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Karl Kautsky, Die Internationale über die Gewerkschaften, Die neue Zeit, 24. Jg., 2. Bd. (September 1906), H. 52, S. 873–875.
https://library.fes.de/cgi-bin/neuzeit.pl?id=07.06057&dok=1905-06b&f=190506b_0873&l=190506b_0875.
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Bei den jüngsten Diskussionen über Partei und Gewerkschaft wurde auf eine Resolution Bezug genommen, die der Generalrat der Internationale, also jedenfalls Marx, dem Genfer Kongress 1866 vorgeschlagen und dieser angenommen hatte. Genosse Elm erklärte in einer Hamburger Parteiversammlung, dass diese Resolution den Satz enthalte:
„Die Errichtung und Förderung von Gewerkvereinen muss und soll daher die Hauptaufgabe des Arbeiterstandes für die Gegenwart und nächste Zukunft bleiben.“
Der Genosse Elm hat diese Worte sicher nicht erfunden. Er hat sie wahrscheinlich der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung von Kulemann entnommen, wo der obige Satz aus der angeführten Resolution zitiert wird. Damit ist aber noch nicht bewiesen, dass der Satz auch wirklich darinsteht. Der Vorbote, das offizielle Organ der Internationale, veröffentlicht die Resolution des Genfer Kongresses über die Gewerkschaften in ihrem vollen Wortlaut. Der zitierte Satz findet sich dort aber nicht. Wir wissen nicht, aus welcher Quelle Herr Kulemann schöpfte; er nennt sie nicht. Wir haben aber keinen Grund, anzunehmen, dass sie zuverlässiger ist als der offizielle Kongressbericht.
Indes hat Genosse Elm sehr recht daran getan, uns auf jene Genfer Resolution aufmerksam zu machen. Sie ist gerade jetzt höchst beachtenswert, als Zeugnis der Marxschen gewerkschaftlichen Theorie, die Bringmann heute noch sucht, und die vor drei Jahrzehnten schon bestand und seitdem tatsächlich das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft in allen Ländern bestimmt, in denen der Marxismus für die proletarische Bewegung maßgebend geworden ist.
Wir geben die Fassung des Vorboten (Jahrgang 1866, S. 162, 163), die eine etwas plumpe Übersetzung des englischen Originals darstellt, mit einigen Korrekturen wieder, die auf Notizen aus den Kongressberichten der englischen Organe der Internationale, des Commonwealth und des Beehive, beruhen.
Die Resolution lautet:
a. Ihre Vergangenheit. Kapital ist konzentrierte soziale Macht, während der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfügt. Der Vertrag zwischen Kapital und Arbeit kann daher nie auf billigen Bedingungen beruhen, billig nicht einmal im Sinne einer Gesellschaft, die den Besitz der materiellen Lebens- und Arbeitsmittel auf die eine Seite und die lebendigen, produktiven Kräfte auf die entgegengesetzte Seite setzt.
Die einzige soziale Macht auf der Seite der Arbeiter ist ihre Masse. Die Macht der Masse wird jedoch durch Uneinigkeit gebrochen. Die Zersplitterung der Arbeiter wird erzeugt und erhalten durch ihre unvermeidliche Konkurrenz unter sich selbst. Die Gewerkschaften entstanden zuerst aus spontanen Versuchen von Arbeitern zur Beseitigung oder mindestens Einengung dieser Konkurrenz, um Vertragsbedingungen zu erringen, die sie wenigstens über die Stellung bloßer Sklaven erhoben.
Das unmittelbare Ziel der Gewerkschaften beschränkt sich daher auf die Erfordernisse des Tages, auf Mittel der Abwehr gegen die unaufhörlichen Übergriffe des Kapitals, mit einem Worte, auf Fragen des Lohnes und der Arbeitszeit. Diese Tätigkeit der Gewerkschaften ist nicht bloß gerechtfertigt, sie ist notwendig. Man kann ihrer nicht entraten, solange die heutige Produktionsweise fortbesteht. Im Gegenteil, sie muss verallgemeinert werden durch die Gründung und die Zusammenfassung von Gewerkschaften in allen Ländern.
Auf der anderen Seite sind die Gewerkschaften, ohne dass sie sich dessen bewusst wurden, zu Brennpunkten der Organisation der Arbeiterklasse geworden, wie die mittelalterlichen Munizipalitäten und Gemeinden es für die Bourgeoisie geworden waren. Wenn die Gewerkschaften unumgänglich sind für den täglichen Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Förderungsmittel der Aufhebung des Systems der Lohnarbeit selbst.
b. Ihre Gegenwart. Die Gewerkschaften haben bisher die lokalen und unmittelbaren Kämpfe gegen das Kapital zu ausschließlich vor Augen gehabt. Sie haben ihre Kraft zum Angriff auf das System der Lohnsklaverei und gegen die heutige Produktionsweise noch nicht vollkommen begriffen. Sie halten sich deshalb zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen. In letzter Zeit scheinen sie jedoch einigermaßen zum Bewusstsein ihrer großen, historischen Aufgabe zu erwachen, wie man schließen kann zum Beispiel aus ihrer Beteiligung in England an der jüngsten politischen Bewegung, aus der höheren Auffassung ihrer Funktionen in den Vereinigten Staaten und aus folgendem Beschluss, den die letzte große Konferenz der Delegierten der Trade Unionisten in Sheffield gefasst:
Beschlossen, dass diese Konferenz die Bestrebungen der Internationalen Assoziation, die Arbeiter aller Länder in einem gemeinsamen Bruderbund zu vereinigen, vollkommen würdigt und eindringlich den verschiedenen Vereinen, die auf der Konferenz vertreten sind, empfiehlt, affiliierte Mitglieder jener Körperschaft zu werden, in der Überzeugung, dass es notwendig ist für den Fortschritt und den Wohlstand der ganzen Arbeitergemeinschaft.
c. Ihre Zukunft. Abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken müssen die Gewerkschaften nunmehr lernen, bewussterweise als Brennpunkte der Organisation der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung unterstützen, die auf dieses Ziel lossteuert. Indem sie sich selbst als die Vorkämpfer und Vertreter der ganzen Klasse betrachten und danach handeln, können sie nicht umhin, die außerhalb der Gewerkschaften Stehenden in ihre Reihen aufzunehmen. Sie müssen sich sorgsam der Interessen der schlechteste bezahlten Arbeiterschichten annehmen, zum Beispiel der Landarbeiter, denen besonders ungünstige Umstände ihre Widerstandskraft genommen haben. Sie müssen die ganze Welt zur Überzeugung bringen, dass ihre Bestrebungen, weit entfernt, engherzig und selbstsüchtig zu sein, vielmehr die Emanzipation der niedergetretenen Massen zum Ziele haben.
Soweit die Resolution. Herr Kulemann zitiert aus ihr wörtlich gerade die Worte, die im Vorboten fehlen, sowie den darauffolgenden Satz. Sie stehen nach seiner Darstellung am Beginn des Absatzes c, der von der Zukunft der Gewerkschaften handelt.
Da wir nicht wissen, ob der Satz überhaupt geschrieben worden, ja dieses sehr unwahrscheinlich, ist es ziemlich müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob die Gründung von Gewerkschaften in ihm als die Hauptaufgabe und nicht vielmehr als eine Hauptaufgabe der Arbeiterklasse hingestellt wird. Sicher ist es dagegen, dass Marx es als eine Hauptaufgabe der Gewerkschaften ansah, „jede soziale und politische Bewegung zu unterstützen, die auf die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse lossteuert“. Das sieht nicht nach Neutralität und politischer Indifferenz aus.
Jene Gewerkschafter aber, die jetzt plötzlich von marxistischem Dogmenfanatismus erfasst werden, müssen doch jenen Marxschen Sätzen mehr Bedeutung beimessen, an deren Abfassung und Wortlaut kein Zweifel möglich, als jenen, deren Herkunft in Dunkel gehüllt ist.
Zuletzt aktualisiert am 13. Juli 2025