Alexandra Kollontai


Tagebuchaufzeichnungen

(Januar 1919)

[Aus den Tagebuchaufzeichnungen vom Januar 1919. In den vierziger Jahren überarbeitete und redigierte Alexandra Kollontai diese Aufzeichnungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung ihrer Erinnerungen zum Druck. Zum ersten Mal veröffentlicht nach dem Manuskript, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird. Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 485–487.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Hunger ist groß. In den Massen wird dumpfes Murren laut. Das ist im Augenblick weniger ein Abwenden der Massen von uns als vielmehr durch den Hunger bedingte Passivität. Doch ich kämpfe gern gegen Stimmungen wie bei Zindel [1] an: Die Frauen müssen letztlich begreifen lernen, dass sie sich in unserem Staat auch selbst helfen, das Problem der Kinderkrippen, der Kinderheime usw. zur Sprache bringen können. Mag sein, sie verstehen mich, weil ich aus tiefster Seele die Leiden der Frauen nachempfinde. Aber dieser tägliche Kampf gegen die Stimmung von Tausenden strengt an; zuweilen hat man das Gefühl, die Kraft reiche einfach nicht mehr, um noch einmal zu einem Meeting zu fahren.

Die Neujahrsnacht habe ich mit dem Roten Generalstab verbracht. Wir haben im ehemaligen Jagdklub gefeiert. Die ganze Einrichtung wie in früheren Zeiten – Spiegel, Kristalllüster und dergleichen mehr. Gegessen wurde allerdings an Tischen ohne Tischtücher. Wir bekamen eine heiße Suppe und danach, als Krönung des Ganzen, ein Glas Tee mit einem Stückchen Zucker und eine Scheibe Schwarzbrot mit Käse. Das war ein richtiger Genuss. Gelungen war auch das Konzert; besonderen Beifall bekam als Publikumsliebling die Künstlerin Gsowskaja. Viele ehemalige Offiziere waren da, die meisten in Uniformjacke, nur ohne Schulterstücke. Die Damen trugen elegante Kleider, die inzwischen aber aus der Mode waren. Im Ausland hatte man sie um 1915/16 herum getragen – die Röcke nach unten hin eng, die Taille verlängert.

Ich ernähre mich hauptsächlich von Äpfeln, die man ohne große Mühe bekommen kann. Genossin Barinowa hat mir beigebracht, einen Apfel in den Teekessel zu legen, mit kochendem Wasser zu übergießen und die Kanne unter das Kopfkissen zu stecken. In ein paar Stunden ist der Apfel dann schön weich und hat nicht mehr soviel Säure. Das schmeckt und ist nahrhaft. Das Mittagessen teile ich mit Maria Petrowna, meiner Sekretärin, doch wir bekommen nur eine dünne Suppe oder manchmal eine Plinse aus Kartoffelschalen. Neulich bekam ich roten Kaviar geschickt, den habe ich mit den Genossen geteilt.

Vor kurzem habe ich zwei Reden für eine sowjetische Schallplatte [2] gesprochen. Der sympathische Arbeiterdichter Kirillow sprach ebenfalls. Zusammen mit Podwoiski, den ich sehr achte und schätze, bin ich fotografiert worden. Von meinem Sohn Mischa erhielt ich ein Telegramm; er kann für ein paar Tage hierherkommen. Er studiert inzwischen schon am Technologischen Institut in Petrograd. Er wohnt im Wohnheim und hungert und friert, wie es scheint. Dabei habe ich nichts, was ich ihm schicken könnte. Das lässt mir gar keine Ruhe. Mir wäre lieber, wir lebten in der gleichen Stadt, doch er hängt eben an seinem Institut.

Beim Neujahrsfest traf ich Louise Bryant, eine amerikanische Journalistin. Sie ist eng mit Bullitt befreundet. Heute war sie bei mir; sie scheint mit uns zu sympathisieren. Sie möchte ein Buch über den Sowjetstaat, den Staat der Arbeiter, schreiben. Ob sie uns aber eigentlich versteht? Sie hat mich gebeten, sie zu einem Meeting mitzunehmen, doch wer weiß, was dort für eine Stimmung sein wird. Ich habe sie an den Befreiungskrieg in Amerika Ende des 18. Jahrhunderts erinnert. Auch bei ihnen herrschte damals Hunger, lag die Wirtschaft am Boden, und die ganze Welt erkannte das neue, freie Amerika nicht an.

Ich bin durch Moskau gegangen und habe mir überlegt, wie es wohl in der Zukunft, in 200 oder 300 Jahren, sein wird. Keiner wird dann glauben wollen, dass Moskau wirklich unter Hunger gelitten hat.

Lenins Hand hat das Rad der Weltgeschichte ein paar Jahrhunderte nach vorn gedreht. Vor wenigen Jahren noch schien der Sozialismus ein unerreichbarer Traum zu sein; jetzt aber sind wir bereits dabei, ihn zu verwirklichen. Dieses Bewusstsein macht einem Mut und hilft in solcher Zeit, da man täglich um sich herum Leid, Hunger und Missstände antrifft ...

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Anmerkungen

1. Zindel-Werke – heute 1. Moskauer Kattundruckerei.

2. Im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau werden die Texte der Reden Alexandra Kollontais Karl Liebknecht und Die Seuche des Bolschewismus (zur internationalen Bedeutung der Oktoberrevolution) aufbewahrt, von denen 1919 eine Schallplattenaufnahme gemacht wurde. Im Jahre 1973 brachte die Schallplattenfabrik eine Aufnahme mit mehreren Reden Alexandra Kollontais heraus.


Zuletzt aktualisiert am 16. Juli 2020