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Karl Kautsky, Die kommenden Kongresse [Vorschau auf den Mainzer Parteitag und den Pariser Kongress], Die neue Zeit, 18. Jg., 2. Bd. (September 1900), S. 707–718. (Mainz Parteitag, 17.–21. September 1900.)
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Die nächsten Wochen werden eine Reihe sozialistischer Kongresse sehen, von denen fast alle höchst wichtige und ziemlich kontroverse Materien zu behandeln haben. Trotzdem darf man erwarten, dass sie alle einen höchst friedlichen Verlauf nehmen werden, höchstens mit Ausnahme der Parteitage unserer französischen Genossen, unter denen die schiefe Position, in welche die Sozialdemokratie durch die Ministerschaft Millerands gebracht wurde, vorhandene Gegensätze sehr verschärft und neue geschaffen hat.
Dagegen haben wir die besten Gründe, demjenigen Parteikongress eine ruhige Tagung vorauszusagen, der uns am nächsten berührt. Wohl sind die Gegensätze nicht überwunden, die in Stuttgart und Hannover aufeinanderplatzten, aber die Ereignisse des vergangenen Jahres haben ihnen keine neue Nahrung gegeben und die Festigkeit und Einheitlichkeit der Partei hat sich nicht im Geringsten verringert gezeigt.
Freilich ist eine neue Streitfrage aufgetaucht, die der Neutralisierung der Gewerkschaften; aber der Parteivorstand hat sie nicht auf die Tagesordnung des Parteitags gesetzt und es scheint auch keine große Neigung unter den meisten Parteigenossen zu herrschen, den Gegenstand dort zur Beratung zu bringen. Es wirkt anscheinend abschreckend, dass man auch hier wieder eine Entscheidung treffen soll gegenüber einer Richtung, die über das Stadium der Stimmungen, Bedenken und Wünsche nicht hinausgekommen ist, die sich noch nicht zu bestimmten Forderungen verdichtet hat, so dass jeder Vertreter der Neutralität etwas Anderes darunter versteht.
So erklärt z. B. Legien in den Sozialistischen Monatsheften, dass „diese sogenannte Neutralität von den Gewerkschaften stets anerkannt und geübt worden“. [1] Und doch verlangen die Bekämpfer der Neutralität nichts, als dass die deutschen Gewerkschaften bleiben, was sie bisher waren. In der „Gewerkschaft“ aber erklärt Bruno Pörsch, dass „die christliche Gewerkschaftsbewegung ihr Entstehen und ihre Existenz zum Teil den taktischen Fehlern verdankt, die sich viele freie Gewerkschaften bisher zu Schulden kommen ließen. ... Nun sind sonderbarer Weise in den freien Gewerkschaften Leute vorhanden, welche die Behauptung aufstellen, dass diese Organisationen bereits vollständig auf neutralem Boden beruhen und in parteipolitischer und religiöser Beziehung ihren Mitgliedern absolut keine Vorschriften machen. Diese Behauptung ist jedoch keineswegs den Tatsachen entsprechend.“ [2] Elm wiederum meint in der Neuen Zeit, „dass die großen Gewerkschaften aus dem besten Wege sind, sich zu neutralen Organisationen zu entwickeln“ [3], und Sombart jubelt gar entzückt, die bekannte Bebelsche Rede inaugurare eine „neue Epoche“ für die deutsche Gewerkschaftsbewegung.
Man sieht, unter der „Neutralität“ der Gewerkschaften kann man alles Mögliche verstehen. Selbständigkeit der Gewerkschaften gegenüber der Sozialdemokratie, Toleranz innerhalb der Gewerkschaften gegen Nichtsozialdemokraten, Vereinigung zu gemeinsamer gewerkschaftlicher Aktion mit politischen Gegnern, Verzicht auf die ökonomische und politische Aufklärung der Massen in den Gewerkschaften, formelle Neutralität, ideelle Neutralität, Gestattung der Neutralität unter bestimmten Umständen, Forderung der Neutralität unter allen Umständen und noch manche andere Auffassung ist mit dem Begriff der Neutralisierung der Gewerkschaften vereinbar.
Und nicht minder verschwommen wie der Begriff der Neutralität ist der der „Arbeiterpolitik“, die man der Politik der Arbeiterpartei als etwas davon ganz Verschiedenes entgegensetzt. Es gibt Leute, denen schon die Anstellung eines sozialdemokratischen Arztes bei einer Krankenkasse als ein Akt von „Parteipolitik“ erscheint.
Es fehlt also eine solide Grundlage für eine Entscheidung über die Frage der Neutralität.
Sollte man aus diesem Grunde von der Aufnahme der Frage in die Tagesordnung des Parteitags absehen, so würden wir das begreifen. Dagegen können wir Jenen nicht zustimmen, welche die Beratung deshalb ablehnen, weil sie die Partei nichts angehe.
Die Sozialdemokratie ist mehr als ein bloßer Wahlverein, als ein Apparat zur Produzierung von Reichstags-, Landtags- und Gemeinderatsmandaten, sie ist der ihrer Ziele bewusste Teil der Arbeiterbewegung, nicht nur der politischen Parteibewegung, sondern der Gesamtbewegung. Sie muss darnach streben, alle Teile der Arbeiterbewegung auf instinktiven zu bewussten Bewegungen zu machen.
Jede dieser Teilbewegungen hat, wenn sie erstarkt, das Bestreben, sich von den anderen loszulösen, jede erzeugt dann einen eigenartigen Kretinismus, der sie zum Selbstzweck und einzigen Mittelpunkt alles Handelns ihrer Mitglieder erhebt, aber die Aufgabe der bewussten Sozialdemokraten ist es gerade, diesen instinktiven Neigungen entgegenzutreten und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller großen Bewegungen des Proletariats und der Gemeinsamkeit ihres Zieles zu erwecken und zu verbreiten.
Dieser Aufgabe haben auch die Parteitage der deutschen Sozialdemokratie ebenso wie unsere internationalen Kongresse stets gedient. Die Fragen der gewerkschaftlichen Taktik und Organisation haben sie nicht minder beschäftigt als die der politischen Tätigkeit. Es schiene uns allerdings übertrieben, wenn jeder Parteitag gewerkschaftliche Fragen auf seine Tagesordnung setzte, wie es Legien noch in Köln 1893 wünschte, wo er sagte:
„Die Frage der gewerkschaftlichen Organisation beschäftigt den deutschen Parteitag heute bereits zum dritten Male. ... Ich halte diese Beschäftigung durchaus nicht für einen Nachteil, sondern würde es für Vorteilhaft halten, wenn jeder Parteitag neben dem Bericht über die politische Bewegung einen Bericht über den Stand der gewerkschaftlichen Bewegung erhalten würde, weil beide nach meiner Ansicht gleich wichtig sind“. [4]
Aber dass die Parteitage den gewerkschaftlichen Fragen ihre vollste Aufmerksamkeit widmen, erscheint uns allerdings unbedingt notwendig. Sollte Elm annehmen (nach seiner Dresdener Rede zu urteilen), der Schreiber dieses denke geringschätzig von den Gewerkschaften, so irrt er gewaltig.
Jede große Wendung in der deutschen Gewerkschaftsbewegung hat unsere Parteikongresse beschäftigt. Die Änderung, die der Fall des Sozialistengesetzes für die Gewerkschaften mit sich brachte, spiegelte sich in den Diskussionen des Hallenser Kongresses (1890) wieder. Als die Krise 1892 und 1893 die Gewerkschaften bedrängte, deren Mitgliederzahl von 287,659 (1891) auf 229,810 (1893) herabging, da erstand eine weitere Reihe von Veranlassungen für die Partei, sich mit den Gewerkschaften zu beschäftigen. Gerade diese waren es damals, die für das innigste Zusammengehen von Partei und Gewerkschaft am energischsten plädierten.
Sollten das Wachstum der katholischen Gewerkschaften einerseits, die Zunahme der Arbeitslosigkeit in Folge der einsetzenden Krise andererseits tiefergehende Wirkungen auf die deutsche Gewerkschaftswelt üben, dann, wird auch wieder die Zeit kommen, in der Gewerkschaftsangelegenheiten auf unseren Parteitagen ausführlicher besprochen werden.
Ganz hat ja die Beschäftigung mit gewerkschaftlichen Fragen auf unseren Parteitagen nie geruht. Und bemerkenswert für die Verbindung zwischen der gewerkschaftlichen und der „parteipolitischen“ Bewegung, die auch jetzt, in den Tagen der Neutralitätsschwärmerei, gepflegt wird, sind die Worte, die den diesjährigen Bericht des Parteivorstandes einleiten:
“Im Einverständnis mit der Fraktion des Reichstags hatte es die Generalkommission der deutschen Gewerkschaften übernommen, die Agitation gegen die Zuchthausvorlage zu leiten und zu betreiben. Bei dieser Vereinbarung war vorausgesehen, dass der zweite Teil der Agitation bei der Wiederaufnahme der parlamentarischen Verhandlungen beginnen und von der Partei ausgeführt werden sollte.“ [5]
Will man dieses planmäßige Zusammenwirken von Partei und Gewerkschaft, das auf ideeller Übereinstimmung beruht, Neutralität nennen, dann können wir mit dieser Neutralität vollauf zufrieden sein.
Von den Punkten, die auf die Tagesordnung des Kongresses gesetzt sind, werden sich wohl die lebhaftesten Debatten über die Frage der Beteiligung an den Landtagswahlen in Sachsen und Preußen entspinnen. Aber gewaltige Stürme dürfte auch sie nicht entfesseln.
Wohl ist bisher keine der sich hier gegenüberstehenden Richtungen von der anderen überzeugt worden. In ihren Auffassungen ist keine Änderung zu merken, die Gegensätze stehen sich noch unvermittelt gegenüber, aber in einem Punkte scheint eine große Wandlung vorgegangen zu sein: Wir dürfen heute hoffen, dass, wenn die Entscheidung zugunsten der Beteiligung fällt, dadurch nicht mehr die Einheitlichkeit unserer Partei gefährdet wird. Damit ist aber ungeheuer viel gewonnen. Wie hoch mau auch die Vorteile einschätzen mag, die der Partei aus dem Eintreten in die fraglichen Wahlkämpfe entspringen können, sie würden mehr als aufgewogen durch den Schaden, der uns erwüchse, wenn dieses Eintreten zur Zerklüftung der Partei, freilich nicht zur Spaltung, aber doch zur Lockerung ihres Gefüges führte. Und auf der anderen Seite sind die Vorteile, die aus der Beteiligung entspringen könnten, kaum zu erringen, wenn nicht die Partei einheitlich und geschlossen in den Wahlkampf geht. Die Nachteile, welche die Gegner der Beteiligung von dieser befürchten, bedrohen uns umso mehr, je mehr jedem Wahlkreis volle Freiheit des Handelns gegeben wird.
Soweit man aus der bisher bekannt gewordenen Stimmung Schlüsse ziehen darf, ist zu erwarten, dass, wenn die Beteiligung beschlossen wird, dies unter Bedingungen geschieht, die am ehesten einen Erfolg versprechen, eine Schädigung am wenigsten befürchten lassen.
Die Debatten über diesen Punkt werden aber wohl die einzigen sein, die einem größeren inneren Gegensatz entspringen. Wir sehen wenigstens keine Ursache, bei der Erörterung der Parteiorganisation, der Handelspolitik oder der Weltpolitik das Auftauchen tiefgehender Differenzen zu erwarten.
An Meinungsverschiedenheiten über die Organisationsform, die wir uns jetzt, nach dem Wegfall des Verbindungsverbots zu geben haben, ist freilich kein Mangel. Mannigfache Anschauungen, von der Befürwortung des Verbleibens bei der bestehenden Organisationsform bis zu der ihrer Umwandlung in einen geschlossenen stramm zentralisierten Verein, sind aufgetaucht. Der Wunsch der Mehrheit der Genossen scheint dahin zu gehen, an Stelle der bestehenden losen Organisation eine größere Geschlossenheit zu setzen. Aber über das Wie und Wieweit der Zusammenfassung gehen die Meinungen noch auseinander.
Es dürften jedoch nicht theoretische Anschauungen, etwa über Zentralismus und Föderalismus, für das schließlich Ergebnis entscheidend sein, sondern bloß Gründe praktischer Zweckmäßigkeit. Nicht einem Kampfe von Gegensätzen wird es entspringen, sondern nüchterner Erörterung der maßgebenden Faktoren.
Was die Zoll- und Handelspolitik anbelangt, so hat sich bereits der Stuttgarter Parteitag mit ihr beschäftigt, soweit die prinzipielle Seite in Frage kommt, und viel mehr wird der Mainzer nicht tun können, da noch kein genügendes Material vorliegt, zu der Zoll- und Handelspolitik der Regierung in Bezug auf die ablaufenden Handelsverträge praktisch Stellung zu nehmen. Doch hat diesmal der Parteitag die Frage in Verbindung mit der der Verkehrspolitik zu behandeln.
In der Tat hängen beide Gebiete auf das Engste zusammen, der Schreiber dieses hat daher auch keine Ursache gesehen, 1898 auf den Wunsch Vollmars hin in seinem Resolutionsentwurf an Stelle der Handelsfreiheit die Verkehrsfreiheit zu fordern. Diese ist nicht ein gänzlich anderer, sondern nur ein weiterer Begriff als jene: Die Verkehrsfreiheit schließt die Handelsfreiheit ein, bedingt aber auch eine Verkehrspolitik, die im Einklang mit der Freihandelspolitik steht. Das ist sehr wichtig heute, wo die Verkehrsmittel Monopole geworden sind und wo der Handelsverkehr in gänzlicher Abhängigkeit von der Politik dieser Monopolisten steht – seien es die Regierungen oder die Männer der hohen Finanz. Dieselben Wirkungen, wie durch Schutzzölle, kann man auch schaffen durch Erschwerungen des Verkehrs, durch Verhinderung des Baues von Kanülen, durch die Gestaltung der Eisenbahntarife u. s. w.
Die Veränderung der Resolution, die Vollmar bewirkte, war daher entschieden eine Verbesserung, wenn auch in einem anderen Sinne, als dieser meinte. Der „Giftzahn“ wurde dem „Bandwurm“ dadurch nicht ausgerissen, sondern geschärft.
Unsere Partei ist stets für eine Erleichterung und Förderung des Verkehrs eingetreten. Wird der Mainzer Parteitag diese Seite der Frage in den Vordergrund treten lassen, dann ist bei diesem Punkte das Auftreten von Gegensätzen überhaupt nicht zu erwarten. Sollte dagegen die Frage der Handelspolitik nochmals zu eingehender Beratung gelangen, dann würden freilich jene Meinungsverschiedenheiten wohl wieder auftauchen, die schon in Stuttgart sich geltend machten. Aber das Ergebnis dürfte auch ein ähnliches sein.
Allerdings ist die Sozialdemokratie nicht eine Partei des Freihandels unter allen Umständen. Aber sie erkennt an, wie Engels in seinem Artikel über „Schutzzoll und Freihandel“ sagt, auf den sich Schippel in Stuttgart berief, dass von einer gegebenen Stufe der Entwicklung an „der Zollschutz eine unerträgliche Fessel wird für jedes Laud, das mit Aussicht auf Erfolg eine unabhängige Stellung auf dem Weltmarkt erstrebt.“ Dass Deutschland dieses Stadium erreicht hat, hat der Stuttgarter Parteitag in seiner Resolution ausgesprochen.
Sind seitdem Tatsachen ausgetreten, welche diese Anschauung erschüttern? Die Pariser Weltausstellung hat seitdem aufs schlagendste bekräftigt, was 1898 schon kein Geheimnis mehr gewesen, „dass die deutsche Industrie im Allgemeinen weit genug entwickelt ist, des Zollschutzes entraten zu können“. Gerade die zwei Jahre der Prosperität seitdem haben aber auch deutlich bewiesen, dass die hauptsächlichste Wirkung des Zollschutzes in einem Lande hochentwickelter Industrie die Begünstigung der Kartelle ist, welche „die Aufgabe haben, die Preise der Waren über ihr normales Niveau zu erheben, wodurch sie stets die Masse der Konsumenten und speziell die Arbeiter, oft aber auch die Industrie selbst schädigen, die durch den 'Schutz der nationalen Arbeit' angeblich gefördert werden soll, der sie die notwendigsten Rohmaterialien und Hilfsstoffe (Eisen, Kohle) verteuern“.
Aber allerdings sind seit dem Stuttgarter Parteitag zwei neue Erscheinungen zu Tage getreten, die geeignet sind, den Drang nach Schutzzöllen in Deutschland zu stärken.
Die eine ist das Auftauchen der industriellen Konkurrenz der Vereinigten Staaten in Deutschland selbst. Dass die Amerikaner anfangen, nicht bloß Rohmaterialien und Lebensmittel, sondern auch Industrieprodukte in größeren Mengen auszuführen, war freilich schon 1898 bekannt. Aber seitdem hat diese Ausfuhr die raschesten Fortschritte gemacht und sie hat angefangen, der deutschen Industrie in ihrem eigenen Land Konkurrenz zu machen. Der Wert der industriellen Ausfuhr der Vereinigten Staaten betrug 1875 126 Millionen Dollar, 1890 157 Millionen und 1895 erst 183 Millionen, eine ungemein langsame Zunahme. Von da an stieg sie dagegen auf
1896 |
228 Millionen Dollars |
1897 |
277 Millionen Dollars |
1898 |
290 Millionen Dollars |
1899 |
338 Millionen Dollars |
1900 [6] |
432 Millionen Dollars |
Also in den zwanzig Jahren von 1875 bis 1895 eine Zunahme von 57 Millionen Dollar, in den einen Jahr von 1899 bis 1900 dagegen eine Zunahme von fast 100 Millionen, 100 Millionen Mark. Das ist recht vielversprechend.
Besonders überraschend ist das Wachstum der Ausfuhr von Eisen- und Stahlprodukten: 1895 32 Millionen, 1900 122 Millionen Dollar. Sie hat sich binnen fünf Jahren verdreifacht.
Aber die Frage, welche diese Ziffern hervorrufen, wird ganz falsch gestellt, wenn man sie dahin formuliert: Wie können wir uns der amerikanischen industriellen Invasion erwehren? worauf natürlich die Antwort naheliegt: Durch den Schutzzoll. Wer die Frage in dieser Form stellt, gibt damit von vornherein die deutsche Industrie verloren. Denn mit der Beherrschung des inneren Marktes kommt diese nicht mehr aus. Sie muss den Wettbewerb mit der amerikanischen Industrie auf dem Weltmarkt, nicht bloß auf dem inneren Markt aufnehmen können. Kann sie auf dem Weltmarkt den Amerikanern die Spitze bieten, dann braucht sie sie auf dem inneren Markt nicht zu fürchten. Kann sie das nicht, dann ist sie zu allmählige, wenigstens relativem, Rückgang verurteilt, wie die Frankreichs, weil sie über den inneren Markt hinausgewachsen ist.
Zwei Wege gibt es für die deutschen Kapitalisten, die Konkurrenzfähigkeit ihrer Industrie zu stärken. Entweder sie suchen den Amerikanern ebenbürtig zu werden durch Verminderung der Produktionskosten, das heißt durch Verbilligung der Rohmaterialien, und Erhöhung, der Produktivkraft der deutschen Arbeit, also physische und geistige Hebung der Arbeiterschaft; mit anderen Worten, durch Aufhebung der Lebensmittel- und Rohstoffzölle, Verbesserung des Schulunterrichts, Erweiterung des Arbeiterschutzs, völlige Freiheit der Arbeiterorganisationen. Oder sie verzichten auf diesen für sie allerdings nicht ganz bequemen Weg und trachten eine Machtstellung im Reich zu gewinnen, die es ihnen ermöglicht, auf dem inneren Markte so hohe Preise zu erzielen, dass sie, dank dem Extraprofit, der ihnen, daraus entspringt, auf dem, Weltmarkt unter den Produktionskosten verkaufen können: also Schutzzölle, Kartelle, Niederhaltung der Arbeiterklasse. Man sollte meinen, die Wahl könnte für uns nicht schwerfallen. Nicht aus Rücksicht auf die amerikanischen Kapitalisten, sondern auf die deutschen Arbeiter müssen wir am Streben nach Freihandel festhalten, trotz der amerikanischen Schutzzollpolitik.
Die Idee, etwa gegenüber den übrigen Industriestaaten eine liberale Handelspolitik zu befolgen und den Amerikanern den Hochschutzzoll mit gleicher Münze zurückzuzahlen, ist absurd. Das hieße Amerika den Zollkrieg erklären und dabei würde unsere Industrie noch tiefer geschädigt, als bei dem chinesischen Rachekrieg. Es plant denn auch kein ernsthafter Handelspolitiker einen derartigen Zollkrieg. Womöglich noch törichter ist aber die Methode, an dem Niesen, den man nicht niederwerfen kann, seine üble Laune durch kleinliche Nadelstiche auszulassen, die für hygienische und ähnliche Maßregeln ausgegeben werden. Diese Art der Zollpolitik Amerika gegenüber schließt sich würdig der Politik der deutschen Arbeiterklasse gegenüber an: auch da rächt man sich an dem Riesen, den inan nicht überwinden kann, durch Nadelstiche, die ihn nur irritieren und aufbringen, ohne ihn im Geringsten zu schwächen.
Wir haben alle Ursache, aus gutem Fuße mit Amerika auch in der Handelspolitik zu leben und durch unser Beispiel die antischutzzöllnerischen Richtungen in Amerika zu stärken. Aber freilich, die internationale Politik der Bourgeoisie ist das Gegenteil von der des Proletariats: jene die Politik des feindseligen Misstrauens gegen die Klassengenossen der anderen Nationen, diese die des Bewusstseins der internationalen Interessensolidarität der Klassengenossen. Beim Militarismus, bei den Zöllen, beim Arbeiterschutz u. s. w. sagt die Bourgeoisie jeder Nation zu den anderen: Fängt ihr an mit der Reform, wir werden folgen. Die Proletarier dagegen verlangen überall vom eigenen Land, es solle kühn vorzugehen mit der Reform. Es werde dadurch die anderen zwingen, nachzufolgen.
Leider hat der proletarische prinzipielle Standpunkt in der Zollfrage zunächst keine Aussicht auf Erfolg. Praktisch wird bei den Verhandlungen über die Handelsverträge die Frage nicht lauten: ob Freihandel, ob Schutzzoll, sondern ob Erhöhung der Schutzzölle oder nicht. Wie in allen großen Fragen, die in letzter Zeit auftauchten, wird, mau es auch hier für einen großen Erfolg halten müssen, wenn es gelingt, den Ansturm der agrarisch-scharfmacherischen Koalition abzuwehren.
Mehr noch als durch die industrielle Konkurrenz Amerikas wird ihre Position gestärkt werden durch die Krise, die eben einzusetzen beginnt.
Es ist klar, dass alle schutzzöllnerischen Bestrebungen umso mehr verstärkt und ihre Forderungen umso mehr in die Höhe geschraubt werden, je mehr der Markt mit Waren überschwemmt wird, je tiefer die wirklichen Preise unter das Niveau der Produktionspreise sinken und je schlimmer die Zwangslage, in der sich die Verkäufer befinden. Freilich sind auch die höchsten Schutzzölle in solchen Situationen nur der Strohhalm, an den der Ertrinkende sich klammert. Weder wurde die russische Industrie heute noch die amerikanische vor fünf Jahren durch die höchsten der geltenden Schutzzölle vor furchtbaren Krisen bewahrt. Aber man hat gut dem Ertrinkenden zu demonstrieren, dass der Strohhalm ihn nicht rettet. Er greift doch darnach.
Theoretisch haben allerdings selbst bürgerliche Ökonomen anerkannt, dass die periodische Wiederkehr der Krisen nur beseitigt werden kann durch die planmäßige Organisation der Produktion. Merkwürdigerweise kamen sie erst dann zu dieser Erkenntnis, als sie Gebilde erwachsen sahen, die bestimmt schienen, diese Organisation auf kapitalistischer Grundlage zu vollziehen: die Unternehmerverbände.
Die paar Jahre andauernder Prosperität haben genügt, selbst theoretisch durchgebildete Sozialisten an diese Wirkung der Unternehmerverbände glauben zu lassen und die Marxsche Krisentheorie ins alte Eisen zu werfen. Aber heute schon zeigt sich’s, wie fern wir auch unter dem Regime der Unternehmerverbände von der Organisation der Produktion sind und dass die alte Wahrheit unerschüttert bleibt: die gesellschaftliche Organisation der Produktion, die immer notwendiger wird, kann nicht auf der Grundlage des Privateigentums, sondern nur auf der des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln vollzogen werden.
Diese Wahrheit werden wir dem Proletariat umso eindringlicher auseinanderzusetzen haben und es wird für sie umso empfänglicher sein, je höher die Wogen der Schutzzöllnerei in der durch die Krise aufgewühlten kapitalistischen Welt gehen.
Im engsten Zusammenhang mit der Handelspolitik steht die Weltpolitik. Noch weniger als bei dem ersteren erwarten wir bei dem letzteren Punkte das Auftauchen von schroffen Gegensätzen.
Das Referat darüber war dem großen Toten zugedacht, den wir jüngst begraben haben. Bei jedem Punkte der Verhandlungen wird man sein Eingreifen schmerzlich vermissen; viel eher und sinnenfälliger als nach dem Tode von Fr. Engels werden wir nach dem seinen daran gemahnt werden, was wir in ihm verloren, weil er ein Mann der Aktion war und unter uns wirkte, weil er nicht bloß indirekt, durch Briefe, Artikel, Bücher, sondern auch unmittelbar, mit seiner Person, überall da eintrat, wo es eine Entscheidung galt.
Aber wenn die Verhandlungen über die Weltpolitik uns am offenkundigsten daran mahnen werden, dass Liebknecht nicht mehr persönlich unter uns weilt, so werden sie auch am offenkundigsten zeigen, dass sein Geist nicht von uns gewichen ist. Mit voller Einmütigkeit, das dürfen wir erwarten, wird der Parteitag den scharfen und entschiedenen Widerspruch gegen die Weltpolitik im Allgemeinen und die Chinapolitik im Besonderen gutheißen, der in Liebknecht seinen kraftvollsten Vertreter fand.
Allerdings, vor ein, zwei Jahren, als die große Welle der „Krisis des Marxismus“ über die deutsche Sozialdemokratie hinwegflutete und verschiedene schlecht befestigte Überzeugungen erheblich erschütterte, damals, als das Ende aller Krisen und Katastrophen proklamiert wurde, da erhoben sich auch Stimmen in unserer Mitte zu Gunsten der Kolonialpolitik im Allgemeinen und der „Pachtung“ von Kiautschou im Besonderen.
Diese Stimmen sind verstummt, entweder weil ihre Träger eines Besseren belehrt sind oder weil sie die allgemeine Parteimeinung in diesem Punkte für so übermächtig halten, dass es ihnen vergeblich erscheint, sich ihr entgegenstemmen zu wollen.
Einmütigkeit in der Partei ist unter allen Umständen erfreulich. Die gegenwärtige Einmütigkeit über die Weltpolitik ist aber von ganz besonderer Bedeutung. Denn die Fragen des Militarismus und der überseeischen Eroberungspolitik sind heute praktisch diejenigen, die am schroffsten den Gegensatz zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Welt offenbaren und die die schärfsten Kämpfe zwischen beiden Welten entfesseln.
Der große Kampf zwischen Manchestertum und staatlicher Sozialreform, den die Sozialdemokratie begonnen, ist theoretisch längst zu ihren Gunsten entschieden, praktisch aber haben wir auf den Gebieten der Sozialreform wie auf denen der demokratischen Reform völlige Stagnation: kleine Fortschritte hier werden aufgewogen durch kleine Rückschritte dort. Wie Faust im kritischen Moment seines Lebens zu alt ist, noch zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein, so ist das Proletariat heute noch zu schwach, um allein erhebliche Fortschritte zu erringen, schon zu stark, um erhebliche Rückschritte sich gefallen zu lassen. Die Bourgeoisie hat aber in der inneren Politik keine großen Ziele, keine Ideale mehr, sie lebt von der Hand in den Mund.
Anders in der auswärtigen Politik. Als in den siebziger Jahren das damalige kapitalistische System allenthalben zusammenkrachte, glaubten wir, der Anfang des Endes der bürgerlichen Gesellschaft sei gekommen. Das war ein Irrtum; noch einmal erhob sie sich, noch einmal schuf sie sich ein großes Ziel – aber nicht mehr in der inneren, sondern in der äußeren Politik. Das neue bürgerliche Ideal ist die Eroberung eines großen Kolonialreiches: dies ist der bürgerliche Zukunftsstaat, an den die überschwänglichsten Hoffnungen geknüpft, für den die riesenhaftesten Mittel aufgewendet werden. Während die innere Politik versumpft, herrscht reges Leben, wilde Bewegung in der kolonialen Eroberungs-politik; sie ist die Einzige, die noch Enthusiasmus und Hoffnungsfreudigkeit unter den bürgerlichen Elementen erzeugt, welche der inneren Politik mit wachsender Hoffnungslosigkeit und Unlust gegenüberstehen.
Wo es aber Bewegung und Kampf im politischen Leben gibt, da muss auch die Sozialdemokratie eingreifen, als Mitkämpferin oder als Gegnerin. Diese Partei des Kampfes kann nicht tatlose Zuseherin bleiben. Hier aber kann sie nur als Gegnerin eingreifen. Das erfordern ihre Grundsätze, wie die gesellschaftlichen Interessen, die sie vertritt.
Als demokratische Partei muss sie das Selbstbestimmungsrecht auch der außereuropäischen Völker achten. Als Feindin jeder Ausbeutung und Unterdrückung muss sie die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung auch außerhalb Europas bekämpfen. Der oben erwähnte Verteidiger der „Pachtung“ Kiautschous [Jiaozhou] erklärt, er erkenne nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden an, die höhere Kultur habe ihnen gegenüber das höhere Recht, nicht die Eroberung, sondern die Bearbeitung des Bodens gebe den geschichtlichen Rechtstitel auf seine Benützung. Aber kamen die Engländer nach Ostindien oder nach dem Transvaal, die Deutschen nach Kiautschou, die Franzosen nach Tonkin und Madagaskar als Bearbeiter des Bodens oder als seine Eroberer und als Ausbeuter der Bearbeiter?
Und welches ist die höhere Kultur, die sie den Kolonien bringen? Die Liste der Kolonialgräuel aller Weltpolitik treibenden Nationen schwillt entsetzlich an und zeigt, dass die Degradierung durch die Kolonialpolitik nicht die zufällige Eigentümlichkeit der einen oder der anderen Nationalität, sondern das notwendige Ergebnis jeder kapitalistischen Kolonialpolitik ist. Der Europäer bringt den Kolonien nicht seine Kultur, sondern übernimmt von ihnen ihre Barbarei, ja er übertrumpft noch die Bestialität der Barbarei, indem er sie mit den raffinierten Methoden und den unwiderstehlichen Machtmitteln der Zivilisation übt.
Aber auch sein Klasseninteresse muss das Proletariat gegen die Weltpolitik treiben. Ihre Vorteile fallen den Klassen zu, die seine ärgsten Feinde sind, dem Militär, der Bürokratie, der hohen Finanz. Die Vorteile, die sie für die industrielle Entwicklung mit sich bringt, sind problematisch und könnten durch Hebung der Kaufkraft, der Lebenshaltung, der Kultur der Massen im Inland weit sicherer und segensreicher erzielt werden. Die letzte Konsequenz der Weltpolitik aber ist der Weltkrieg, ist ein Kampf um die Beute, um das Gleichgewicht der Welt, ein Kampf, der Europa mit gräuelvoller Verheerung bedroht.
Dieser Politik gegenüber gilt es kein Zaudern, keine Zweideutigkeiten und Bedenken: man muss sie entweder skrupellos mitmachen mit all den Rüstungen und Verwüstungen, die sie erfordert, oder man muss ihr entschieden von Anfang an entgegentreten, was man aber mit Erfolg nur kann, wenn man dem bürgerlichen Ideal ein anderes entgegenzusetzen hat.
Das kann nur das Proletariat, das dem bürgerlichen Zukunftsstaat, der auf dem Wasser und hinter dem Wasser liegt, den sozialistischen Zukunftsstaat entgegenstellt, der festen Boden unter den Füßen hat, weil er im eigenen Lande liegt, und das dem Kampfe der Ausbeuter um die Beute die internationale Solidarität der Ausgebeuteten gegenübergestellt.
Solange die Bourgeoisie noch revolutionär war, ging ihre äußere Politik im Wesentlichen in derselben Richtung wie die des proletarischen Sozialismus, nur mit dem Unterschied, dass diese energischer, konsequenter auftrat und dynastischen Sonderbestrebungen keine Konzessionen machte. Bourgeoisie wie Proletariat forderten die Einigung Deutschlands und Italiens, die Unabhängigkeit Polens, Freundschaft gegen Frankreich und Bekämpfung Russlands. Heute ist es die auswärtige Politik, in der die praktischen, nächsten Ziele der Bourgeoisie und des Proletariats am weitesten auseinandergehen.
Das konnte verborgen bleiben, solange die Frage der Kolonialpolitik vorwiegend eine theoretische Frage war, die relativ geringe Opfer erforderte. Es musste sofort zu Tage treten, sobald diese Politik große Konflikte hervorrief und dem Wolk große Lasten aufbürdete. Was alle theoretischen Auseinandersetzungen über Militarismus und Weltpolitik nicht vermochten, das hat der chinesische Kreuzzug bewirkt: er hat die volle Einmütigkeit der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der überseeischen Expansionspolitik hergestellt.
Aber nicht der deutschen allein.
Gleich dem Mainzer Parteitag wird sich auch der Pariser Kongress mit der Weltpolitik zu beschäftigen haben. Seine reiche, unseres Erachtens viel zu reiche, Tagesordnung umfasst auch die Besprechung des Völkerfriedens, des Militarismus, der Kolonialpolitik.
Aus der ganzen Tagesordnung erscheinen uns diese Punkte, namentlich der letztere, als die weitaus wichtigsten. Nicht nur deswegen, weil, wie eben bemerkt, auf diesem Gebiet der Gegensatz zwischen proletarischer und bürgerlicher Weltanschauung heute am lebendigsten zu Tage tritt, weil auf diesem Gebiet heute die größten Entscheidungen fallen, sondern auch deswegen, weil hier die sozialdemokratische Aktion zur Unfruchtbarkeit verurteilt ist, wenn sie nicht von vornherein als bewusste und entschiedene internationale Aktion auftritt.
Der Protest etwa der deutschen Sozialdemokratie gegen die deutsche Expansionspolitik würde seine Spitze gegen die eigene Nation und nicht gegen die Regierung richten, wenn er nicht begleitet wäre von dem Protest der englischen, französischen, italienischen, russischen, amerikanischen Sozialdemokratie gegen die Expansionspolitik ihrer Regierungen. Einmütig hat sich bereits die gesamte internationale Sozialdemokratie gegen Imperialismus und koloniale Expansion erhoben, sie hat der bürgerlichen Weltpolitik die Politik der Proletarier aller Länder entgegengesetzt; aber der Pariser Kongress bietet die Gelegenheit, diese Einmütigkeit in besonders sinnenfälliger Weise zu bekunden und damit eine Demonstration von größter moralischer und politischer Wirkung zu erzielen.
An der Einmütigkeit der sozialdemokratischen Parteien aller Länder in der Verurteilung der kolonialen Eroberungspolitik ist ja nicht zu zweifeln. Unsicher erscheint bloß die Haltung eines Teiles der englischen Gewerkschaften, die, dank ihrer politischen Geschlechtslosigkeit, auch in dieser entscheidenden Frage sich schwer von der bürgerlichen Bevormundung emanzipieren werden. [7]
Diese Manifestation des proletarischen Kongresses wird eine ganz andere Bedeutung haben, als die Beschlüsse des Friedenskongresses der Regierungen im Haag und die der Friedenskongresse bürgerlicher Ideologen.
Der Haager Kongress war von vornherein eine Komödie: ein Friedenskongress der Militärstaaten, die, bis an die Zähne gerüstet, einander eifersüchtig belauern, die alle auf Raub ausgehen und bei jedem Raubzug einander in die Haare zu geraten drohen!
Der Haager Kongress zeigte nur eins: dass selbst die dringendste Finanznot, selbst die vollste Einsicht in die Verderblichkeit des herrschenden Militärsystems und der Expansionspolitik doch nicht den Regierungen die Kraft und den Willen gibt, diesen Krebsschäden ein Ende zu machen, dass nur von unten aus die Völker von dem Alpdruck erlöst werde» können.
Dass aber auch die Bourgeoisie dazu nicht berufen ist, zeigen die bürgerlichen Friedenskongresse. Sicher, deren Friedenssehnsucht ist vollkommen echt; die bürgerliche Welt bedarf des Friedens; aber sie selbst erzeugt Gegensätze zwischen den Nationen und Kriegsursachen, die sie nicht beseitigen kann und beseitigen will. Die Friedensapostel repräsentieren nicht nur keine Macht in der bürgerlichen Welt, sie, die für den Frieden in abstracto so überschwänglich schwärmen, sie können ihre Kongresse nur abhalten unter der Bedingung, dass keine der konkreten Streitfragen aufs Tapet kommt, die den Frieden bedrohen. Französische und deutsche Friedensfreunde z. B. können nur unter der Bedingung friedlich zusammen tagen, dass die Frage der Reichsland völlig ignoriert wird.
Ganz anders die internationalen Kongresse des Proletariats. Sie sind nicht Kongresse einzelner Ideologen, hinter denen keine reale Macht steht, sie sind Kongresse von Parteien, die teilweise schon die stärksten ihres Landes, teilweise im Begriff sind, es zu werden. Aber nicht allein darin beruht die Kraft ihrer Friedensbürgschaft, sondern vor Allem darin, dass ihr Eintreten für den Weltfrieden nicht auf bloßem Friedensbedürfnis, auf frommen Wünschen beruht, sondern auf dem Vermögen, sich über alle konkreten internationalen Streitfragen zu einigen. Für die deutschen und französischen Sozialdemokraten ist die elsässisch-lothringische Frage kein Streitobjekt, für die deutschen, russischen, polnischen nicht die polnische Frage, in der englischen Sozialdemokratie wird der Transvaalzug so energisch verurteilt, wie nur irgendwo außerhalb Englands, die amerikanischen Sozialdemokraten wollen von der Annektierung der Philippinen nichts wissen, das Nationalitätenproblem, an dem der österreichische Staat zu Grunde geht, hat die österreichische Sozialdemokratie in ihren Reihen bewunderungswürdig gelöst u. s. w.
Es ist einer der Widersprüche, an denen die bürgerliche Gesellschaft krankt, einer, an dem sie vielleicht zu Grunde gehen wird, dass sie umso mehr des Friedens bedarf, je mehr sie sich entwickelt, dass sie umso empfindlicher gegen jede kriegerische Störung wird und dass sie selbst doch immer wieder neue Kriegsursachen und neue, immer gewaltigere kriegerische Zerstörungsmittel schafft. Noch sind die nationalen Probleme nicht völlig gelöst, die sie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts aufgeworfen, noch existiert Österreich, noch droht die orientalische Frage immer wieder von Neuem Osteuropa in Brand zu setzen, und doch fügt sie zu diesen Problemen ungeheure neue hinzu durch ihre Weltpolitik, durch die Aufteilung Afrikas und Ostasiens. Und zu den Lasten der stets wachsenden stehenden Heere gesellen sich nun auch die des Flottenwettrüstens.
Dagegen zeigt das Proletariat heute schon auf seinen internationalen Kongressen, dass seine Weltpolitik den Frieden bringt, dass seine Politik den Gegensatz überwindet, der der bürgerlichen Welt immer steigende Lasten auferlegt, sie immer mehr zerrüttet; dass sie dem Friedensbedürfnis, das bereits die heutige Gesellschaft in steigendem Maße erzeugt, auch die tatsächliche Sicherung des Friedens und die Segnungen des Friedens hinzufügt.
Wenn es Leute gibt, die da meinen, der Klassenkampf beziehe sich nur auf die innere Politik, dem Ausland gegenüber müssten alle Klassen der Nation zusammenstehen, so wird heute diese Ansicht entschieden ad absurdum geführt. Gerade in der auswärtigen Politik tritt heute der Abgrund am deutlichsten zu Tag, der die bürgerliche von der proletarischen Weltanschauung trennt; gerade hier zeigt sich’s heute am deutlichsten, dass es zwischen beiden keine Vermittlung gibt, dass einem Hub und Drüben nur gilt.
Darum dürfen wir auch erwarten, dass der Mainzer wie der Pariser Kongress wegen der proletarischen Weltpolitik, die sie bekräftigen, die wütendsten und gehässigsten Angriffe der Bourgeoisie auf sich lenken werden. Aber diese Angriffe werden nur beweisen, dass beide Kongresse ihre Schuldigkeit getan, die Klarheit und Kraft des Proletariats gefördert haben.
Wir wünschen den Kongressen den besten Erfolg!
1. [Carl Legien, Neutralisierung der Gewerkschaften, Sozialistische Monatshefte, 4 = 6 (Juli 1900), H. 7190007, S. 369–376. (Zitat auf S. 369.)]
2. Leitartikel des Gewerkschafter vom 28. August 1900. In demselben Artikel finden wir folgenden Passus: „Man schimpft über Stumm und Konsorten, dass diese die Meinungsfreiheit ihrer Arbeiter unterdrücken, und was tun viele freie Gewerkschaften? Ganz dasselbe.“ Das wusste schon Bismarck, darum forderte er ja das Sozialistengesetz, damit er die Arbeiter von der „Unterdrückung“ durch die Sozialdemokraten befreien könne. Nur nannte Bismarck dies Zetern über „sozialdemokratischen Terrorismus“ nie „Neutralität“ gegenüber der Sozialdemokratie.
3. [Adolph von Elm, Zur Frage der Neutralisierung von Gewerkschaften, Die neue Zeit, 18. Jg., 2. Bd. (20. Juni 1900), H. 39, S. 356–364. (Zitat auf S. 358.)]
4. [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 28. Oktober 1892, Berlin: Buchhandlung Vorwärts, 1892, S. 182.]
5. [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands: abgehalten zu Lübeck vom 22. bis 28. September 1901, Berlin: Vorwärts, 1901, p. 11]
6. Das Fiskaljahr endet mit dem 30. Juni.
7. Eben wie diese Zeilen in die Presse gehen sollen, erhalten wir die Nachricht, dass der Trade Unionskongress sich, wenn auch mit schwacher Mehrheit, gegen den Transvaalkrieg ausgesprochen hat. Das ist eine höchst erfreuliche Botschaft. Sie weist auf die fortschreitende Loslösung der englischen Gewerkschafter von der bürgerlichen Führung hin und stellt uns einen noch einmütigeren und eindrucksvolleren Beschluss des internationalen Kongresses in der Frage der Kolonialpolitik in Aussicht, als wir von vornherein erwartet.
Zuletzt aktualisiert am 13. Juli 2025