Karl Kautsky

Ein Brief über Marx und Mach

(26. März 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 10, 1. Juli 1909, S. 451–452.
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In der russischen Sozialdemokratie finden seit längerem heftige Diskussionen über die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Marxismus statt, bei denen insbesondere mit grosser Leidenschaft die Frage erörtert wird, ob die Anschauungen Ernst Machs mit den Marxschen Lehren vereinbar sind. Ein russischer Arbeiter in Zürich, Genosse Bendianidse, hat sich an Genossen Kautsky mit der Bitte gewendet, ihm seine Stellungnahme bezüglich der strittigen Punkte mitzuteilen. Den Brief, in dem Genosse Kautsky die Fragen Bendianidses beantwortet, bietet ein über den speziellen Anlass hinausgehendes Interesse und es freut uns daher, diesen Brief, den Genosse Bendianidse uns mit Zustimmung Kautskys zur Verfügung gestellt hat, den Lesern des Kampf vorlegen zu können.

Friedrich W. Adler

* * *

Berlin-Friedenau, den 26. März 1909

Lieber Genosse Bendianidse, ich bin sehr beschäftigt, muss mich also kurz fassen.

Sie fragen: ist Mach ein Marxist ? Das kommt darauf an, was man unter Marxismus versteht. Ich verstehe darunter keine Philosophie, sondern eine Erfahrungswissenschaft, eine besondere Auffassung der Gesellschaft. Die Auffassung ist allerdings unvereinbar mit einer idealistischen Philosophie, nicht aber unvereinbar mit der Machschen Erkenntnistheorie. Mach selbst ist aber kein Marxist aus dem einfachen Grunde, weil er ein Physiker ist und einer wissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft fernsteht.

In der deutschen Sozialdemokratie gibt es sehr klar denkende Köpfe, die Machianer sind. Bebel hat sich mit der Frage noch nicht befasst. Ich selbst finde zwischen der Marxschen und der Dietzgenschen Anschauung keinen wesentlichen Unterschied. Mach steht aber Dietzgen sehr nahe.

Man muss jedoch unterscheiden zwischen Mach und Dietzgen einerseits und ihren Anhängern andererseits. Unter den Machianern und Dietzgenianern gibt es einige, die ziemlich dummes Zeug schreiben, dem entgegengetreten werden muss. Wenn Plechanoff und seine Freunde sich gegen Mach und Dietzgen wenden, schreibe ich es hauptsächlich dem zu, dass sie durch den Unsinn einzelner Machianer und Dietzgenianer provoziert werden.

Zu diesem Unsinn gehört auch die Behauptung, Plechanoff sei Metaphysiker. Wenn Sie mich fragen, ob Plechanoff die Marxsche Philosophie richtig lehrt, muss ich antworten, dass Marx keine Philosophie, sondern das Ende aller Philosophie verkündet hat. Dass Plechanoff aber einer der besten Kenner der Marxschen Lehren ist, kann nicht bezweifelt werden.

Im übrigen muss ich aber bemerken, dass ich den ganzen Streit in der russischen Sozialdemokratie über Mach sehr bedaure. Klarheit über die Machsche Erkenntniskritik ist natürlich eine sehr schone Sache, aber eine Sache, die mit den Aufgaben unserer Partei nicht enger verwandt ist als etwa die Streitfrage zwischen Lamarckismus und Darwinismus oder die Frage, ob die Atomtheorie noch haltbar ist. Es ist ganz verkehrt, diese Frage zur Parteifrage zu machen und die ohnehin schon viel zu zerklüftete russische Sozialdemokratie dadurch noch mehr zu spalten.

Es wäre Marx nie eingefallen, eine solche Frage zur Parteifrage zu machen, und darin erweisen sich weder Plechanoffianer noch Machianer als gute Marxisten. Die Führer des russischen Proletariats haben gerade jetzt dessen Interesse auf andere Fragen zu lenken, wie auf die, ob Mach Marxist sei oder nicht.

Die Hauptsache ist, dass die Proletarier die Marxsche Oekonomie und Geschichtsauffassung begreifen lernen, um mit deren Hilfe die Situation der modernen Gesellschaft und die Aufgaben des Proletariats und insbesondere ihre Aufgaben im eigenen Lande zu erkennen. Der Marxismus will dem Proletariat die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung beibringen, wie das Kommunistische Manifest sagt.

Der Ausgangspunkt dabei ist die Erkenntnis, dass nicht das Bewusstsein der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein bestimmt.

Ob man diese Auffassung auf den Materialismus des 18. Jahrhunderts oder den Machismus oder den Dietzgenschen dialektischen Materialismus oder sonstwie stützt, ist ja für die Klarheit und Einheitlichkeit unseres Denkens nicht ganz gleichgültig, aber eine Frage, die für die Klarheit und Einheitlichkeit der Partei ganz belanglos ist. Die einzelnen Genossen mögen darüber als Privatleute ihre Studien machen, wie über die Frage der Elektronen oder der Weismannschen Gesetze der Vererbung, die Partei soll man damit verschonen.

Sollten diese Zeilen dazu beitragen, dass die russischen Genossen den Machianismus zur Privatsache erklären, würde ich glauben, der russischen Sozialdemokratie genützt zu haben.

 

Ich grüsse Sie bestens. Ihr
K. Kautsky


Zuletzt aktualisiert am 18. Mai 2023