten, die nur gehorchen und dienen, nicht befehlen und herrschen. Jede Herrschaft, jede Klassenbildung verstößt gegen das Gebot der Brüderlichkeit und Gleichheit. Wie der Christ nicht herrschen darf, darf er auch nicht ausbeuten. Daher ist ihm jeder Handel verboten, denn dieser ist nothwendig mit Betrug verbunden. Die Städte, die Sitze des Handels, sind von Uebel. Kain hat sie erfunden; er hat die ursprüngliche Einfalt des Lebens in List verwandelt, indem er Maß und Gewicht erfand, indeß früher das Volk tauschte, ohne zu messen und zu wägen. Am verworfensten und fluchwürdigsten aber ist der Adel. [2]

Dieser anarchistische aber friedfertige Kommunismus fand um so mehr Einklang, je mehr die Kriegsmüdigkeit wuchs, je mehr in den unteren Klassen das taboritische Regiment an Sympathien verlor.

Von den kommunistischen Sekten, die nach dem Untergang Tabors in Böhmen erstanden, zum Theil von zerstreuten taboritischen Elementen gebildet, ist die der Anhänger Chelčický’s, die Chelčicer Brüder, die bedeutendste geworden.

Unter Peter’s Jüngern ragte besonders hervor Bruder Gregor, ein Edelmamn aber so verarmt, daß er sich vom Schneiderhandwerk nähren mußtc. Als ehemalige Taboriten in dem Dorfe Kunwald bei Senftenberg eine Kolonie gründeten, einer Gegend, in der taboritische Gesinnungen sich erhalten hatten, wählten sie Gregor zu ihrem Haupt und Organisator, 1457. Ihm ist es wohl hauptsächlich zuzuschreiben, daß die Kolonisteu, die „Brüder, “ Chelčický’s Lehre annahmen und in jeder Weise ihr nachlebten.

Die ursprüngliche Organisation der böhmischen Brüder ist keineswegs völlig klar, denn die späteren Brüder schämten sich ihres kommunistischen Urspungs und suchten ihn möglichst zu verdunkeln. Geht man jedoch von der späteren Organisation der böhmischen Brüder aus, zu deren Erhellung man noch die wohlbekannte Organisation der Herrnhuter, ihrerNachfolger, heranziehen kann, und zieht man die inneren Kämpfe in Betracht, aus denen sie hervorgegangen ist, dann ergiebt sich uns folgendes Bild. [3]

Selbstverständlich war jedem Mitglied der Brudergemeinschaft der Kriegsdienst, jede Betheiligung an der Staatsverwaltung durch Uebernahme eines Staats- oder Gemeindeamtes strengstens verboten, ebenso jede Anrufung des Staates, jedes Erheben einer Anklage. Vollständige Gleichheit sollte in der Gemeinschaft herrschen, es sollte keine Armen und keine Reichen geben; das Betreiben jeder Art von Ausbeutung war untersagt. Jeder Reiche oder einem privilegirten Stande Angehörige mußte, ehe er zugelassen wurde, seinem Vermögen und seinen Privilegien entsagen. Handel, Verleihen von Kapitalien auf Zinsen und Gastwirthschaft durfte ein „Bruder“ nicht betreiben. Andererseits war jeder Einzelne, sowie die Gemeinschaft verpflichtet, jedem Bruder, der in Noth gerathen war, zu helfen.

Das Privateigenthum und die Einzelfamilie waren nicht verpönt, der Kommunismus äußerte sich den Familien gegenüber vornehmlich in der Betonung der Brüderlichkeit, des freudigen Theilens mit dem Genossen und in dem Bestreben nach Erhaltung der Gleichheit, daß Keiner über die Anderen sich erhebe, Keiner unter sie sinke. Das war aber unter Beibehaltung des Privateigenthums nur möglich, wenn die strengste Disziplin herrschte und wenn diese sich auf das gesammte gesellschaftliche Leben erstreckte. Selbst die intimsten Verhältnisse des Familienlebens blieben davon nicht verschont.

Die Priester und die Aeltesten, beide von den Gemeinden gewählt, übten, im sonderbaren Gegensatz zu der anarchistischen Theorie Peter’s, die jeden Zwang als unchristlich und heidnisch verwarf, eine Disziplinargewalt aus, die einem modernen Menschen unerträglich erscheinen würde, um so unerträglicher, als bei den böhmischen Brüdern jener finstere, muckerische Geist, den wir bereits als die Eigenthümlichkeit des mittelalterlichen Kommunismus überhaupt bezeichnet haben, besonders scharf zu Tage trat, wohl eine Folge des Jammers und des unsäglichen Elends, welche die Hussitenkriege im Gefolge hatten.

Jedes Spiel, jeder Tanz war verpönt, als eine Falle, die der Teufel den Gläubigen stellt. Leben, arbeiten und still dulden war das Einzige, was einem frommen Christen hienieden oblag. Deal Sonntag feierten sie schon ganz puritanisch.

Waren auch Privateigenthum und Einzelfamilie nicht verpönt, so galt doch der ehelose Stand als ein höherer, heiligerer. Dem Klerus waren Besitzlosigkeit und Zölibat vorgeschrieben. Die ehelosen Leute wohnten, nach den Geschlechtern getrennt, in Brüder- und Schwesterhäusern, wo sie gemeinsam arbeiteten und lebten. Wir dürfen uns diese wohl nach dem Beispiele der Beghardenhäuser vorstellen.

Gleich den Taboriten wollten auch die böhmischen Brüder von den Gelehrten nichts wissen. Sie galten ihnen als einer der privilegirten Stände. Bis zu seinem Tode (1473) warnte der Bruder Gregor die Gemeinde vor den Gelehrten. Dagegen hielten sie ebenso wie die Taboriten viel auf eine gediegene Volkschule. Der demokratischen Kunst des Buchdruckes bemächtigten sie sich sofort nach deren Aufkommen mit großem Eifer. „Wohl selten,“ sagt Gindely, a. a. O., I., S. 89, „hat eine christliche Sekte so viele Schriften zu ihrer Vertheidigung in die Welt gesandt, wie die Brüder.“ Die Zahl ihrer Schriften, von ihrem Beginn bis zu ihrem fast völligen Untergang nach dem Tode des Comenius (1670), ist viel größer an die der Produkte der gesammten anderen böhmischen Literatur der gleichen Zeit. Sie rühmten sich auch, die Ersten zu sein, welche die Bibel in der Muttersprache drucken ließen (in Venedig), so daß die Böhmen darin den anderen Nationen vorausgingen. [4] Zu Anfang des 16. Jahrhunderts gab es fünf Buchdruckereien in Böhmen: eine katholische, in Pilsen, eine utraquistische, in Prag, und drei, die den böhmischen Brüdern gehörten, in Jungbunzlau, Leitomischl und Weißwasser. Selbst diese drei genügten ihnen nicht immer und sie ließen zeitweise noch in Nürnberg drucken.

Eigenthümlich, aber ihrer strengen Disziplin völlig entsvrechend, war die Bestimmung, daß kein Mitglied der Gemeinschaft ein Buch ohne deren Zustimmung schreiben und herausgeben durfte. „Niemand,“ heißt es in ihrer Kirchenordnung, „hat bei uns Erlaubniß, Bücher heranszugeben, sie seien denn von den Anderen untersucht und durch den allgemeinen Beifall bestätigt.“ [5]

Der Pole Johannes Lasitski, der die böhmischen Brüder 1571 besuchte, schreibt in seinem Werk: De origine et rebus gestis fratrum Bohemorum über ihre Bücherproduktion: „Es erschien nichts, welches nicht vorher von mehreren Aeltesten und Kirchendienern, welche dazu erwählt und bestellt waren, untersucht worden ... Es pflegte auch nichts von Einem allein zu erscheinen (es geschähe denn aus besonderen Ursachen), sondern jegliches erschien im Namen der ganzen Brüderschaft, damit ein Glied an dem geistlichen Leibe ebenso viel Ehre davon hätte als das andere und dadurch der eitlen Ehrsucht, welche die Gemüther der Bücherschreiber in der Regel kitzelt, alle Gelegenheit abgeschnitten würde, die Schriften selbst aber ein desto größeres Gewicht und Ansehen hätten.“ [6]

Und trotzdem die kolossale literarische Produktivität!

Das die neue Gemeinschaft, die so viel Taboritisches an sich hatte und ehemalige taboritische Elemente in sich schloß, trotz ihres friedfertigen, unterwürfigen Charakters, den Machthabern vielfach verdächtig und gefährlich erschien, wird kein Wunder nehmen. Schon 1461 brach eine heftige Verfolgung über sie herein unter Georg von Podiebrad, den wir bereits als den Vernichter der Selbständigkeit Tabors kennen. 1452 noch Landesverweser, war er 1468, nach des Königs Ladislav Tode, zum König von Böhmen gewählt worden. Einer seiner ersten Regierungshandlungen war die Verfolgung der böhmischen Brüder, deren Führer, so Bruder Gregor und Andere, eingekerkert wurden. Die Gmeinde in Kunwald wurde zersprengt, ihre Mitglieder vertrieben, jede Versammlung ihnen untersagt.

„Durch diese heftige Inquisition nun,“ schreibt Comenius, „welche allenthalben wider die Brüder angeordnet wurde, ist es geschehen, daß die meisten von ihnen, insonderheit die Ersten unter ihnen, durch Berge und Wälder zerstreut waren und in Höhlen sich aufhielten; wiewohl sie auch da nicht einmal sicher waren. Sie durften das Feuer, um dabei das Nöthigste zu kochen, zu keiner anderen Zeit als bei Nacht ungefährdet anzünden, damit sie durch den aufsteigenden Rauch nicht verrathen würden, und da saßen sie in der großen Kälte nm das Fener herum und brachten ihre Zeit mit dem Lesen der heiligen Schrift und gottseligen Gesprächen zu Wenn sie dann bei diesem Schnee, um sich mit Lebensmitteln zu versehen, hervorgehen mußten, so traten sie Alle in die von Einem gemachten Fußstapfen, und der Letzte schleifte einen Tannenast hinter sich nach, welcher diese Fußstapfen wieder mit Schnee zufüllte, daß sie daran nicht erkant wurden und es aussah wie die Fußtritte eines Bäuerleins, das ein Bündel Holz nachgeschleifte Nach diesem Wohnen in Höhlen wurden sie von ihren Feinden zum Spott Jamnici, Höhlenbewohner, genannt.“ [7]

Sollte die Bezeichmmg der „Jamnici“ erst aus der Zeit dieser Verfolgung stammen? Im westlichen Deutschland führten bereits im 14. Jahrhundert die beghardischen Sektirer wegen der Heimlichkeit ihrer Zusammenkünfte den Spottnamen „Winkler,“ im östlichen Deutschland den Namen „Grubenheimer;“ das Wort „Jamnici“ (vom tschechischen Jáma, die Grube, Höhle) ist eine Uebersetzung desselben und deutet vielleicht darauf hin, daß die beghardische Ueberlieferung unter den böhmischen Brüdern wirksam war. Das Volk nannte sie Jamnici, sondern auch „Picarden.“

Die erste Verfolgung nahm erst mit Podiebrad’s Tod, 1471, ein Ende.

Auch später hatten die Brüder noch zeitweilige Verfolgungen zu leiden, aber im Allgemeineu schädigten sie diese nur mehr wenig. Die Staatsgewalt war damals in Böhmen noch schwach, in einzelnen Herren und Städten fanden aber die Brüder kraftvollc Schützer; denn intelligente Leute erkannten früh, wie harmlos die Staatsfeindlichkeit und die Gleichheitsstrebungen dieser Sekte seien, welch vortreffliches Ausbeutungsmaterial sie aber durch ihre Predigt des Fleißes, der Entsagung, des Duldens lieferten.

Nicht zum Wenigsten diesem Schutz hatte die Gemeinschaft es zu danken, daß sie selbst während der ersten schweren Verfolgung rasch anwuchs. Die Gewinnung von Proselyten wurde aber auch dadurch erleichtert, daß sie, ganz im Sinne der Taboriten, jedoch im Widerspruch zum Geist der übrigen kirchlichen Organisationen ihrer Zeit, die größte Toleranz in Glaubenssachen verkündeteu. Die Brüdergemeinschaft konnte das thun, denn sie war nicht, wie die anderen kirchlichen Organisationen, eine Herrschaftsorganisation. Schon der erste Brüderkongreß, der 1464 in den Bergen von Reichenau stattfand, und den Delegirte nicht blos aus Böhmen, sondern auch schon ans Mähren besuchten, erklärte, die Fragen der sozialen Organisation seien die Hauptsache, die Fragen des Glaubens ständen in zweiter Linie. Und diesen Grundsatz haben sie stets festgehalten. Sie standen darin in schärfstem Gegensatz zur späteren lutherischen Lehre, daß der Glaube selig mache, nicht die Werke.

Dank dieser Toleranz gelang es ihnen, zahlreiche verwandte Genossenschaften und Gemeinden an sich zu ziehen. Um so strenger waren sie dort, wo praktische Unterschiede bestanden. Auf dem zweiten Kongreß, zu Lhota, 1467, der der Gemeinschaft eine endgültige Organisation gab, nachdem der von Reichenau ihr Programm festgestellt – modern zu reden –, trafen auch Abgeordnete der Reste der Adamiten ein, um Vereinigungsvorschläge zu machen. Aber sie wurden abgewiesen. Der adamitische Kommunismus war den Brüdern zu weitgehend. Nnr vereinzelt, nach Abschwörung ihrer „Irrthümer,“ wurden die Adamiten zugelassen.

Andererseits zerschlugen sich auch die Vereinigungsverhandlungen mit den Waldensern, die bereits zu opportunistisch, zu bürgerlich geworden waren.

„Wir sprachen viel mit den Priestern der Waldenser,“ berichtet Bruder Gregor in seinem Traktat Wie sich die Menschen gegen die römische Kirche verhalten sollen, „besonders mit dem Priester Stephan, der sich niemals dazu hergab, die gottesdienstlichen Handlungen nach römischer Weise zu verrichten (wie es waldensische Priester pflegten, um sich vor Verfolgungen zu schützen. D. Ref.). Derselbe fungirte bei den Waldensern geheim unter den Deutschen, und deshalb wurde er später verbrannt. Er bot sich uns an, Alles zu verbessern, was an ihnen als dem Glauben Christi und einem christlichen Leben zuwiderlaufend erkannt werden würde, und es der apostolischen Schrift gemäß so einzurichten, wie es einst in der ersten Kirche war. Wir waren bereit und sollten es in der That durchführen, allein da sie mit den Priestern römischer Weihe befreundet waren, vertrauten sie sich ihnen und diese verhinderten es.“

So kam es zu keiner Vereinigung.

„Einige Waldenser,“ erzählt Gregor weiter, „gaben zu, daß sie sich von dem Wege ihrer ersten Vorfahren entfernt hatten; auch fand man bei ihnen dies schädliche, daß sie von den Leuten Geld nehmen, Reichthümer sammeln und sich um die Armen nicht kümmern, da es doch dem christlichen Glauben zuwider ist, daß ein Priester Schätze anhäufe, indem er weltliche Güter und selbst das eigene, von den Eltern ererbte Vermögen auf Almosen verwenden und die Armen in ihrer Noth nicht verlassen soll“ u. s. w. [8]

Aber das Schicksal der Waldenser sollte bald auch das der böhmischen Brüder sein.

Der Puritanismus durch den diese gegen die bestehende Gesellschaft protestirten und durch den sie sich von ihr absonderten, war gerade ein treffliches Mittel, in dieser Gesellschaft vorwärts zu kommen. Wir haben bereits darauf hingewiesen (S. 132), wie sehr dieser Puritanismus sich trotz mancher äußerlicher Aehnlichkeiten von der Askese des Urchristenthums unterschied. Predigten beide die Eitelkeit, ja Verwerlivhkeit der Lebensfreude und jeglichen Genusses, so war doch die urchristliche Askese mit stumpfsinniger Trägheit, der Puritanismus der Reformatiomzeiten dagegen mit unermüdlicher und umsichtiger Arbeitsamkeit seiner Bekenner verbunden. Dieser arbeitsame Puritanismus, das Evangelium der „Spar-Agnes,“ vermöchte es heute, im Zeitalter des hoch entwickelten großindustriellen Kapitalismus, freilich nicht, Lohnarbeiter, Bauern und Kleinbürger in Masse in eine sie befriedigende Lage zu erheben. Damals, im Beginn der Umwandlung der Naturalwirthschaft mit eingesprengter einfacher Waarenproduktion in allgemeine, zum Theil schon kapitalistische Waarenproduktion, war er jedoch ein höchst wirksames Mittel, Kleinbürger in Kapitalisten zu verwandeln, um so wirksamer, je mehr noch die Masse der Bevölkerung jener naiven Lebensfreudigkeit huldigte, welche im Allgemeinen mit der Naturalwirthschaft verknüpft ist, in der nicht für den Verkauf, sondern für den Selbstverbrauch, nicht für das Ansammeln, sondern für das Genießen produzirt wird. Neben dem Puritanismus muß die gute allgemeine Schulbildung der Brüder sie geschäftlich sehr gefördert haben. Hatte unter den Taboriten die Kriegsbeute eine Wohlhabenheit erzeugt, die ihrem Kommunismus ein Ende machte, so stellte sich unter den böhmischen Brüder bald Wohlhabenheit ein infolge ihres Fleißes, ihrer Genügsamkeit und Sparsamkeit und ihrer Intelligenz.

Ihre Wohlhabenheit warb ihnen aus den verschiedensten Kreisen zahlreiche neue Anhänger, die aus sehr weltlichen Gründen zu ihnen kamen. Mit dem Steigen der Wohlhabenheit empfanden aber auch viele der älteren Mitglieder die strenge Disziplin immer mehr als eine Fessel. Diese Disziplin gestattete im Interesse der Gleichheit nicht, daß die Einen reicher wurden als die Anderen, sie verpönte auch jede Anlegung des gewonnenen Vermögens in gewinnbringender Weise – im Handel oder im Wucher. Mit dem Wohlstand erwuchsen ferner Konflikte in Vermögenssachen, Prozesse wurden nothwendig, man brauchte die Staatsgewalt zum Schutze des Erworbenen.

So bildete sich nach und nach eine mildere Richtung unter den Brüdern aus, die noch nicht wagte, die ursprünglichen Vorschriften zu leugnen, die aber dahin strebte, daß sie nur als Ideale einer höheren, ausnahmsweisen Heiligkeit, nicht als allgemein verbindliche rechtliche Satzungen aufgefaßt werden sollten.

Der Zwiespalt zwischen beiden Richtungen trat zuerst zu Tage (Ende der siebziger Jahre), als zwei Herren und mehrere Ritter sich zur Aufnahme in die Brüderschaft meldeten. Die strengere Richtung wollte sie nur aufnehmen, wenn sie ihrem Vermögen und ihrem Stande entsagten. Die mildere Richtung wünschte ihnen das zu erlassen. Aber noch siegte die erstere, und nur jene unter den Bewerbern wurden zugelassen, die sich den Anforderungen der Gemeinschaft in Allem fügten.

Aber 1480 finden wir bereits einen Erfolg der gemäßigten Richtung: ein Gelehrter, Lukas, wurde aufgenommen, andere folgten. War deren Eintritt ein Erfolg der Gemäßigten, so trugen die gelehrten Elemente wieder dazu bei, diese zu stärken. umsonst kämpften die Strengen in Wort und Schrift, an ihrer Spitze der Weber Gregor aus Wotic, gegen die überhandnehmende Lauheit. Auf dein Kongreß, der Synode, zu Brandeis an der Adler (1491) siegte die gemäßigte Richtung. Es wurde beschlossen, daß Reiche und Hochgestellte fortan ohne Verzicht aus Vermögeu und Rang aufgenommen werden dürften. Man sollte sie nur darauf aufmerksam machen, wie leicht sie ohne diesen Verzicht ihr Seelenheil verlieren könnten. Die Forderung der gleichheit war damit, wenn nicht völlig beseitigt, so doch in das Gebiet der frommen Wünsche verwiesen.

In ähnlicher Weise wußten sich die frommen Brüder den Weg zur Theilnahme au der Staatsgewalt zu eröffnen. Sie erklärten auf demselben Kongreß:

„Wenn durch die weltliche Macht einem Bruder der Befehl zukäme, Richter, Geschworener oder Zunftmeister zu sein oder in den Krieg zu gehen, oder wenn er im Verein mit Anderen seine Zustimmung zur Folterung oder Hinrichtung eines Verbrechers zu geben hätte: so erklären wir, daß dies Dinge sind, zu denen sich ein reuiger Mensch nicht an gutem und freiem Willen drängen, sondern die er lieber fliehen und meiden soll. Kann er sich ihnen aber weder durch inständige Bitten noch auf andere Weise entziehen, so soll er der Macht nachgeben.“

Aber es wurde den Brüdern nicht nur erlaubt, an der staatlichen Zwangsgewalt theilzunehmen, ein Amt zu acceptiren oder in den Krieg zu ziehen, wenn sie dazu gezwungen würden, nein, sie durften fortan auch selbst diese Zwangsgewalt, den Richter, anrufen, ja sie durften auch Ausbeutung, Gastgewerbe und Handel treiben – natürlich nur im Nothfall.

Die strengere Richtung war wüthend über diese Beschlüsse, welche die bisherige Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit völlig über den Haufen warfen. In energischer Gegenagitation gewannen sie ihren Bischof, Mathias von Kunwald, für sich, schüchterten die Unschlüssigen ein oder rissen sie mit sich fort; Mathias berief auf ihr Drängen eine neue Synode ein, welche die Brandeiser Beschlüsse umstieß und die unbedingte Rückkehr zu den alten Grundsätzen verkündete.

Aber die Freude war kurz. Nicht innere Kraft, sondern Ueberrumpelung hatte den Strengen zum Siege verholfen. 1494, auf der Synode zu Reichenau, waren sie wieder in der Minorität, und wie sie jetzt erkannten, hatten sie jede Aussicht verloren, in der Gemeinschaft noch einmal ihre Grundsätze zur Geltung zu bringen. So kam es zur Spaltung. Ein Einigungsversuch, der 1496 gemacht wurde, führte blos zu gegenseitigen Vorwürfen und zur Verschärfung des Gegensatzes.

Die strengere Richtung hieß die kleinere Partei. Sie war geringer an Zahl, nur ungebildete Leute, Bauern und Handwerker, gehörten ihr an und sie stand im Widerspruch zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwickelung. So siechte sic dahin. Als 1527 mehrere Mitglieder der Sekte in Prag verbrannt wurden, verschwand sie aus der Oeffentlichkeit.

Die gemäßigte Richtung dagegen, verstärkt durch reiche und mächtige Leute, mit der Freiheit, eingreifen in die Staatsverwaltung und diese zu ihren Zwecken auszunutzen, mit einer Organisation, die den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwickelung entsprach, gedieh rasch; 1500 besaß sie schon 200 Kirchen; während des 16. Jahrhunderts wurde sie ein wichtiger politischer und ökonomischer Faktor in Böhmen. Wie stark der Adel in ihr vertreten war, ersieht man unter Anderem aus einer Bittschrift, welche von adeligen Mitgliedern der Brüdergemeinschaft 1575 an den Kaiser abgesandt wurde; sie ist von 17 Baronen und 141 Rittern unterzeichnet.

Jede Einrichtung schwand, die an den kommunistischen Ursprung erinnern konnte, auch in ihrer Literatur wurden, wie schon bemerkt, die kommunistischen Ueberlieferungen sorgfältig ausgemerzt. Hatten sie den Reichen den Zutritt gestattet, so kam es andererseits auch so weit, daß sich Bettler unter den Brüdern fanden. „So weit als möglich,“ sagt ihre Kirchenordnung von 1609, „bewahren wir unsere Leute vor dem Betteln.“ Eine unbedingte Verpflichtung, dem Bruder zu helfen, bestand nicht mehr.

„Aus den böhmischen Puritanern,“ sagt Gindely (a. a. O., II., S. 312), „ja aus den böhmischen Fanatikern, die zu Peter von Chelčický mehr wie zu Huß hielten, die nach Paulinischer Lehre die Ehelosigkeit vorzogen, keinen Eid schworen, kein Amt verwalteten, keinen Luxus sich gestatteten, keinen Reichthum duldeten, nicht auf Zinsen liehen, den Krieg verabscheuten, waren ganz wohlhabende Kapitalisten geworden, ganz ehrbare Ehemänner, ganz geschickte Gewerbsmänner, ganz anständige Bürgermeister und Geschworene, ganz tüchtige Generäle und Staatsmänner.“

Bis zum dreißigjährigen Krieg, zur Schlacht am weißen Berge, 1620, währte ihr Gedeihen. Diese Schlacht brachte die letzte Entscheidung in dem langen Kampf zwischen dem böhmischen Adel und dem Absolutismus der Habsburger, die den böhmischen Thron seit 1626 einnahmen, sie führte zur völligen Ausrottung des ersteren, zur Konfiskation seiner Güter und deren Vertheilung an die Jesuiten und höfische Kreaturen, sie brachte auch den böhmischen Brüdern den Untergang. Nur mühsam erhielten sich fortan hie und da noch spärliche Ueberreste, die schließlich durch den petistischen Grafen Zinzendorf auf seinen sächsischen Besitzungen in Herrnhut ein Asyl erhielten, 1722.

Aber in den Herrnhutern lebte weder der kommunistische Enthusiasmus der strengeren, noch die Weltklugheit der gemäßigten Richtung fort. Arme, verkümmerte Bauern und Handwerker, die nur dadurch der Verfolgung entgangen waren, daß sie in den entlegensten, rückständigsten Winkeln gelebt, haben sie von dem Wesen der Brüdergemeinschaft wenig mehr zu bewahren gewußt.

Im 16. Jahrhundert hörten die böhmischen Brüder auf, eine Rolle in der Geschichte des Sozialismus zu spielen. Im 17. Jahrhundert erlischt auch ihre Bedeutung für die allgemeine Geschichte.


Fußnoten

1. „Was für Ritter meint Ihr denn,“ schreibt er einmal, „denen es zukomme, Krieg zu führen? Etwa jene Zierbengel in den Burgen und Vesten, denen die Haare auf die Schultern herabhangen und die so kurze Röcke tragen, daß sie damit nicht einmal ihr Gesäß zu bedecken wissen? Haben die allein das Recht, Krieg zu führen, was machen dann in den Schlachten die Bürger und Bauern? ... Denn weder ein König, noch ein Fürst, noch ein Herr, noch der armseligste Edelmann führt den Krieg für sich allein, sondern sie Alle treiben die Bauern mit Gewalt dazu und leiten so alles Volk zu Mord und Missethat an.“ (Zitirt bei Palacky, a. a. O., IV., 1., S. 478, 479.)

2. Vgl. darüber Jaroslav Goll, Quellen und Untersnchungen zur Geschichte der Böhmischen Brüder, II, Peter Chelčický und seine Lehre, Prag 1882.

3. Die spätere Organisation der böhmischen Brüder ersieht man sehr gut aus des schon oben erwähnten J. A. Comenius Kirchengeschichte der Böhmischen Brüder, ihrer Kirchenordnung von 1609 und dem Glaubensbekenntniß, das sie dem König Ferdinand 1535 überreichten (alle drei enthalten in der deutschen Ausgabe der Kurzgefaßten Kirchen-Historie der Böhmischen Brüder des Comenius, Schwabach, verlegt bei „J. J. Enderes, hochfürstl. privil. Buch- und Disputationshändler,“ 1739). Die Kämpfe, welche zu dieser Organisation führten, sind eingehend geschildert in A. Gindely’s Geschichte der Böhmischen Brüder, Prag 1857, 2 Bände.

4. Comenius, a. a. O., S. 57.

5. Comenius, a. a. O., S. 296.

6. Zitirt bei Comenius, a. a. O., S. 328, Note.

7. Comenius, a. a. O., S. 45, 46.

8. Ein Auszug aus dem tschechischen Original mit deutscher Uebersetzung findet sich bei Goll, Quellen und Untersuchungen u. s. w., I., Der Verkehr der Brüder mit den Waldensern, Prag 1878, S. 98 ff.


Zuletzt aktualisiert am: 13.3.2011