Alexandra Kollontai

Die Situation der Frau in der
gesellschaftlichen Entwicklung

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Vorwort


Die vierzehn Vorlesungen dieses Buches hielt ich im Frühjahr 1921 (April, Mai, Juni) an der Leningrader Swerdlow-Universität vor Studentinnen, die später in den Frauenabteilungen arbeiten sollten. Ein Teil der Vorlesungen war mitstenographiert worden, einen Teil stellte ich selbst mit Hilfe meiner eigenen Aufzeichnungen im Herbst 1921 zusammen.

Mit meinen Vorlesungen wollte ich den Studentinnen sowohl einen grundlegenden Überblick über den marxistischen Standpunkt in der Frauenfrage geben, und zwar in leicht zugänglicher Form, als auch – in den letzten vier Kapiteln – die Revolutionierung der Lebensbedingungen und die neue Stellung der Frau im Arbeiterstaat, worunter ich ihre Anerkennung als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft verstehe, demonstrieren. Die neue Stellung der Frau führte nicht nur zu einer positiven Neueinschätzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Rechte sondern auch zu einer gründlichen Veränderung der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Dies wurde im Jahre 1921, als die Revolution mit dem Übergang vom Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik (NEP) vor einem Wendepunkt stand, besonders deutlich. Der Entwicklungsstand des Befreiungsprozesses von den Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich aufgrund der Folgen, die die Neue Ökonomische Politik in der Sowjetunion hatte, deutlicher als früher. Während der drei Revolutionsjahre, in denen die sozioökonomischen Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft zertrümmert wurden und man beharrlich versuchte, so schnell wie möglich das Fundament für die kommunistische Gesellschaft zu errichten, herrschte nämlich eine Atmosphäre, in der überholte Traditionen mit unglaublicher Geschwindigkeit abstarben. An ihrer Stelle keimten vor unseren Augen Ansätze zu ganz neuen Formen menschlicher Gemeinschaft. Die bürgerliche Familie war nicht mehr unentbehrlich. Die Frau wurde aufgrund der gemeinsamen, obligatorischen Arbeit für die Gesellschaft und in dieser mit völlig neuen Lebensformen konfrontiert. Sie wurde gezwungen, in ihrer Arbeit nicht mehr nur ausschließlich für die eigene Familie da zu sein, sondern auch für das Arbeitskollektiv. Neue Lebensbedingungen und auch neue Formen der Ehe entstanden. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern änderte sich. Bereits 1921, in diesem so entscheidenden Jahre, zeigten sich die ersten Ansätze einer neuen Gesinnung, neuer Sitten, einer neuen Moral und vor allem die neue Rolle der Frau und ihre Bedeutung fürs Kollektiv und den Sowjetstaat mit besonderer Schärfe. Unter dem Donner der Kanonen, die unsere revolutionäre Arbeiterrepublik an zahlreichen Fronten verteidigten, zerfielen die Traditionen der tödlich getroffenen bürgerlichen Welt.

Viele Lebensgewohnheiten, Ideen und Moralgesetze sind heute entweder schon ganz verschwunden oder aber in einem Zustand der allgemeinen Auflösung. Die Neue Ökonomische Politik war nicht imstande, Veränderungen von Familie und Ehe zu verzögern, sie konnte auch nicht die Stellung der Frau in der sowjetischen Wirtschaft schwächen. Im Augenblick haben aber die neuen Lebensformen, wie sie die Arbeiterinnen in den Frauenabteilungen der Partei bis zum Jahre 1921 erlebten, keine Auswirkung auf die große Mehrheit der Frauen. Die neuen sozialen Verhältnisse und somit auch die Situation der Frau sind unauflöslich mit der Struktur und Organisation des ökonomischen Systems verbunden. Die Entwicklung einer sozialistischen Produktion verursacht die Auflösung der traditionellen Familie und ermöglicht dadurch eine zunehmende Gleichberechtigung und freiere Stellung der Frau in der Gesellschaft. Wie unumgänglich ein Umweg oder eine Verzögerung beim Aufbau unserer kommunistischen Gesellschaft auch immer sein mag, so bedeutet dies logischerweise, dass der umfassende Emanzipationsprozess der Frau zeitweilig stagnieren kann. [1] Die Situation und der politische Einfluss der werktätigen Frauen sind heute nicht mehr vergleichbar mit den Bedingungen, die im Jahre 1921 vorherrschten. Zwar haben unsere Arbeiterinnen und Bäuerinnen mit Hilfe der Kommunistischen Partei die Errungenschaften der ersten Revolutionsjahre erfolgreich verteidigt und haben, wenn auch mit unterschiedlichen Erfolgen, die Rechte der arbeitenden Frauen erweitert und abgesichert. Es herrscht kein Zweifel darüber, dass jene gesellschaftlichen Kräfte, die die allgemeine Arbeitspflicht für Frauen aus allen Schichten durchgesetzt haben und dadurch die objektiven Bedingungen für die Umwandlung von Familie und Lebensgewohnheiten geschaffen haben, zur Zeit wesentlich geschwächt sind. Dies ist eindeutig eine Folge der Neuen Ökonomischen Politik. Ökonomische und politische Veränderungen werden heute nicht mehr durch den Druck der mobilisierten Massen durchgesetzt, sondern in wesentlich verzögertem Tempo unter der bewussten Führung der Kommunistischen Partei Russland verwirklicht. Leider heißt das aber in der Praxis, dass von der Partei Veränderungen nur dann durchgesetzt werden, wenn die revolutionären Errungenschaften von der Bourgeoisie bedroht werden.

Ich habe mich dazu entschlossen, diese Neuausgabe meiner Vorlesungen weder zu korrigieren noch zu erweitern. Eine Neubearbeitung, die mehr den heutigen Verhältnissen gerecht würde, hätte die Vorlesungen nämlich ihres bescheidenen Wertes beraubt, der darin besteht, dass sie die Arbeitsatmosphäre jener Jahre wiedergeben, dass sie Tatsachen und Ereignisse aus dem wirklichen Leben schildern, die die Reichweite der Revolution und die Lage der werktätigen Frauen in der Arbeiterrepublik charakterisieren. Ich bin mir zwar im Klaren darüber, dass mein Buch nur ein unvollständiges Bild von der Lösung der Frauenfrage in einem ganz bestimmten Stadium der Revolution vermittelt. Ich habe mich dennoch dazu entschlossen, die Vorlesungen in ihrer ursprünglichen Form zu veröffentlichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Studium und Verständnis der Vergangenheit, – d. h. in diesem Falle eine historische Untersuchung der Stellung der Frau im Verhältnis zur ökonomischen Entwicklung – zu einem besseren Verständnis unserer aktuellen Aufgaben und zur Stärkung der keimenden Saat der kommunistischen Weltanschauung beiträgt. Dies wiederum ist natürlich eine Hilfe für die Arbeiterklasse bei der Suche nach dem kürzesten Weg zur vollständigen und allseitigen Befreiung der arbeitenden Frauen.

 

Alexandra Kollontai
Oslo 1925

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Fußnote

1. Die Neue Ökonomische Politik (NEP), die die russische Gesellschaft aus den ökonomischen Schwierigkeiten des Kriegskommunismus herausführen sollte, hatte die objektiven Bedingungen für die soziale, politische und ökonomische Emanzipation der Frau tatsächlich verschlechtert. Vergleiche 10. bis 14. Vorlesung.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020