Karl Kautsky

Die Klassengegensätze im Zeitalter
der Französischen Revolution


V. Die Empörung der Privilegierten


Der Kampf zwischen den Parlamenten als Verfechtern des Beamtenadels und der straff zentralisierten despotischen Staatsverwaltung erweiterte sich mitunter zu einem Kampf sämtlicher Privilegierten gegen diese, gegen das absolutistische Königtum, zu einem Kampf, der nicht bloß in der Form einer Hofintrige geführt wurde, von der das Volk nichts ahnte, so tief auch der Zwiespalt sein mochte, sondern der an die Klassengenossen außerhalb des Hofes appellierte und die Menge in sein Bereich zog.

Die bedeutendste dieser Bewegungen war die bereits im vorigen Kapitel erwähnte Fronde. Sie fiel in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, als der Adel noch Selbstbewußtsein und Kraft besaß. Eine ähnliche Bewegung sollte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts anheben. Die Bewegung von 1648 lief auf eine neuerliche Verstärkung des Absolutismus hinaus. Die Bewegung, die 1787 begann, sollte mit dem Siege des dritten Standes enden, sie sollte den Anstoß geben zur großen Revolution.

Wir haben im 2. Kapitel bereits auf die schwankende Haltung Ludwigs XVI. hingewiesen.

War dieser der klassischste Vertreter der Doppelseele der absoluten Monarchie des 18. Jahrhunderts, so haben deren beide Seiten auch unter seiner Regierung ihren klassischsten Ausdruck gefunden iu Turgot und Calonne. Der erstere, ein ebenso tiefer Denker wie großer Charakter, suchte als Minister wirklich die Staatsgewalt der Förderung der ökonomischen Entwicklung dienstbar zu machen, deren Hindernisse aus dem Wege zu räumen und durchzuführen, was die Theoretiker zur Erhaltung des Staates und der Gesellschaft als unumgänglich notwendig erkannt hatten. Er wies es zurück, die Staatsverwaltung als Organ der Ausbeutung des Staates im Interesse des Hofadels mißbrauchen zu lassen. Er hob die Fronden, die Binnenzölle, die Zünfte auf und befreite die Industrie vom Druck der Reglements. Er wollte Adel und Geistlichkeit in gleicher Weise wie den dritten Stand zu den Steuern heranziehen und die Verausgabung der Staatseinnahmen der Kontrolle eitler ständischen Versammlung unterwerfen. Das waren unerträgliche Eingriffe in „geheiligte Rechte“. Geführt von der Königin, erhob sich das Heer derb privilegierten Ausbeuter gegen den Reformminister, und Turgot erlag dem Ansturm 1776.

Nach einer Reihe von Experimenten, Versuchen, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen, berief der König Calonne ans Ruder (1788). Das war ein Mann nach dem Herzen der Königin; ein oberflächlicher, aber geriebener und unverschämter Schwindler, vertrat er die Maxime, dem immer unersättlicher werdenden Hofadel nicht bloß die gegenwärtigen, sondern auch die zu erwartenden Einnahmen des Staates zu opfern, nicht bloß dessen augenblickliche Finanzen, sondern auch dessen Kredit rein auszuplündern. Eine Anleihe folgte der anderen; während der drei Jahre, die er Minister war, pumpte er für den Staatsschatz 650 Millionen Livres (die genaue Darlegung bei Louis Blanc, I, 233), eine für die damaligen Verhältnisse ungeheure Summe. Und fast alles davon sackte der Hof ein, der König, die Königin und ihre Günstlinge. „Als ich sah, daß alles seine Hand hinstreckte, hielt auch ich meinen Hut unter“, sagte ein Prinz, der den damaligen Freudenrausch erzählt. In der Tat, der Hof schwamm in Wonne, keine Stimme erhob sich, die warnend gezeigt hätte, wohin solch wahnsinniges Treiben führen müsse Ludwig XVI. selbst bezeigte seine außerordentliche Zufriedenheit mit dem Finanzminister, der seine Tätigkeit bezeichnenderweise damit begonnen, daß er sich vom König seine Schulden im Betrag von 280.000 Livres bezahlen ließ. Alles bei Hofe wunderte sich darüber, wie leicht und rasch es dem großen Mann gelungen, die soziale Frage zu lösen. [1]

Das wahnwitzige Treiben des Hofes hatte natürlich den Erfolg, den Zusammenbruch des ganzen Systems zu beschleunigen. Nach drei Jahren toller Wirtschaft war Calonne mit seinem Witz zu Ende; das jährliche Defizit war auf 140 Millionen Livres gestiegen, und selbst Calonne sah sich zu dem Geständnis gezwungen, daß den unmittelbar drohenden Bankerott keine Anleihe mehr hinausschieben könne, sondern nur eine Erhöhung der Einnahmen und Verminderung der Ausgaben des Staates, was beides nur möglich war auf Kosten der Privilegierten. Aus dem Volk ließ sich nichts mehr herausschinden.

Als Calonne das den Notabeln mitteilte, die er einberufen (Februar 1787), antwortete ihm ein Wutgeheul aus den Reihen der Privilegierten, ein Wutgeheul, nicht über die Schamlosigkeit, mit der Calonne bisher gewirtschaftet, sondern darüber, daß diese schamlose Wirtschaft jetzt ein Ende nehmen solle, weil eine Fortsetzung unmöglich geworden. Calonne fiel, als aber seine Nachfolger die Politik der Vermehrung der Auflagen auf die Privilegierten fortsetzen mußten, so daß diese zur Überzeugung gelangten, das Königtum sei nicht mehr imstande, ihnen die Ausbeutung Frankreichs im bisherigen Maße weiterhin zu sichern, da erhoben sie sich gegen dies Königtum selbst. Unglaublich, aber wahr: Adel, Klerus, Parlamente, alle die Privilegierten, deren Stellung bereits völlig unterwaschen war und die ihren einzigen Halt nur noch im Königtum gefunden hatten, taten sich jetzt zusammen, um diesen Halt selbst zu untergraben. So blind kann die Habgier eine Klasse, die sich überlebt hat, unmittelbar vor ihrem Untergang machen, daß sie selbst alles tut, diesen zu beschleunigen.

Die Privilegierten hatten keine Ahnung davon, wie sehr die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sich geändert, sie glaubten, die Verhältnisse stünden noch wie ehedem, wo sie den Königen und dem dritten Stande getrotzt, und verlangten daher stürmisch nach der Wiedereinberufung von Generalständen nach dem Muster derer von 1614. Sie, die nur noch von der königlichen Gewalt gestützt wurden, wollten jetzt durch eigene Kraft ihre Privilegien, ihre Ausbeutung wehren. In dem Augenblick, w0 die Privilegierten aufs innigste hätten zusammenhalten sollen, weil sie aufs schwerste bedroht waren, erstand eine Meuterei in ihrer Mitte wegen der Teilung der Beute!

Blind vor Wut, begaben sich die Privilegierten tatsächlich auf revolutionären Boden. Die Parlamente stellten im Mai 1788 sämtlich die Arbeit ein; die Geistlichkeit verweigerte jede Beisteuer zu den Staatsfinanzen, solange nicht die Generalstände einberufen seien; der Adel erhob sich bewaffnet in den Provinzen, und in der Dauphiné, Bretagne, der Provence, in Flandern und Languedoc kam es zu ernstlichen Unruhen.

Daß der dritte Stand an diesen Bewegungen immer mehr teilnahm und einstimmte in den Ruf nach Einberufung von Generalständen, brachte die Privilegierten nicht zum Nachdenken; das Königtum hatte gezeigt, daß es unmöglich mehr bloß der Hort der Ausbeutung sein könne, das Königtum war also der Feind, die absolute Gewalt der Monarchie zu brechen die Aufgabe der Privilegierten geworden. Den dritten Stand verachteten sie zu sehr, um ihn zu fürchten. Wer durfte auch vor dummen Bauernlümmeln, vor Schustern und Schneidern und einer Handvoll Advokaten Angst haben?

Dem vereinten Ansturm aller Stände war die monarchische Staatsgewalt nicht gewachsen. Sie mußte in die Einberufung von Generalständen willigen, die am 5. Mai 1789 eröffnet wurden, von wo an man gewöhnlich den Beginn der Revolution datiert. Es ist aber bemerkenswert, daß die Auflehnung gegen die absolute königliche Gewalt schon vorher begonnen hatte, und daß die Privilegierten es waren, die den Anstoß dazu gaben und jene Bewegung hervorriefen, die auf ihren eigenen Untergang hinauslaufen sollte; daß sie es waren, die die Einberufung jener Versammlung ertrotzten, die bestimmt war, ihren Untergang zu besiegeln.

Wohl vereinigten sich die feindlichen Brüder, Adel und Königtum, wieder, wohl scharten sich die Privilegierten wieder um den ;onarchen, als sie merkten, wie feindlich ihnen die Stimmung im Volke, die Stimmung bei den Deputierten des dritten Standes sei. Aber da war es schon zu spät.


Fußnote

1. Als die erste Anleihe, die Calonne auflegte, infolge seiner schwindelhaften Versprechungen überzeichnet wurde, meinte ein hoher Herr: „Ich wußte ja wohl, daß Calonne den Staat retten werde, aber nie hätte ich gedacht, daß ihm das so geschwind gelingen würde.“


Zuletzt aktualisiert am 02.08.2010