Alexandra Kollontai


Die Stadt der ersten „Rebellen“

(3. Oktober 1918)


Zum ersten Mal veröffentlicht in der Prawda vom 3. Oktober 1918. Der vorliegende Abdruck erfolgte nach dem Zeitungstext. Der Text wurde logisch umgestellt und in einigen Fällen gekürzt. Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 474–480.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der „Petuschinski“-Zug nach Orechowo-Sujewo ist wie alle Züge derzeit überfüllt. Die Leute stehen dicht gedrängt, hocken sogar auf den Puffern. Männer, Frauen, junge Burschen, fast Kinder noch. Sie fahren, um Brot zu holen. Bis zum 25. September, dem Tag, von dem an es verboten sein wird, sich Mehl zu beschaffen, sind es nur noch 24 Stunden. Wer sich nicht mit dem „täglich Brot“ eingedeckt hat, eilt aufs Land.

Der sonnige, goldene Herbsttag neigt sich schon seinem Ende zu. Im Wald werfen die Bäume mit ihrem bunten, rötlich-goldenen Herbstlaub lange Schatten. Dorthin zieht es einen, in die Tiefe des Waldes, wo das Gras noch weich und saftig grün ist ... Doch der Zug jagt dahin, eilt von dannen. Was kümmern ihn die Wünsche, die in den Herzen der müden, infolge der Enge und des Gedränges gereizten und ungehaltenen Fahrgäste aufkommen.

Es wird dunkel. Licht wird im Wagen nicht angeschaltet, es ist ja nur ein Vorortzug. Dresna, da kommt auch bald Orechowo. Ob mich jemand abholt?

Orechowo-Sujewo! Wie viele gute Erinnerungen verbinden sich für jeden Revolutionär, für jeden aktiv in der Arbeiterbewegung tätigen Menschen mit diesem Namen! In den achtziger Jahren, als das Russland der Arbeiter noch in schwerem, alptraumgleichem Schlafe lag, als es noch unterdrückt und unwissend war, nach außen hin von unterwürfiger Demut und in seiner Tiefe allem „Neuen“ gegenüber misstrauisch und feindselig, als es erbittert und dennoch stumm war – damals brach in Orechowo die erste „rote Revolte“ [1] aus. Die Weberinnen erhoben sich, richteten sich auf und stürzten sich voller Zorn auf das Kapital.

Verhaftungen, Verbannungen und schwere Strafen brachten den Streik zum Erliegen. Der Zarismus kannte kein Erbarmen gegenüber den „Rebellinnen“ und „Rebellen“. Die „rote Revolte“ von Orechowo aber hinterließ ihre Spuren; die Opfer, die Selbstlosigkeit der Arbeiter von Sujewo taten ihre Wirkung, zeitigten ein Ergebnis: das erste Fabrikgesetz in Russland, den ersten Versuch, Frauen- und Kinderarbeit zu schützen – das Gesetz von 1885, das die Nachtarbeit für Frauen und Kinder in den Webereien und Spinnereien verbot. Der erste Sieg des russischen Proletariats über die unumschränkte Herrschaft des noch jungen, aber dennoch erbarmungslosen und unverschämten einheimischen Kapitals. Diesen Sieg hatte die Arbeiterklasse den „Rebellinnen“ von Orechowo-Sujewo zu verdanken.

Nun sehe ich diese Stadt mit ihren 110.000 Fabrikarbeitern wieder. Eine typische Industriestadt. Ich war schon einmal im Frühjahr hier gewesen, und bereits damals hatte ich erstaunt festgestellt, wie sehr der Kapitalismus die ganze Welt gleichmacht, so dass sich alles ähnlich sieht. Auf der Hauptstraße von Orechowo – mit seinen einstöckigen Häusern, in denen die Kaufleute und Spießbürger wohnen, mit seinen Einfamilienhäuschen, in denen die hohen Verwaltungsbeamten der Fabriken herrlich und in Freuden gelebt haben, mit seinen hohen, tristen Mietskasernen für die Arbeiter und mit seinen Riesenarbeitshallen, nichts als Glas und Eisen – weiß ich nicht recht, ob ich nun wieder in Amerika, zur Agitation in den Staaten Neuenglands, irgendwo in Massachusetts, oder aber in Belgien beziehungsweise an der Grenze im französischen Tourcoing, oder vielleicht auch in einer der kleinen sächsischen Textilarbeiterstädte bin. So sehr ist sich alles ähnlich, so hat es das Kapital verstanden, alles Nationale, alles Eigenständige in den Industrieorten zu tilgen, so hat es das Leben seinen Bedürfnissen angepasst, um Nutzen daraus zu ziehen.

Der Unterschied ist höchstens der, dass das Straßenpflaster in Orechowo schlechter ist als in Amerika oder in Deutschland und die Läden, die Geschäfte sicherlich armseliger ausschauen. Und dass es überdies nicht wie in Amerika ein imposantes Rathaus auf dem zentralen Platz und nicht das stets monumentale und pompöse Gebäude der Volksbibliothek mit den einladend offenstehenden Türen gibt.

Auch den Arbeitern geht es überall ungefähr gleich, sei es nun in Lawrence in Massachusetts, in Roubaix in Frankreich oder im russischen Orechowo. Die gleichen Sorgen, die gleiche Not, die gleichen Bestrebungen, Hoffnungen und Wünsche ...

Im Frühjahr, als ich zum ersten Mal in Orechowo weilte, war der Sowjet noch dabei, festen Boden unter die Füße zu bekommen; an schöpferischer, praktischer Arbeit war erst wenig geleistet worden. Der Sowjet war noch mit interner organisatorischer Arbeit befasst und hatte heftig gegen die direkten Feinde zu kämpfen. Auch unter den Arbeitern gab es Zwietracht. Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Parteilose und Anarchisten – jeder wollte die Masse auf seine Seite ziehen.

Wie mochte es wohl inzwischen in Orechowo aussehen?

Auf dem Bahnhof ein einziges Gedränge – die Hamsterer! Und wie viele! Es ist kein Durchkommen.

Ich suche die Genossen. Sollte mich womöglich keiner abholen?

„Genossin Kollontai, sind Sie es? Und wir haben schon befürchtet, dass Sie nicht kommen!“ Die freundliche, klangvolle, jugendliche Stimme einer Arbeiterin, der Leiterin des Buchmagazins. „Wir fahren von hier direkt zum Vortrag.“

Wir steigen in die offene Kutsche, vor die ein wohlgenährtes, hochgewachsenes Pferd gespannt ist – die Equipage der Morosows steht jetzt dem Sowjet zur Verfügung.

Ich erkundige mich, wo denn die andere Genossin sei, die meinen Vortrag im Frühjahr organisiert hatte. Ihre markante Gestalt hat sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt. Sie war, wie sich herausstellte, dieser Tage gerade erst vom Don zurückgekommen, wo sie fünf Monate verbracht hatte, ins Schussfeld der Krasnow-Leute geraten war und sich schließlich unter Lebensgefahr vor den näher rückenden Banden Krasnows in Sicherheit bringen konnte. Doch an ihrer Arbeit hielt sie weiter fest. Welche von uns – Agitatoren – wurden dort unglaublich dringend gebraucht.

Im Saal ist noch kaum jemand. Man hatte mich zu sieben Uhr erwartet, sich dann aber gesagt, ich würde wohl später kommen, und den Vortrag auf neun Uhr verschoben. Um so besser! Wir gehen in den Klub, um eine Kleinigkeit zu essen.

Und da ist auch sie, die Genossin G, nach der ich mich gerade erkundigt hatte. Immer noch die gleiche energische, forsche Frau. Ein Mädchen vom neuen Schlag, eine Frau, die sich voller Stolz ihrer jugendlichen Kraft, ihrer Rechte bewusst ist – eine Bürgerin Sowjetrusslands ...

Was ich im Klub zu essen bekomme, ist phantastisch. So etwas haben wir Petrograder und Moskauer schon lange nicht mehr gesehen. Und da beklagen sich die Leute in Orechowo noch über Hunger!

Ich mache ihnen diesen Vorwurf im Scherz. Doch aus den Erzählungen ist zu entnehmen, dass „Zar Hunger“, dieser ungebetene Gast, sich auch in Orechowo fest niedergelassen hat. Sie berichten, es gebe eine Kinderspeisung, die sie mir morgen vorführen wollten.

Außer den Leuten von Orechowo sind auch Genossen aus dem Landkreis, aus ganz abgelegenen Ortschaften gekommen. Dort muss die Arbeit der Sowjets erst noch in Gang kommen. Diese Genossen haben eine Unmenge Fragen an die hiesigen Funktionäre. Ich lausche auf die Antworten. Es ist zu merken, dass sich die Arbeit in Orechowo inzwischen eingespielt, dass man Erfahrungen gesammelt hat, mit den Schwierigkeiten und Hindernissen fertig zu werden versteht. Die Erklärungen sind ausführlich und ziehen Überraschungen aller Art und mögliche Komplikationen in Betracht. Die größten Schwierigkeiten ergeben sich bei der Lebensmittelversorgung.

„Nein, sagen Sie, was Sie wollen, es war ein großer Fehler, dass unseren Betrieben nicht gestattet wurde, selbständig aufzukaufen. Wir hätten uns schon im Frühjahr mit Mehl eingedeckt. Da war auch noch die Wolga offen. Das Hamstern aber – was ist das denn? Eine halbe Maßnahme! Mit Hamstern macht man nicht alle satt! Hätten aber die Betriebe aufgekauft, wäre das Vertrauen uns, dem Kollektiv, gegenüber gewachsen, und das ist auch wichtig!“ Dies ist von einem Teil der Genossen zu hören. Doch es gibt auch welche, die für ein „festes Monopol“, ohne die geringsten Ausnahmen, sind.

Zum Vortrag sind eine ganze Menge Leute gekommen; dennoch ist der Saal nicht überfüllt, nicht so, wie es im Frühjahr war. Es heißt, Versammlungen und auch Vorträge fänden keinen besonderen Anklang; die Leute wollten konkrete, praktische Hinweise: Wie soll das Leben neu gestaltet werden? Wie ist der Wirtschaftsapparat in Gang zu bringen? Wie soll die Staatsmaschinerie anlaufen? Überdies seien Tausende von Arbeitern nach Mehl unterwegs ...

Das Thema meines Vortrages lautet „Die werktätige Mutter in der Sowjetrepublik“. Die Zuhörer lauschen aufmerksam, besonders die Frauen. Doch Fragen stellen sie nicht, sie sagen: „Es ist auch so alles klar.“ Schade, denn ich möchte eigentlich engeren Kontakt zum Auditorium und auch hier wieder vor allem zu all diesen Müttern haben, die ganz Ohr sind und bald zustimmend nicken, bald ihre Missbilligung angesichts der traurigen Tatsachen zum Ausdruck bringen, die hier zur Sprache kommen müssen.

Zum Übernachten werde ich ins „Gästehaus“ von Sawwa Morosow gebracht. Hier nahmen die „Herrschaften“ immer Quartier, wenn sie die ihnen gehörenden Besitzungen besuchten – die Industriestadt, aus der das Gold in ihre Taschen floss.

Nunmehr werden hier Künstler untergebracht, und sogar „Schaljapin höchstpersönlich“ tritt zuweilen in Orechowo auf, berichtet man mir.

Das „Gästehaus“ ist eine saubere, bequeme und gepflegte Unterkunft, ohne unnötigen Luxus. Die „alte Dienerschaft“ empfängt uns allerdings nicht besonders herzlich. Sie ist hier der „Wirt“ und sieht uns wie Fremde an, die in anderer Leute Gemächer eindringen.

Dennoch dampft der Samowar auf dem Tisch, und beim Teetrinken erfahre ich mehr über das Leben und Treiben in Orechowo. Die Arbeit komme in Gang.

Die Menschewiki seien verschwunden oder hätten sich verkrochen. Man sei dabei, so schnell wie möglich neue Grundlagen zu schaffen. Doch das Lebensmittelproblem wirke sich auf alles hinderlich aus.

Es gebe Gemurre, das allerdings nach dem Attentat auf Lenin gleich verstummt sei. Der Schuss im Michelson-Werk sei eine Art Signal gewesen, das die Arbeiter veranlasst habe, auf der Hut zu sein, zu begreifen, wie nahe die Gefahr ist, und schnellstens ihre Reihen zusammenzuschließen ...

Sehr anschaulich schildert Genossin G. die Agitationsarbeit, die sie am Don unter den Kosaken geleistet hat.

„Warum schickt das Zentrum keine Agitatoren dorthin? Hunderte, Tausende, ja ganze Einheiten von Agitatoren braucht man dort, dann wird von den Krasnow-Banden nichts übrigbleiben. Es stimmt ja nicht, dass alle Kosaken, die für Krasnow kämpfen, Kadetten sind! Was sind denn das schon für Kadetten! Ich habe sie selbst gesehen, als Gefangene, barfuß, die Kittel zerrissen, Dorfkosaken eben, die häufig nicht einmal lesen und schreiben können. Einfach Kosaken, die sich von Krasnow und seinem Stab haben hinters Licht führen und übertölpeln lassen. Warum laufen sie denn, wenn man in eine Staniza von Krasnow-Anhängern kommt und ihnen die ganze Wahrheit erzählt, ihnen die Augen öffnet und erklärt, was es mit den Sowjets und den Bolschewiki auf sich hat, ehe man sich’s versieht, auf unsere Seite über? Würden wir am Don so richtig agitieren, wären alle Kosaken in den Dörfern für uns, und Krasnow stünde mit seinem Stab, diesem hilflosen Offizierspack, ganz allein da.“

Fest und unerschütterlich glaubt Genossin G. an die Kraft des von der Vernunft getragenen Wortes, daran, dass Wahrheit und Gerechtigkeit auf unserer Seite sind und dass Wahrheit und Gerechtigkeit schließlich immer siegen!

Hätten wir nur mehr solche fest überzeugten und leidenschaftlichen Agitatoren!

*

Anmerkung

1. Gemeint ist der Streik in der Textilfabrik „Gesellschaft der Nikolskojer Manufaktur Sawwa Morosow, Sohn & Co.“ in der Nähe der Bahnstation Orechowo (heute Orechowo-Sujewo, Gebiet Moskau) im Jahre 1885. Der Streik begann am 7. Januar und dauerte zehn Tage. Es war der erste organisierte Massenstreik von Arbeitern im Zentralen Industriegebiet. Durch Repressalien gelang es den Behörden, den Streik niederzuwerfen. Über 600 Arbeiter, unter ihnen auch die Führer des Morosow-Streiks P. A. Mojsejenko, W. S. Wolkow und andere, wurden festgenommen.


Zuletzt aktualisiert am 16. Juli 2020