Karl Kautsky

Die nationalen Aufgaben der Sozialisten
unter den Balkanslawen [1]

(1. Dezember 1908)


Der Kampf, Jahrgang 2 3. Heft, 1. Dezember 1908, S. 105–110.
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Die Lage der Sozialisten in einem ökonomisch unentwickelten Lande, in dem der proletarische Klassenkampf noch eine geringe Rolle spielt, ist keine einfache. Natürlich müssen sie hier wie überall die Interessen des Proletariats in erster Linie aufs energischeste vertreten. Aber ist diese Klasse nur in embryonalem Zustande vorhanden, dann besteht die Aufgabe der Sozialisten mehr darin, ihre künftigen, als ihre augenblicklichen Interessen zu verfechten; weniger darin, den Klassenkampf zu führen, als darin, den Boden für ihn vorzubereiten. Dazu gehört aber auch das Streben nach voller Unabhängigkeit der Nation. Ohne solche Unabhängigkeit kann der proletarische Klassenkampf nicht seine volle Kraft entfalten.

Unabhängigkeit bedeutet Demokratie, bedeutet Freiheit von jeder Fremdherrschaft, bedeutet Zusammenfassung aller Nationsteile in einem gemeinsamen Staatsorganismus. Die Kämpfer der grossen französischen Revolution sind für jede dieser Seiten der Unabhängigkeit ihrer Nation mit gleicher Kraft eingetreten Der Kampf für die Republik wurde auch ein Kampf für die Einigkeit und Unteilbarkeit der Republik und für die Abwehr des äusseren Feindes.

Und so haben auch die Begründer des deutschen Sozialismus, die Marx, Engels, Lassalle, zu einer Zeit, wo das deutsche Proletariat noch schwach war, weniger der Klassenkampf zu führen als dessen Boden vorzubereiten war, mit gleicher Entschiedenheit, wie für die Demokratie, auch für die Einigung Deutschlands und seine Unabhängigkeit von jeder äusseren Herrschaft gekämpft.

Aber so klar diese Aufgabe ist, sie wird nicht selten kompliziert dadurch, dass die Zusammenfassung und Befreiung der Nation von einer Fremdherrschaft nicht bloss von demokratischen, sondern auch von antidemokratischen Elementen unternommen werden kann, so dass Demokratie und Nationalismus in Konflikt miteinander geraten können.

So suchten Napoleon III., Alexander II., Bismarck und Cavour nationale Bewegungen dynastischen Interessen dienstbar zu machen.

Da ersteht für die Sozialisten die Aufgabe, sich nicht vom nationalen Schein täuschen und fortreissen zu lassen, sondern vielmehr an ihm energische Kritik zu üben.

Wohl können dynastische Interessen einer Nation mitunter helfen, eine Fremdherrschaft abzuschütteln und zerstückelte Teile zu vereinigen. Aber diese selben Interessen werden nur zu leicht zur Ursache, dass diese Prozedur in einer Weise vorgenommen wird, die der grössten Kraftentfaltung der Nation und der Erreichung des grössten möglichen Erfolges im Wege steht. Denn dynastische und nationale Interessen fallen nie vollständig zusammen.

So haben die dynastischen Interessen der Hohenzollern in einem gegebenen Moment wohl den Zusammenschluss der deutschen Nation gefördert, aber sie haben gleichzeitig die volle Einigung dieser Nation gehindert. Dazu wäre nötig gewesen die Zertrümmerung Oesterreichs, ein Beginnen, das von den verschiedensten Seiten so bedeutenden Widerstand gefunden hätte, dass es bloss dann auf Erfolg rechnen durfte, wenn es begleitet war von der gewaltigsten und rücksichtslosesten Entfesselung aller Volkskräfte, wie sie nur eine demokratische Revolution bewirken konnte.

Die dynastischen Interessen der Hohenzollern wären dabei schlecht gefahren, schon deshalb hüteten diese sich, die Einigung der gesamten deutschen Nation anzustreben. In gleicher Richtung aber wirkte die Erwägung, dass bei einer solchen Einigung die altpreussische Bevölkerung, die einzige, auf deren überlieferten Gehorsam die Hohenzollern rechnen durften, im Deutschen Reiche die Minderheit gebildet hätte und damit das Kaisertum der Hohenzollern, wenn es unter solchen Umständen überhaupt erreichbar war, auf eine höchst schwankende Basis gestellt worden wäre.

Also gerade weil eine deutsche Dynastie die Einigung Deutschlands in die Hand nahm, durfte diese Einigung nicht eine vollkommene werden. Nur eine demokratische Revolution hätte diese vollbringen können.

Aehnlich steht heute die Situation auf dem Balkan. Die bulgarische Nation bedarf der Einigung und der Unabhängigkeit von fremder Herrschaft. Aber wie so viele andere Nationen hat auch sie das Unglück, dass bisher nicht demokratische Revolutionen, sondern dynastische Intrigen diesen Prozess für sie vollzogen. Dadurch wird bewirkt, nicht nur, dass die Erweiterung der Einigung und Selbständigkeit Hand in Hand geht mit Minderung der Demokratie im Innern, sondern auch, dass die Einigung der Nation eine unvollständige bleibt, da die Bulgaren Mazedoniens von ihr ausgeschlossen sind.

Solange Bulgarien unter dynastischer Führung bleibt, können die Bulgaren Mazedoniens mit ihren Nationsgenossen nur vereinigt werden auf dem Wege der Eroberung ihres Landes durch das Zartum Bulgarien. Aber Mazedonien wird nicht bloss von Bulgaren bewohnt, sondern auch von Serben, Griechen, Türken. Jeder Versuch Bulgariens, Mazedonien zu erobern, stösst auf den Widerstand aller anderen Balkanstaaten, die zusammen ihm überlegen sind, er ist nicht durchzuführen ohne Hilfe von aussen, also nicht ohne dass Bulgarien sich in fremde Abhängigkeit begibt. Und das eroberte Land würde bei seiner nationalen Buntheit für das bulgarische Reich dieselbe Quelle ewiger Schwächung werden, die es heute für das türkische Reich ist.

Es gibt nur einen Weg, die bulgarische Nation vollständig zu einigen, die Bulgaren Mazedoniens mit ihren Brüdern zu vereinigen, ohne äussere Hilfe für Bulgarien und ohne ewiges Zerwürfnis mit Serben, Griechen, Türken, und das ist die Vereinigung aller Nationen der Balkanhalbinsel in einer Föderativrepublik.

Bilden Bulgaren, Serben, Griechen, Türken zusammen ein einziges Staatswesen, so können deren Nationsgenossen in Mazedonien mit ihren Nationen vereint ein gemeinsames nationales und staatliches Dasein führen, ohne dass eine dieser Nationen auf den Widerstand aller anderen Balkannationen zu stossen braucht. In einem solchen Bundesstaat vereinigt, werden alle die einzelnen Nationen der Balkanhalbinsel auch erst wirklich unabhängig vom Ausland, während sie bisher die Unabhängigkeit vom Sultan nur dadurch erkauften, dass sie die Vasallen des Zaren oder Oesterreichs oder Englands wurden. Sie bilden dann ein gewaltiges Reich, das sich jede Einmischung von aussen verbitten kann. Mit der Bildung eines so ausgedehnten inneren Marktes würde auch der ökonomische Aufschwung jener Gegenden gewaltig beschleunigt, vielfach erst möglich werden.

Man sage nicht, dass die Idee des nationalen Staates einen solchen Bundesstaat unmöglich mache.

Diese Idee umfasst zwei Tendenzen: die nach Zusammenfassung aller Teile einer Nation zu einem staatlichen Ganzen und die nach staatlicher Abschliessung der Nation von anderen Nationen. Von diesen beiden Tendenzen verliert die letztere immer mehr an Lebenskraft, da sie im Widerspruch steht zu den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung, die die Nationen immer mehr einander nähert und grossen staatlichen Gebilden ein grosses Uebergewicht nicht nur politisch sichert, was ja immer der Fall war, sondern auch ökonomisch. Das drängt nach Völker- und Staatenbündnissen aller Art.

Wo die Staaten noch nicht oder nicht mehr festgefügt, man könnte sagen, versteinert sind, wo die Menschen das Empfinden haben, dass die Staatsbildung noch nicht abgeschlossen sei oder eine neue Staatsbildung beginne, da werden die Tendenzen nach staatlichem Zusammenschluss aller Elemente, die die gleiche Sprache sprechen, durch diese Entwicklung nicht durchkreuzt, sondern eher verstärkt. Aber die Zusammenfassung aller Nationsgenossen, die bisher die Gebiete verschiedener Staaten bewohnten, in einem Staat ist nur die eine der möglichen Formen der Erweiterung des Staates ohne Durchbrechung des nationalen Prinzips. Eine andere Form ist die der Zusammenfassung mehrerer geschlossener Nationen zu einem gemeinsamen Staatswesen. Sicher ist der Nationalstaat dem Nationalitätenstaat bei gleicher Ausdehnung gewaltig überlegen und sicher steht ein Nationalitätenstaat im Widerspruch zu den Tendenzen der nationalen Entwicklung, wenn er nur Teile von Nationen umfasst, die in ihrer Mehrheit ausserhalb des Staates wohnen. Dagegen ist für kleinere Nationen, die alle in ihrer Gesamtheit innerhalb eines Gebietes wohnen, der Zusammenschluss dieses Gebietes zu einem Staatswesen die einzig mögliche Form, der Vorteile eines Grossstaats teilhaftig zu werden, und überwiegen für sie die Vorteile über jene Nachteile, die den Nationalitätenstaat gegenüber dem Nationalstaat beeinträchtigen.

Ein derartiger Zusammenschluss wird für kleinere Nationen um so notwendiger, je unsicherer die Verhältnisse, in denen sie leben, je energischer sie um ihre Existenz kämpfen müssen; aber auch je grösser ihre ökonomische Rückständigkeit und je mehr die ökonomische Entwicklung den grossen Staatswesen ein Uebergewicht über die kleinen gibt. Er ist aber auch am ehesten durchzusetzen dort, wo die Staaten noch nicht versteinert sind, wo sie noch im Flusse stehen, also nicht dort, wo die Tendenzen der modernen Produktionsweise auf das staatliche Leben am längsten wirken, sondern dort, wo sie es eben erst ergreifen. Der Osten Europas vermag daher in diesem Punkt dem Westen voranzugehen. In Osteuropa finden wir nicht bloss jenes Streben am stärksten lebendig, das die zerstückelten Teile einer Nation, sondern auch jenes, das verschiedene Nationen zu einem staatlichen Körper zusammenzufassen strebt. Letztere Art der Zusammenfassung wird freilich mit voller Kraft nur von solchen Nationen angestrebt werden können, die die erstere Arc schon erreicht haben oder die erstere durch die zweite erreichen können.

Wie wenig das nationale Gefühl der Vereinigung verschiedener Nationen in einem Staate zu widerstreben braucht, zeigt uns Oesterreich. Unter seinen Nationen gibt es keine, die an Kraft des nationalen Empfindens die Ungarn und die Tschechen übertreffen würde. Und doch sind gerade diese beiden stark chauvinistischen Nationen diejenigen, die der Zerreissung Oesterreichs in nationale, selbständige Staaten am stärksten widerstreben, die am Bestand Oesterreichs — oder wenigstens eines halben Oesterreich — das stärkste Interesse haben. Vom Staate weg streben dort nur nationale Elemente, die bloss Teile einer Nation darstellen, und zwar einer Nation, deren grösserer Teil ausserhalb Oesterreichs liegt: Deutsche, Polen, Italiener, Serben, Rumänen, Ruthenen. .Auch jeder dieser Teile möchte nicht eine staatliche Existenz für sich allein führen, aber ihr Drängen, einem grossen Staate anzugehören, ist nicht unvereinbar mit ihrer Loslösung von Oesterreich, weil sie auch ohne dieses mit ihren Nationsgenossen zusammen ein grosses Staatswesen bilden können.

Die nationale Idee braucht also die Vereinigung der Balkanvölker zu einem Bundesstaate nicht za hemmen, sie kann im Gegenteil daraus neue Kraft saugen. Ein starkes Balkanreich zum Beispiel hätte ganz andere Aussichten, jene Serben, die heute von Oesterreich beherrscht werden, mit den anderen Serben zu vereinen, als eine der beiden jetzt bestehenden serbischen Zwergmonarchien.

Nicht durch die nationale Idee wird die staatliche Zusammenfassung der Balkanvölker gehindert, sondern durch die dynastischen Interessen. Nur in der Form der Demokratie könnten diese Völker sich als gleichberechtigte vereinigen. Solange die Dynastien bestehen, wäre die staatliche Zusammenfassung der einzelnen Nationen nur möglich durch den Sieg einer der Dynastien über die anderen, die im Kriege verdrängt werden müssten. Sie wäre unter diesen Umständen gleichbedeutend mit dem Sieg einer Nation über die anderen. Sie setzte also einen Kriegszustand voraus, der um so länger dauern, um so erschöpfender wirken und um so resultatloser enden müsste, je weniger irgend eine der vier Hauptnationen imstande wäre, ein entschiedenes Uebergewicht über die drei anderen vereint zu gewinnen.

Solange die Balkandynastien bestehen, sind daher die Balkanvölker nicht nur nicht imstande, ihre nationale Einigung vollständig zu vollziehen, sie bleiben auch zur Kleinstaaterei verurteilt, bleiben gehemmt in ihrer ökonomischen Entwicklung und in steter Abhängigkeit vom Ausland. Das verdanken sie ihren Dynastien.

Die schlimmste Form der Abhängigkeit vom Ausland ist aber das Vasallenverhältnis, in dem die Balkanslawen zum russischen Zaren stehen. Dies Verhältnis müssen die Sozialisten unter den Balkanslawen bekämpfen, nicht bloss vom Standpunkt ihrer nationalen, sondern auch von dem ihrer internationalen Pflichten.

Und diese zu pflegen, ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Wenn die ökonomische Rückständigkeit ihres Landes sie hindert, ganz im proletarischen Klassenkampf aufzugehen, wenn sie praktisch vielmehr erst den Boden für diesen Klassenkampf zu schaffen haben und wenn dabei der Kampf um die nationale Unabhängigkeit eine grosse Rolle spielen kann, so dürfen sie darüber nie vergessen, dass das Proletariat seinen Klassenkampf erfolgreich nur zu kämpfen vermag als internationalen Kampf und dass es als die aufstrebende Klasse, der die Zukunft gehört, stets die Interessen der gesamten gesellschaftlichen Zukunft zu wahren hat, die bei dem heutigen Stande des Weltverkehrs immer mehr identisch werden mit den Interessen der gesamten Menschheit. Diese Interessen haben die Sozialisten eines jeden Landes vor allem im Auge zu behalten, sie müssen ihr Leitstern sein auch dort, wo sie Veranlassung haben« an nationalen Kämpfen teilzunehmen. Das Wohl der einzelnen Nation ist nicht das höchste Gesetz für den Sozialisten, es ist den Interessen der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung ebenso unterzuordnen wie das Wohl des einzelnen Individuums.

Sicher sind wir der Ueberzeugung, dass in einer sozialistischen Gesellschaft die beste Grundlage für eine allseitige Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit und ebenso der einzelnen Nationalitäten gegeben ist. Und sicher verfechten wir heute schon die Gleichberechtigung der Individuen und der Nationen. Aber wir wissen, dass in der heutigen Gesellschaft die Interessen des Individuums sehr wohl in Konflikt kommen können mit denen der Gesamtheit, und fordern, dass in solchen Fällen das individuelle Interesse dem Gesamtinteresse zum Opfer gebracht werde. Das gleiche müssen wir aber auch von der Nationalität fordern. Darin unterscheidet sich die Stellung des Sozialdemokraten zur Nationalität von der Stellung der Bourgeoisie. Für den Bourgeois ist seine Nation souverän, das Wohl der Nation höchstes Gesetz — soweit er nicht das Individuum auf den Thron erhebt. Uns steht das Wohl der internationalen Gesamtheit höher. Wir sind nicht antinational, ebensowenig wie wir der Persönlichkeit feindlich oder auch nur gleichgültig gegenüberstehen. Aber das Wohl unserer Nationalität ist nicht der höchste Leitstern unseres Tuns.

Von diesem wahrhaft internationalen Standpunkt aus haben auch Marx und Engels stets die nationalen Bestrebungen der Balkanslawen betrachtet. Sie ordneten sie dem Kampf gegen den russischen Zarismus unter, der obersten internationalen Pflicht des gesamten kämpfenden Proletariats aller Länder, da dieser Zarismus der schlimmste und gefährlichste Feind des Aufstieges der Demokratie und des Proletariats in aller Welt ist.

Insoweit die Balkanslawen die Befreiung vom türkischen Joche durch Mittel er-erstrebten, die eine Kräftigung und Ausdehnung des russischen Absolutismus bedeuteten, fanden sie bei Marx und Engels Widerstand. Doch galt diese Auffassung nicht etwa bloss den Slawen. Unsere beiden Meister widersetzten sich zum Beispiel auch der Förderung italienischer nationaler Bestrebungen, insoweit dabei Napoleons III. Hilfe angerufen und eine Kräftigung des Bonapartismus bewirkt wurde.

Ihren Kampf gegen die zaristischen Bestrebungen auf der Balkanhalbinsel hatten Marx und Engels vornehmlich in England zu führen. England war zu ihrer Zeit die Macht, die dem russischen Absolutismus am erfolgreichsten widerstreben konnte und dessen auswärtige Politik am ehesten durch Volksbewegungen zu beeinflussen war. Gerade dort aber neigten die Liberalen stets dazu, sich von tönenden Phrasen des Zarismus betören zu lassen, und stand gleichzeitig das Proletariat in vollster politischer Abhängigkeit von den Liberalen.

Heute sind wir erheblich weiter. Dass der Zarismus noch irgendwo jemanden durch liberale Phrasen täuscht oder auch nur versucht, solche vorzubringen, ist nach den jüngsten Vorkommnissen ausgeschlossen. Trotzdem sind gerade jetzt die Radikalliberalen Englands in engste Freundschaft mit ihm getreten.

Aber dieser Verkommenheit tritt das erhebende Schauspiel gegenüber, dass die Masse der organisierten Proletarier Englands sich vom Liberalismus losgerissen und in einer selbständigen Partei organisiert hat und dass diese Partei dem Zarismus in entschiedener Feindschaft gegenübersteht.

Noch erhebender als diese Tatsache ist aber die, dass der Kampf gegen den Zarismus nicht mehr bloss einer der äusseren Politik ist, dass der russische Absolutismus weit mehr durch die Revolution im Innern als durch demokratische Mächte von aussen bedroht wird.

Und noch ein drittes Faktum ist eingetreten, seitdem Marx und Engels wirkten, das nicht minder den ungeheuren Fortschritt bekundet, den wir seitdem gemacht: Unter den Balkanslawen selbst gibt es Sozialisten, die sich ihrer internationalen Pflichten wohl bewusst sind und die wissen, dass es eine Ehrlosigkeit wäre, wollte irgend eine slawische Demokratie für die Förderung von nationalen oder sonstigen Zwecken die Hilfe des russischen Zaren anrufen. Und unsere Brüder auf dem Balkan wissen das nicht bloss, sie handeln auch darnach.

Gerade jetzt kann das wieder einmal sehr notwendig werden, wo von Russland von neuem panslawistische Tendenzen ausgehen. Wohl hat der Zar anscheinend über sein Volk gesiegt, dieses liegt aus tausend Wunden blutend zu Boden. Aber der Absolutismus ist sich trotz seines Sieges seiner Schwäche wohl bewusst, er weiss, wie prekär dieser Sieg ist, wie unbedingt notwendig für das Fortbestehen der Zarenherrschaft, die tiefe Kluft zu überbrücken, die sich zwischen „Väterchen“ und seinen Landeskindern aufgetan. Auf den Bajonetten zu sitzen, wird ihm auf die Dauer zu qualvoll, er bedarf wieder einer Idee, die ihn als Verfechter der Interessen seines Volkes erscheinen lässt und ihm erneutes Prestige verleiht, zugleich die Blicke vom inneren Elend ablenkt. Diese Idee soll der altbewährte Panslawismus liefern. Um die notdürftig hergestellte Ordnung im Innern des Reiches zu befestigen, sucht der Zar Unordnung bei den Nachbarn zu schüren, in Oesterreich, in der Türkei. Die angebliche Freiheitsbewegung dort soll die wirkliche Freiheitsbewegung hier ersticken helfen.

Und in der Tat, wenn es auf die slawischen Liberalen ankäme, dann würde die Spekulation glücken. Die russischen Liberalen zeigen sich bereit, in panslawistischer Begeisterung und russischem Patriotismus zu entbrennen, und tschechische wie südslawische, namentlich serbische Liberale lassen es an Entgegenkommen nicht fehlen.

Trotzdem dürfte dem panslawistischen Rausch bald ein elender Katzenjammer folgen. Eine energische auswärtige Politik der Aggression ist heute nicht zu machen ohne eine starke, schlagfertige Armee. Die russische Armee, bereits desorganisiert durch die Niederlagen in der Mandschurei, ist vollends demoralisiert worden durch ihre Siege über die Revolution. Diese wurden nur möglich durch Ausmerzung aller intelligenten und anständigen Elemente aus dem Offizierskorps und durch Untergrabung allen Ehrgefühls in der Masse der Mannschaften. Die russische Armee ist heute nur noch eine ungeheure schwarze Sotnie in Uniform, eine Bande, bereit, wehrlose Opfer zu plündern und zu morden, aber nicht ein Heer, imstande, denkenden und begeisterten Kriegern Widerstand zu leisten; nicht ein Heer, bereit, für eine Idee gegenüber einem wehrhaften Gegner in den Tod zu gehen.

Russlands Panslawismus kann heute wohl noch Unruhen und Begierden bei den Nachbarvölkern erwecken, aber er kann ihnen keine nachdrückliche Hilfe mehr angedeihen lassen. Der Zar muss seine Schützlinge im Stich lassen und verraten und so muss seine panslawistische Politik, die bestimmt war, sein Prestige nach innen und aussen zu erneuern, seine Ohnmacht, ja seine Gemeinschädlichkeit für das gesamte Slawentum schliesslich um so krasser zum Ausdruck bringen. Der Kadaver des russischen Absolutismus lässt sich kaum noch galvanisieren. Jeder derartige Versuch zeigt noch deutlicher als vorher, dass wir es nicht mehr mit einem kampfbereiten, sondern bloss mit einem verwesenden Riesen zu tun haben.

Immerhin spielen alte Erinnerungen oft eine Rolle nicht bloss in sentimentaler Lyrik, sondern auch in der praktischen Politik und sie können in der jetzigen kritischen Situation manchen Balkanslawen verführen, im Schlächter aller Reussen immer noch den Zar-Befreier zu sehen und diesem so, wenigstens vorübergehend, einige moralische Unterstützung zu gewähren.

Dass unsere südslawischen Genossen heute mehr Ursache haben als je, solchen Anschauungen entgegenzutreten, ebenso im Interesse der eigenen Nation wie im Interesse der internationalen Revolution, ist selbstverständlich.

Alles das zeigt uns aber, dass auch in Ländern, die noch kein starkes Proletariat haben, in denen der proletarische Klassenkampf noch keine Rolle spielt, in denen die Sozialisten praktisch über die Tätigkeit einfacher Demokraten anscheinend nicht hinauskommen, der Sozialismus doch durch seinen proletarischen Standpunkt auch in rein demokratischen und nationalen Angelegenheiten eine besondere Auffassung entwickelt, die ihn von der bürgerlichen Demokratie scheidet und es verbietet, dass er in dieser unterschiedslos aufgeht.

Nirgends kann das Proletariat früh genug dazu erzogen werden, sich unabhängig von der bürgerlichen Demokratie zu organisieren und eine selbständige Beurteilung der Dinge zu gewinnen. Besonders notwendig ist das in so revolutionären Zeitläufen, wie sie jetzt auf der Balkanhalbinsel herrschen, wo alles im Stadium der Umbildung begriffen ist und die Grundlagen zu neuen politischen Gebilden gelegt werden, die bestimmt sind, für lange hinaus die Formen der Entwicklung zu bedingen.

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Fussnote

1. Vorliegende Ausführungen sind der Vorrede entnommen, die Genosse Kautsky der bulgarischen Uebersetzung seiner Abhandlung über Republik und Sozialdemokratie in Frankreich vorausschickt. – D. Red.


Zuletzt aktualisiert am 14. Januar 2023