Alexandra Kollontai


Ich erfülle Lenins Aufträge

(1915)


Die vorliegenden Erinnerungen sind Auszüge aus den Tagebuchaufzeichnungen Alexandra Kollontais aus der Zeit ihres Aufenthalts in Norwegen. In dem im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus Moskau aufbewahrten Manuskript tragen sie den Titel Notizen und Erläuterungen zu meinem Leben und meiner Arbeit in Kristiania 1915. Ein Teil des Materials wurde in der Zeitschrift Nedelja (Die Woche) vom 4. Juli 1964 veröffentlicht. Der vorliegende Abdruck mit der Überschrift Ich erfülle Lenins Aufträge ist – mit geringfügigen Ergänzungen aus dem Manuskript – der Nedelja entnommen. Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 212–215.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Holmenkollen liegt oberhalb von Kristiania. Ein seltsames, zwiespältiges Gefühl – auf der einen Seite die wundervolle Ruhe, auf der anderen Seite Gewissensbisse, in dieser schrecklichen, entsetzlichen, blutigen Zeit in so ein Zauberreich des Schnees und der Schönheit geraten zu sein. Vor einer Woche war es uns endlich gelungen, von Kopenhagen wegzukommen. Wir sind über Schweden gefahren. Natürlich waren wir ein wenig aufgeregt, ob wir durchkommen würden. Doch die Fahrt verlief glatt.

Ich merkte gleich, dass ich Norwegen mochte. Dies hier ist eine stille, behäbige, solide Stadt. Eine Menge gartengesäumter Straßen mit Villen. Viel Schnee. Sauberkeit. Schlitten. Schellengeläute. Eine Welt, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe. Die Genossen sind freundlich. Frau Nissen [1] hat sogleich Interesse für meine Vorschläge bekundet, am 8. März in allen neutralen Ländern nicht nur einfach den Frauentag für den Frieden zu begehen, sondern eine Art demonstrative Verbrüderung der Sozialistinnen der kriegführenden Länder zu veranstalten. [2] Ob das wohl gelingen wird? Heute steht diese Frage auf einer sozialistischen Frauenversammlung zur Debatte.

Ich habe mich überreden lassen, in die Berge bei Kristiania zu fahren. Nun sind wir hier, in diesem Zauberreich, wo Natur, Schönheit und Kultur miteinander vereint sind. Eine halbe Stunde mit der elektrischen Bahn, dann noch etwa zwanzig Minuten zu Fuß durch die Schneelandschaft, und wir sind auf dem Holmenkollen, wo inmitten von Schnee und Wald kleine und große Kurhotels verstreut liegen. Wir wohnen in einem kleinen roten Bauernhaus, das jedoch elektrischen Strom, Zentralheizung und Telefon besitzt. Alles ist blitzblank. Die Einrichtung ist schlicht, aber bequem – es ist alles da, was man braucht. Dazu gesunde Kost nach Bauernart. Der Blick aus den Fenstern ist einfach herrlich! Ich streife umher und genieße die Gegend. Schnee, Kiefern und Fichten, voller Raureif, unter uns Kristiania und die Fjorde.

Ich hätte niemals geglaubt, dass dies so wundervoll, so schön sein könnte. Und so beruhigend. Es will mir einfach nicht in den Sinn, dass irgendwo Schreckliches geschieht, Blut vergossen wird. Das Leben scheint stehengeblieben zu sein, in der Ruhe erstarrt, so wie diese schneebeladenen Fichten und Kiefern. Gestern, am Sonntag, bot sich ein herrlicher Anblick: Aus Kristiania strömte eine gesunde, lebensfrohe Jugend hierher. Wald und Berge hallten sogleich von fröhlichen Rufen wider. Schlitten um Schlitten sauste an uns vorüber, mit frohem Lachen fuhr man einzeln oder zu zweit ins Tal hinab. Zwischen den Bäumen leuchteten die roten, blauen und bunten Strickmützen der Skifahrerinnen vor dem weißen Schnee, und junge Burschen mit geröteten Gesichtern vollführten mit ihren Skiern gewagte Sprünge. All das war ungewohnt und schön, irgendwie gesund, klar und erfrischend. Ein junges Volk, ein Volk voller unverbrauchter Kräfte. Und diese in ihrer strahlenden Jugend so schönen Mädchen auf Schneeschuhen und Schlitten! Mir scheint, dass vor diesem belebenden, frischen und reinen Hintergrund der schneebedeckten Natur auch die Beziehungen zwischen den jungen Burschen und Mädchen natürlich, heiter und unverdorben sein müssen.

In unserem Häuschen ist es so still, so beruhigend schlicht und gemütlich. Und gewissermaßen als Krönung des Reizes, der von der Stille und Schönheit des Abends ausgeht, spielt jemand schön und zart, mit sehr viel Sinn für die Musik, Stücke von Grieg. Wie sich herausstellt, steht in einem der Zimmer unseres Hotels ein Flügel von Grieg „persönlich“. Dieses Zimmer wird nicht vermietet. Hin und wieder kommt Griegs Witwe, um „seine“ Sachen auf „seinem“ Flügel zu spielen. Was mag sich hinter diesen Wallfahrten verbergen? Warum ist sein Flügel hiergeblieben? Vielleicht sind mit diesem winzigen Eckzimmer irgendwelche teuren Erinnerungen verknüpft? Große Wehmut beschleicht mich, als ich dem einfühlsamen, schlichten Spiel zuhöre. Eigentlich eine Schande, die Ruhe und Schönheit so zu genießen. Doch ich glaube, das muss sein – erst jetzt und hier fühle ich, wie ich mit den Nerven herunter bin. Nachts habe ich immer wieder Herzklopfen, bald schläft mir die Hand, bald der Fuß ein. Ich muss eben den Aufenthalt hier als Kur ansehen.

Die Polizei ließ mich in Holmenkollen in Ruhe. Der Flecken galt als „Fremdenverkehrsort“, wo sich „mancherlei Volk“ aufhielt.

Aus Stockholm kamen eine Menge Leute mit Aufträgen der bolschewistischen Partei hierher. Mit Wladimir Iljitschs Einverständnis wurde ich in den „Transport“ einbezogen. Verbindung zu den Norwegern besaß ich. Außerdem sprach ich die skandinavischen Sprachen bereits einigermaßen. Die wichtigste Aufgabe bestand darin, sowohl Material von Lenin in Empfang zu nehmen, als auch einen Teil davon nach Russland weiterzuleiten und den anderen Teil den Gruppen in den verschiedenen Ländern zukommen zu lassen. Auch mussten Artikel Lenins und anderer Autoren übersetzt und in der Presse untergebracht werden. Ich besorgte vor allem die Übersetzungen ins Deutsche. [3]

„Verbindungen“ konnte ich mir in Norwegen nicht gleich verschaffen. Durch bittere Erfahrungen klug geworden, verhielt ich mich übrigens vorsichtiger als in Stockholm. Die erste „Verbindung“ kam mit den Transportarbeitern (mit dem alten Andersen) zustande. Wie viele Stunden mussten wir in dem verräucherten Café am Hafen auf Andersen und denjenigen warten, an den er uns verwies! Im Volkshaus, in der Redaktion des Social-Demokraten [4] suchten und fanden wir „Sympathisanten“.

Unsere Hauptstütze bei der Festlegung der politischen Linie waren natürlich der Jugend verband [5] und die kleine Zeitschrift Klassekamp [6]. Zwar musste auch hier „Aufklärungsarbeit“ geleistet werden, doch war der norwegische Jugendverband viel radikaler eingestellt und machte sich Lenins Linie rascher zu eigen.

Die russischen Emigranten zogen wir wenig zur Arbeit (zum Anknüpfen von „Verbindungen“) heran, und zwar aus Gründen der Vorsicht. Die Emigrantenkolonie war ziemlich bunt durcheinandergewürfelt und politisch nicht sehr beschlagen. Da gab es Leute aus den westlichen Gouvernements, die vor Pogromen geflüchtet waren, wie auch Deserteure, Sozialrevolutionäre, Bundisten, Menschewiki und Anarchisten.

Wir hatten zwei Adressen, deren wir uns in jenen Jahren bedienten – die des Uhrmachers Danielsen (später war er viele Jahre lang als Pförtner in unserer Gesandtschaft in Norwegen tätig) und die von Erika Rotheim (das war später).

Ich denke mir oft, dass ich in den sieben Monaten, die ich 1915 in der herrlichen Luft des Holmenkollen verbrachte, für viele Jahre im Voraus Gesundheit und Kraft geschöpft habe.

Als die Vorbereitung der Zimmerwalder Konferenz begann, suchten mich die schwedischen Linken (Höglund und andere) auf, um sich mit mir zu beraten. Ich verfasste mit ihnen eine Deklaration, die mit Wladimir Iljitsch abgestimmt war. Sie nahmen sie mit auf die Zimmerwalder Konferenz. Wladimir Iljitsch hat sie gelobt.

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Anmerkungen

1. Es handelt sich um die Frau von Egede-Nissen, einem Vertreter des linken, revolutionären Flügels der norwegischen sozialistischen Partei, der mit der russischen Arbeiterbewegung brüderlich verbunden war.

2. Alexandra Kollontai gehörte zu den Organisatoren der Frauentagsfeier am 8. März 1915 in Norwegen. Die Kundgebung in Kristiania stand im Zeichen des Protestes der Frauen gegen den blutigen Krieg.

3. Während des Krieges musste Alexandra Kollontai häufig Dokumente von Lenin und dem Russischen Büro des Zentralkomitees in verschiedene Sprachen übersetzen. So übersetzte sie Lenins Arbeit Sozialismus und Krieg ins Englische, die Leninschen Thesen über den Krieg und den Entwurf der Erklärung der Linken auf der Zimmerwalder Konferenz in die skandinavischen Sprachen, die Antwort an E. Vandervelde des Russischen Büros des Zentralkomitees ins Deutsche und anderes mehr.

4. Social-Demokraten – Zentralorgan der norwegischen Sozialdemokratie, das von 1884 bis 1923 in Kristiania (Oslo) herausgegeben wurde.

5. Der Sozialistische Jugendverband Norwegens wurde 1903 gegründet. Vor dem ersten Weltkrieg betrieb der Verband weitreichende antimilitaristische Propaganda und vertrat während des Krieges einen internationalistischen Standpunkt.

6. Klassekamp – Organ des norwegischen Jugend Verbandes; wurde 1909 gegründet. In der Zeitung wurde 1916 Lenins Arbeit Sozialismus und Krieg vollständig abgedruckt.


Zuletzt aktualisiert am 16. Juli 2020